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Neuroborreliose und Borrelienneurose

Bei wenig Erkrankungen gibt es so viel Hörensagen, weit verbreitete Unsicherheiten aber auch medizinischen Bullshit und Scharlatanerie wie bei der Neuroborreliose. Eigentlich ist das Thema recht einfach, aber …

Borreliose ohne Neuro: Die Lyme-Borreliose

Das Bakterium Borrelia burgdorferi, der Erreger der Lyme-Borreliose, wird durch Zeckenstiche übertragen. Borrelien sind Spirochäten, genau wie der Erreger der Syphilis. Es handelt sich um eine ganz klassische Zoonose, wobei die Besiedelung der Zecken mit Borrelien in Deutschland regional unterschiedlich ist, insgesamt aber meist zwischen 10 bis 15% aller Zecken Borrelien in sich tragen. Insgesamt ist die Borreliose in Europa die am häufigsten durch Zecken übertragene Infektionskrankheit und eine der häufigsten Zoonosen.

Pathogen sind mindestens vier verschiedene Borrelien-Serotypen. Zeckenstiche bekommt man fast nur in Wäldern (43% aller Zeckenstiche) und im Garten (31% aller Zeckenstiche) im höheren Gras. Von allen Menschen, die von einer infizierten Zecke gestochen werden erkranken 0,7 bis 1% an einer Borreliose, die Antikörper-Prävalenz ist jedoch ist jedoch deutlich höher, sie liegt in Deutschland bei ca. 6% aller Frauen und 13% aller Männer.

Und hier geht es schon los: Viel viel mehr Menschen haben Borrelien-Antikörper als eine Borreliose entwickeln, der Antikörper-Nachweis ohne typische Symptomatik bedeutet also wenig. Die Inzidenz der Lyme-Borreliose wird in Deutschland mit 49/100.000 angegeben, eine Neuroborreliose entwickelt etwa jeder zehnte Infizierte (was einer Inzidenz von 5/100.000 entsprechen würde. Nur ein Drittel aller Menschen, die an einer Borreliose leiden erinnern einen Zeckenstich (weil dieser oft in nicht besonders einsichtigen Körperregionen passiert), nur die Hälfte bemerkt ein Erythema migrans, was ja das typische klinische Zeichen einer Borreliose ist. Die in den Lehrbüchern immer wieder aufgeführte Einteilung in Früh- und Spätstadien einer Borreliose ist aus diesen Gründen wenig hilfreich, oft ist der Beginn der Erkrankung schlicht nicht klar.

Das Erythema migrans, also eine kutane Borreliose, ist die häufigste Borreliose-Manifestation überhaupt. Je nach Studie macht es 89 bis 95% aller Borreliosen aus. Das Erythema migrans gibt es als alleinige Erkrankungsmanifestation oder in Kombination mit anderen Symptomen, oft einer B-Symptomatik oder Muskel- und Gelenkschmerzen. Die gefürchtete kardiale Borrelien-Manifestation soll sehr selten sein und deutlich unter 1% aller Borreliosen ausmachen.

Borreliose mit Neuro: Die Neuroborreliose

Bannwarth-Syndrom

Die S3-Leitlinie Neuroborreliose gibt die Häufigkeit einer Neuroborreliose mit ca. 3% aller Borreliose-Manifestationen an. Das Bannwarth-Syndrom ist dabei der Klassiker der Neuroborreliose und mit Abstand die häufigste Erkrankungsform einer Neuroborreliose. Ganz formal und inhaltlich korrekt ist ein Bannwarth-Syndrom eine Meningopolyradikulitis, also eine Entzündung der weichen Hirnhäute und mehrerer Nervenwurzeln, bzw. Hirnnerven. Die typischen Symptome einer Neuroborreliose sind damit zum Einen meningitische Beschwerden (Kopfschmerzen, Lichtscheu, Übelkeit, Erbrechen, Fieber), zum anderen Hirnnervenausfälle, v.a. Fazialisparesen und Nervenwurzelentzündungen, die schlussendlich der Symptomatik eines Bandscheibenvorfalls imitieren. Mit ca. 40% aller Fälle sind tatsächlich Fazialisparesen (nicht selten beidseitig) häufigstes Neuroborreliose-Symptom, alle anderen Manifestationen sind viel seltener, bei Kindern ist eine reine Meningitis das häufigste Symptom.

