Last year, "Analysis of nearly 1 million Danish health records found patients who tested + for #COVID19 were more likely to be diagnosed with #Alzheimer’s disease, #Parkinson’s disease & stroke." https://t.co/rT73CLfhgh NOW, US researchers say they know how this happens. MORE
Eine US-Wissenschaftsjournalistin und Pulitzer-Preisträgerin mit mehr als 200.000 Followern auf Twitter teasert im Mai 2023 eine Pressemitteilung der East Carolina University (Link) mit einer im Juni 2022 veröffentlichten dänischen retrospektiven Kohortenstudie an, nach der nach COVID-Infektionen ein erhöhtes relatives Risiko für Alzheimer-Erkrankungen und Parkinson-Syndrome besteht. Dabei ist in dem Teaser-Beitrag (Link) die Studie nicht mal verlinkt, sondern wird nur angekündigt. Es handelt sich – nach kurzer Recherche in gängigen Suchmaschinen – aber um diese Studie (Zarifkar P, Peinkhofer C, Benros ME, Kondziella D. Frequency of Neurological Diseases After COVID-19, Influenza A/B and Bacterial Pneumonia. Front Neurol. 2022;13:904796. doi:10.3389/fneur.2022.904796, Link pdf), die seinerzeit medial durchaus Wellen geschlagen hat und vielerorts eingeordnet wurde.
Der Impact in den sozialen Medien ist erwartbar, insbesondere wird der Tweet nun von den üblichen COVID-Doomsday-Propheten geteilt, die Heerscharen von Demenzkranken nach durchgemachter COVID-Infektion befürchten (vielleicht aber auch herbeisehnen). Das Ganze ist ärgerlich, sogar sehr ärgerlich und das auf mehreren Ebenen und darum soll es hier gehen:
Die dänische Kohortenstudie
Zarifkar P, Peinkhofer C, Benros ME, Kondziella D. Frequency of Neurological Diseases After COVID-19, Influenza A/B and Bacterial Pneumonia. Front Neurol. 2022;13:904796. doi:10.3389/fneur.2022.904796
Fangen wir mit der Studie an. Ausgewertet wurden elektronische Patientenakte der dänischen Bevölkerung im Zeitraum Februar 2020 bis November 2021, also aus der Frühphase der Pandemie mit dem Wuhan-Wildtyp der alpha- und der delta-Variante, zudem bis Ende 2020 aus der Prä-Impfstoff-Ära. In diesem Zeitraum wurden 43.375 Däninnen und Dänen positiv auf COVID getestet, von diesen 35.362 Erkrankte ambulant und 8.013 stationär behandelt. Es wurde das Risiko berechnet einen Monat, drei, sechs und 12 Monate nach COVID-Infektion eine neurodegenerative (Alzheimer-Demenz, Parkinson-Erkrankung), eine zerebrovaskuläre (ischämische Schlaganfall, Hirnblutung, Subarachnoidalblutung) oder eine autoimmunvermittelte Erkrankung (Multiple Sklerose, Guillain Barré-Syndrom, Myasthenia Gravis, Narkolepsie) zu erleiden, bzw. dass zu diesen Zeitpunkten eine entsprechende ICD-10-Diagnose dokumentiert wurde. Bei dieser Auswertung war das relative Risiko eine Alzheimer-Demenz sechs und 12 Monate nach durchgemachter COVID-Infektion bei ambulant behandelten Patienten um den Faktor 3,6, bzw. 3,5 erhöht, bei stationär behandelten um den Faktor 3,5 und 3,4. Die Autoren berechneten das Risiko noch mal, nachdem Dänen mit in der Vorgeschichte durchgemachten Delirien ausgeschlossen wurden (da ein Delir eine nachhaltige kognitive Verschlechterung bedingen kann, Link): Es blieb erhöht. Etwas ähnliches ließ sich für Parkinson-Erkrankungen berechnen. Hier was das Risiko um den Faktor 2,4, bzw. 2,7 erhöht. Aber: Im Vergleich zu Patienten, die eine Influenza oder bakterielle Pneumonie durchgemacht hatten und stationär behandelt wurden fand sich kein statistisch signifikanter Unterschied sowohl hinsichtlich des Alzheimer-, als auch des Parkinson-Risikos.
Finally, there was no excess risk of Alzheimer’s disease or Parkinson’s disease compared to influenza or bacterial pneumonia inpatients.
Durchgehend erhöht (um den Faktor 2,3 bis 2,7) – kongruent zu anderen Studien – blieb das Schlaganfall-Risiko, besonders kurz nach der COVID-Infektion. Influenza-Patienten hatten dieses erhöhte Schlaganfall-Risiko nicht, wohl aber die Pneumonie-Patienten. Ebenfalls fand sich ein leicht erhöhtes Hirnblutung- (ICB), aber nicht Subarachnoidal-Blutungs-Risiko. Autoimmunerkrankungen traten – anders als zu Anfang der Pandemie vermutet – nicht vermehrt nach durchgemachter COVID-Infektion auf.
Soweit, so normal. Ärgerlich wird aber die Zwei-Sätze-Einleitung der Diskussion, wenn man Titel, Abstract und auch weitergehende Diskussion der Autoren betrachtet:
Key findings from this population-based cohort study covering roughly half of Denmark’s population include an increased frequency of new-onset neurodegenerative and cerebrovascular (but not neuroimmune) disorders in COVID-19 positive compared to COVID-negative individuals. However, when comparing the frequencies of these disorders after COVID-19 with those after influenza and community-acquired pneumonia, we found no significant differences, except for ischemic stroke.
Seriös wäre meines Erachtens gewesen zu schreiben: Nach durchgemachter schwerer Atemwegsinfektion (SARI) ist das Risiko nach 6, bzw. 12 Monaten die Diagnose einer neurodegenerativen Erkrankung zu erhalten erhöht. Nach COVID-Infektion ist zudem das Schlaganfall-Risiko erhöht, vor allem kurz nach der Infektion.
Leider schreiben das die Autoren nicht, leider betonen sie – wo es nur geht – den COVID-Part und erwähnen die anderen Atemwegsinfektionen eher nebenbei.
Kausalität und Korrelation
Was in der öffentlichen Rezeption der Studie – und der Darstellung der Autoren – untergeht: Das Studiendesign erlaubt keine Aussage zu einer etwaigen Kausalität, es kann allenfalls eine Korrelation zeigen (dies tut es, aber so wie oben beschrieben). Was auch untergeht: Die akzeptierte Hypothese der Entstehung neurodegenerativer Erkrankung, das Konzept der Proteinopathien (Link), bei der sich pathogene Eiweiße prionartig von Zelle zu Zelle ausbreiten bedingt einen Jahrzehnte andauernden Krankheitsprozess, bevor überhaupt Symptome auftreten. In keinem Fall ist eine zuvor nicht vorhandene Proteinopathie, die innerhalb von sechs, bzw. 12 Monaten neu auftritt und symptomatisch wird plausibel. Sowenig wie es Turbokrebs nach COVID-Infektion oder -Impfung gibt, gibt es Turbo-Alzheimer.
Entsprechend der Aufmachung und Vorstellung der Studie war die mediale Rezeption für eine einzelne Studie durchaus beachtlich, viele Medien sahen sich aber zu einer Einordnung genötigt. So zitiert DER SPIEGEL den DGN-Generalsekretär Peter Berlit (Link):
Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), sagte der dpa: Man könne aus der Studie nicht ableiten, dass ein Mensch nach einer Coronainfektion ein erhöhtes Risiko habe, zu einem späteren Zeitpunkt Alzheimer zu entwickeln. Es sei lediglich gezeigt worden, dass nach einer Infektion häufiger Symptome diagnostiziert würden. Er verweist darauf, dass auch äußere Faktoren – etwa das Verlieren des gewohnten Umfeldes, weil jemand in eine Klinik muss – dazu führen können, dass eine bereits bestehende Alzheimer-Erkrankung symptomatisch wird.
Auch der Beitrag des RedaktionsNetzwerk Deutschland benutzt die selbe Artikel-Grundlage (Link), ebenso die Rheinische Post (Link). Die DW ergänzt noch (Link):
Gerade weil das Risiko für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson laut der Studie nach einer Coronainfektion nicht höher sei als bei anderen Atemwegserkrankungen, sei es wahrscheinlich eher der Infekt an sich, der das Risiko steigert. „Das ist nicht wirklich neu“, sagt der Neurologe Berlit.
Auch der WDR ordnete die Studie seinerzeit ähnlich ein: Link.
Und so muss man meines Erachtens diese – und andere, ähnliche – Studien einordnen. Ein kausaler Zusammenhang im Sinne eines de novo-Krankheitsprozesses ist nicht plausibel, wohl aber die Demaskierung einer vorbestehenden, bis dahin subklinischen, unter dem Radar verlaufenden, neurodegenerativen Erkrankung. Das ist ein Phänomen, welches man – auch abseits von Infektionserkrankungen – bei vielen älteren Patienten im Krankenhaus beobachten kann und welches regelmäßig Konfliktstoff in der Interaktion mit Angehörigen liefert. Mit Erkrankung, Umgebungswechsel, ggfs. Narkose, Behandlung auf einer Überwachungsstation ohne eindeutigen Tag-Nacht-Rhythmus demaskieren sich vorbestehende Defizite, ohne dass ein (merkbares) Delir vorliegt. Für die Familie der Patienten entsteht oft der Eindruck: „Das“ ist im Krankenhaus gekommen, während die Behandler sich sicher sind: „Das“ war doch vorher schon so.
Der Auslöser von Neurodegeneration
Der zweite Teil des Threads zielt genau wie die Studien-Autoren, die im SPIEGEL/RND/Rheinische Post-Artikel erwähnte Anja Schneider vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) oder Martin Korte vom Helmholtz-Institut für Infektionsforschung in Braunschweig (Link) auf eine grundsätzliche Frage ab: Bei den Proteinopathien ist der Auslöser des Krankheitsprozesses unklar. Eine genetische Komponente wird vermutet, zudem ein oder mehrere Umweltfaktoren, warum Person A nun Alzheimer entwickelt, Person B aber nicht. Als mögliche Auslöser (ggfs. auch ein Auslöser unter vielen) werden seit langem Infektionserkrankungen diskutiert. Dafür gibt es historische Anhaltspunkte (Parkinson-Welle nach der spanischen Grippe), aber auch Hinweise aus der Grundlagenforschung, siehe auch Linksammlung oben. Dabei gibt es immer weniger Hinweise auf ein COVID-exklusives Geschehen, vielmehr scheinen Infektionen durch die Ausschüttung von Entzündungseiweißen, proinflammatorischen Zytokinen, neurotoxisch zu wirken bzw. Neurodegenerations-Kaskaden anzustoßen.
Dies wird in dem Thread von Frau Garrett gar nicht so deutlich, wohl aber in der Pressemitteilung der East Carolina Universität, die sie verlinkt:
It’s going to be five to 10 years before we have any of this epidemiological data to say ‘yes, it does increase risk for neurological disorders or neurodegenerative disorders
Fazit
Nach schweren Atemwegsinfektionen (SARI) können sich vorbestehende neurodegenerative Erkrankungen demaskieren, dabei bestand in der hier zitierten retrospektiven Studie kein Unterschied zwischen COVID-, Influenza-Infektion oder bakterieller Pneumonie. Übereinstimmend mit anderen Studien führte COVID-19 in der Akutphase – anders als andere SARI zu mehr Schlaganfällen.
Dass Infektionskrankheiten ein möglicher Auslöser/Verstärker für die Entwicklung neurodegenerativer Erkrankungen sind, wird seit Jahren vermutet, es gibt entsprechende Hinweise aus der Grundlagenforschung – welche durch die SARS-CoV-2-Pandemie einen deutlichen Forschungs- und Erkenntnisschub erfahren hat und derartige Mechanismen aufzeigen konnte – und es wäre extrem unplausibel, wenn das am Ende für COVID nicht gelten würde.
Weiterhin kann man offenbar nicht nur mit Sex, sondern auch mit COVID-Themen im Titel Klick- und Zugriffszahlen erhöhen, auch wenn es eigentlich um grundlegende medizinwissenschaftliche Themen und Zusammenhänge geht. Mich nervt das mittlerweile extrem.
Abbildungen
Die Abbildungen stammen von unsplash. Titelbild: Link, Käfer: Link.
In dem Blogbeitrag erörtern die Autorinnen Frauke Brosius-Gersdorf und Nicole Friedlein Möglichkeiten, wie man nicht gegen COVID-19 Geimpfte an den Behandlungskosten einer etwaigen medizinischen Behandlung wegen COVID-19 oder COVID-19-Krankheitsfolgen beteiligen könnte.
Was steht drin?
Erst einmal, der Beitrag ist in einem juristischen Blog erschienen, es geht hierin um Juristerei und nicht um Medizin oder Medizinethik. Zweitens, bevor man den Beitrag wichtig nimmt, er ist auf gesundheitsrecht.blog erschienen, das ist sicherlich kein Leitmedium (dieser Blog übrigens auch nicht). Drittens, er erstreckt sich über zwei Seiten und ist zwar wegen der juristischen Erläuterungen etwas mühsam zu lesen, aber es ist durchaus machbar. Für die, die die Lektüre nicht übers Herz bringen hier ein kurzer Abriss:
Die Autorinnen erläutern zunächst, dass der Gedanke der Solidargemeinschaft, welche einzelne Mitglieder nicht für Risikoverhalten / -konstellationen sanktioniert bei der gesetzlichen Krankenversicherung prinzipiell deutlich höher gehängt wird, als bei anderen (gesetzlichen) Versicherungen und erst recht als bei privaten. Diese Solidargemeinschaft sei aber durch zunehmend steigende Gesundheitsausgaben immer mehr gefordert, die gesetzlichen Krankenversicherungen zunehmend defizitär, was zu höheren Beitragszahlungen und Steuerzuschüssen führe. Die COVID-Pandemie habe dabei noch einmal besonders zu einem Anstieg der Gesundheitsausgaben geführt, intensivmedizinische Behandlungen auf Grund von COVID-19 seien besonders teuer, dennoch seien 22% der deutschen Bevölkerung nicht gegen COVID geimpft. Da die Impfung gut gegen schwere COVID-Verläufe schütze, seien Ungeimpfte besonders prädestiniert, einen schweren (und teuren) COVID-Verlauf zu entwicklen. Im Sozialgesetzbuch sei explizit eine Kostenbeteiligung an Behandlungskosten vorgesehen, wenn
sich Versicherte eine Krankheit vorsätzlich oder bei einem von ihnen begangenen Verbrechen oder vorsätzlichen Vergehen zugezogen haben.
Die Autorinnen führen aus, dass man ihrer Ansicht nach Vorsatz bei Nichtimpfung und einen Kausalzusammenhang zwischen fehlender Impfung und schwerem Krankheitsverlauf annehmen kann, dass es aber einen Ermessensspielraum der Krankenkassen gebe. Prinzipiell sei die rechtliche Auslegung aber nicht so eindeutig, so dass die Autorinnen eine entsprechende gesetzliche Regelung vorschlagen. Im Folgenden wird das Für und Wider einer gesetzlichen Regelung erörtert, bei dem die Autorinnen recht eindeutig mehr für- als widersprechende Argumente aufführen. Mehr zu diesem Teil des Beitrags jedoch gleich.
Zwei Gedankenstränge
Für mich finden sich in der Argumentation der Autorinnen, vor allem in der Diskussion für eine gesetzliche explizite Regelung zwei Gedankenstränge, die man jeweils gesondert betrachten muss:
ein COVID-spezifischer und
ein genereller zum Thema Eigenbeteiligung an Behandlungskosten in der gesetzlichen Krankenversicherung
Die Tyrannei der Ungeimpften
Der COVID-spezifische Gedankenstrang erscheint mir seltsam aus der Zeit gefallen und eher aus den Unzeiten von 2G+ Ende 2021/Anfang 2022 zu stammen. Vor allem stellt sich hier die Frage nach der Relevanz. Die COVID-Krankheitslast hat seit Anfang 2022 extrem stark abgenommen, in der Bevölkerung existiert eine breite Immunität durch Impfungen und durchgemachte Infektionen und auch bei nicht gegen COVID-19 Geimpften dürfte die Zahl der Immunnaiven mittlerweile durch Vorinfektionen extrem gering sein, was zum allgemein zu beobachtenden Phänomen führt, dass schwere COVID-Verläufe ziemlich selten geworden sind. Der tatsächliche monetäre Wert einer derartigen Regelung für die gesetzlichen Krankenkassen dürfte dementsprechend gering sein.
Dazu kommt, dass der Sachverhalt mittlerweile weniger eindeutig gesehen wird. Zumindest in vielen skandinavischen Ländern wird eine COVID-Impfung für gesunde unter 50-jährige ohne Risikofaktoren und für Kinder und Jugendliche gar nicht mehr empfohlen, in den USA hingegen für alle ab dem Babyalter.
Der unbedingte Wunsch (der in dem Beitrag ja recht unverhohlen formuliert wird) nicht Geimpfte an „ihren“ Behandlungskosten zu beteiligen hat viel von „zur Rechenschaft ziehen“ von Personen mit nonkonformen Verhalten, ist am Ende nur die Fortsetzung der Montgomery’schen „Tyrannei der Ungeimpften“. Manche Menschen brauchen aber offenbar einen Sündenbock. Und was für die einen dann eine kinderbluttrinkende (mehr oder weniger antisemitisch konnotierte) globale Elite ist, sind für die anderen halt „die Ungeimpften“ und für die Dritten reichen schon „die Ausländer, die uns Frauen und Arbeit wegnehmen“. Wer sowas für sich braucht, sei’s drum. Dann wäre es einfach ein sinnloser Artikel, der viel über die Kleingeistigkeit der Autorinnen aussagt, aber mehr auch nicht. Es gibt aber gute Gründe anzunehmen, dass das nicht so ist:
Der generelle Ansatz
Der Grund warum ich überhaupt hier was schreibe und ich den Blogbeitrag für diskussionswürdig halte, ist aber ein anderer: Ich denke, das ganze ist mehr oder weniger ein trojanisches Pferd für die Aufweichung des Solidarprinzips der gesetzlichen Krankenversicherung, bzw. ein „Testballon“, um zu schauen, wie weit man gehen kann und um eine (vermeintlich) eindeutige Stimmungslage (zumindest bei den gängigen dafür empfindsamen Politiker:innen, Parteien und Medien) auszunutzen. Fangen wir mal mit dem Fazit des Artikels an:
Die engen Anwendungsvoraussetzungen des § 52 I Alt. 1 SGB V stellen Hürden für eine Beteiligung nichtgeimpfter Versicherter an den Kosten ihrer Covid-19-Behandlung dar. Im Hinblick auf die zurückhaltende Anwendungspraxis der Krankenkassen ist kaum zu erwarten, dass Nichtgeimpfte auf der Grundlage dieser Vorschrift tatsächlich an ihren Behandlungskosten beteiligt werden.
Die aktuelle Gesetzeslage reicht also nicht für das Ansinnen der Autorinnen.
Die Einführung einer zumutbar und gleichheitskonform gestalteten neuen Vorschrift zur Beteiligung von Versicherten an den Kosten ihrer coronabedingten Krankenbehandlung bei Nichtimpfung gegen Covid-19 ist verfassungsrechtlich machbar. Sie würde sowohl dem Bedürfnis nach einer eigenverantwortlichen Impfentscheidung gerecht als auch schützte sie die Beitrags- und Steuerzahlergemeinschaft vor den teilweise beträchtlichen Ausgaben für die Behandlung von Covid-19-Krankheiten nichtgeimpfter Versicherter.
Der Grundsatz der Eigenverantwortung ist ein elementarer Baustein des verfassungsrechtlichen Solidarprinzips, das es rechtfertigt, Versicherte bei eigenverantwortlicher Krankheitsverursachung an den Kosten ihrer Krankenbehandlung in angemessener Höhe zu beteiligen.
Insbesondere der letzte Satz erscheint mir dabei entscheidend. Und im Abschnitt 3. Neuer Verschuldensmaßstabim Kapitel III. Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) direkt darüber heißt es:
Eine Abkehr vom Merkmal des Vorsatzes in § 52 I SGB V hätte den Vorteil, dass eine Kostenbeteiligung bei gesundheitsgefährdendem Verhalten von Versicherten in der GKV einheitlich neu geregelt würde.
Prinzipiell fällt eine relativ schemenhafte und austauschbare Argumentation in den Begründungen für eine gesetzliche Regelung auf, mit denen man Ungeimpfte an Behandlungskosten beteiligen könnte. Die einzige Abgrenzung, die die Autorinnen gegenüber anderem „gesundheitsgefährdendem Verhalten von Versicherten“ machen findet sich im Kapitel III. Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) im Abschnitt 2. Kostenbeteiligung auch bei anderen Verhaltensweisen. Die Autorinnen schreiben auch eingangs:
Der Gesetzgeber muss zudem sorgfältig prüfen, ob und inwieweit sich eine Nichtimpfung gegen Covid-19 von anderen gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen, für die keine Kostenbeteiligungsregelung gilt, unterscheidet. Liegen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht vor, dass sie eine Differenzierung rechtfertigen, müsste eine Kostenbeteiligung auch für anderes gesundheitsschädliches Verhalten eingeführt werden.
Und weiter:
Relevant ist dies insbesondere für das Unterlassen medizinischer Behandlungs- und Vorsorgemaßnahmen, die das Risiko für die Entstehung von Krankheiten mit entsprechenden (hohen) Behandlungskosten nachweislich senken. In Sonderheit bei einer Nichtimpfung gegen andere Viren wäre daher zu erwägen, im Krankheitsfall ebenfalls eine Kostenbeteiligung vorzusehen. Im Bereich der Zahnbehandlung existiert beispielsweise bereits ein finanzielles (Bonus-)Anreizsystem. Die Krankenkasse zahlt Versicherten einen erhöhten Festzuschuss zum Zahnersatz, wenn sie ihre Zähne zahnärztlich untersuchen lassen (vgl. § 55 I 3, 4, 5 SGB V).
Hier wird schon mal eine Kostenbeteiligung auch bei anderen Viruserkrankungen gefordert. Die Abgrenzung von den „üblichen Verdächtigen“ Alkohol- und Nikotinkonsum, Übergewicht und Risikosportarten, die man auch noch sanktionieren könnte beschränkt sich auf folgende Sätze:
Gegenüber gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen aus dem Bereich der allgemeinen persönlichen Lebensführung wie einer ungesunden Ernährungsweise, einer hohen UV-Exposition, Bewegungsmangel oder dem Konsum von Alkohol und Nikotin lassen sich dagegen deutliche Unterschiede ausmachen. Sie führen zu Erkrankungen in der Regel erst ab einer gewissen Dauer und Intensität des Verhaltens. Solche Verhaltensweisen pauschal durch Kostenbeteiligungen zu sanktionieren, erscheint daher nicht verhältnismäßig. Zudem sind eine ungesunde Lebensweise und die damit im Zusammenhang stehenden Krankheiten oftmals multifaktoriell bedingt. Sie können dem Einzelnen folglich weniger eindeutig als Folge „eigenverantwortlichen Verhaltens“ zugerechnet werden als die Konsequenzen einer punktuellen Entscheidung über die Inanspruchnahme einer bestimmten medizinischen Behandlung.
Verwirklicht sich ein durch Sport erhöhtes Krankheitsrisiko, lässt sich der Krankheitseintritt zwar objektiv-kausal auf den Sport zurückführen. Allerdings fördern selbst besonders risikoreiche Extremsportarten die allgemeine körperliche Fitness, sodass der gemeinschaftsschädliche Effekt durch eine insgesamt gesundheitsfördernde Wirkung kompensiert wird.
Problematisch erscheint mir, dass man all die Punkte der Autorinnen, mit denen sie für einen Ausnahmetatbestand Nichtimpfung gegen COVID-19 zuvor argumentiert haben, auch hier anbringen könnte. Eine Aufklärung / Ermahnung / Behandungsangebot hat stattgefunden, ab nun gilt die Selbstbeteiligung („Konsequenzen einer punktuellen Entscheidung über die Inanspruchnahme einer bestimmten medizinischen Behandlung“):
Sie haben eine COPD und Rauchen weiter? Dann müssen Sie die Behandlungskosten jetzt selber tragen. Schließlich haben wir Sie bei der Diagnosestellung der COPD auf die Entstehungsmechanismen und die zu Grunde liegenden länderbaren Lebensstilfaktoren aufmerksam gemacht.
Sie haben nach ihrem ersten Herzinfarkt nicht abgenommen? Gehen nicht mehr zum Kardiosport?
Sie haben die empfohlene Vorsorgeuntersuchung nicht wahrgenommen Ja, dann müssen Sie sich wohl an den Kosten Ihrer Brust-/Ovarial-/Dickdarm-/Prostatakrebsbehandlung selber beteiligen.
Sie trinken wieder Alkohol? Gehen nicht mehr regelmäßig zur Selbsthilfegruppe? Dann fällt unser Zuschuss zur nächsten Entgiftungsbehandlung leider geringer aus.
Sie haben Ihre regelmäßige Diabetesschulung nicht wahrgenommen? …
Und so weiter und so fort. Und das führt zum letzten Teil:
Ohne Medizinethik geht es nicht
Frei nach Friedrich Dürrenmatt und „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden“, die Umsetzung der Vorschläge der Autorinnen hätte nicht unerhebliche Konsequenzen:
Gehen wir einmal davon aus, dass ich falsch liege und doch eine relevante Anzahl an COVID-Erkrankten ihre Behandlung selbst zahlen, bzw. sich in relevantem Umfang beteiligen müssten: Wäre das wirklich eine „Impfmotivation“, wie von den Autorinnen angenommen oder führte das nicht dazu, dass sich nicht Geimpfte seltener oder später bei einer COVID-Infektion in ärztliche Behandlung begeben würden? Vor allem, wenn man die typischen Risikogruppen für einen fehlenden oder unvollständigen Impfschutz betrachtet: Menschen mit Migrationshintergrund, psychisch Kranke und generell Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status.
Für die nicht-COVID-Variante würde das umso mehr gelten. Am Ende ist der Vorschlag der Autorinnen in erster Linie ein Versuch, die zunehmenden Kosten des Gesundheitswesens auf Grund einer alternden, zunehmend multimorbiden Gesellschaft auf die jeweiligen „Schuldigen“ abzuwälzen, bzw. das Solidarprinzip nur noch anzuwenden, wenn man analog zum Zahnarzt-Bonus-Heft auch das erwünschte Verhalten nachweisen kann.
Es gibt einen guten Grund, warum in der gesetzlichen Krankenversicherung derartige Ansinnen bislang keine Chancen auf eine Realisation hatten. Man nennt ihn Solidarität.
Es kommt eine 35-jährige Patientin mit wiederkehrenden einseitigen, pulsierenden Kopfschmerzen zu Ihnen. Die Kommunikation ist bei einer Sprachbarriere erschwert, es bestehen in der Anamnese – welche nur mit Dolmetscher möglich ist – Hinweise auf psychosomatische Beschwerden. Braucht die Patientin eine kraniale Bildgebung?
Mit dieser Fallvignette hat mich Heiner Averbeck (Link Twitter) mit der Nase auf das naheliegende Thema Bildgebung bei Kopfschmerzen gestoßen, was ja nicht nur für Neurologen, sondern auch für Allgemein- und Notfallmediziner interessant ist.
Grundidee ist es sekundäre Kopfschmerzen, denen eine akut behandlungsbedürftige Erkrankung zu Grunde liegt, aus den viel häufigeren primären Kopfschmerzen „herauszufiltern“. In der Krankenhausneurologie lautet die Antwort auf die oben gestellte Frage und ähnliche Fallkonstellationen oft: „Ach, mach doch ein Bild“ oder „empfehle doch ein ambulantes MRT des Kopfes“. Der Punkt ist nur: Was sagt denn die medizinische Literatur zu diesen Empfehlungen? Ist das reine Bauchgefühl-Medizin oder kann man das mit wissenschaftlichen Daten unterfüttern oder müsste man eigentlich ganz andere Ratschläge aussprechen? Leider ist die Literatur zu dem Thema – sagen wir mal diplomatisch – überschaubar und überwiegend recht alt. Außerdem muss man bei den Veröffentlichungen höllisch aufpassen, welche Konstellation gerade besprochen wird:
Die Vorstellung mit akuten Kopfschmerzen
Oder die Vorstellung wegen wiederkehrender Kopfschmerzen
Häufigkeit von Kopfschmerzen bei ärztlichen Konsulationen
In einer schon gut 20 Jahre alten Erhebung aus Paris wurden die Leitsymptome von neurologischen Notfallvorstellungen untersucht. Kopfschmerzen machten dabei ca. 8% aller Notfallvorstellungen aus, von denen wiederum 92% primäre Kopfschmerzerkrankungen und 8% symptomatische, sekundäre Kopfschmerzen waren.
nach: Moulin T, Berger, E, et al.: Emergency neurology consultations in the university hospital setting: contribution of the neurologist to inpatient management. Rev Neurol (Paris). 2000 Oct;156(10):839-47.
In Hausarztpraxen erfolgen nach einer Arbeit von Carmienke et al. 2-5% aller Konsultationen auf Grund von Kopfschmerzen. Hier liegt der Anteil an symptomatischen Kopfschmerzen sogar nur bei 2%, dafür ist die (bildgebende) Notfalldiagnostik in der Regel auch nicht unmittelbar verfügbar. Interessant ist auch die Umkehrung der Betrachtungsweise: Von den Patienten, die wegen Kopfschmerzen ihren Hausarzt aufsuchen, sind die beiden häufigsten Konsultationsgründe folgende: Ca. 23% kommen auf Grund von Kopfschmerzen nach, bzw. im Rahmen eines Atemwegs-Infektes (also einem symptomatischem Kopfschmerz) und ca. 20% auf Grund einer Migräne (einem primären Kopfschmerz).
Es stellt sich also die Frage: Braucht es eine Bildgebung und wenn ja, wie zeitnah sollte diese erfolgen? Auch – oder gerade – wenn man kein Kopfschmerz-Experte ist braucht man also eine Operationalisierung des Leitsymptoms Kopfschmerzen. Hier können – wie bei den Rückenschmerzen (Link) auch – red flags als Warnsymptome für „was ernstes“ weiterhelfen.
Red and yellow flags
Grundidee der red flags ist es, symptomatische Kopfschmerzen per Anamnese zu detektieren. Die bei der Fragestellung hilfreiche, seit Jahren aber nicht mehr aktualisierte DGN-Leitlinie Diagnostik und apparative Zusatzuntersuchungen bei Kopfschmerzen sagt folgendes:
Bei typischer Klinik [für eine primäre Kopfschmerzerkrankung] und normalem neurologischem Befund ist die Wahrscheinlichkeit von irrelevanten Zufallsbefunden höher als die Wahrscheinlichkeit, einen behandlungswürdigen Befund zu erheben.
Natürlich gibt es auch bei den symptomatischen, sekundären Kopfschmerzen dringlichere und weniger dringliche Krankheitsbilder. Dies versucht man durch die Kategorie yellow flags abzubilden. Auch wenn die Begrifflichkeit das suggerieren scheint diese Unterteilung im englischsprachigen Sprachraum gar nicht so sehr üblich. Dort findet man eher folgendes Akronym, an dem man sich langhangeln kann.
S:
Systemische Erkrankungen oder sekundäre Risikofaktoren
N:
Neurologische Auffälligkeiten
O:
„Onset“ für plötzlichen Beginn (Donnerschlagkopfschmerzen)
O:
„Older“ für Alter > 50 Jahre
P:
„Pattern change“: Progression vorhandener Kopfschmerzen, Änderung der Kopfschmerzfrequenz oder des Kopfschmerzcharakters.
Ganz prinzipiell muss man sich überlegen, ob einem red und yellow flags bei der Fragestellung als Eselsbrücke wirklich weiterhelfen oder ob es nicht eine einfachere Merkregel gibt, doch dazu unten mehr. Lest erst einmal selbst:
Red Flags
Kopfschmerzen, die auf eine Subarachnoidalblutung oder eine intrazerebrale Blutung oder eine Meningitis hinweisen haben die höchste Abklärungspriorität. Dementsprechend sind der Donnerschlagkopfschmerz und Kopfschmerzen mit akut aufgetretener Fokalneurologie, mit epileptischen Anfällen, einer Visus- und/oder Vigilanzminderung und mit Fieber und Meningismus absolute Notfallindikationen für eine sofortige Bildgebung und weitere Abklärung, zudem Kopfschmerzen, welche zusammen mit Erbrechen ohne sonstige Erklärung hierfür auftreten (Hintergedanke ist auch hier Hirndruck als mögliches Symptom). Dazu kommen noch Kopfschmerzen, die mit klinischen Zeichen eines Glaukomanfalls einhergehen.
Immer noch dringlich – und innerhalb von 24 Stunden abklärungsbedürftig – sind der Literatur nach Kopfschmerzen, die auf eine Riesenzellarteriitis hindeuten, Kopfschmerzen die nach einer atypischen oder länger anhaltenden Migräneaura aufgetreten sind oder Kopfschmerzen bei immunsupprimierten oder tumorkranken Patienten.
Yellow Flags
Hiermit sind Warnzeichen für einen sekundären Kopfschmerz gemeint, aus denen nicht die Notwendigkeit einer unmittelbaren Bildgebung, bzw. einer innerhalb von 24 Stunden, aber eine zeitnahe, resultiert. Je nach Definition und verwendeter Quelle werden hier mitunter auch die Kopfschmerzentitäten des letzten Absatzes hinzugezählt (Hinweise für Riesenzellarteriitis, Kopfschmerzen nach atypischer Migräne usw.). Darüber hinaus gelten als yellow flags anhaltende Kopfschmerzen nach eigentlich unkompliziertem und leichtgradigen Schädel-Hirn-Trauma, lageabhängige Kopfschmerzen, belastungsabhängige Kopfschmerzen (nach Husten/Valsalva, Sex, Sport), therapierefraktäre Kopfschmerzen, chronische Kopfschmerzen (> 3 Monate), Medikamentenübergebrauchskopfschmerzen, Kopfschmerzen in Zusammenhang mit Augenerkrankungen, Zahn-/Kiefergelenkerkrankungen, Nasennebenhöhlenerkrankungen (?!, das würde im Winter in Hamburg zu sehr vielen MRT führen …) und Wirbelsäulenerkrankungen, Kopfschmerzen in Verbindung mit Hirnnervenausfällen, bzw. bei einer Trigeminusneuralgie und Kopfschmerzen im Rahmen metabolischer Veränderungen (nach Hypoxie, bei Blutdruckentgleisungen, …). Dazu kommt noch eine generelle Faustformel, dass bei über 50-jährigen und unter 5-jährigen Patienten mit erstmaligen Kopfschmerzen eine Bildgebung erfolgen sollte, einfach weil die Erstmanifestation einer primären Kopfschmerzerkrankung in dieser Altersgruppe unwahrscheinlich ist.
Risikostratifizierung
Wenn man den Hintergrund dieser Empfehlungen verstehen will, dann muss man sich ein wenig mit den Wahrscheinlichkeiten pathologischer Befunde befassen. Schon in den 1990er Jahren konnte gezeigt werden, dass bei Pat. mit typischer Migräne, welche den IHS-Kriterien entsprach, die Häufigkeit pathologischer Befunde mit 0,2% genauso hoch lag wie in einer Bevökerungsstichprobe ohne Kopfschmerzerkrankungen. Zudem waren auch die 0,2% auffälligen Befunde gar nicht mit der Kopfschmerzerkrankung assoziiert. Bei primären Kopfschmerzen die keine Migräne waren (also im wesentlichen Spannungskopfschmerzen) lag die Quote pathologischer Befunde in der Bildgebung bei 2,4%, auch hier in der Regel ohne fassbare Assoziation zur Kopfschmerzerkrankung. Anders war es bei Kopfschmerzen, die man nicht einer idiopathischen Kopfschmerzerkrankung zuordnen konnte. Hier fand sich bei unauffälligem neurologischen Befund dennoch in 14% ein pathologischer bildgebender Befund, bei auffälligem neurologischen Untersuchungsbefund war die Rate pathologischer bildgebender Befunde noch höher (was ja aber auch zu erwarten ist).
Am Ende hilft es also alles nichts, man muss die häufigsten primären Kopfschmerzerkrankungen kennen und wenn die Kopfschmerzen einer dieser Entitäten entsprechend und der neurologische Befund unauffällig ist, dann bräuchte es (eigentlich) keine Bildgebung.
Die wichtigsten primären Kopfschmerzerkrankungen
Prinzipiell sehr hilfreich bei der Klassifikation von Kopfschmerzen (insbesondere wenn man das nicht so häufig macht) ist die Webseite der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft (Link). Hier findet man wirklich alle Kopfschmerzarten sehr systematisch (und formalistisch) auf- und abgearbeitet.
Migräne
Die Migräne ist (wenn man bei der Anamnese genau hinhört) doch häufiger als Spannungskopfschmerzen und in der Gesamtbevölkerung damit unterdiagnostiziert. Dies mag die merkwürdige Beobachtung, dass die Migräneprävalenz bei Neurologen und besonders bei Kopfschmerzspezialisten bis drei Mal höher als in der Allgemeinbevölkerung liegt (dort nämlich bei 16,8% in Deutschland) erklären, einfach weil sie öfters korrekt diagnostiziert wird (vgl. Diener und Evans). Das war bei mir übrigens genauso, ich habe auch erst ganz am Ende des Studiums festgestellt (bzw. wurde mit der Nase drauf gestoßen), dass meine vermeintlichen Spannungskopfschmerzen wohl eine Migräne sind.
Die Internationale Kopfschmerzgesellschaft sagt zur Migräne ohne Aura folgendes (Link):
A. Mindestens fünf Attacken, welche die Kriterien B bis D erfüllen (die 5 Attacken werden aus formalen Gründen für eine auch für Studien ausreichend hohe diagnostische Sicherheit gefordert, im klinischen Alltag kann man durchaus früher die Diagnose stellen)
B. Kopfschmerzattacken, die (unbehandelt oder erfolglos behandelt) 4 bis 72 Stunden anhalten
C. Der Kopfschmerz weist mindestens zwei der folgenden vier Charakteristika auf:
einseitige Lokalisation
pulsierender Charakter
Verstärkung durch körperliche Routineaktivitäten (z.B. Treppensteigen)
D. Während des Kopfschmerzes besteht mindestens eines:
Übelkeit und/oder Erbrechen
Photophobie und Phonophobie
E. Nicht besser erklärt durch eine andere ICHD-3-Diagnose. (das steht immer unter jeder Kopfschmerzklassifikation)
A. Mindestens zwei Attacken, die das Kriterium B und C erfüllen
B. Ein oder mehrere der folgenden vollständig reversiblen Symptome
visuell
sensorisch
Sprechen und/oder Sprache
motorisch
Hirnstamm
retinal
C. Mindestens drei der folgenden sechs Merkmale sind erfüllt:
wenigstens ein Aurasymptom entwickelt sich allmählich über ≥5 Minuten hinweg
zwei oder mehr Aurasymptome treten nacheinander auf
jedes Aurasymptom hält 5 bis 60 Minuten an
mindestens ein Aurasymptom ist einseitig
mindestens ein Aurasymptom ist positiv
die Aura wird von Kopfschmerz begleitet, oder dieser folgt ihr innerhalb von 60 Minuten
D. Nicht besser erklärt durch eine andere ICHD-3-Diagnose.
Anmerkung:
Treten während einer Aura zum Beispiel drei Symptome auf, so beträgt die maximal akzeptable Dauer 3 x 60 Minuten. Motorische Symptome können bis zu 72 Stunden anhalten.
Eine Aphasie gilt immer als einseitiges Symptom; bei einer Dysarthrie kann, aber muss es nicht so sein.
Flimmerwahrnehmungen sowie nadelstichartige Parästhesien sind Positivsymptome einer Aura.
Als typische Auren gelten: Vollständig reversible visuelle Symptome, Sensibilitätsstörungen und/oder Symptome rund um Sprechen/Sprache. Alle anderen Auren, insbesondere motorische Ausfälle oder Hirnstammsymptome sind per Definition eine atypische Aura. Zur Abgrenzung zwischen einer Migräneaura und vorübergehenden Schlaganfallsymptomen hatte ich vor einiger Zeit schon einmal einen extra Blog-Beitrag geschrieben: Kompliziertes was eigentlich ganz einfach ist: Migräneaura vs. TIA
Spannungskopfschmerzen
Spannungskopfschmerzen sind ja die unspektakuläre kleine Schwester der Migräne. Weil sie so unspektakulär sind fordert die Internationale Kopfschmerzgesellschaft auch mehr Attacken als bei der Migräne (und insbesondere der Migräne mit Aura) bevor man von Spannungskopfschmerzen mit hinreichender Sicherheit (für Studienzwecke, s.o.) ausgehen kann: Link. Zudem werden Spannungskopfschmerzen mittlerweile in seltene, häufige und chronische Kopfschmerzen unterteilt (anders als bei der Migräne). Selten sind sie, wenn sie an weniger als 12 Tagen im Jahr auftreten, häufig, wenn sie sich bis zu 14 Tagen im Monat manifestieren und alles darüber hinaus sind dann chronische Spannungskopfschmerzen. Die Klassifikation sieht wie folgt aus:
A. Mindestens 10 Kopfschmerzattacken, die die Kriterien B bis D erfüllen.
B. Die Kopfschmerzdauer liegt zwischen 30 Minuten und 7 Tagen.
C. Der Kopfschmerz weist mindestens zwei der folgenden Charakteristika auf:
Beidseitige Lokalisation
Schmerzcharakter drückend oder beengend, nicht pulsierend
Leichte bis mittlere Schmerzintensität
Keine Verstärkung durch körperliche Routineaktivität wie Gehen oder Treppensteigen
D. Beide der folgenden Punkte sind erfüllt:
Fehlen von Übelkeit oder Erbrechen
Es darf entweder eine Photophobie oder eine Phonophobie, nicht jedoch beides vorhanden sein
E. Nicht besser erklärt durch eine andere ICHD-3-Diagnose.
Fassen wir also noch mal zusammen: Wenn wir hinreichend sicher sind, dass primäre Kopfschmerzen vorliegen (eben weil diese den gerade durchdeklinierten Definitionen entsprechen) und der neurologische Untersuchungsbefund normal ist, dann benötigen wir (in der Regel) keine Bildgebung. In allen anderen Fällen schon. Ich persönlich finde diese Herangehensweise auch eingängiger als die mit den red und yellow flags. Stellt sich nur noch die Frage, welche Bildgebung soll denn veranlasst werden, wenn denn eine notwendig ist:
CT oder MRT? Welche Bildgebung?
Hier kann man sich folgendes merken: Bei der akuten Hirnblutung ist die CT der MRT eigentlich überlegen, in allen anderen Fällen nicht. Das heißt bei den red flags, bei denen eine unmittelbare Bildgebung erforderlich erscheint (Donnerschlagkopfschmerzen, Kopfschmerzen mit epileptischen Anfällen, Vigilanzminderung oder akuter Fokalneurologie) wird man eine CCT veranlassen, in allen anderen Fällen eher eine MRT.