Enzephalomyelitis

Infektionen von Gehirn und Rückenmark machen weniger als 1% aller Neuroborreliosen aus, sie gelten als Spätmanifestation (mit den oben genannten Einschränkungen). Hier kommt es zum Einen zu meist diffusen Entzündungen des Gehirns, v.a. der basalen Abschnitte (ich erinnere genau einen Fall in meinem bisherigen Berufsleben) und zum Anderen zu spinalen Symptomen wie einer Stand- und Gangataxie und Blasen- und Mastdarmstörungen. Die Prognose bei diesen Erkrankungsmanifestationen ist deutlich schlechter als beim Bannwarth-Syndrom, häufig bleiben trotz Therapie residuelle Symptome.

Borrelien-assoziierte Kleingefäßvaskulitis

Spirochäten können Entzündungen der Gefäße verursachen, also Vaskulitiden. Maximal 0,3% aller Borrelieninfizierten scheinen von so einer Vaskulitis betroffen zu sein, nur 0,1% der Infizierten entwickeln auch Schlaganfälle.

Weiße Flecken im Marklager: Neuroborreliose

Immer wieder wird diskutiert (oder in MRT-Befunden aufgeworfen), ob T2-hyperintense Läsionen in der MRT (weiße Flecken in der FLAIR- oder T2-Wichtung) nicht nur vaskulär mikroangiopathisch oder autoimmun-entzündlich, z.B. im Rahmen einer Multiplen Sklerose, sondern auch durch eine Neuroborreliose bedingt sein könnten. In einer norwegischen Studie waren T2-hyperintense Läsionen bei Patienten mit Neuroborreliose jedoch nicht häufiger als in der Normalbevölkerung, was gegen die Hypothese der Borrelien-bedingten Marklagerläsionen spricht.

Raritäten

Außerhalb der Akrodermatitis atrophicans sind Neuroborreliosen, die „nur“ eine Polyneuropathie hervorrufen eine absolute Seltenheit, ebenso gibt es kaum Evidenz für Sehnervenentzündungen, die durch Borrelien hervorgerufen werden. Kognitive Störungen außerhalb der Borrelien-Enzephalomyelitis sind ebenfalls sehr selten.

Neuroborreliose ohne Neuroborreliose: Borrelienneurose

Eine eine suffiziente antibiotische Behandlung überdauernde Neuroborreliose, eine „chronische Neuroborreliose“ oder post-treatment Lyme disease syndrome (PTLDS) scheint es nicht zu geben (siehe z.B. Dersch et al.), auch in der DGN-Leitlinie wird das Thema ausführlich beleuchtet). Immer wieder taucht seit Jahren dieses „Krankheitsbild“ auf, immer wieder wird Patienten mit unspezifischen Beschwerden, mit Muskel- und Gelenkschmerzen, Fatigue, Fibromyalgie- oder CFS-artigen Symptomen zu wiederholten oder verlängerten Antibiotikatherapien geraten, oft nach Anwendung nicht validierter Therapieverfahren wie der „Dunkelfeldmikroskopie“.

Klempner et al.konnten dabei schon 2001 in zwei relativ großen Patientenkohorten zeigen, dass eine verlängerte Antibiotikatherapie keinen über den Placeboeffekt hinausgehenden Behandlungserfolg verspricht. Auch nach aktuellem Leitlinienstand wird eine antibiotische Therapie vermeintlicher chronischer Neuroborreliosen nicht empfohlen.

Warum insbesondere die Neuroborreliose als Sammelbecken verschiedener unspezifischer Symptome dient ist meines Wissens nicht verstanden, denn eigentlich ist die Erkrankung nicht sonderlich kompliziert, nur bei der Diagnostik ist es etwas umständlicher als bei anderen Infektionserkrankungen.

Diagnostik

Die Diagnose einer Neuroborreliose stützt sich im Wesentlichen auf die Liquordiagnostik, eben da die Seroprävalenz der Borrelien-Antikörper im Serum deutlich höher als die der Borrelien-Erkrankungen und damit meist wenig hilfreich ist. Im Liquor sind zwei Dinge zu fordern:

  • ein entzündliches Liquorsyndrom
  • eine intrathekale Produktion Borrelien-spezifischer Antikörper

Entzündliches Liquorsyndrom

Wie jede bakterielle Entzündung des ZNS geht auch eine Neuroborreliose mit einem entzündlichen Liquorsyndrom einher. Die Zellzahl ist fast immer nur mäßig erhöht, es finden sich 100 bis 300 Zellen/µl, meist ganz überwiegend Lymphozyten („lymphozytäre Pleozytose“). Häufig findet sich eine begleitende Eiweißerhöhung als Zeichen einer Blut-Liquor-Schrankenstörung, eine Laktaterhöhung oder eine Glukoseerniedrigung ist hingegen eher selten. Somit ähnelt der erste Liquorbefund ganz erheblich Befundkonstellationen, wie wir sie auch bei viralen Meningitiden sehen. Andersherum ist damit eine Neuroborreliose bei einer unklaren, a.e. viral anmutenden, Meningitis immer eine relevante Differentialdiagnose.