Bei den akuten Blutungen muss man zudem wissen, dass die CT in den ersten Stunden eine überragende Sensitivität zur Blutungsdetektion hat, insbesondere bei der Subarachnoidalblutung, dann aber rasch weniger sensitiv wird. Als Faustregel können diese Zahlenwerte dienen:
Zeitraum
Sensitivität CT
8 – 12 Stunden
98 – 100 %
< 24 Stunden
93 %
> 24 Stunden
86 %
> 48 Stunden
76 %
> 5 Tage
58 %
> 7 Tage
50 %
Dies ist der Grund, warum bei mehr als 24 Stunden zurückliegenden Donnerschlagkopfschmerzen in jedem Fall eine Liquorpunktion mit der Frage nach Blutabbauprodukten im Liquor empfohlen wird, wenn die CT nicht wegweisend bleibt. Insbesondere in den ersten 8-12 Stunden nach Donnerschlagkopfschmerz gibt es für eine Liquorpunktion keinen richtigen Grund, auch wenn in vielen (wenn nicht allen Krankenhäusern) die Liquorpunktion bei unauffälliger Computertomographie zum SAB-Ausschluss dazu gehört.
Wo man weiterlesen kann
Carmienke S, Holle-Lee D. Triage bei Kopfschmerz in der Hausarztpraxis: Wann einweisen? Dtsch med Wochenschr. 2019;144(10):651-658. doi:10.1055/a-0759-8052
Diener HC. Warum ist die Migräne bei Neurologen so häufig? InFo Neurologie. 2021;23(11):3-3. doi:10.1007/s15005-021-2144-9
May, A. et al.: S1-Leitlinie Diagnostik und apparative Zusatzuntersuchungen bei Kopfschmerzen, Link,Link pdf, seit 2017 abgelaufen, nicht mehr aktualisiert
Weitere Literatur
Becker WJ, Scott NA, Mhsa CH, RPsych PT. Guideline for primary care management of headache in adults.
Evans RW, Lipton RB, Silberstein SD. The prevalence of migraine in neurologists. Neurology. 2003;61(9):1271-1272. doi:10.1212/01.WNL.0000090628.46508.D4
Evers S, Frese A, Marziniak M. Differenzialdiagnose von Kopfschmerzen. Deutsches Ärzteblatt. Published online 2006.
Moulin T, Berger, E, et al.: Emergency neurology consultations in the university hospital setting: contribution of the neurologist to inpatient management. Rev Neurol (Paris). 2000 Oct;156(10):839-47.
Am 06.12. hat die Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung – wie sie offiziell heißt – ihre Pläne für eine Reform der Krankenhausfinanzierung in Deutschland auf der Bundespressekonferenz vorgestellt. Es ist relativ wahrscheinlich, dass die Vorschläge der Kommission zumindest ähnlich wie in der vorgeschlagenen Art und Weise umgesetzt werden, so dass es sich lohnt, sich damit zu beschäftigen, wenn man irgendwie mit Krankenhausmedizin zu tun hat. Um die Reformvorschläge richtig verstehen zu können, muss man aber erst einmal damit auseinander setzen, wie Krankenhausfinanzierung in Deutschland bislang funktioniert, also das DRG-System. Dazu hatte ich den Blogbeiträgen zu Überversorgung in der Medizin und zum Thema Medizin brennt schon mal was geschrieben, habe es hier aber zusammengetragen und etwas erweitert.
Der Status Quo: Das DRG-System
Krankenhausfinanzierung kann man ganz grob in zwei Bereiche unterteilen: In die Finanzierung der laufenden Kosten, die durch Behandlung von Patienten entstehen und die, die man für die Bereitstellung der Krankenhausinfrastruktur benötigt. Für den zweiten Teil sind die Bundesländer zuständig. Hier ist es ähnlich gelagert wie beim 2% Ziel der NATO und dem deutschen Verteidigungshaushalt: Die Bundesländer kommen dem gesetzten Ziel von 7-8% Investitionsförderung gemessen am Umsatz der Krankenhäuser nicht nach und lagen 2020 nur bei 3,4% (Link). Das ist ein wesentlicher Teil des Problems warum viele Krankenhäuser in so schlechtem baulichen Zustand sind und warum die Energiekosten für viele Krankenhäuser derzeit oft eine existenzielle Krise darstellen (Link). Besonders wenig Förderung bekommen übrigens staatliche Häuser, besser schneiden Häuser privater oder freigemeinnützlicher Träger ab. Aber darum geht es hier eigentlich nicht, sondern um die Finanzierung der laufenden Behandlungs- und Personalkosten, die im wesentlichen über die Diagnosis Related Groups (DRG) geleistet wird.
Kostengewicht und Landesbasisfallwert: Die Original-DRG
Diagnosis Related Groups (DRG) gibt es als Grundlage für Verteilung von Versicherungsleistungen schon ganz lange. In Deutschland wurde 2003 jedoch das damals bestehende System so geändert, dass seither jede stationäre Krankenhausbehandlung (mit Ausnahme der Psychiatrie) mit einer Fallpauschale vergütet wird, deren Höhe sich an der Diagnose und verschiedenen Schweregraden und Begleiterkrankungen bemisst. Grob gesagt kann man sich das wie einen Pauschalurlaub mit all inclusive vorstellen.
Jede Diagnose findet sich in einer Fallpauschale wieder, die in einer bestimmten Systematik durchnummeriert sind. Jeder Fallpauschale ist ein Kostengewicht (andere Begriffe sind Bewertungsrelation und Relativgewicht) zugeordnet, ein Zahlenwert, der den Schweregrad und den Behandlungsaufwand der Fallpauschale darstellen soll.
Bestimmte Prozeduren, also Operationen, aber auch Komplexbehandlungen (also interdisziplinäre Behandlungsmodelle, z.B. bei einem Schlaganfall, in der Frührehabilitation auf der Intensivstation usw. mit definierten ärztlichen, pflegerischen aber auch therapeutischen Leistungen) erhöhen die Bewertungsrelation (und damit den Abrechnungsbetrag).
Die Behandlung eines Patienten mit einem Schlaganfall ohne eine Komplexbehandlung auf einer Stroke Unit führt zur DRG B70F mit einem Kostengewicht von 0,795
Die Behandlung des selben Patienten auf einer Stroke Unit mit einer Dauer der Behandlung von mindestens 72 Stunden führt zur DRG B39C mit einem Kostengewicht von 2,122
Wenn man jetzt wissen will, wie viel Geld das Krankenhaus für den Fall bekommt, so muss man wissen, wieviel so ein Kostengewicht wert ist. 1,0 Kostengewichte sind gleichgesetzt mit dem Landesbasisfallwert. Der beträgt z.B. 2021 in Hamburg 3.743,70 EUR (Link). Das bedeutet, dass
in Beispiel 1 das Krankenhaus eine Summe von 2.976,24 EUR (0,795 x 3.743,70 EUR) abrechnen kann, zuzüglich der Kosten für das Pflegepersonal (die wurden ab 2020 aus den DRG „rausgerechnet“ und werden gesondert abgerechnet, siehe unten),
in Beispiel 2 das Krankenhaus 7.944,13 EUR (2,122 x 3.743,70 EUR) abrechnen kann, zuzüglich der Kosten für das Pflegepersonal.
Wie werden DRG überhaupt ermittelt?
In Deutschland gibt es ca. 250 (2020 272) sogenannte Kalkulationskrankenhäuser. Diese übermitteln einen erweiterten Datensatz an das InEK (das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus). Hierin sind alle Behandlungskosten für jede Fallpauschale aufgeschlüsselt. Daraus berechnet sich dann ein Durchschnitt der Aufwendungen, die ein Krankenhaus für eine Behandlung hat. Und hieraus berechnet sich dann die DRG.
Probleme des DRG-Systems
DRG funktionieren für Krankenhäuser nur über die Menge, weil nur so die ständigen Infrastruktur- und Personalkosten (die Vorhaltekosten, um die es gleich noch ganz viel gehen wird) ausgeglichen und gegenfinanziert werden können. Und sie funktionieren somit am besten bei einer gleichmäßigen Auslastung, z.B. im elektiven operativen Bereich und besonders schlecht in der nicht planbaren Notfallmedizin.
Der Mechanismus mit den Stufen in den Prozedurencodes führt tendenziell dazu, dass Patienten möglichst hochbewertete Prozeduren (OPS-Codes) erhalten und auch bei der Kodierung des Falls versucht wird, möglichst viele die Fallpauschale erhöhende Begleiterkrankungen zu finden. Das wiederum intendiert, dass mittelfristig nach diesen Nebendiagnosen gesucht wird, was ein Mehraufwand an Diagnostik und ggfs. Therapie bedeutet welcher durchaus auch ohne Mehrwert für den Patienten bleiben kann und was dann eine Art von Überversorgung ist.
Die Komplexbehandlungen (die ja zu den Prozeduren gehören) sind wiederum fast immer in verschiedene Zeiträume unterteilt, in welchen sie erbracht werden und in welchen sie verschieden viel Erlös generieren. Je länger sie erbracht werden, desto höher ist die Vergütung, was ja auch logisch ist. Das bedeutet aber, dass es „Stufen“ in der Erlösstruktur z.B. der Schlaganfallversorgung gibt, nach 24 Stunden auf der Stroke Unit gibt es mehr Geld, nach 72 Stunden noch deutlich mehr usw. Patienten werden dementsprechend eher 24,5 Stunden auf der Stroke Unit behandelt und möglichst nie 23,5 Stunden usw. Und dann „macht man die 24 Stunden noch voll“ (oder die 72 Stunden usw.), auch wenn die Behandlung auf der Stroke Unit vielleicht nicht mehr notwendig wäre, hier kein spezifisches Therapieziel mehr besteht. Auch das ist natürlich Überversorgung. DRG begünstigen somit Überversorgung.
Ein weiteres Problem des bisherigen DRG-Systems erklärt sich durch seine Simplizität. Um Erlössteigerungen zu realisieren, können Krankenhäuser neben der geschilderten Erlösoptimierung eigentlich nicht viel tun, außer die Zahl der Behandlungen zu erhöhen oder ihre Sach- und Personalkosten zu drücken, um unter den Durchschnitt, den die Kalkulationskrankenhäuser aufwenden müssen zu kommen. Denn die DRG sind ja eigentlich so kalkuliert, dass am Ende eine schwarze 0 stehen sollte.
Diese Erlössteigerungen können aus Gewinnstreben geschehen, sind aber oft auch nötig, weil z.B. Gehaltserhöhungen (oder aktuell die Entwicklung Energiekosten) über die Steigerungsraten des Landesbasisfallwertes hinausgehen (Link) oder eben weil die Bundesländer ihren Investitionsaufwendungen nicht nachkommen und Krankenhäuser notwendige Anschaffungen / Renovierungen / Sanierungen selber stemmen müssen. Dies führt zu dem viel zitierten Hamsterradeffekt, bei dem mit dem selben Personalschlüssel Jahr um Jahr 10-15% mehr Patienten behandelt werden sollen.
Herausnahme der Pflegepersonalkosten aus den DRG
Ab 2020 – wurden die Personalkosten für das Pflegepersonal, allerdings nicht für das ärztliche oder medizinisch-technische (MTAs) oder therapeutische Personal und auch nicht für z.B. OP-Pflege aus den DRG herausgelöst und gesondert – im Grunde nach tatsächlichen Unkosten – vergütet. Wie immer im Gesundheitssystem geschieht das nicht direkt, d.h. die Krankenhäuser stellen nicht ihre Lohnkosten für das Pflegepersonal den Krankenkassen direkt in Rechnung, sondern es werden verschiedene Scores gebildet, die miteinander verrechnet werden (ähnlich wie bei den DRG mit Kostengewichten und Landesbasisfallwert). Grundsätzlich sind aber die Pflegepersonalkosten, die auf den Bettenstationen anfallen damit in der tatsächlich entstandenen Höhe gegenfinanziert.
Die DRG die nach Abzug der – wie geschildert gesondert vergüteten – Pflegepersonalkosten übrig bleiben nennt man übrigens aDRG, wobei das a für ausgegliedert steht.
Der Reformvorschlag der Krankenhauskommission
Das DRG System ist 20 Jahre alt. Es hat die Ökonomisierung der Krankenhäuser zu weit getrieben und muss jetzt durch ein moderneres System abgelöst werden. An dieser Reform, der größten Krankenhausreform seit 20 Jahren, wird jetzt intensiv gearbeitet. https://t.co/eYJfQL7au3
Der Reformvorschlag der Krankenhauskommission beschreibt aber keineÜberwindung der DRG, sondern deren (dringend erwartete) Überarbeitung, mit einer (aber gewichtigen) Ausnahme, wo die DRG tatsächlich abgeschafft werden sollen.
Wenn man die Medienberichte zur Bundespressekonferenz gelesen hat, dann besteht die vorgeschlagene Reform aus folgenden drei Punkten :
Schaffung von vergleichbaren Krankenhausleveln mit definierten Mindeststandards
Definition von Leistungsgruppen, die das System der Fachabteilungen bzw. Einzel-DRG ablösen sollen
Einführung einer Vorhaltefinanzierung
Was hat das nun mit DRG zu tun? Die Punkte klingen erst einmal wenig intuitiv, sind es aber eigentlich gar nicht. Um in die Materie – abseits dieses Blogbeitrags einzutauchen – empfiehlt es sich den Reformvorschlag selber zu lesen (Link pdf):
Vorschlag 👇 der @BMG_Bund Krankenhaus-Kommission für den Umbau der Krankenhauslandschaft. Wird ohne die Opposition nicht gehen, realistisch gesehen.https://t.co/6V6lWFV33E
Oder man schaut sich die Bundespressekonferenz vom 06.12. einfach an:
Besonders empfehlenswert ist aber das dreiteilige Webinar der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) mit Christian Karagiannidis und Reinhard Busse zu dem Thema:
Teil 1 (Ausgangslage, warum ist eine Reform nötig?)
Teil 2 (Reformvorschläge der Kommission)
Teil 3 (Weitere Erläuterungen zum Thema Vorhaltefinanzierung)
Die Grundidee
Grundidee des Reformvorschlags ist, dass zukünftig Krankenhausleistungen nur noch von dafür qualifizierten Krankenhäusern (entsprechend der Krankenhauslevel) mit bundesweit vergleichbaren Qualitätsstandards (in den Leistungsgruppen) erbracht werden dürfen. Das heißt, dass das zuletzt in der COVID-Pandemie beim Thema ECMO desaströs gescheiterte Konzept der Markt regelt das und alle dürfen alles machen aufgegeben wird. Das soll zu einer höheren Behandlungsqualität, einer besseren Steuerung von Patientenströmen und darüber zu einer Umorganisation der Krankenhauslandschaft führen.
Zudem wird eine DRG-unabhängige Grundversorgung in kleinen Kliniken eingeführt und für Kliniken, die weiter am DRG-System teilnehmen dem Wesen der Notfallmedizin Rechnung getragen und eine Vorhaltevergütung eingeführt, so dass alleine das Bereithalten von Infrastruktur und Personal für eine Krankenversorgung schon vergütet wird.
Schauen wir uns die Punkte etwas detaillierter an:
Krankenhauslevel
Die Kommission schlägt vor, dass bundesweit fünf Krankenhauslevel eingeführt werden, welche von den Bundesländern (die ja die Hoheit über die Krankenhausplanung haben) und dem Medizinischen Dienst (MD, ex MDK) nach fest vorgegebenen Kriterien vergeben werden.
Diese Level sind:
Level Ii (i = integrierte ambulante und stationäre Versorgung)
Level In (n Notaufnahme der Notfallstufe I)
Level II
Level III
Level IIIU (Unikliniken)
Zudem gibt es eine eigene Definition und Mindestanforderung an Fachkrankenhäuser, die in das Modell sonst nicht so richtig integrierbar wären.
Ziel ist es, die bislang bundesländerunterschiedlichen „Versorgungsstufen“, die Einteilung in Regel-, Schwerpunkt- und Maximalversorgung usw. zu normieren und damit vergleichbar zu machen.
Geplante Krankenhauslevel. Aus der Stellungnahme der Krankenhauskommission (Link).
Die Stufen erinnern – nicht ohne Grund – an das G-BA-Stufenmodell der Notfallversorgung (Link), wie man an dieser Tabelle aus der verschriftlichen Stellungnahme der Kommission erkennen kann:
Übersicht über das geplante Stufenmodell. Aus der Stellungnahme der Krankenhauskommission (Link).
Dass das Stufensystem pyramidenartig aufgebaut ist, ist durchaus gewollt und ist auch jetzt schon so. So gab es derzeit (lt. Prof. Busse im DGIIN-Webinar, Link) in Deutschland 2020 1730 Krankenhausstandorte, von denen
164 (9%) die G-BA-Stufe 3 erfüllen und 5,0 Millionen stationäre Fälle (31% aller stationären Behandlungen) abgerechnet haben
261 (15) der G-BA-Stufe 2 mit 4,3 Millionen Fällen (26%)
650 (38%) der G-BA-Stufe 1 mit 5,3 Millionen Fällen (33%) und
660 ohne G-BA-Stufe (39%), die 1.7 Millionen stationäre Fälle (10%) behandelt haben.
Das heißt, das auch jetzt schon 24% der Krankenhäuser (G-BA-Stufe 2+3) 57% der stationären Fälle behandeln.
Neu sind – wie erwähnt – die umfangreichen Strukturvorgaben, die ein Krankenhaus neben den Erfordernissen der Notfallversorgung vorhalten muss, um in die Krankenhauslevel eingestuft zu werden:
Durch den MD zu prüfende Mindeststandards der Krankenhauslevel. Aus der Stellungnahme der Krankenhauskommission (Link).
Auffällig – und total wichtig – ist, dass zum ersten Mal in jedem Level ein Krankenhaus-Sozialdienst gefordert wird.
Level Ii-Kliniken
Die Definition der Level Ii-Kliniken ist eigentlich am interessantesten, weil hier tatsächlich etwas neues entstehen soll. Zum Einen können die Level Ii-Kliniken unter fachpflegerischer Leitung betrieben, zum Anderen Ärzte entweder aus dem ambulanten Sektor im Sinne von Belegärzten oder als angestellte Ärzte im Kollegialsystem eingebunden werden, also wirkliche integrierte ambulant/stationäre Versorgung anbieten (daher auch das i). Die Krankenhäuser des Level Ii sind die, die aus den DRG komplett herausgelöst werden, dort soll die Vergütung nach Tagessätzen, welche mit zunehmender Aufenthaltsdauer kleiner werden, erfolgen. Hauptaufgabe der Level Ii-Kliniken soll sein eine Grundstruktur, in der es möglich ist
wohnortnah zumeist allgemeine und spezialisierte ambulante fachärztliche Leistungen mit Akutpflegebetten, in denen Patientinnen und Patienten z. B. zur Beobachtung und Basistherapie oder nach der Verlegung aus einem Haus der Regel-/Schwerpunkt- oder Maximalversorgung stationär überwacht und gepflegt werden können.
anzubieten. Und weiter:
Um die regionalen Gegebenheiten angemessen berücksichtigen zu können, sind gerade für diese Versorgungsstufe flexible Möglichkeiten entscheidend. Je nach Bedarf sollte es daher möglich sein, Level Ii auch als regionales Gesundheitszentrum mit ambulanten Behandlungsmöglichkeiten, jedoch zwingend mit Akutpflegebetten ohne Fachabteilungszuordnung zu planen.
Das sind tatsächlich Big News, da man hier zum Konzept von Gesundheitszentren mit kleinen stationären Behandlungseinheiten kommt, wie man es aus skandinavischen Ländern kennt. Die Organisationsstruktur der Level Ii-Kliniken kann man sehr schlank halten, insbesondere wenn sie – wie es die Kommission es fordert – organisatorisch an Level III-Kliniken angeschlossen werden und sozusagen als Außenstellen funktionieren.
Mögliche Struktur einer Level Ii-Klinik. Aus dem DGIIN-Webinar-Vortrag von Christian Karagiannidis (Link).
Level In-Kliniken
Die Level In-Kliniken sollen dort entstehen, wo
das nächstgelegene Krankenhaus der Regel- und Schwerpunktversorgung bzw. der Maximalversorgung weiter als 30 Minuten Pkw-Fahrzeit entfernt ist oder bei denen das Bundesland einen besonderen Versorgungsauftrag sieht.
und eine Basisnotfallversorgung vorhalten (daher das n). Die Level In-Kliniken werden anders als die Level Ii-Häuser nach DRG vergütet. Aufgabenbereiche der Level In-Häuser sollen
die stationäre internistische und chirurgische Basisversorgung, Basis-Notfall- versorgung und je nach Bedarf auch Geriatrie oder Palliativmedizin
sein. Auch die Level In-Kliniken sollen fest an eine Level III-Klinik angebunden sein. Die Krankenhauskommission stellt es sich so vor, dass auch die medizinische Ausbildung im Rahmen der Facharztweiterbildung eine Rotation zwischen Level I und Level III-Kliniken vorsieht, um eine wirklich effektive Verzahnung und umfassende Ausbildung möglich zu machen.
Leistungsgruppen
Mit den Krankenhausleveln soll die Versorgungstruktur normiert und eine Strukturqualität sicher gestellt werden, mit den Leistungsgruppen die Behandlungsqualität. Damit Schluss mit alle machen alles ist, sollen Behandlungen für bestimmte Erkrankungen an ein Mindest-Krankenhauslevel geknüpft werden. Da die klassischen Fachabteilungen (also Kardiologie, Neurologie usw.) inhaltlich nicht definiert sind und die einzelnen DRG-Codes zu zahlreich (derzeit gibt es 1.300 DRG-Codes) und zu kleinteilig sind, hat die Kommission 128 Leistungsgruppen definiert, z.B. in der Herzmedizin Kardiologie, interventionelle Kardiologie, EPU/Ablation, kardiale Devices und minimalinvasive Herzklappenintervention. Hierunter kann man sich durchaus was vorstellen unter den neurologischen Leistungsgruppen Basisbehandlung Neurologie, allgemeine Neurologie, komplexe Neurologie und Neuro-Frühreha bis auf die Frührehabilitation deutlich weniger.
Hier ist der Reformvorschlag der Kommission aber auch noch nicht fertig, vielmehr soll die Definition der einzelnen Leistungsgruppen innerhalb von 12 Monaten erfolgen und dann neben den konkreten Erkrankungsbildern, die sie beinhalten auch die personellen und technischen Mindestvoraussetzungen für die Erfüllung der Leistungsgruppen festgelegt werden, ebenso welche Leistungsgruppen ein Krankenhaus noch vorhalten muss. Die Kommission macht hier folgendes Beispiel:
Zum Beispiel sollte die Pankreaschirurgie (LG 2.7.4) sowohl die allgemeinere Viszeralchirurgie (LG 2.7) als auch die Gastroenterologie (LG 1.3) sowie Hämatologie und Onkologie (LG 1.4) voraussetzen .
Und zu guter letzt soll über die Leistungsgruppen festgelegt werden, welcher Anteil der Vergütung als Vorhaltevergütung erfolgen soll. Schematisch soll das dann so aussehen, dass auch Level II- und -III-Krankenhäuser Basisleistungen erbringen,
Vergütung nach Leistungsgruppen und Krankenhausleveln. Aus der Stellungnahme der Krankenhauskommission (Link).
idealerweise aber weniger als bisher:
Wie viele der Patienten, die auf einer Station einer Uniklinik liegen, wären genauso gut in einem Level 2 oder gar Level 1 Haus versorgt? Je nach Fachrichtung würden mich 50% überhaupt nicht wundern.
Neben der Abschaffung der DRG in den Level Ii-Kliniken ist dies der zweite Punkt, der bei der Krankenhausvergütung eine grundlegende Änderung erbringen soll. Wie oben erläutert finanzieren sich bislang die Kosten, die ein Akutkrankenhaus, welches an der Notfallversorgung teilnimmt für die 24/7-Mindestbesetzung von ZNA, Stationen, Funktionsbereichen und für die technische Infrastruktur allein über die Masse der erbrachten DRG. D.h., behandele ich jährlich 2.000 Patienten auf der Stroke Unit „lohnt“ sich diese viel mehr, als wenn es nur 200 sind, da sich dann diese Kosten, die Vorhaltekosten auf mehr Fälle aufteilen und somit pro Fall geringer sind. Dieses Konzept funktionierte eine Zeit lang recht gut, nämlich in der Phase, in der jährlich steigende Fallzahlen zu verzeichnen waren, also in dem Zeitraum ca. 2005 bis 2015.
Entwicklung der KH-Leistungszahlen. Aus dem DGIIN-Webinar-Vortrag von Reinhard Busse (Link).
Bei stagnierenden oder einbrechenden Fallzahlen (z.B. COVID-Pandemie) aber weiter steigenden Infrastruktur- und Personalkosten funktioniert diese Art von Vergütung aber nicht mehr. Zudem macht sie die ausreichende Vorhaltung von Personal und Infrastruktur unattraktiv. Die Idee der Kommission ist es, einen Teil der bisherigen DRG-Leistungen schon im Voraus, für die Erbringen der Vorhalteleistungen auszuzahlen. Das Ganze soll an die Erbringung von Mindeststandards (Krankenhauslevel und Leistungsgruppen-Voraussetzungen) geknüpft werden.
Laut dem Paper der Kommission liegen typische Vorhaltekosten (bei einem Betrachtungszeitraum von 3 Jahren) bei ca. 35% der DRG-Vergütung, in bestimmten Bereichen wie Notfall-, Intensiv- und Kindermedizin, sowie der Geburtshilfe aber höher. Die Gesamtvergütung der Krankenhäuser soll nicht steigen, für die bereits ausgegliederten Pflegebudgets kann man nach den Angaben von Christian Karagiannidis im DGIIN-Webinar ca. 20% der DRG-Summe veranschlagen. Ziel soll es sein, diese ja schon jetzt fallunabhängig ausgeschütteten 20% auf ca. 40%, bzw. 60% in den geschilderten Ausnahmefällen zu erweitern und die Rest-DRG, die dann auch rDRG heißen auf 60%, bzw. 40% der ursprünglichen Summe abzusenken.
Schematisch sieht das dann so aus, die Vorhaltevergütung würde pro Leistungsgruppe ausgeschüttet werden (was noch wichtig werden wird):
Geplantes 3-Säulen-Modell der stationären Vergütung. Aus der Stellungnahme der Krankenhauskommission (Link).
Idealerweise würde laut Kommission die Vorhaltevergütung knapp unter den tatsächlichen Vorhaltekosten liegen, um nicht Nichtstun zu belohnen, aber nur geringe Behandlungszahlen für einen auskömmliche Vergütung zu benötigen.
Für die Pädiatrie soll es auf Grund des dort höheren personellen Aufwandes, der sich in den bisherigen DRG nicht ausreichend abgebildet hat einen 20%-Aufschlag auf die bisherige DRG-Erlössumme geben.
Soweit die Darstellung der Reformvorschläge. Würden diese so umgesetzt, würden sie aber einen durchaus gewollten Impact auf die bisherige Krankenhausstruktur haben.
Implikationen der Vergütungsreform auf die Krankenhausstruktur
Zentrenbildung
Offensichtlich gewollt – und auch meines Erachtens sehr sinnvoll – ist in den Reformvorschlägen das Bestreben eine Verlagerung von komplexeren medizinischen Behandlungen aus der Breite in Zentren zu erreichen. Wir wissen schon seit Jahren, das die Zahl von durchgeführten Behandlungen mit am besten mit einem guten Behandlungsergebnis korreliert und Komplikationen seltener macht. Mehrfach wird in den Reformvorschlag die Möglichkeit betont, dass Krankenhäuser Leistungsgruppen austauschen und sich so Behandlungszentren bilden.
Auch, dass die Vorhaltevergütung je Leistungsgruppe ausgeschüttet wird, macht es für die Krankenhäuser attraktiver, wenn es möglichst wenige Häuser gibt, die die jeweilige Leistungsgruppe anbietet, da dann das Budget pro Haus höher ist.
Standortschließungen
Zusammenlegung von Standorten ist mit netteren Worten das selbe wie Krankenhausschließungen. Im Webinar der DGIIN präsentierte Professor Busse folgende Grafik mit einem Vergleich von Krankenhausstandorten in Deutschland und Dänemark:
Anzahl der Krankenhäuser in Dänemark und Deutschland 2018. Aus dem DGIIN-Webinar-Vortrag von Reinhard Busse (Link).
Der Vergleich hinkt zwar durchaus etwas, weil Dänemark auch vor seiner Strukturreform des Gesundheitswesens im Jahr 2005 nur 45 Krankenhäuser hatte, einfach weil es dünner besiedelt ist und weil Dänemark mittlerweile 10-20 neue Polikliniken/Gesundheitszentren, bzw. dem LevelIi-Konzept ähnliche Einrichtungen plant (Link), weil die Zentralisierung doch zu stark war, wird die Botschaft deutlich: Es gibt in den Augen der Kommission in Deutschland zu viele Kliniken und selbst bei aller nachvollziehbaren Kritik an Schließungsplänen, Bertelsmann-Studie usw., so ganz von der Hand zu weisen ist das nicht, v.a. wenn man die weiter oben aufgeführte Versorgungsrealität betrachtet, nach der ein Großteil der stationären Behandlungen auch jetzt schon in den relativ wenigen G-BA-Stufen 2 und 3-Kliniken stattfindet.
Ein weiterer Punkt – ebenfalls aus dem Webinar mit Professor Busse – ist, dass die Zahl der stationären Behandlungen in Deutschland im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn sehr hoch ist, auch wenn Bevölkerungsstruktur, v.a. hinsichtlich Alter und Multimorbidität ähnlich ist. Hier hat er folgende Grafik präsentiert:
Stationäre Behandlungen im internationalen Vergleich. Aus dem DGIIN-Webinar-Vortrag von Reinhard Busse (Link).
Im internationalen Vergleich müssten wir also theoretisch deutlich mehr Behandlungen ambulant anbieten, welche bislang stationär erfolgen. Dann würden wir auch weniger Krankenhausbetten benötigen und weniger Kliniken.
In meinen Augen ist es schade, dass die Kommission nur einmal kurz den Elefanten im Raum erwähnt: Die Trennung des ambulanten nicht-hausärztlichen-Facharztsystem von den im Krankenhaus tätigen Fachärzten, welches – so wie es derzeit in Deutschland gelebt wird – dazu führt, dass viele Untersuchungen und Behandlungen, die einen höheren Zeit- oder Personalaufwand benötigen im stationären Setting durchgeführt werden, auch wenn eigentlich eine stationäre Aufnahme gar nicht notwendig gewesen wäre. Die Antwort der Kommission sind die Tages-DRG, welche in der zweiten Stellungnahme (Link) (dies hier ist die dritte) vorgeschlagen wurden. Vielleicht ist es auch der nötige Realismus den die Kommission an den Tag legt, zu wissen, dass sich diese Doppelstruktur in Deutschland – so unsinnig sie auch sein mag – nicht auflösen lassen wird.
Verlierer der Reform
Was man bei solchen Reformvorschlägen nie machen sollte ist, die Vorschläge daran zu bemessen, ob sie für den eigenen Arbeitsplatz/Arbeitgeber vorteilhaft sind oder nicht. Denn so sind sie nicht konzipiert. Hier geht es um das Gesamtsystem stationäre Krankenversorgung. Wenn es hier zu – notwendigen – Umstrukturierungen kommt, werden in jedem Fall Arbeitsplätze verlagert werden, vielleicht sogar verloren gehen. Dass das System aber nicht so bleiben kann wie bisher dürfte mindestens jedem und jeder, der oder die darin arbeitet klar sein. Trotzdem gibt es zwei klare Verlierer der Reformvorschläge und zwar zum Einen die Fachkrankenhäuser, deren Sonderstellung zwar gesehen und beschrieben wird, die aber mit der Formulierung
Die Regierungskommission regt trotzdem an, dass diese hochqualifizierten Kliniken zukünftig baulich und inhaltlich in Kliniken der Stufe II und III integriert werden.
angezählt sein dürften. Zum Anderen sind es Fachabteilungen, die sehr leistungsstark sind und sehr viele Behandlungen durchführen. Durch die Einführung der Vorhaltevergütung – die für diese Abteilungen auf Grund ihrer Behandlungszahlen ggfs. gar nicht so wichtig ist – verringert sich der Mehrerlös je durchgeführter Behandlung, eben weil die rDRG geringer ausfallen als die alten aDRG. Das kann man sehr schön an dieser Grafik nachvollziehen:
Erlösentwicklung je Fallmenge. Aus der Stellungnahme der Krankenhauskommission (Link).
Das bedeutet, dass in diesen Abteilungen der Erlös, darüber das Personal und darüber die Behandlungskapazitäten und -zahlen schrumpfen dürften. Als Beispiel fallen mir große kardiologische Abteilungen ein, die viele Herzkatheter- und ggfs. minimalinvasive Klappenbehandlungen durchführen.
Warum keine Revolution? Was die geplante Reform nicht ist
Drei wiederkehrende alternative Vorschläge zur Behandlungsvergütung hat die Krankenhauskommission sehr bewusst nicht berücksichtigt und geht in den verschiedenen Stellungnahmen auch darauf ein, warum sie das nicht tut:
Mehr Geld
Die Kommission stellt fest, dass wir in Deutschland im internationalen Vergleich sehr viel Geld für unser Gesundheitssystem bereits ausgeben, insgesamt ca. 13% des Bruttoinlandsprodukts, und für die stationäre Krankenversorgung im Jahr 2020 3,4% des Bruttoinlandsprodukts, was im europäischen Vergleich ebenfalls sehr viel ist. Nur Österreich gibt mehr aus (3,7% des BIP). Zudem ist es in Deutschland innerhalb von 10 Jahren zu einer Steigerung von 0,4% des BIP gekommen, da es 2010 noch 3,0% des BIP waren. Auch das ist im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn sehr viel, kaum ein Land hat eine derartige Steigerung der Gesundheitsausgaben zu verzeichnen. Sie folgert, dass eigentlich mehr als Genug Geld im System sein sollte, dass das DRG-System aber zu einer hohen Effizienz der Krankenhäuser, aber nicht zu einer hohen Effizienz des Gesamt-Gesundheitssystems geführt hat. Deswegen und angesichts der zu erwartenden unvermeidlichen Kostensteigerungen durch eine immer älter und multimorbider werdende Gesellschaft, immer teurere weil bessere Therapien und der notwendigen Anpassungen der Gehaltsstrukturen im Gesundheitssystem (siehe auch #Medizin brennt) sollte nicht noch mehr Geld ins System Krankenhaus gepumpt werden.
Mehr Personal
Die Kommission erläutert, warum die Hoffnung auf mehr Personal im Gesundheitswesen absehbar unrealistisch ist und sich der Fachkräftemange nicht abstellen lassen wird: Die Babyboomer gehen jetzt in Rente, in den nächsten Jahren werden insgesamt bis zu 500.000 Arbeitskräfte weniger dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Diese können nicht ersetzt werden. Die Grafik aus der schriftlichen Stellungnahme illustriert diesen Effekt sehr schön.
Renteneintritt der Babyboomer. Aus der Stellungnahme der Krankenhauskommission (Link).
Keine Ökonomie
Vor allem in der BPK und dem Webinar wurde erläutert, warum die Kommission die alternativ immer wieder vorgeschlagenen Modelle Tagessätze für alle Krankenhäuser und 100%-Finanzierung der tatsächlichen Kosten nicht für sinnvoll hält:
Beide Modelle gab es schon in Deutschland, erst die 100%-Finanzierung und dann die Tagessätze. Bei beiden Modellen wurde die stationäre Medizin langsam, ineffizient, die Patienten waren lange stationär aufgenommen, die Behandlungskosten uferten immer weiter aus.
Bei der 100%-Finanzierung und den Vorhaltekosten wird – auch von Herrn Karagiannidis – der Feuerwehr-Vergleich bemüht. Die Feuerwehr bekommt ja tatsächlich ihrer entstandenen Kosten ohne Abrechnungssystem erstattet. Nun ist es auch hier so wie mit vielen Vergleichen: Er hinkt. Denn die Feuerwehr löscht zwar einen Brand, betreibt aber nicht auch noch die Brandschadensanierung. Und hier unterscheidet sich die Krankenversorgung dann doch, weil es bei der eben nicht nur um den akuten Notfall, sondern auch um die Restitution geht. Und hier muss man Grenzen ziehen, da sonst die Ansprüchlichkeiten, die auch von Patienten- und Angehörigenseite nahezu täglich angemeldet werden („wenn ich schon mal hier bin, können wir dann nicht auch ein MRT vom Knie machen“, „Mutti muss nur mal ordentlich bei Ihnen aufgepäppelt werden“) nicht begrenzt werden können.
An dem Begriff Ökonomie, bzw. der Formulierung „ohne Ökonomie wird es nicht gehen“ haben sich verschiedene Diskussionen entzündet. Wenn man Ökonomie mit Effizienz und Zielgerichtetheit gleichgesetzt hätte, hätten vermutlich weniger Ärztinnen und Ärzte ein Problem mit der Begrifflichkeit gehabt.
Ein ganz kurzes Fazit
Mir geht es genauso wie Marc Bota: Ich verspüre angesichts der Vorschläge der Kommission Zuversicht, nachdem ich bei der Ankündigung zunächst sehr sehr skeptisch war.
Ein sehr interessantes Webinar der @DGIINeV mit Reinhard Busse und @ECMOKaragianni1 zu der Krankenhausreform. Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen, aber insgesamt ist es das erste Mal seit langer Zeit, dass ich wieder etwas Zuversicht verspüre. https://t.co/YYuZgwHxkm
Ich sehe auch keine grundlegenden Fehler / Probleme usw., aber ich persönlich konnte in den vergangenen Jahren auch meinen Frieden mit dem DRG-System machen. Was man aber meines Erachtens bedenken muss: Die Reform der Krankenhausvergütung löst ganz viele Probleme nicht, die ich im #Medizin brennt-Beitrag zusammengetragen habe, von der Entlohnung der Pflegekräfte bis hin zur Fehlinanspruchnahme der Notaufnahmen durch Pseudo-Notfälle bzw. strukturelle Probleme in der ambulant-ärztlichen Versorgung.
Neuer Anlauf beim Zurück zum Neurologie-Content mit einem Brot-und-Butter-Neurologie-Thema: Der erste epileptische Anfall im Erwachsenenalter. Die dazugehörige DGN-Leitlinie ist abgelaufen und wird derzeit überarbeitet, parallel ist im vergangenen Jahr ist die SANAD II-Studie erschienen, mit der sich relevante Änderungen bei der First-Line-Medikation ergeben haben. Also muss ein Blogbeitrag her.
Epilepsie, unprovozierte und akut-symptomatische Anfälle
Epileptische Anfälle sind überhaupt nicht selten, 5-10% aller Menschen erleiden irgendwann im Leben einen epileptischen Anfall, viele davon einen Fieberkrampf als Kind oder einen nicht bemerkten epileptischen Anfall im Schlaf. Jedes Gehirn ist in der Lage einen epileptischen Anfall zu machen, nur die Schwelle, ab wann das passiert ist interindividuell unterschiedlich. Es gibt verschiedene Provokationsfaktoren wie metabolische Entgleisungen, Entzüge von GABA- und Gycin-erg wirkenden Substanzen wie Alkohol oder Benzodiazepinen, die zu epileptischen Anfällen führen können. Auch der berühmte Schlafmangel, über dessen Bedeutung durchaus kontrovers diskutiert wird, gehört dazu. In einem sehr sehr frühen brainpainblog-Beitrag hatte ich schon mal etwas zu diesen provozierten epileptischen Anfällen geschrieben, die früher auch Gelegenheitsanfälle oder Okkasionsanfälle genannt wurden und die mittlerweile als akut-symptomatische epileptische Anfälle bezeichnet werden.
Nomenklatur
Von einer Epilepsie spricht man, wenn zwei oder mehr nicht provozierte epileptische Anfälle im Abstand von mehr als 24 Stunden aufgetreten sind oder wenn es zu einem epileptischen Anfall „mit dem Wiederholungsrisiko von zwei Anfällen“ gekommen ist. Das klingt kompliziert, ist es aber nicht, dazu gleich mehr.
Mehrere epileptische Anfälle, die innerhalb von 24 Stunden auftreten heißen Serie epileptischer Anfälle, anhaltende epileptische Anfälle oder Serien bei denen der Patient zwischen den Anfällen das Bewusstsein nicht wiedererlangt Status epilepticus. Um den soll es heute aber nicht gehen, das ist ein eigenes Thema.
Epidemiologie
Die Epilepsie selber hat eine Inzidenz von 40-70/100.000 und eine Prävalenz von 500-900/100.000. Damit haben zwischen 0,5 und 0,9 Prozent der Bevölkerung eine Epilepsie. Diese Angaben sind aber nur bedingt hilfreich, da die Epilepsie-Inzidenz zwei sehr deutliche Altersgipfel hat, einmal im Kindes- und Jugendalter (bedingt durch die idiopathischen Epilepsien und den strukturell-läsionellen durch anlagebedingt und erworbene frühkindliche Hirnschäden) und im höheren Erwachsenenalter durch die dann auftretenden „erworbenen“ strukturellen Läsionen z.B. durch stattgehabte Schlaganfälle, Hirnblutungen oder Hirntumoren.
aus: Stephen, L. J. & Brodie, M. J. Epilepsy in elderly people. Lancet 355, 1441–1446 (2000)
Risikostratifizierung
Die Epilepsie-Definition mit den „2 oder mehr nicht provozierten epileptischen Anfällen“ kommt immer so unhandlich daher, hat aber folgenden Hintergrund, der aus den Grafiken aus der Arbeit von Specht und Bien sehr eindrücklich hervorgeht.
aus: Specht, U. & Bien, C. Erster epileptischer Anfall im erwerbsfähigen Alter: Prognose-adaptiertes Management. Aktuelle Neurol. 45, 737–748 (2018).
Fangen wir mit Grafik d rechts unten an. Nach einem unprovozierten epileptischen Anfall liegt das Wiederholungsrisiko bei ca. 20%, steigt im Laufe von 5 Jahren noch auf 30%. Sobald ein zweiter Anfall auftritt landet man bei einem Wiederholungsrisiko von 60%, welches innerhalb der 5 Jahre Nachbeobachtungszeit auf ca. 70% steigt. Ein dritter Anfall ändert daran aber nichts mehr, hier bleibt das Risiko für einen vierten, fünften usw. Anfall dann gleich. Das ist die Rationale für die „2 oder mehr nicht provozierte epileptischen Anfälle“, die eine Epilepsie definieren.
Unter a sieht man das Wiederholungsrisiko nach mehreren unprovozierten epileptischen Anfällen und nach akut-symptomatischen Anfällen. Während es sich bei den unprovozierten epileptischen Anfällen um die 60% einpendelt, bleibt es bei den akut-symptomatischen Anfällen stabil bei 20%.
Grafik b verdeutlicht, dass der Schlafentzug viel weniger relevant ist, als man oft glaubt und das Wiederholungsrisiko nach einem epileptischen Anfall mit Schlafentzug eher beim nicht-provozierten als beim akut-symptomatischen Anfall liegt. Grafik c ist historisch bedeutsam und zeigt verschiedene Studien, die sich in den 1980er und 1990er Jahren an der Risikostratifizierung versucht haben.
Ob nach einem unprovozierten epileptischen Anfall ein weiterer Anfall auftritt und damit dann formal eine Epilepsie vorliegt ist vom Vorliegen verschiedener Risikofaktoren abhängig, die man sehr gut im Rahmen einer Epilepsie-Abklärung stratifizieren kann. Generell kann man sagen, dass kortikale Läsionen in der MRT, epilepsietypische EEG-Veränderungen und das Auftreten von epileptischen Anfällen aus dem Schlaf heraus weitere epileptische Anfälle wahrscheinlicher machen.