Antikörperdiagnostik

Mit den Borrelien-Antikörpern ist es so eine Sache. Eigentlich könnte es so einfach sein: Bei einer akuten Infektion findet man IgM-Antikörper, später kommt es zur Serokonversion und zu IgG-Antikörpern und hierüber könnte man akute Infektionen von ausgeheilten unterscheiden und Therapiemonitoring betreiben. Leider klappt das bei der (Neuro-)Borreliose nicht, da es sowohl Borrelieninfektionen ohne Serumkonversion und Borrelieninfektionen, bei denen es zu einem Nebeneinander von IgM, IgG und teilweise auch IgA kommt, gibt.

Exkurs: Reiber-Schema und Antikörper-Spezifitätsindex

Die Frage, wie man unterscheiden kann ob Eiweiße (und damit auch Antikörper), die man im Liquor findet, lokal synthetisiert wurden oder aus dem Blut auf Grund einer Blut-Liquor-Schrankenstörung „rübergeschwappt“ sind wurde in den 1980er und 1990er Jahren empirisch maßgeblich in Deutschland untersucht. Federführend war u.a. Hansotto Reiber, nachdem man später das Reiber-Schema benannt hat. Grundidee war, ein Eiweiß zu nehmen, nur in der Leber synthetisiert wird, leicht bestimmbar und möglichst klein ist, aber im Regelfall nicht durch die Tight-Junctions der Blut-Liquor-Schranke schlüpfen kann: Die Wahl fiel – recht alternativlos – auf Albumin. Alles Albumin, welches wir im Liquor finden stammt aus der Leber und hat es auf die eine oder andere Art über die Blut-Liquor-Schranke geschafft. Wenn nun andere Eiweiße, zum Beispiel Antikörper, im Liquor zu finden sind kann man mit Hilfe des Albumin-Quotienten zwischen Blut und Liquor bestimmen, ob sie erwartungsgemäß häufig im Liquor auftauchen, also auch „rübergeschwappt“, oder ob die um ein vielfaches häufiger nachweisbar sind, was sich dann nur durch eine intrathekale Synthese erklärt. Da die Eiweiße, die uns am meisten interessieren IgG, IgM und IgA sind, kam so das Reiber-Schema zustande. Eine letzte Sache muss man sich noch merken: Die Dichtigkeit der Blut-Liquor-Schranke ist altersabhängig unterschiedlich, im Kindesalter und im hohen Lebensalter ist sie ziemlich undicht, im jungen Erwachsenenalter besonders dicht.

Mit diesem Wissen kann man nun die Reiber-Diagramme interpretieren: In der ersten Grafik ist der Liquor-Serum-Quotient von IgG gegen Albumin eingetragen, in der zweiten IgA gegen Albumin und in der dritten IgM gegen Albumin. Mit dem senkrechten, in unserem Beispiel gepunkteten, Strich wird die „Altersgrenze“ markiert. Findet sich der Markierung (hier ein schwarzer Kreis) im linken unteren Quadranten ist alles in Ordnung, im unteren rechten Quadranten liegt eine Schrankenstörung vor, oben rechts eine Schrankenstörung und zusätzlich eine intrathekale Immunglobulinproduktion (im Beispiel bei IgM) und oben links eine isolierte intrathekale Immunglobulinproduktion (eine recht seltene Konstellation).

aus: Lehmann HC, Dersch R. Diagnostik und Therapie der Neuroborreliose. DGNeurologie. 2022;5(2):145-154
aus: Lehmann HC, Dersch R. Diagnostik und Therapie der Neuroborreliose. DGNeurologie. 2022;5(2):145-154

Nimmt man nun ein spezifisches Ig, z.B. IgG gegen Borrelien, kann man zudem das Verhältnis von intrathekalem Erreger-Immunglobulin zum Serum-Wert ermitteln. Dieses Verhältnis nennt man „spezifischen Antikörper-Index“. Bei vielen Erregern wird dieser Antikörper-Index berechnet. Bei der Neuroborreliose gilt ein cut off von 1,5, d.h. ab einem Verhältnis von 1,5 mal mehr Borrelien-Antikörpern im Liquor im Vergleich zum Serum spricht der Antikörper-Befund für das Vorliegen einer Neuroborreliose.

Warum kein Erreger-Direktnachweis?

Bei den meisten ZNS-Erregern kann heutzutage sehr schnell, oft per Multiplex-PCR, die korrekte Diagnose gestellt werden, so dass die Notwendigkeit breit angelegter kalkulierter antibiotischer Therapien immer seltener wird. Bei der Neuroborreliose ist das anders: Borrelien replizieren sich nur sehr langsam, auch bei einem Vollbild einer Neuroborreliose ist die absolute Anzahl an Borrelien relativ niedrig, der Erreger-Direktnachweis per PCR hat daher nur eine Sensitivität von 10 bis 30% und wird dementsprechend für die Diagnostik nicht empfohlen, in der Ausschlussdiagnostik ist die PCR damit nicht zu gebrauchen. Auch direkte Antigentests funktionieren nicht gut, da Borrelien im Laufe einer Infektion verschiedene Antigene präsentieren und zudem die verschiedene Borrelien-Serotypen derartige Tests noch weiter verkomplizieren.

CXCL13

Seit ein paar Jahren gibt es zudem die Möglichkeit ein bestimmtes Chemokin, nämlich CXCL13 zu bestimmen, welches insbesondere in der Frühphase einer Neuroborreliose, also vor zu erwartender Antikörper-Produktion, nachweisbar ist. Der Nachteil von CXCL13 ist, dass das Chemokin nicht spezifisch für eine Neuroborreliose ist, sondern auch bei der Multiplen Sklerose, einer Neurosyphilis, Neuro-TBC und bei Lymphomen nachweisbar sein kann. Der Vorteil ist, das CXCL13 sich zum Therapiemonitoring eignet, weil es unter Antibiotikatherapie abfällt.

Therapie

Das Therapiekapitel ist hingegen wieder einfacher. Es gibt zwei Antibiotika, welche in Studien schlussendlich gleichwertig sind: Doxycyclin – welches oral eingenommen werden kann, aber oft mäßig gut verträglich ist, sich nicht mit Sonnenlicht und Milchprodukten verträgt – und Ceftriaxon, hier ist eine i.v.-Gabe notwendig. Eine 14-tägige Antibiotikatherapie ist dabei in der Regel ausreichend, es gibt keine Studien, die darauf hindeuten, dass eine längere Therapie irgendeinen Vorteil bringt. Rein historisch bedingt gibt es die Empfehlung die „Spätmanifestationen“ wie Enzephalitiden über 21 Tage zu behandeln.

Bei der borrelienassoziierten Vaskulitis gibt es auf Fallberichtebene die Empfehlung eine Sekundärprophylaxe mit ASS 100 mg zu verabreichen. Sowohl bei der Vaskulitis als auch bei der borrelienassoziierten Fazialisparese wird teilweise Kortison zusätzlich gegeben, ohne dass es hierfür eine evidenzbasierte Grundlage gibt.

Prognose

Die Prognose der Neuroborreliose gilt als sehr gut. Nach ausreichender antibiotischer Therapie gilt eine Neuroborreliose als ausbehandelt. Beim Bannwarth-Syndrom kommt es in weit über 90% der Fälle zu einer deutlichen Beschwerdebesserung. Als Residualsymptome werden nach Lehmann et al sensible Defizite in 5,2 % der Fälle, residuelle Hirnnervenparesen bei 3,6 %, Schmerzen bei 2,7 %, Schwindel und Gangunsicherheit bei 2,6 % und Lähmungen bei 2,3 % berichtet.

Die Liquorveränderungen normalisieren sich nur langsam, so sind bei mindestens 25% der Patienten nach drei Monaten noch Zellzahlerhöhungen nachweisbar, positive Borrelien-Antikörper-Indices sogar deutlich länger.

Leitlinie

Rauer S., Kastenbauer S. et al., Neuroborreliose, S3-Leitlinie, 2018; in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: https://dgn.org/leitlinie/neuroborreliose (zuletzt abgerufen am 20.08.2023)

Wo man weiterlesen kann

Dersch R, Sommer H, Rauer S, Meerpohl JJ. Prevalence and spectrum of residual symptoms in Lyme neuroborreliosis after pharmacological treatment: a systematic review. J Neurol. 2016;263(1):17-24. doi:10.1007/s00415-015-7923-0

Klempner MS, Hu LT, Evans J, et al. Two Controlled Trials of Antibiotic Treatment in Patients with Persistent Symptoms and a History of Lyme Disease. N Engl J Med. 2001;345(2):85-92. doi:10.1056/NEJM200107123450202

Lehmann HC, Dersch R. Diagnostik und Therapie der Neuroborreliose. DGNeurologie. 2022;5(2):145-154. doi:10.1007/s42451-022-00420-3

Matthaei J, Hagge M, Bräuninger S, Alhezami A, Roth C. Stellenwert des CXCL-13 im Liquor als Frühmarker einer Neuroborreliose – Ein Fallbericht. DGNeurologie. 2022;5(3):218-221. doi:10.1007/s42451-022-00425-y

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