Auch hier hat die Arbeit von Specht und Bien eine hilfreiche Grafik.
aus: Specht, U. & Bien, C. Erster epileptischer Anfall im erwerbsfähigen Alter: Prognose-adaptiertes Management. Aktuelle Neurol. 45, 737–748 (2018).
Links geht es um die (vermeintlich) idiopathischen epileptischen Anfälle, rechts um die strukturell-läsionellen. Man sieht, wie das Wiederholungsrisiko bei beiden Anfallsentitäten mit auffälligem EEG (a = auffällig, n = normal) oder MRT steigt. Das heißt, sind EEG und/oder MRT auffällig ist es relativ wahrscheinlich, dass eine Epilepsie vorliegt und weitere Anfälle zu erwarten sind, was sich mit der folgenden Grafik deckt, in der man sehen kann, dass eine antikonvulsive Therapie sich vor allem dann rentiert, wenn mehrere Anfälle aufgetreten sind oder die Epilepsie-Diagnostik auffällig geblieben ist.
aus: Specht, U. & Bien, C. Erster epileptischer Anfall im erwerbsfähigen Alter: Prognose-adaptiertes Management. Aktuelle Neurol. 45, 737–748 (2018).
Epilepsie-Diagnostik
Was gilt es nun zu tun, wenn sich ein Patient nach einem epileptischen Anfall ärztlich vorstellt? Eigentlich ist es ganz banal, man macht das, was man immer macht: Anamnese, körperliche Untersuchung, apparative und laborchemische Diagnostik. Bei all diesen Dingen gibt es ein paar Punkte, auf die es zu achten gilt.
Anamnese
Bei einem epileptischen mit Bewusstseinsverlust erwarten wir in der Regel eine ordentliche mnestische Lücke. Das heißt, eine sofortige Reorientierung spricht eher für eine stattgehabte Synkope oder einen psychogenen nicht epileptischen Anfall (PNEA). Typisch sind Eigenanamnesen, in denen die Patienten berichten, plötzlich oder nach einer Aura das Bewusstsein verloren zu haben und erst beim Eintreffen des Rettungsdienstes, im Rettungswagen oder im Krankenhaus sich erst wieder an die Geschehnisse erinnern zu können. Muskelkater wird nach generalisierten epileptischen Anfällen oft erst am Folgetag berichtet.
Viel hilfreicher ist aber oft die Fremdanamnese. Zum Einen ist bei Anfällen mit Bewusstseinsverlust die Frage nach den Augen des Betroffenen hilfreich, wie die Grafik aus der DGN-Leitlinie verdeutlicht:
aus: Elger C. E., Berkenfeld R. (geteilte Erstautorenschaft) et al. S1-Leitlinie Erster epileptischer Anfall und Epilepsien im Erwachsenenalter. 2017.
Die Augenstellungen bei A1 und A2 (der berühmte Herdblick) sprechen für einen epileptischen Anfall, geschlossene Augen (B) eher für einen psychogenen nicht epileptischen Anfall und nach oben verdrehte, leicht geöffnete Augen (oft mit „flatternden“ Augenlidern) für Synkopen.
Auch das Hautkolorit des Patienten ist oft hilfreich: Gerade bei kardinalen Synkopen sind die Patienten oft aschfahl, bei vasovagalen kaltschweißig. Und schlussendlich kann man nach der Dauer des Anfalls fragen, wobei diese oft grandios überschätzt wird und vor allem dann verwertbar ist, wenn jemand auf eine Uhr geschaut hat. Ein typischer generalisierte epileptischer Anfall dauert 90 bis 120 Sekunden, bei Synkopen wird in der Regel innerhalb von 30 Sekunden das Bewusstsein wiedererlangt, Anfälle über 10 Minuten sind – wenn sie kein Status epilepticus sind, was manchmal echt schwierig zu differenzieren ist – hochverdächtig auf psychogene nicht epileptische Anfälle.
Klinische Untersuchung
Relativ typisch für einen generalisierten epileptischen Anfall ist ein lateraler Zungenbiss, während Zungenbissverletzungen an der Zungenspitze durchaus auch bei Synkopen oder psychogenen nicht-epileptischen Anfällen auftreten können. Des Weiteren lohnt es sich gerade bei jüngeren muskulösen Anfallspatienten per Klopfen eine Wirbelsäulenfraktur unwahrscheinlich zu machen, da diese bei generalisierten (tonisch-klonischen) Anfällen recht häufig auftreten.
Bildgebung
Standard-Bildgebung nach einem stattgehabten epileptischen Anfall, bzw. in der Anfallsabklärung ist heutzutage ein MRT, welches bei nicht zwingend mit Kontrastmittel erfolgen muss. Immer wenn es eine Tumoranamnese gibt und nun einen epileptischen Anfall sollten jedoch KM-Sequenzen angefertigt werden, da Mikrometastasen oder eine Meningeosis carcinomatosa durchaus epileptische Anfälle verursachen kann und in den Sequenzen ohne KM nicht zwingend auffällt.
Bei jüngeren Patienten wird nach anlagebedingten Anomalien gesucht, z.B. eine Temporalhorn-Sklerose oder im Marklager versprengten Kortexinseln (Heterotopien), bei älteren Patienten eher nach abgelaufenen Schlaganfällen, Hirnblutungen und ggfs. nach Tumoren.
EEG
Die Chance im interiktualen EEG – also der EEG-Ableitung nach, bzw. zwischen zwei Anfällen – Pathologien abzuleiten ist nicht besonders hoch. Man schätzt, dass man nur in 20 bis 40% der Fälle nach einem Anfall epilepsietypische Potentiale ableiten kann, die Sensitivität ggfs. vorhandene epilepsietypische Potentiale abzuleiten liegt dann nach drei EEG-Ableitung auch gerade mal bei 70%. Findet man sie, ist das (siehe Risikostratifizierung) ein relativ harter Indikator für das Auftreten weiterer epileptischer Anfälle. Nach derzeitigem Wissensstand sind diese dann bei 77% der Menschen mit einem pathologischen EEG nach einem stattgehabten epileptischen Anfall zu erwarten.
Generalisierte epilepsietypische Muster in einer Referenzableitung zu Cz. Eigene Grafik.
Allerdings haben auch zwischen 0,5 und 2% aller Menschen, die nicht an einer Epilepsie leiden zwischendurch epilepsietypische Muster im EEG und bestimmte Medikamente – v.a. Neuroleptika – führen zu derartigen Entladungsmustern im EEG ohne dass die Patienten an einer Epilepsie leiden (wobei Neuroleptika nahezu alle die „Anfallschwelle“ senken).
Labordiagnostik
Laborchemisch ist vor allem die CK interessant, welche bei generalisierten epileptischen, tonisch-klonischen Anfällen mit einer Sensitivität von bis zu 88% und einer Spezifität von 85 bis 100% zwischen bilateral tonisch-klonischen und psychogenen nicht-epileptischen Anfällen unterscheiden kann, wenn man sie mehr als 12 Stunden nach dem Anfall bestimmt. Bei Synkopen ist die CK auch hilfreich, da ist die Sensitivität mit maximal 75% aber schlechter.
Prolaktin, was noch durch viele Köpfe spukt lässt sich nur in Epilepsiezentren mit entsprechender Expertise sinnhaft bestimmen. Zum Einen benötigt man einen Basiswert, der aber interindividuell unterschiedlich ist und den man typischerweise nur dann bestimmt, wenn man Patienten hinsichtlich des Auftretens epileptischer Anfälle über einen gewissen Zeitraum beobachten will, wie es in Epilepsiezentren mit Video-EEG-Überwachung üblich ist. Eine Erhöhung auf mehr als das Dreifache des Basiswertes 15 bis 20 Minuten nach einem bilateral tonisch-klonischen Anfall hat dabei eine sehr hohe Sensitivität und Spezifität. Allerdings muss Prolaktin gekühlt ins Labor, umgehend bestimmt werden usw. und das klappt nur, wenn man gut geübte entsprechende Abläufe etabliert hat. Für die Wald und Wiesen-Neurologie ist das dementsprechend nichts, da ist die CK-Bestimmung nach 12 Stunden sinnvoller. Manchmal fällt – als Analogie zum Prolaktin – bei Patienten, die nach einem epileptischen Anfall aufgenommen werden und dort eine typische ZNA-Routine-Labordiagnostik abgenommen wird eine isolierte TSH-Erhöhung auf ohne dass eine Schilddrüsenfunktionsstörung vorliegt, die sich dann im Verlauf rasch normalisiert. Evidenzbasierten ist das aber nicht.
Wann braucht es eine Liquordiagnostik? Die (abgelaufene) Leitlinie hatte sich dazu gar nicht positioniert. Generell kann man sagen, immer wenn eine erregerbedingte oder autoimmun vermittelte Enzephalitis im Raum steht. Verkürzt gesagt also bei
jungen Patienten mit psychiatrischer und/oder autonomer Dysregulation und epileptischen Anfällen und
bei Patienten mit MRT-morphologischen Veränderungen, die an eine limbische Enzephalitis denken lassen unter dem Verdacht einer Autoimmunenzephalitis
bei älteren Patienten mit Fieber, einem Anfall, v.a. wenn postiktual eine Aphasie auffällt mit der Frage vor allem nach einer Herpes-Enzephalitis.
Im Artikel von Malter findet sich passend hierzu folgende Aussage:
Es existieren jedoch keine hinreichenden Daten zur Sinnhaftigkeit einer Liquordiagnostik bei wachen, afebrilen Patienten nach erstem Anfall ohne weiteres fokales Defizit, weshalb diese nicht zwingend empfohlen wird.
Allerdings – wenn man die Indikation zur Liquorpunktion so streng auslegt – wird man durchaus vor allem „mildere“ Virusenzephalitiden und so zeigt die Erfahrung auch einige Autoimmunenzephalitiden verpassen. Momentan hilft vor allem etwas klinische Erfahrung bei der Einschätzung, es ist zu hoffen, dass die neue Leitlinie hier einen Algorithmus vorgibt. Wir halten es in der Regel so, dass wir wenn es eine klare strukturell-läsionelle Ursache gibt (wie einen stattgehabten Schlaganfall) oder wir im EEG bei jüngeren Patienten epilepsietypische Muster passend zu einer juvenilen idiopathischen Epilepsie finden keine Liquorpunktion durchführen, bei den ganz klaren Indikationen (siehe oben) diese in jedem Fall durchführen und bei den Fällen dazwischen sie zumindest niedrigschwellig anbieten.
Antikonvulsive Behandlung
Wann und warum behandeln?
Was sind jetzt Gründe für eine antikonvulsive Behandlung, bei der man ja in der Regel zweimal täglich sehr regelmäßig ein Medikament einnehmen muss? Man kann diese wie folgt zusammenfassen:
Ein erhöhtes Rezidivrisiko
nicht kausal zu behandelnde, bleibende Anfallsursachen (wie eine Schlaganfallnarbe, eine Hippocampussklerose u.ä.)
eine gute Prognose für Anfallsfreiheit unter antikonvulsiver Medikation
berufliche Risiken oder Wartefristen bei Epilepsie
die Notwendigkeit Auto zu fahren
Gefährdung durch Stürze durch die Anfälle, z.B. bei Indikation zur Einnahme einer antikonvulsiven Medikation und
die persönliche Präferenz
Womit behandeln? Die blaue oder die rote Pille?
Ganz prinzipiell stehen eine ganze Menge Antikonvulsiva zur Verfügung, mit welchen man Epilepsien behandeln kann. Manche sind nur für die Behandlung primär generalisierter Epilepsien zugelassen, manche nur bei strukturell-läsionellen Anfallserkrankungen und gerade neuere Substanzen nur als And On-Therapie. Einen Überblick gibt diese Tabelle aus der 2017er DGN-Leitlinie, in der auch die in der Literatur oft verwendeten Abkürzungen für die einzelnen Antikonvulsiva aufgeführt sind:
Am Ende ist es aber so wie mit den Opioiden. Jede/r braucht ein Medikament, mit dem sie oder er sich sicher und erfahren fühlt. Noch weiter schränkt sich die Auswahl durch die Leitlinienempfehlungen ein, die im Endeffekt wie folgt lauten:
Medikamente der ersten Wahl sind bei
primär generalisierte Epilepsien: Valproat, Topiramat oder Lamotrigin
fokale Epilepsien: Levetiracetam oder Lamotrigin
Dazu kommt noch die 2021 erschienene SANAD II-Studie, zu welcher es jeweils eine Publikation für generalisierte und eine für fokale Epilepsien gibt. In beiden Publikationen schnitt das in der Leitlinie noch als gleichwertig angesehene – und im klinischen Alltag oft auf Grund der schnellen Eindosierbarkeit und den fehlenden Medikamenteninteraktionen favorisierte – Levetiracetam schlechter ab als Valproat in der einen und Lamotrigin in der anderen Arbeit ab; und zwar sowohl in der Anfallskontrolle, als auch im Nebenwirkungsprofil. Valproat ist bei primär generalisierten Epilepsien schon signifikant besser wirksam als Lamotrigin, so dass es bei Männern und Frauen im nicht gebärfähigen Alter als erste Option erwogen werden sollte. Beachtet man aber den Rote Hand Brief zu Valproat (Link), so ist Lamotrigin für viele Patienten, bei denen Zeit für die notwendige Eindosierung ist, ein gutes Präparat.
Alles hat ein Ende? Die Sache mit dem Absetzen
Gute Empfehlungen zum Absetzen von Antikonvulsiva gibt es eigentlich nicht. Lange Zeit wurde auf eine Arbeit von 1991 verwiesen, nun ist 2021 eine (relativ kleine) Studie mit 133 Epilepsie-Patienten erschienen (Contento et al.), die das Absetzen von Antikonvulsiva untersucht hat. Patienten die mehr als zwei Jahre anfallsfrei waren und gleich auf das erste Antikonvulsivum angesprochen haben, haben die besten Chancen auch nach einem Absetzversuch anfallsfrei zu bleiben. Setzt man Antikonvulsiva ab, so sollte man das sehr langsam über mehrere Monate tun.
Literatur
Bast, T. et al. Erster epileptischer Anfall und Epilepsien im Erwachsenenalter. Aktuelle Neurol. 44, 603–636 (2017).
Brandt, C. Akut-symptomatische epileptische Anfälle: Inzidenz, Prognose und Aspekte der antiepileptischen Behandlung. Aktuelle Neurol. 39, 480–485 (2012).
Contento M, Bertaccini B, Biggi M, et al. Prediction of seizure recurrence risk following discontinuation of antiepileptic drugs. Epilepsia. 2021;62(9):2159-2170. doi:10.1111/epi.16993
Malter, M. Erster epileptischer Anfall. DGNeurologie 2, 295–302 (2019).
Marson, A. et al: The SANAD II study of the effectiveness and cost-effectiveness of levetiracetam, zonisamide, or lamotrigine for newly diagnosed focal epilepsy: an open-label, non-inferiority, multicentre, phase 4, randomised controlled trial. The Lancet, 397(10282), 1363–1374. (2021) https://doi.org/10.1016/S0140-6736(21)00247-6
Marson, A., Burnside, G., Appleton, R., Smith, D., Leach, J. P., Sills, G., Tudur-Smith, C., Plumpton, C., Hughes, D. A., Williamson, P., Baker, G. A., Balabanova, S., Taylor, C., Brown, R., Hindley, D., Howell, S., Maguire, M., Mohanraj, R., Smith, P. E., … Jauhari, P. (2021). The SANAD II study of the effectiveness and cost-effectiveness of valproate versus levetiracetam for newly diagnosed generalised and unclassifiable epilepsy: an open-label, non-inferiority, multicentre, phase 4, randomised controlled trial. The Lancet, 397(10282), 1375–1386. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(21)00246-4/
Specht, U. & Bien, C. Erster epileptischer Anfall im erwerbsfähigen Alter: Prognose-adaptiertes Management. Aktuelle Neurol. 45, 737–748 (2018).
Stephen, L. J. & Brodie, M. J. Epilepsy in elderly people. Lancet 355, 1441–1446 (2000)
Vollmar, C. & Noachtar, S. Bildgebende Diagnostik und EEG in der Differenzialdiagnose epileptischer Anfälle. Nervenarzt 88, 1119–1125 (2017).
Ich habe die heutige Pressekonferenz zum Beginn der „Ich schütze mich“-Kampagne erst mit Absicht nicht und dann doch komplett auf YouTube geschaut
und hier gibt es in den Aussagen von Karl Lauterbach sehr viele Dinge, die man so meines Erachtens nicht stehen lassen kann, so dass hier einige Anmerkungen kommen.
Vorweg
Den Auftritt von Margarete Stokowski möchte ich hier nicht kommentieren. Der wird in den sozialen Medien gerade v.a. von der Impfgegner-Szene missbraucht. Ich halte Margarete Stokowski generell nicht für eine gute „Markenbotschafterin“ für Post COVID vom CFS-Typ, weil sie mit ihren öffentlichen Statements vor allem in den sozialen Medien teilweise die Klischees von Post COVID und CFS arg strapaziert und meines Erachtens dadurch bei vielen Menschen Vorurteile eher bestärken als widerlegen wird, aber das kann man vermutlich auch anders sehen und führt auch vom Thema weg.
Hier soll es um die Aussagen von Karl Lauterbach gehen.
Risikoreduktion durch vierte Impfung und durch Einnahme von Paxlovid
02:45 min: Karl Lauterbach fasst hier die Wirksamkeit einer vierten COVID-Impfung und der Einnahme von Paxlovid bei symptomatischer Infektion wie folgt zusammen:
Sterberisikoreduktion durch vierte Impfung gegenüber „nur drei“ Impfungen von 90%
weitere Sterberisikoreduktion durch Einnahme von Paxlovid bei schwerer Infektion von 80-90%
Er endet mit dem potentiellen Fettnäpfchen-Satz
… dann bleibt nur noch ein ganz kleines Restrisiko über, bei welcher anderen Erkrankung haben wir das?
Die Antwort darauf lautet: Bei anderen Infektionserkrankungen haben wir das auch, vor allem bei welchen, die auch schwer verlaufen können, bei Zoster-Infektionen zum Beispiel oder bei Hepatitis B.
Karl Lauterbach benutzt konkrete Prozentangaben. Das machen andere Politiker in derartigen Settings nicht sondern verwenden allgemeinere Aussagen wie „sehr wirksam“ oder „sehr effektiv„, welche im Zweifelsfall weniger gut widerlegbar sind. Mir kamen diese Prozentangaben arg hoch vor und haben meine Skepsis geweckt. Ich musste allerdings recht lange suchen bis ich Studien gefunden habe, die in etwa das widerspiegeln, was Karl Lauterbach in der Pressekonferenz vorgestellt hat (und eine habe ich nicht gefunden, auf diese wurde ich hingewiesen). Beim Thema Paxlovid kommt noch ein weiterer Punkt hinzu, doch dazu weiter unten mehr.
Alle von Karl Lauterbach verwendeten Prozentangaben sind relative Risikoreduktionen. Das nur diese angegeben werden kommt in Studien durchaus so vor, wird aber immer wieder kritisiert (Link), weil die alleinige Darstellung relativer Risiken keinen guten Überblick über die Effektstärke einer Maßnahme / eines Medikamentes geben. Gewöhnlich wird gefordert, dass zusätzlich die absoluten Risiken (Link) oder – oft besser greifbar – eine number needed to treat(NNT) (wieviele Menschen muss ich behandeln, damit einer einen Effekt durch die Behandlung hat) oder bei Impfstoffen die number needed to vaccinate (NNV) angegeben werden.
Die 90% Sterberisikoreduktion durch eine vierte Impfung stammt vermutlich aus den regelmäßig veröffentlichten israelischen Surveillance Daten, hier zum Beispiel zur vierten Impfung (allerdings mit dem Wildtyp-Impfstoff): Link. Allerdings betrug die relative Risikoreduktion in dieser Studie 78% und damit eher knapp 80% statt 90%. Die israelischen Daten sind im Rahmen einer retrospektiven Kohortenstudie erhoben worden, nicht in einer prospektiven kontrollierten klinischen Studie. Eine gewisse mögliche Verzerrung hierdurch sollte nicht außer acht gelassen werden. Wie immer wenn nur relative Risiken kommuniziert werden lohnt ein Blick auf die absoluten Risiken: In der israelischen Studie sind 92 der insgesamt 328.597 vier mal geimpfte Probanden innerhalb der 40-tägigen Beobachtung an COVID verstorben. Das sind 0,028%. Und es sind 232 der insgesamt 234.868 drei mal geimpften Probanden an COVID innerhalb von 40 Tagen verstorben, was 0,099% ausmacht. Die absolute Risikoreduktion beträgt also 0,071%. Bei Betrachtungen ganzer Populationen (nicht nur der Älteren) sind die Ergebnisse naturgemäß weniger eindrücklich, da bei jüngeren Menschen die Erkrankungsrisiken generell niedriger sind. Für die israelitische Kohorte kann man das zum Beispiel hier mal vergleichen: Link. Nur der Vollständigkeit halber: Andere Studien aus anderen Ländern kommen auf niedrigere Risikoreduktionen, zum Beispiel diese hier aus Schweden (ebenfalls eine retrospektive Kohortenstudie, Link), wo die relative Risikoreduktion bei hochaltrigen Probanden beim Sterberisiko maximal 71% betrug. Auch hier sind die absoluten Risiken relativ klein: 0,017% gegen 0,045%.
Aber – und das muss man sich vor Augen halten – wir reden hier nicht über seltene Erkrankungen, sondern über eine Infektionskrankheit, an der ein Großteil der Bevölkerung erkranken wird, viele auch mehrfach und da sind absolute Risikoreduktionen im Promillebereich dann doch auf Grund der großen Grundgesamtheit auf einmal bedeutsam. Was man sich aber auch vor Augen halten muss ist, dass das alles Daten zu den „alten“ Impfstoffen sind. Zu den neuen, bivalenten Omikron-Impfstoffen gibt es diese Daten schlicht nicht. Zur rationalen Betrachtung einer vierten COVID-Impfung hilft übrigens auch die wissenschaftliche Begründung der STIKO weiter (Link) und auch die zur Impfempfehlung mit den angepassten Impfstoffen (Link).
Beim Paxlovid wird es kompliziert. Karl Lauterbach sagt:
Sollte er trotzdem schwer erkranken, kann er durch die Paxlovid Gabe das Risiko erneut um 80-90 Prozent senken.
Nirmatrelvir/Ritonavir (das sind die beiden Wirkstoffe) wird bei Risikopatienten zur Verhinderung schwerer COVID-Verläufe möglichst rasch nach bestätigter Infektion eingesetzt (Link), wobei die Definition, wer zur Gruppe mit Paxlovid-Indikation gehört derzeit zunehmend weiter gefasst wird. Das Medikament muss vor einer etwaigen Sauerstoffpflichtigkeit eingenommen werden, denn diese soll es ja verhindern. Die Aussage von Karl Lauterbach stimmt so also nicht, Paxlovid hilft nicht, wenn schon ein schwerer Verlauf eingetreten ist. Vermutlich ist das auch so gar nicht gemeint gewesen, sondern eher im Sinne „mit zusätzlicher Paxlovid-Einnahme lassen sich schwere Verläufe bei Menschen mit COVID-Infektion über 60 Jahren in 80-90% der Fälle verhindern“. Das ist das, was ich dazu ergänzen kann:
Diese (Link) doppelblinde, kontrollierte prospektive Therapiestudie mit Paxlovid bei ungeimpften Risikopatienten hatte eine relative Risikoreduktionen für den kombinierten Endpunkt Hospitalisation oder Tod von knapp 90% gezeigt, das absolute Risiko sank zwischen 5 und 6% (je nach Beobachtungszeitpunkt), entsprechend einer NNT von 17 bis 20. Das ist aber nicht der von Karl Lauterbach skizzierte Einsatzort bei drei- oder vierfach geimpften Menschen im höheren Lebensalter. Auch hierzu gibt es Studien – allerdings retrospektive Kohortenstudien – zum Beispiel diese hier (Link) oder diese (Link). In der ersten Studie wurden zwar Patienten > 18 Jahre eingeschlossen, das mittlere Patientenalter lag mit 57,5 Jahren aber nah an den > 60 Jahren aus der Pressekonferenz. ´Für den kombinierten Endpunkt Aufsuchen einer Notaufnahme/stationäre Behandlung/Tod durch COVID konnte eine relative Risikoreduktion von 45% gezeigt werden und eine absolute Risikoreduktion von 6,53% (NNT 15). Das ist deutlich weniger als von Karl Lauterbach in der Pressekonferenz dargestellt. In der zweiten ebenfalls retrospektiven Kohortenstudie, die Patienten ab 40 Jahren einschloss lag das mittlere Patientenalter bei 60 Jahren. Diese Studie untersuchte zwei Subgruppen, einmal unter 65 Jahren und einmal ab 65 Jahren. Während für die jüngeren Patienten kein signifikanter Paxlovid-Effekt gezeigt werden konnte, betrug die relative Risikoreduktion für Hospitalisation 68% und für Tod durch COVID 79%. Aber: Die absoluten Risiken waren klein und die absolute Risikoreduktion ebenfalls. So verstarben 0,08% der mit Paxlovid behandelten Patienten und 0,39% der nicht behandelten, entsprechend einer absoluten Risikoreduktion von 0,31% oder einer NNT von 322. 0,73% der mit Paxlovid behandelten über-65-jährigen Patienten mussten stationär aufgenommen werden und 2,51% der unbehandelten Patienten. Daraus resultiert eine absolute Risikoreduktion von 1,78% oder eine NNT von 56 im Beobachtungszeitraum von 35 Tagen.
Ist das jetzt viel oder wenig? Die NNT von ASS zur Sekundärprophylaxe nach Herzinfarkt oder Schlaganfall liegt zum Beispiel zwischen 77 und 200 und für Tod bei 300 bei einem Beobachtungszeitraum von 2 Jahren (Link), die eines ACE-Hemmers bzw. eines Sartans bei der Behandlung der Herzinsuffizienz in einem Zeitraum von 5 Jahren bei ca. 14. Je länger der Beobachtungszeitraum wird, desto niedriger wird die NNT. Angesichts des kurzen Beobachtungszeitraums bei Paxlovid in den jeweiligen Studien und der hierfür respektablen NNT sollte bei höheraltrigen Patienten mit COVID-Infektion der Paxlovid-Einsatz meines Erachtens unbedingt erwogen werden.
Mit oder an COVID gestorben
04:50 min: Hier geht es um die Frage wer denn noch an COVID stirbt und dass die Antwort, dass es vor allem hochaltrige Menschen sind von vielen mit
das ist dann sowieso ein Alter, was will man denn da noch verlangen
beantwortet würde, was Karl Lauterbach moralisch nicht in Ordnung findet. Ist es auch nicht, wenn man es derart verkürzt.
So haben wir zu Beginn der Pandemie nicht gesprochen und auch nicht gedacht
Zynisch wäre die Antwort: Wir schon, Karl Lauterbach und große Teile der medialen Öffentlichkeit aber nicht. Wenn man sich allerdings die Mühe macht, das ein wenig differenzierter zu betrachten und weg von so Twitter-Phrasen wie „Menschen sterben halt“ zu kommen, so muss man sich noch einmal folgende Punkte vors Auge führen:
In Deutschland wird vor allem im Krankenhaus gestorben, fast die Hälfte aller Menschen stirbt dort. In den Monaten vor ihrem Tod sind 75% aller Menschen, die in einem Pflegeheim leben in stationärer Behandlung, gut 50% im letzten Lebensmonat (siehe auch hier, wo ich mal etwas zu medizinischer Versorgung am Lebensende aufgeschrieben habe). Und wir haben ein Problem mit Überversorgung (siehe auch dieser Blogbeitrag hier). Relativ häufig sind die Beschwerden der Patienten in der letzten Lebensphase unspezifisch, irgendetwas ist schlechter, die Sprache undeutlicher, die Patienten müder, sie wirken „wesensverändert“. Oft setzt dann eine wenig zielführende „Abarbeitung“ des Falls anhand einer mehr oder weniger stichhaltigen Verdachtsdiagnose ein, oft nach dem Algorithmus wenn es laborchemisch einen Infekt gibt, dann liegt es wohl daran, dann „ist der Patient internistisch“, wenn nicht, dann kann es ja ein kleiner Schlaganfall sein oder eine Verschlechterung der Demenz, dann „wird der Patient neurologisch“ usw. Bei derartigen Aufenthalten kommt oft wenig zielführendes heraus und am allerwenigsten etwas, was den Patienten in ihrem letzten Lebensabschnitt hilft. Wenn es ein Infekt ist, der hinter der Allgemeinzustands-Verschlechterung steckt, dann ist es durchaus auch COVID. Das führt direkt zum nächsten Punkt:
05:40 min: Die Unterscheidung, ob ein Patient mit oder wegen COVID ins Krankenhaus kommt ist oft schwierig und manchmal auch schlicht nicht möglich. Das in der Pressekonferenz verwendete Beispiel ist aber wirr, zum Teil unverständlich (geht es jetzt um eine Herzinsuffizienz mit einer COIVD-Pneumonie oder um eine Stauungspneumonie oder weiß man es am Ende schlicht nicht und das Herz ist schlecht und nun ist auch eine Pneumonie da?).
Wir wissen, dass er noch gelebt hätte, wir haben ihn deshalb behandelt
Ja, Tote behandeln wir nicht. Ansonsten kann dies genau eine Zustandsbeschreibung eines der gerade skizzierten Patienten sein: Multimorbide, alt, herzkrank und jetzt auch noch COVID. Ja, Patienten mit einer derartigen Multimorbidität versterben häufig, aber sie versterben auch ohne COVID und auch an anderen Infektionskrankheiten und oft auch an der Herzerkrankung. Die Schlussfolgerung von Karl Lauterbach, dass das eigentlich ein COVID-Toter sei ist meines Erachtens spekulativ. Und die Frage, die man eigentlich beantworten müsste wäre: Wie ist die Prognose des Patienten mit der Herzinsuffizienz? Und die Antwort wäre vermutlich: Auch ohne COVID-Infektion sehr schlecht, in der Kombination aus Multimorbidität und Herzinsuffizienz sind wenige Monate mediane Überlebenszeit eine realistische Einschätzung.
Das ist aber falsch, so denkt der Laie.
34:50 min: Ab hier wird es noch mal schwieriger. Erstens platziert Karl Lauterbach hier – wenn man es so verstehen will – ein Plädoyer zur Überversorgung (ECMO, Beatmung für hochaltrige Menschen mit schlechtem Outcome), zweitens sind die schweren COVID-Pneumonien unter Omikron und mit höherer Grundimmunität viel viel seltener geworden, die von Karl Lauterbach zitierte „weiße Lunge“ sieht man kaum noch. Drittens wenn wir nicht wissen, ob eine COVID-Infektion zum Tod beigetragen hat, dann wissen wir es nicht. Im Konjunktiv zu reden, „der Patient könnte aber an COVID gestorben sein“ und diesen Tod unbedingt als COVID-Toten zu zählen ist nach meinem Verständnis nicht sonderlich seriös. Vor allem bei Fällen wo es genauso gut anders sein könnte. Genauso wenig seriös ist es, alle Fälle von Menschen, die im ersten Jahr nach COVID einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten haben als COVID-Folgeerkrankungen zählen zu wollen. Wir wissen, dass das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen in dieser Studie (Link) aus den USA im ersten Jahr nach COVID durchaus erheblich erhöht war. Aber wenn dann ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall auftritt, ist das ist eben kein zwingend monokausaler Zusammenhang mit der COVID-Infektion, sondern diese hat eine Erhöhung des Erkrankungsrisikos verursacht. Man kann es auch so zusammenfassen:
Und jetzt im Ernst: Ja, das Risiko für CV-Folgen von COVID ist erhöht, aber so eine Schlußfolgerung daraus zu ziehen, ist grob fahrlässig und grenzt an Desinformation… @Karl_Lauterbach
01:01:00 min: Der Vergleich einer Tumorbehandlung, die man nicht durchführt mit einer früheren statt späteren COVID-Infektion hinkt so stark, dass man glaube ich nicht viel dazu sagen muss. Aber: Hier schwingen einige problematische Aussagen mit: Wieder das Thema Überversorgung: Dinge, die eine Wirksamkeit nach 5 Jahren oder später entwickeln und daher eine entsprechende Überlebenszeit voraussetzen muss und sollte ich bei Patienten, die diese Prognose nicht haben auch nicht verordnen. Mein liebstes Beispiel aus der Neurologie ist hierzu das Ansetzen eines Statins und die Kontrolle der kardiovaskulären Risikofaktoren bei hochaltrigen, multimorbiden Patienten nach Schlaganfall. Diese Maßnahmen haben aller Voraussicht bei der Patientenpopulation keinen Effekt und sollten daher kritisch hinterfragt werden.
Schutz vor symptomatischer Infektion durch COVID-Impfung
25:15 min: Hier berichtet Karl Lauterbach, dass zum Einen dass das Long COVID-Risiko durch eine Impfung gesenkt wird, zum Anderen COVID-Impfungen auch vor einer symptomatischen Infektion, die dann zu Long oder Post COVID führen schützen und dass zu erwarten ist, dass dies mit den neuen bivalenten Impfstoffen besonders gut gelinge. Diese Aussage ist auf mehreren Ebenen problematisch:
Wissen wir von den bisherigen Impfstoffen, dass der Schutz vor Infektion sehr schnell nachlässt oder – bei Omikron – nie sehr gut oder auch nur gut war (siehe auch hier: Link)
Zu den neuen bivalenten Impfstoffen liegen noch keine entsprechenden Daten vor (siehe wissenschaftliche Begründung der STIKO zur Impfempfehlung der zweiten Auffrischimpfing mit den angepassten Impfstoffen Link)
Das schönste zum Schluss
In der Summe war das nach meinem Dafürhalten über weite Strecken eine vor allem schwer zu ertragende Veranstaltung, beim Paxlovid sicherlich inhaltlich nicht präzise und dann vor allem beim Thema Hospitalisierung und Tod wegen oder mit COVID problematisch, weit weg vom klinischen Alltag und mit der „der Laie sagt“-Attitüde von jemandem, der so merkbar keine klinische Erfahrung hat oft skurril bis haarsträubend. Und damit:
Hinweis:
Den Abschnitt Risikoreduktion durch vierte Impfung und durch Einnahme von Paxlovid habe ich nach den Hinweisen und der Kritik in diesem Twitter-Thread und den zahlreichen Drukos überarbeitet:
Herr Kollege Schöps, was ist eigentlich das Ziel Ihres Blogbeitrags? Geht es Ihnen noch um die Sache, oder nur noch darum, @Karl_Lauterbach zu demontieren? Mir kommt es so vor, als ob da letzteres mehr in den Vordergrund geraten ist. Ich möchte Ihnen dazu ein Beispiel geben. 1/x
Im Gesundheitswesen brodelt es. Die Diskussion zum Thema Versorgungsrealität und Personalmangel ist extrem spannend, weil immer wieder sehr kluge Dinge geschrieben werden, bei Twitter z.B. unter dem Hashtag #Medizinbrennt. Ich möchte ein paar Gedanken, die mich in den letzten Monaten dazu umgetrieben haben aufschreiben und weil das die Twitter-Thread-Länge sprengt, mach ich das hier, freu mich aber über eine lebhafte Diskussion, egal auf welchem Kanal.
Eine Klarstellung vorweg:
Wir brauchen eine Entlastung des Personals im Gesundheitswesens, zu allererst des Pflegepersonals, aber generell auch der anderen Berufsgruppen. Und wir werden die Strukturen, in und mit denen wir arbeiten ändern müssen, denn so fährt der ganze Laden einfach vor die Wand. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass die Maßnahmen, die der Gesetzgeber bislang ergriffen hat das Problem nicht wirklich entschärfen und dass es am Ende zu einer Verschlimmbesserung kommt. Und damit fangen wir an.
PpUGV, PPR 2.0 und Herausnahme der Pflegepersonalkosten aus den DRG.: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.
Ende 2018 wurde das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz vom Bundestag beschlossen. In dieser Gesetzesänderung waren zwei Maßnahmen verankert, mit denen der Gesetzgeber versucht, den zunehmenden und eklatanten Mangel an Pflegepersonal und die immer stärker werdende Abwanderung von Beschäftigten in der Pflege (Pflexit) abzuwenden:
Die Erweiterung von Pflegepersonaluntergrenzen auf bestimmte Fachrichtungen/Stationen
Die Herausnahme der Pflegepersonalkosten aus den DRG
Pflegepersonaluntergrenzen (PpUG)
Pflegepersonaluntergrenzen gab es auch schon vor dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz nämlich im Rahmen einer Verordnung. Mit dem Gesetz wurden sie aber für die Intensivmedizin, Herzchirurgie, Kardiologie, Unfallchirurgie, Geriatrie und in der Neurologie jeweils unterschiedlich für neurologische Normalstationen, neurologische Frührehabiliation und Stroke Units festgelegt. Konkret heißt das für eine neurologische Normalstation, dass tagsüber (6 bis 22 Uhr) eine Pflegekraft für maximal 7 Patienten zuständig sein darf, nachts (22 bis 6 Uhr) für 15 Patienten, Hilfspersonal darf tagsüber 10% und nachts 8% des eingesetzten Personals ausmachen. Dabei ist wichtig zu wissen, dass es sich bei den PpUG um zu bestimmten Stichtagen zu ermittelnde Durchschnitts-Personalbesetzungen handelt. Auf der Stroke Unit ist tagsüber eine 3:1- und nachts eine 5:1-Betreuung vorgeschrieben, auf der Frühreha tagsüber eine 5:1- und nachts eine 12:1-Betreuung. Fachrichtungen mit ebenfalls hochaltrigen, aber meist etwas weniger hilfsbedürftigen Patienten (Geriatrie, Unfallchirurgie, Kardiologie) müssen tagsüber eine 10:1 und nachts eine 20:1-Besetzung auf Station aufweisen. Und in der Intensivmedizin git tagsüber 2:1- und nachts 3:1-Besetzung.
Idee dahinter ist es mit einer Mindestbesetzung an Pflegepersonal (andernfalls drohen saftige Strafen) den wirtschaftlichen Anreiz Geld durch Reduktion von Pflegepersonal zu sparen abzustellen. Um den Hintergrund zu verstehen muss man – wenn man sich bislang noch nicht damit beschäftigt hat – einmal eine Mini-Einführung zum Thema DRG absolvieren, z.B. hier (bis zu „Crashkurs DRG“ scrollen). Ganz, ganz grob gesagt kann man sich eine Fallpauschale (DRG) wie eine Pauschalreisen-Buchung vorstellen. Für Krankheit XY mit den und den Begleitumständen gibt es soundsoviele Euros. Spart man jetzt ganz viel Personal und andere Fixkosten ein, so steigt die Gewinnmarge, beschäftigt man viel Personal, so wird sie eher klein sein (oder man arbeitet sogar defizitär). Dieser „Anreiz“ zum wirtschaftlichen Arbeiten war und ist politisch gewollt und war Hauptgrund für die Einführung der DRG in Deutschland. Jetzt versucht man ihn also durch Pflegepersonaluntergrenzen beim Pflegepersonal zu korrigieren.
Als es haarig wurde, zu Beginn der COVID-Pandemie wurden die PpUG flux ausgesetzt und erst zum 01.08.2020, bzw. 31.12.2020 wieder „scharf geschaltet“. Politisch-kommunikativ war das übrigens – zusammen mit den Verrenkungen um COVID-Prämien und für wen sie nun eingeschüttet werden und für wen „leider“ nicht – ein ziemliches Desaster, da vermehrt der Eindruck aufkam, es handele sich um eine Schönwetter-Regel, die man mit ein bisschen Klatschen auf dem Balkon ausgleichen könne.
Die zuletzt vom Gesundheitsminister thematisierte „weitere Entlastung des Pflegepersonals“ bezieht sich auf die aktualisierte Pflegepersonalregelung, die mit PPR 2.0 abgekürzt wird und die im Grunde eine überbrückende Ausdehnung der PpUG auf alle bettanführenden Stationen (exklusive Psychiatrie) ist, aber über eine Pflegebedarfsermittlung für einzelne Patienten unterschieden in Grund- und Spezialpflege abgebildet werden soll (Link). Halten sich die Krankenhäuser nicht daran ist die Konsequenz – wie bei den PpUG – eine finanzielle Sanktionierung. Allerdings gibt es mittlerweile den Kompromiss, dass durch das Finanzministerium mit festgelegt werden soll, wie die Bemessung konkret ausfällt – damit das ganze nicht zu teuer wird (Link).
Herausnahme der Pflegepersonalkosten aus den DRG
Zeitlich etwas später – ab 2020 – wurden die Personalkosten für das Pflegepersonal, allerdings nicht für das ärztliche oder medizinisch-technische (MTAs) oder therapeutische Personal und auch nicht für z.B. OP-Pflege aus den DRG herausgelöst und gesondert – im Grunde nach tatsächlichen Unkosten – vergütet. Wie immer im Gesundheitssystem geschieht das nicht direkt, d.h. die Krankenhäuser stellen nicht ihre Lohnkosten für das Pflegepersonal den Krankenkassen direkt in Rechnung, sondern es werden verschiedene Scores gebildet, die miteinander verrechnet werden (ähnlich wie bei den DRG mit Kostengewichten und Landesbasisfallwert). Grundsätzlich sind aber die Pflegepersonalkosten, die auf den Bettenstationen anfallen damit in der tatsächlich entstandenen Höhe gegenfinanziert.
Der Plan geht sich nicht aus
Auf dem Papier klingt das alles sinnvoll und richtig und trotz garantierter Gegenfinanzierung gelingt es den Krankenhäusern in der Breite nicht offene Stellen nachzubesetzen. Wer mal einen Eindruck von dem Ausmaß der ausgeschriebenen Pflegepersonalstellen bekommen möchte, kann exemplarisch in den Stellenanzeigen verschiedener Hamburger Krankenhäuser und Krankenhausbetreiber schauen (UKE, Asklepios, Albertinen, Marienkrankenhaus). Es ist also kein böser Wille, kein vom kaufmännischen Geschäftsführer identifiziertes Einsparpotential oder ähnliches, der derzeitige Arbeitsmarkt für Pflegepersonal ist komplett leergefegt. Die bislang ergriffenen Maßnahmen haben offenkundig keinen signifikanten Einfluss auf die Personalsituation. Das spricht dafür, dass man bislang die Ursachen des Pflexit nicht ausreichend erfasst, bzw. bekämpft hat.
Über das tatsächliche Ausmaß des Pflexit kann man durchaus kontrovers diskutieren (Link, Link, Link), wobei man nicht außer acht lassen sollte, dass es zum Einen eine Abwanderung von Fachkräften aus der Pflege in andere Berufszweige und zum Anderen aus der Akut- und Notfallmedizin und der Altenpflege in jeweils „ruhigere“ Arbeitsbereiche gibt. Die Fachabteilungen mit PpUG (vielleicht mit Ausnahme der Intensivmedizin und der Geriatrie, die durch ihre strukturellen Besonderheiten, bzw. bei der Intensivmedizin durch den besonderen Stellenwert/Wertschätzung, bei denen das langsamer passiert) sind aber besonders von dem internen Fachkräfte-Shift betroffen (sonst gäbe es die PpUG hier aber auch nicht). Bei uns in der Akutneurologie und der neurologischen Frührehabilitation kann man den Pflexit aber tagtäglich am eigenen Leib spüren und beobachten. Die üblichen Gründe, die in Umfragen und Analysen für den Pflexit aufgeführt werden sind (Link, Link, Link:
Mangelnde Wertschätzung
Dem Job nicht angemessene Vergütung
Kein verlässlicher Dienstplan, häufiges Einspringen
Arbeitszeiten mit Schichtdienst, Wochenend-, Feiertags- und Nachtarbeit
Unzureichender Personalschlüssel
Fehlende Zeit um Pausen machen zu können, regelhafte Überstunden
Fehlende Zeit um die Patienten adäquat versorgen zu können
Pflegefremde Tätigkeiten, die ausgeübt werden müssen
Zu starke körperliche und psychische Belastung durch den Beruf
Zunehmende Verdichtung von Arbeit durch kürzere Liegezeiten und Fachkräftemangel
Zunehmender Anteil an multimorbiden, hochaltrigen, vollkompensatorisch zu versorgender Patienten
Verlust der Sinnhaftigkeit der Arbeit durch Überversorgung, hierzu hatte ich schon mal hier etwas aufgeschrieben (bis zu „Überversorgung verstärkt den Pflexit“ scrollen).
Zusammenfassend beruhen 3., 5., 6., 7. und 8. auf dem Punkt Fachkräftemangel. Nach meinem Verständnis greifen die Personaluntergrenzen allein deshalb nicht, weil 1. und 2. fehlen. Und ich denke, nur so wird ein Schuh draus, man wird die Vergütung für das Pflegepersonal massiv erhöhen müssen (vermutlich mindestens um ca. 30%), damit die Personaluntergrenzen überhaupt in ihrer eigentlichen Intention greifen können.
Die Kehrseite der Personaluntergrenzen
Seit Einführung der Pflegepersonaluntergrenzen wird immer wieder und bis heute (Link) angemahnt, dass diese in Zeiten von Fachkräftemangel auch ein Mittel zur Reduktion von Krankenhausbetten sind. Das mag auch ein bisschen daran liegen, dass die Bertelsmann-Studie zur Krankenhausstruktur in Deutschland, welche das Ziel ausgab mit der Hälfte an Krankenhäusern eine qualitativ bessere Versorgung zu ermöglichen, in der Zeit der Einführung / Ausweitung der PpUG erschien (Link). Das Problem aber ist, dass diese Verknappung von Krankenhausbetten – die bundespolitisch ja durchaus gewollt ist – eben nicht strukturiert und geplant geschieht, sondern im Umfeld von DRG-finanziertem Krankenhauswesen und PpUG über Verdrängung / Abwerbung von Personal passiert.
Kliniken, die an der Notfallversorgung teilnehmen sind dabei aber besonders benachteiligt, da es mehrere Punkte gibt, die sie besonders vulnerabel für Fachkräftemangel machen:
Sie haben per se höhere Infrastruktur- und Personalkosten, da sie rund um die Uhr Notfallversorgung sicher stellen müssen, egal wie diese nachgefragt ist
Ambulant bleibende Notfallpatienten werden dabei finanziell unattraktiv über eine Notfallpauschale (ca. 32 EUR) vergütet bei umgerechneten Fallkosten von durchschnittlich 126 EUR durch die Vorhaltungskosten (Link), sind also ein „Minusgeschäft“, das Geld fehlt dann an anderer Stelle
Auch Patienten, die mit finanziell unattraktiv vergüteten DRG bei relativ hohem Personalaufwand abgerechnet werden (z.B. Infekt mit Delir bei hochaltrigen, multimorbiden Pat.) müssen natürlich behandelt werden, während Fachkliniken sich auf die Behandlung für sie kostendeckend umzusetzender Erkrankungen spezialisiert haben
Durch die Notfallzuführungen sind sie zuständig für die (offiziell nicht existierenden) Versorgungsproblematiken
Die meisten PpUG betreffen die Akut- und Notfallmedizin
Jetzt kann man einwenden, wen kümmert’s, das Pflegepersonal ist ja gesondert gegenfinanziert. Das stimmt, die Punkte 9., 11. und 12. von oben betreffen aber besonders Kliniken mit Notfallaufnahme. Und diese Punkte lassen sich nicht einfach ändern, da sie in erster Linie von demographischer Struktur und gesellschaftlichem Verhältnis zu Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Tod bestimmt werden.
In der Summe heißt das, allein mit Maßnahmen die am Themenkomplex Pflexit ansetzen werden wir nicht auskommen.
Was man sinnvolles tun könnte
Krankenhausbetten werden also ein knappes Gut bleiben mit denen wir sorgsam umgehen und unnötige Belegungen vermeiden müssen. Grundsätzlich kann man dabei an zwei Punkten ansetzen, um Bettenbelegungen „einzusparen“, bei der Aufnahme und der Entlassung (soweit so banal). Doch was ist damit gemeint?
Notwendige stationäre Behandlungen?
Fangen wir mit der Aufnahme ins Krankenhaus an. Dort lautet die Hauptfrage: Ist eine stationäre Krankenhausbehandlung überhaupt notwendig? Rein formal ist eine Krankenhausaufnahme indiziert, wenn „die besonderen Mittel des Krankenhauses“ benötigt werden, wobei dann noch nicht gesagt ist, ob die Behandlung tatsächlich stationär oder teilstationär oder ambulant erfolgen muss oder kann. Aber hier liegt eines der Probleme und mit dem fangen wir an:
Notfallvorstellungen in Notaufnahmen
Hier gab es in den letzten Wochen mehrere sehr schöne Twitter-Threads, von denen ich drei, aus denen die wesentlichen Punkte herausgehen, hier verlinke:
Ich lese täglich von den Zuständen der #Notaufnahmen in England und Kanada. Von den außergewöhnlich langen Wartezeiten der RTWs sowie der Fußgänger und die dadurch erhöhte Gefährdung der Patienten. Kann das in Deutschland auch passieren oder ist es sogar schon soweit? Ein Thread
Ein Patient kommt wegen einer Beinschwellung in die Praxis. Dort wird eine Thrombose vermutet, das soll sonografisch bestätigt werden. Der Hausarzt hat jahrelange Ultraschallerfahrung, die 20min Zeit aber nicht, außerdem wird die Untersuchung nicht vergütet. (1/6)
Von den letzten 10 Patient:innen, die in unsere #Notaufnahme (als #Notfall deklariert) eingewiesen wurden, waren neun zwischen 82-91 Jahre alt. Die wenigsten zeigten eine tatsächliche Notfallsituation. Das zeigt aus meiner Sicht v.a. drei Dinge auf:
Das Hauptthema sind demnach Notfallvorstellungen, die keine wirklichen Notfälle sind und die fehlende/nicht praktikabel ausgestaltete Verzahnung zwischen ambulantem und stationären Versorgungssystem. Hier braucht es m.E.
eine „Abwehrbarriere“ vor den Notaufnahmen um überall alltägliche medizinische Probleme, mit denen sich Menschen in Notaufnahmen vorstellen angemessen behandeln zu können, also Vorstellungen wegen fieberhafter Infekte, Gastroenteritiden, Harnwegsinfektionen, Bauchschmerzen usw. Helfen könnten hier ganz wesentlich Portalpraxen, die m.E. aber nicht nur nach Feierabend der niedergelassenen Ärzte, sondern rund um die Uhr betrieben werden müssten. Hier ist der größte Streitpunkt tatsächlich ein Gerangel zwischen Krankenhäusern und kassenärztlichen Vereinigungen, in dem es um Pfründe und Einfluss und nicht um die eigentliche medizinische Versorgung geht (z.B. hier nachzulesen).
eine Option für Fälle, bei denen zwar Großgerätediagnostik, bzw. zeit- und personalaufwändige Untersuchungsverfahren wie in dem Thread von Marc Bota benötigt werden, aber eigentlich keine stationäre Aufnahme erforderlich ist. Und zwar auch außerhalb der Kernarbeitszeiten, also Abends, am Wochenende und Feiertags. In der derzeitigen Realität ist diese Verzahnung – die ja über das eh schon strittige Thema Portalpraxen hinausgeht – überhaupt nicht in Sicht.
klare Aufnahmekriterien, wann eine stationäre Aufnahme notwendig ist und wann nicht, an denen sich auch unerfahrene Ärztinnen und Ärzte orientieren können.
Beispiel für stationäre Aufnahmekriterien (hier in die Neurologie)
Zeitnah statt sofort und teilstationär statt stationär
Viele Notfallvorstellungen erfolgen wegen Problemen, die sich über eine gewisse Zeit entwickelt haben und dann exazerbiert sind, z.B. in der Neurologie Gangstörungen mit Stürzen. Natürlich erwarten viele Patienten, dass sie jetzt, wo sie es „nicht mehr aushalten“ auch aufgenommen werden, aber ehrlich gesagt ist es fast immer möglich die Aufnahme um einige Tage zu verschieben. Das heißt, wenn es regulär die Option gäbe zu sagen, „alles klar, wir gucken uns das an. Aber nicht heute, dafür aber übermorgen, da haben wir ein Bett und die Untersuchungs-Kapazitäten für Sie“, das ganze noch in Verbindung mit einer unkomplizierten Fall- und Untersuchungsplanung, wäre schon viel gewonnen.
Die elektiven Patienten die wir in der Neurologie sehen, bedürfen ganz überwiegend zwar „der besonderen Mittel des Krankenhauses“, müssten aber streng genommen nicht im Krankenhaus schlafen. Ich mach ein paar Beispiele um das zu verdeutlichen: Standard-Zuweisungen bei uns sind Demenz-, Polyneuropathie- und Multiple Sklerose-Abklärungen, zusätzlich Gang- und Bewegungsstörungen (bei denen das Bett und die Übernachtung aber oft notwendig ist). Die erstgenannten drei Krankheitsbilder zur Abklärung können wir – ein Anamnese- und Planungsvorgespräch vorausgesetzt – innerhalb kurzer Zeit abklären. Für eine Demenzabklärung veranschlage ich 2 Behandlungstage (1 Nacht im Krankenhaus schlafen), dann schaffen wir MRT, EEG, Liquorpunktion mit Bestimmung der neurodegenerativen Marker und ausführliche neuropsychologische Testung (z.B. CERAD). Für eine MS-Abklärung 1-2 Nächte, je nachdem ob schon eines der beiden erforderlichen MRT (Kopf und Rückenmark) ambulant erfolgt ist, wir ergänzen zusätzlich Liquorpunktion, Labordiagnostik und elektrophysiologische Testungen (VEP und SEP). Bei einer Polyneuropathieabklärung gilt das selbe. Ausführliche elektrophysiologische Untersuchung (ENG und EMG), Labordiagnostik, kleine Tumorsuche und ggfs. Liquordiagnostik kann ich geplant in 2 Behandlungstagen (1 x schlafen) durchführen, benötigen wir noch weiterführende MRT-Untersuchungen, z.B. weil eine Spinalkanalstenose differentialdiagnostisch erwogen werden muss, können es auch 2 Nächte (also 3 Behandlungstage) werden.
Diese Patienten kommen – in der Regel – zugewiesen durch niedergelassene Neurologen zu uns. Sie kommen, weil einzelne Teile der erforderlichen Diagnostik im ambulanten Versorgungssystem nicht adäquat oder einigermaßen zeitnah realisierbar sind, die neuropsychologische Testung bei der Demenz-Diagnostik, das ENG bei der PNP-Abklärung und teilweise die Liquorpunktionen, v.a. wenn hier Spezial-Labordiagnostik gewünscht wird. Natürlich könnten wir diese Untersuchungen auch teilstationär oder ambulant durchführen, wenn es denn einen Rahmen dafür gebe, über den das finanziert würde. Natürlich könnte man sich auch hinstellen und sagen, wir renovieren das ambulante Facharzt-System so, dass diese Untersuchungen auch dort durchführbar (und finanziell abbildbar) sind. Hier gibt es insofern einen kleinen Lichtblick, als dass das Thema „Hybrid-DRG“ kommen wird (hier ein paar Erläuterungen dazu), die diese „Ambulantisierung“ erlauben werden. Und hier wird man konsequent sein und diese Hybrid-DRG nicht nur für operative Leistungen, sondern auch für die konservative Medizin ausrollen müssen.
Entlassmanagement und Versorgungsprobleme
Damit neue Patienten aufgenommen werden können, müssen vorhandene entlassen werden. Dies kann man in der Regel – mit ein bisschen Lust am Mikromanagement – gut planen und voraussagen, für die nächsten 24 Stunden (zumindest in der Neurologie) nahezu 100% genau, in den nächsten 48 Stunden ebenfalls noch sehr genau und innerhalb der nächsten 3 Tage zumindest einigermaßen, am Ende also ähnlich wie wir das von einem handelsüblichen Wetterbericht kennen.
Kurz- und Langlieger
Ich plaudere noch mal ein bisschen aus dem Nähkästchen meiner Bettenbelegung: Im letzten halben Jahr ist bei uns die durchschnittliche Verweildauer von 5,2 auf 5,6 Tage angestiegen, parallel haben wir aber die Elektivaufnahmen komplett – wie oben skizziert – durchgeplant und bei den erwähnten drei Symptombildern auch in der Liegezeit reduziert. Was sich aber extrem verlängert hat sind die Wartezeiten auf Reha-Plätze, Betten in geriatrischen Kliniken und Pflegeheim-Plätze, selbst auf Pflegedienst-Valenzen. Die Gründe hierfür sind die „übliche“ Mischung des Personalmangels, Pflexit, COVID-Ausbrüche und hoher Krankenstand und – so hört man immer wieder, ist bei uns im Krankenhaus hingegen nicht spürbar – die einrichtungsbezogene Impfpflicht. Dazu kommen die „Langlieger“, bei denen sich der Aktenstau in den Amtsgerichten bemerkbar macht: Patienten die richtig gestrandet sind, z.B. weil sie nicht krankenversichert sind und nun – bei uns oft auf Grund eines Schlaganfalls – nicht in der Lage sind die entsprechenden Formulare auszufüllen, noch aussichtsloser wird es wenn sie auch wohnungslos sind und kein eigenes Konto haben. Und nein, wir reden hier nicht von Flüchtlingen, illegalen Einwanderern usw., sondern in der Regel von 50-70-jährigen deutschsprachigen Menschen, die irgendwie „durch das Raster gefallen“ sind, zuletzt scheinselbstständig waren, bei Freunden auf der Couch geschlafen haben usw. Diese Patienten benötigen einen gesetzlichen Betreuer, der aber erst richterlich eingesetzt werden muss, bevor überhaupt ein Aufnahmeantrag bei den Krankenkassen gestellt werden kann, bevor irgendeine Art von Weiterversorgung planbar ist.
Gründe für eine institutionelle Weiterversorgung
Ein Grundproblem des Themas Entlassung aus dem Krankenhaus ist dabei die Institutionalisierung von Pflege. Zum einen haben wir eine zunehmend alternde, multimorbide werdende Bevölkerung mit einem immer größeren Anteil an hilfs- und pflegebedürftigen Personen, einem zunehmenden Anteil an Demenzerkrankungen (Link). Zum anderen ist in den modernen Arbeits- und Familienleben eigentlich gar keine Zeit und kein Platz für die Pflege von Angehörigen. Das führt regelhaft zu Situationen, dass Patienten ins Krankenhaus stationär aufgenommen werden, dann aber nach eigenen Aussagen oder dem Willen der Angehörigen nicht mehr entlassen werden können. Dabei gibt es grob gesagt zwei Szenarien:
Eine akute Erkrankung, die das bisherige Lebensmodell komplett „umkrempelt“, wie ein akuter Schlaganfall. Hier ist die Notwendigkeit einer Schaffung einer Weiterversorgung aus dem Krankenhaussetting heraus sicherlich unstrittig.
Eine Verschlechterung einer chronischen Erkrankung, z.B. einer Demenz, einer Gangstörung, einer zunehmenden Dekompensation in der Häuslichkeit bei Multimorbidität. Hier wird der Wunsch/die Aufforderung nach Organisation einer institutionellen Versorgung oft an das Krankenhaus herangetragen, man muss sich aber durchaus hinterfragen, ob man dem nachkommen kann und will. Schlussendlich kann man auch argumentieren, dass die Situation auch vor Hospitalisierung schwierig gewesen ist und dass es Aufgabe der Familie ist, sich um eine Versorgung ihrer Angehörigen zu kümmern. Hierfür gibt es – analog zu „Kind krank“ – sogar eine staatliche Unterstützungsleistung, die aber kaum jemand kennt und in Anspruch nimmt, das Pflegeunterstützungsgeld (Link), welches man für 10 Tage beziehen kann. Ich bin mittlerweile fest davon überzeugt – und setze das auch durch – dass man das von Angehörigen einfordern kann, genau wie die Beantragung eines Pflegegrades.
Wenn man davon ausgeht, dass auch in der Altenpflege die Gehälter der Beschäftigten massiv erhöht werden müssten, damit überhaupt genug Menschen längerfristig bereit sind dort zu arbeiten, werden sich die gesamtgesellschaftlichen Kosten für Pflege massiv erhöhten. Bei gleichzeitig knappen Plätzen in Pflegeinstitutionen und bei Pflegediensten bleibt uns als Gesellschaft gar nicht viel anderes übrig, als unsere Konzepte, wie wir uns und unsere Angehörigen im Alter versorgt haben wollen zu überdenken und Pflege wieder in die Familien zu integrieren. Das Problem dabei ist, dass dort wo es bislang so stattfindet, z.B. wenn Angehörige Pflegegeld erhalten, es eigentlich immer die Frauen sind, die Pflege leisten (an dieser Stelle Danke an Franziska Briest, die diesen Input beigetragen hat). Wenn das nicht in so einer One-Woman-Show enden soll, bei der Frauen – wie in der Pandemie – aus dem Beruf zurück in den Haushalt gedrängt werden, wird es mehr Lösungen wie Mehrgenerationenhäuser brauchen.
Mobilisation und Sozialdienst: Sparen am falschen Ende
Während die Pflegepersonalkosten aus den DRG herausgelöst wurden (siehe oben), zumindest die des Personals auf den Bettenstationen, gilt das für andere Personalkosten nicht. Hier geht der Trend – dem Grundwesen des DRG-Systems folgend – dazu, nicht „produktive“, den Case-Mix-Index erhöhende Berufe weiter zu reduzieren, z.B. Therapeuten in „nicht erlösrelevanten“ Bereichen oder auch das Personal des Sozialdienstes/Case Managements. Das ist allerdings ein fataler Fehler, wenn man bedenkt, dass es genau zwei Gründe gibt, warum Patienten länger als medizinisch notwendig im Krankenhaus bleiben:
Fehlende Mobilität, bzw. fehlende Eigenständigkeit in den Aufgaben des täglichen Lebens (ADL)
Fehlende Anschlussversorgung
Daher bin ich fest überzeugt, dass Stations-Physiotherapeuten (und in der Neurologie auch Ergotherapeuten und Logopäden) auch bei den „normalen“ Patienten notwendig sind, ebenso wie eine möglichst üppige personelle Ausstattung des Sozialdienstes. Am Ende ist dies eine Investition in kürzere Liegezeiten.
Ein faules Ei: Die Übergangspflege
Nahezu als Analogie zum Pflegeunterstützungsgeld und erstmals als „Anerkennung“ von Versorgungsproblemen durch die Kostenträger wurde Ende 2021 die Übergangspflege eingeführt (Link). Hier bekommen die Krankenhäuser für maximal 10 Tage Geld für die Weiterbetreuung und Pflege von Menschen mit Versorgungsproblemen, um in dieser Zeit die Weiterversorgung zu sichern und zu organisieren. Aber: Die Patienten in der Übergangspflege unterliegen nicht der PpUG und hier wird es makaber: Wenn man davon ausgeht, dass die Patienten, für die Übergangspflege in Frage kommt, in der Regel multimorbide, immobil oder demenzkrank sein werden (weil es sonst die Übergangspflege nicht bräuchte) und damit genau die Patienten sind, warum es PpUG auf Normalstationen gibt, beißt sich hier die Katze in den Schwanz.
Mal abgesehen davon, dass ich persönlich aktuell kein Krankenhaus kenne, welche Übergangspflege anbietet.
Der Nachteil der Maßnahmen
Alle hier vorgeschlagenen Maßnahmen würden zu einer Konzentration von multimorbiden, hochaltrigen und schwer kranken Patienten in den Krankenhausbetten führen, da die „Aufsteher“ entweder gar nicht oder in erster Linie teilstationär oder ambulant behandelt werden würden. Das beutetet aber, dass das Thema PpUG noch wichtiger würde und die Betreuungsschlüssel sogar weiter verschafft werden müssten.
Ein kurzes Fazit
Das waren jetzt viele Worte, daher noch einmal eine kurze Synopsis: PpUG ohne parallele kräftige Gehaltserhöhung der Pflegegehälter ändern nichts am Pflexit, da sich der Fachkräftemangel so nicht ändern wird, sondern verstärken die Knappheit von Krankenhausbetten sogar noch. Sie sind eher ein verdecktes Instrument der Krankenhausbettenreduktion. Um perspektivisch mit den eher knapper werdenden stationären Betten zurecht zu kommen bedarf es einer Ambulantisierung von derzeit stationär durchgeführten Krankenhausbehandlungen, einer Vermeidung von unnötigen Notfallaufnahmen durch Stärkung der ambulanten Versorgung auch in Randzeiten mit Möglichkeit der Durchführung von personal- oder zeitintensiven Diagnostiken und Großgeräteeinsatz und einer Neustrukturierung von Entlassmanagement und Weiterversorgung von pflegebedürftigen Menschen nach der stationären Behandlung. Dabei werden die Familien wieder mehr in die Betreuung ihrer Angehörigen mit einbezogen werden müssen.
Das ist ein sehr schönes Cover eines sehr guten Deutschpunk-Songs und auch wenn es vielleicht eine komische Einleitung für einen Blogbeitrag ist, sehr im Thema um das es heute geht.
Zwei Patienten
Ein Mitte 40-jähriger Mann wird stationär unter dem Verdacht einer Polyneuropathie aufgenommen. Klinisch-neurologisch fallen eine Augenbewegungsstörung, ein breitaasig-unsichereres Gangbild und eine ausgeprägte Kurzzeitgedächtnisstörung auf, eine Polyneuropathie besteht hingegen nicht.
Wenige Tage später wird ein Mitte 70-jähriger Mann aus der Unfallchirurgie übernommen. Dort war er nach einem Sturzereignis aufgenommen worden, innerhalb kurzer Zeit war er dort gang- und standunfähig geworden. Klinisch-neurologisch bestehen eine eher diskrete Augenbewegungsstörung, eine ausgeprägte Rumpfataxie, der Patient kann nicht frei sitzen und eine Kurzzeitgedächtnisstörung.
Beide Patienten erhalten hochdosiert Thiamin i.v., worunter die Symptome regredient sind.
hyperintense Corpora mamillariahyerintenser Randsaum um den 3. VentrikelMRT FLAIR-Sequenz bei einem Pat. mit ausgeprägter Wernicke-EnzephalopathieAbblassen der Corpora mamillariaRückbildung des hyperintensen Randsaums um den 3. Ventrikel
Was ist hier passiert?
Die Antwort wird vielen auf der Zunge liegen:
Die Patienten haben eine Wernicke-Enzephalopathie bei einem Thiamin (Vitamin B1)-Mangel. Daran denken und Thiamin i.v. hochdosiert sind die Kernbotschaften zu diesem Krankheitsbild, die zumindest in der Neurologie auch tief im kollektiven Gedächtnis verankert sind. Und wenn man früh genug substituiert geht es am Ende meistens gut aus.
Aber was passiert bei der Wernicke-Enzephalopathie eigentlich genau? Und was ist nun der Unterschied zu einem Korsakoff-Syndrom?
Biochemie Revival: Thiamin und Glukose
Thiamin (Vitamin B1) wird im ganzen Körper als Spurenelement verwendet, besonders aber im Herzen und im Gehirn. Thiamin ist als Coenzym am aeroben Kohlenhydratstoffwechsel beteiligt, vor allem in den Mitochondrien und dient vielen Enzymen, die im Citratzyklus wirken als „Baustein“. Das ganze ist so komplex, dass ich es hier nicht adäquat schildern kann. Allen Interessierten sei der Artikel von Chandrakumar und Bhardwaj empfohlen, die das sehr detailliert darstellen.
Thiamin muss aus dem Darm mit einem aktiven Transportprotein resorbiert, im Gehirn, den Nieren, der Leber und im Herz, sowie der Skelettmuskulatur gespeichert und über die Blut-Hirn-Schranke transportiert werden. Diese Resorptions- und Transportprozesse werden durch Alkohol gehemmt, ebenso die Umwandlung von Thiamin in der Leber in seine biologisch aktive Form Thiaminpyrophosphat.
Wernicke-Enzephalopathie
Thiamin-Mangel-Syndrome sind in der Medizin schon lange bekannt. Carl Wernicke beschrieb 1881 drei Fälle von Augenbewegungsstörung, kognitiven Defiziten und einer ausgeprägten Ataxie bei alkoholkranken Patienten und einer Patientin mit einer Pylorusstenose. Alle Patienten sind damals verstorben, in der Autopsie wurden dann blutig fingierte Läsionen im Bereich des periaquäduktalen Grau (Link Wikipedia) und den Corpora mamillaria (Link Wikipedia) gefunden. Sergei Korsakoff veröffentlichte nur 10 Jahre später die ersten Berichte über schwere Kurzzeitgedächtnisstörungen bei alkoholabhängigen Menschen, 1897 wurde dann schon eine gemeinsame Ursache beider Krankheitsbilder vermutet. Historisch und auch heute weiterhin – insbesondere in der dritten Welt – ist Beriberi (Link Wikipedia) als Vitamin B1-Mangel-Erkrankung insbesondere bei Kindern und Jugendlichen bekannt, bei denen meistens Fehl- und Mangelernährung Ursache ist. Wer bei einem Thiamin-Mangel nun welche Krankheit bekommt scheint zum Einen von der Entwicklung (Kinder und Jugendliche vs. Erwachsene) abzuhängen, aber auch genetisch determiniert zu sein. So dominiert im asiatischen Raum Beriberi, während in Westeuropa und den USA Wernicke-Enzephalopathien und Polyneuropathien häufiger sind und es gibt interindividuell erhebliche Unterschiede „ab welchem“ Thiamin-Mangel eine Wernicke-Enzephalopathie auftritt.
Epidemiologie-Facts
Die Wernicke-Enzephalopathie gilt als massiv unterdiagnostiziert, als „keine seltene Erkrankung sondern als seltene Diagnose“, nachdem in Autopsiestudien eine Prävalenz von 1-3% gezeigt werden konnte (Chandrakumar und Bhardwaj), bei Menschen mit regelmäßigem Alkoholkonsum geht man von einer Prävalenz von 29-59% aus. Wenn man bedenkt, dass man in Deutschland eine Prävalenz der Alkoholabhängigkeit von 4,5% aller Männer und 1,7% aller Frauen annimmt (Link) führt das zu einer enormen Dunkelziffer nicht erkannter Wernicke-Enzephalopathien. Die Wernicke-Enzephalopathie tritt bei Männern 7 mal häufiger auf als bei Frauen, wobei Männer „nur“ 2,5 mal häufiger als Frauen alkoholabhängig sind, hat also einen geschlechtspezifischen Aspekt. Man muss davon ausgehen, dass ein signifikanter Anteil von schweren vegetativen Alkoholentzugssyndromen und Alkoholentzugsdelirien wohl nicht erkannte Wernicke-Enzephalopathien sind. Das Korsakoff-Syndrom tritt hingegen – nach Studienlage – bei maximal 13% aller alkoholkranken Menschen auf, scheint also ebenfalls eine genetische Komponente zu haben. Unbehandelt versterben bis zu 17% der Betroffenen.
Pathophysiologie
Die Wernicke-Enzephalopathie entsteht auf dem Boden eines chronischen Thiamin-Mangels, wobei es erst einmal völlig nebensächlich ist, ob dieser auf dem Boden einer Alkoholabhängigkeit oder einer Fehl- oder Mangelernährung entsteht. Es braucht mindestens 4 bis 6 Wochen Thiamin-Unterversorgung, bevor sich eine Wernicke-Enzephalopathie manifestieren kann. Das liegt daran, dass im Körper 30 bis 50 mg Thiamin zwischengespeichert werden können, pro Tag aber nur 2 mg verbraucht werden.
Chronischer Alkoholkonsum führt zu einer schlechteren Thiamin-Resorption im Darm. Analog zu diesem Pathomechanismus dazu treten Wernicke-Enzephalopathien aber auch nach Operationen am Gastrointestinaltrakt auf, wenn hierdurch eine schlechtere Thiamin-Resorption resultiert. Insbesondere wenn es zu einem schnellen Gewichtsverlust kommt (> 7 kg/Monat) ist das Risiko erhöht.
Der Thiaminmangel führt dazu, dass der Kohlenhydratstoffwechsel schlechter funktioniert, da – wie geschildert – viele Enzyme des Citratzyklus und in den Mitochondrien Thiamin als Koenzym benötigen. Bei vermehrtem Kohlenhydratverbrauch aber auch vermehrter Kohlenhydratzufuhr (ein Teil des Refeeding-Syndroms, Link Wikipedia) kommt es zu einer fokalen Laktatazidose und einer eingeschränkten zellulären Energieproduktion. Dies führt wiederum zu Demyelinisierungsprozessen und regionalen Gewebsuntergängen.
Klinik
Die Symptome einer Wernicke-Enzephalopathie lassen sich auf die betroffenen Strukturen im Gehirn zurückführen. Die Augenbewegungsstörungen und Ataxie resultieren aus Kleinhirn-, Hirnstamm-, Pons- und Mittelhirnläsionen, Kurzzeitgedächtnisstörungen durch die Einbeziehung des limbischen Systems.
Auch wenn sich die bildgebenden Befunde häufig rasch – wie in dem Fallbeispiel – zurückbilden, tun die histopathologischen Veränderungen das nicht. So erklären sich die deutlich höheren Inzidenzzahlen der Wernicke-Enzephalopathie in Autopsie-Studien. Praktisch immer sind die Corpora mamillaria betroffen. Man geht davon aus, dass nur ca. 17% aller Betroffenen klinisch das Vollbild einer Wernicke-Enzephalopathie entwickeln, alle anderen nur Teile der Symptomatik. Bei jüngeren Menschen fehlen insbesondere oft die Kurzzeitgedächtnisstörungen.
Das MRT hat von allen apparativen Verfahren noch die höchste Sensitivität, eine Wernicke-Enzephalopathie zu entdecken, da es aber insbesondere bei leichteren Fällen zwar histopathologische – aber keine MRT-morphologischen – Veränderungen gibt, schließt ein unauffälliges MRT eine Wernicke-Enzephalopathie nicht aus.
Da der Blut-Vitamin B1-Spiegel häufig „nur“ niedrig-normal ist, soll die Bestimmung der alpha-Transketolase als Thiamin-abhängiges Enzym aussagekräftiger sein (ich habe diese aber noch nie bestimmt und wüsste auch gar nicht, ob das labormedizinisch ein Standardverfahren oder ein experimentelles Vorgehen ist).
Behandlung der Wernicke-Enzephalopathie
Gut, das wirkt zunächst einfach: Man gibt hochdosiert und – möglichst – parenteral Thiamin. Die Standard-Dosis beträgt dabei 3 x 200 mg i.v.. Patienten mit einer Wernicke-Enzephalopathie durch eine Fehlernährung benötigen dabei substanziell weniger Thiamin als Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit. Die zweite wichtige Botschaft ist: Thiamin muss man lang genug parenteral geben (bei einer ausgeprägten Wernicke-Enzephalopathie durchaus auch mal 14 Tage) und anschließend im Zweifelsfall ruhig weiter oral substituieren (1 bis 3 x 100 mg p.o.).
Kurzes Fazit
Was kann und muss man sich merken? Da die Wernicke-Enzephalopathie häufig unterdiagnostiziert ist, sind es dann doch die beiden Kernbotschaften von weiter oben „dran denken und im Zweifelsfall Thiamin geben“, die auch nach weiterer Literaturrecherche am entscheidensten sind. Zudem sollte man nicht nur bei alkoholkranken Patienten an eine Wernicke-Enzephalopathie denken, sondern auch bei Patienten mit raschem Gewichtsverlust (z.B. durch eine Darm-OP), Mangel- und Unterernährung und damit auch beim Kostaufbau bei schluckgestörten Patienten immer Thiamin substituieren.
Und was ist jetzt ein Korsakoff-Syndrom
Das Korsakoff-Syndrom (manchmal auch Korsakov- oder Korsakow-Syndrom geschrieben) beschreibt einen neuropsychologischen Defektzustand durch lang anhaltenden Thiamin-Mangel, bei dem es zu anhaltenden Kurzzeitgedächtnisstörungen und den oft so typischen Konfabulationen kommt. Das Korsakoff-Syndrom ist in der Regel nicht mehr reversibel und führt meist zur Pflegebedürftigkeit. Es gibt allerdings Einzelfallberichte, die unter Rehabilitationsmaßnahmen und anhaltender Thiamin-Substitution von einer Teilremission berichten.
Wo man weiterlesen kann
Sechi G, Serra A. Wernicke’s encephalopathy: new clinical settings and recent advances in diagnosis and management. The Lancet Neurology. 2007;6(5):442-455. doi:10.1016/S1474-4422(07)70104-7
Chandrakumar A, Bhardwaj A, ‘t Jong GW. Review of thiamine deficiency disorders: Wernicke encephalopathy and Korsakoff psychosis. Journal of Basic and Clinical Physiology and Pharmacology. 2019;30(2):153-162. doi:10.1515/jbcpp-2018-0075
Michenthaler P, Struhal W, Aigner M. Case Report Thiaminsubstitution. psychopraxis neuropraxis. 2021;24(1):53-56. doi:10.1007/s00739-020-00690-0
Heute geht es um ein wichtiges Neurologie-Weiterbildungsthema, aber auch um eine wichtige medizinethische Frage, nämlich den Hirntod. Unmittelbar mit dem Thema Hirntod ist das Thema Organspende verbunden. Bevor wir also über Hirntod reden, reden wir kurz über Organspende.
Hirntod und Organspende
Etwa 8.700 Patienten benötigen in Deutschland derzeit ein Spenderorgan (Link), gut 933 Organspender gab es 2021 in Deutschland.
Da ist also noch deutlich Luft nach oben, wir können in Deutschland seit Jahren unseren Bedarf an Spenderorganen nicht selber decken. Grundvoraussetzung für die allermeisten Organtransplantationen (Ausnahme sind Lebendspenden bei Nieren und manchmal Lebersegmenten) ist die Feststellung des Hirntodes des potentiellen Organspenders. Um das Thema ranken sich viele Mythen, Missverständnisse, Ängste und im ärztlichen Bereich durchaus auch Unsicherheiten. Und dann hat auch noch zu allem Überfluss ECMO_doc diesen Thread vor einigen Tagen gepostet, höchste Zeit also sich dem Thema zu widmen:
Leise surren die Maschinen. Hin und wieder piepst der Monitor. Die Sättigung ist bei 99%, die Herzfrequenz bei 90 und der Blutdruck ist auch normal. Der Patient sieht rosig aus. Der Thorax hebt sich im Rhythmus den die Beatmungsmaschine vorgibt. Und trotzdem liegt der Totenschein
Der Hirntod heißt gar nicht mehr Hirntod, schon seit ein paar Jahren nicht mehr, sondern irreversibler Hirnfunktionsausfall, abgekürzt IHA. Dieser Begriff ist zwar etwas umständlicher, beschreibt aber das entscheidende Detail nämlich die Irreversibilität des Hirnfunktionsausfalls besser, berücksichtigt, dass beim IHA nicht zwingend das ganze Gehirn und jede einzelne Hirnzelle abgestorben sein muss, aber das Gesamtorgan Gehirn so geschädigt ist, dass es seinen Funktionen nicht mehr nachkommen kann und dass wir Menschen mit dem Begriff Tod optisch einen anderen Zustand verbinden. Darauf bezieht sich auch ECMO_doc in seinem Thread. Menschen mit einem IHA kann man nämlich rein optisch nicht von anderen intubierten, und beatmeten (und oft medikamentös kreislaufunterstützten) Intensivpatienten unterscheiden. Den Anblick, den wir mit einem Toten verbinden ist sehr geprägt vom Atem- und Kreislaufstillstand.
Im DSO Leitfaden für die Organspende (Link) ist der IHA wie folgt formal beschrieben:
Der irreversible Hirnfunktionsausfall wird definiert als Zustand der unumkehrbar erloschenen Gesamtfunktion des Gehirns (Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm). Dabei wird durch kontrollierte Beatmung und andere intensivmedizinische Maßnahmen die Herz- und Kreislauffunktion künstlich aufrechterhalten.
Immer wieder wird über das Konzept Hirntod gestritten und diskutiert, auch und insbesondere über vermeintliche und (deutlich weniger) tatsächliche Hirntod-Fehldiagnosen. Einen guten Überblick über die Kontroversen beim Thema IHA gibt der Wikipedia-Artikel Hirntod. Dabei stammen nahezu alle berichteten Fälle aus den USA und von Fällen, in denen die Hirntod-Diagnostik nicht komplett oder nicht richtig durchgeführt wurde. In Deutschland existiert ein sehr deutsches, formalistisches und strukturiertes Verfahren bei der IHA-Diagnostik, das aber zu einer sehr großen Sicherheit bei der Korrektheit der Diagnosestellung IHA führt.
Was führt zum Hirntod?
Ein irreversibler Hirnfunktionsausfall entsteht dann, wenn es zu einem Kreislaufstillstand im Gehirn kommt. Dies passiert in der Regel im Rahmen von Hirndruck. Der Schädel hat nur ein begrenztes Fassungsvolumen. Alle Dinge, die zu einer massiven Erhöhung des intrakraniellen Drucks führen, können einen IHA verursachen, da der Druck nicht nach außen entweichen kann. Intrakranielle Blutungen, vor allem Subarachnoidalblutungen, sind Hauptursache für die Entwicklung eines IHA.
Deutlich weniger Fälle entstehen bei schweren hypoxischen Hirnschäden nach Reanimation. Auch hier kommt es zu einer intrakraniellen Druckerhöhung durch die großflächigen Schlaganfälle durch eine Minderdurchblutung des Gehirns beim Kreislaufstillstand und der Reanimation.
Immer wenn dann der intrakranielle Druck den Perfusionsdruck, den der Kreislauf aufbauen kann und mit welchem arterielles Blut ins Gewebe gepresst wird übersteigt, resultieren noch mehr Minderdurchblutungen und noch mehr Schlaganfälle. Bis irgendwann der Druck so hoch ist, dass gar keine effektive Hirndurchblutung mehr stattfinden kann.
IHA-Diagnostik
Wer darf IHA-Diagnostik durchführen?
Jede Ärztin und jeder Arzt darf bei einem Patienten mit Herz-Kreislauf-Stillstand anhand der sicheren Todeszeichen den Tod feststellen und im Totenschein entsprechend dokumentieren. Beim IHA ist dies insofern anders, als dass spezielle Qualifikationsanforderungen bestehen. IHA-Feststellungen kann und darf man nie alleine machen, es bedarf immer zweier Fachärzte. Davon muss einer Facharzt für Neurologie oder Neurochirurgie sein (wobei in dem Maximalversorger, in dem ich zwischenzeitlich gearbeitet habe, IHA-Diagnostik stets durch die Neurologie und nicht durch die Neurochirurgie erfolgte). Der andere ist dann in der Regel Anästhesist, bzw. Internist mit der Zusatzbezeichung spezielle Intensivmedizin. Die beteiligten Ärzte dürfen nicht an der Entnahme, bzw. Transplantation der Organe beteiligt sein, wenn es zu einer Organspende kommt. Bei Kindern bis zum 14. Lebensjahr muss ein Facharzt für Pädiatrie beteiligt sein. Und man muss ausreichend qualifiziert sein. Wortwörtlich heißt es:
Dies beinhaltet unter Berücksichtigung des Lebensalters des Patienten insbesondere die Fähigkeit, zerebrale von spinalen und von peripher neurogenen Reaktionen zu unterscheiden,
die Erfahrung bei der Beurteilung von Medikamenteneffekten auf den klinischen und auf den neurophysiologischen Befund,
die Erfahrung bei der Beurteilung der Pharmakokinetik zentral dämpfender Medikamente unter Beachtung potentieller Interaktionen sowie der Körpertemperatur des Patienten,
die Erfahrung bei der Beurteilung der Auswirkungen von Vorerkrankungen, aktuellen Organschäden, metabolischen Störungen etc. auf die klinischen Symptome,
die Kenntnis der Indikationen und der Limitationen der ergänzenden Untersuchungen.
Richtlinie gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 TPG für die Regeln zur Feststellung des Todes nach § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG und die Verfahrensregeln zur Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG, Vierte Fortschreibung. Deutsches Ärzteblatt. Published online 2015:31
Neurologische Weiterbildung und IHA-Diagnostik
Die Handlungskompetenz eine IHA-Diagnostik durchführen zu können, gehört zu den Inhalten der Weiterbildungsordnung für angehende Fachärztinnen und Fachärzte für Neurologie (Link WBO HH). Und dennoch ist es für viele Weiterbildungsassistenten gar nicht so leicht diese Handlungskompetenz zu erwerben, da es in 2021 in Deutschland gerade mal 933 IHA-Feststellungen gab und diese sich in erster Linie bei den Krankenhäusern mit großen Abteilungen für Neurochirurgie und Traumatologie ballen.
Die in jedem Krankenhaus vorkommenden schweren hypoxischen Hirnschäden nach Reanimation machen gerade mal ein knappes Viertel der IHA-Fälle aus. Zudem werden IHA-Diagnostiken auch weiterhin vor allem dann durchgeführt, wenn eine Organspende angestrebt wird. In den meisten anderen Fällen wird im klinischen Alltag – wenn es auf einen IHA hinausläuft – nämlich sonst in der Regel mit Familie und Angehörigen eine Therapielimitierung besprochen (siehe auch hier).
Durchführung der IHA-Diagnostik
Prämisse der IHA-Diagnostik ist, dass fehlerhafte IHA-Feststellungen ausgeschlossen sein müssen. Dafür ist die IHA-Diagnostik in Deutschland extrem stark formalisiert und strukturiert worden. Dadurch wirkt der ganze Prozess manchmal umständlich.
Durchgeführt wird die IHA-Diagnostik mit Hilfe eines Protokollbogens, welchen es in zwei Ausfertigungen (einmal für Kleinkinder unter 2 Jahren und einmal für alle ab dem 3. Lebensjahr gibt) (Link). Ich gehe hier auf den Bogen ab dem 3. Lebensjahr ein:
Ein- oder zwei Untersuchungsgänge?
Die IHA-Feststellung ist so strukturiert, dass zunächst immer ein klinischer Untersuchungsgang zur Feststellung des Hirnfunktionsausfalls durchgeführt wird. In einem zweiten Schritt wird dann die Irreversibilität des Hirnfunktionsausfalls bestätigt. Dies kann man entweder durch die Wiederholung der klinischen Untersuchung nach einem festgelegten zeitlichen Mindestabstand tun oder durch eine ergänzende apparative Untersuchung. Bei primär infratentorieller Hirnschädigung (z.B. schwere Kleinhirnblutung) ist immer ein obligates apparatives Verfahren erforderlich. Das hat den Hintergrund, dass bei infratentoriellen Hirnschädigungen ein Locked In-Syndrom entstehen kann, bei dem die Patienten bei Bewusstsein sind, aber durch die Schädigung von Hirnstamm und Pons nicht mit der Außenwelt kommunizieren kann. Bei kleinen Kindern herrschen noch einmal strengere Auflagen:
Im klinischen Alltag wird in der Regel wo immer möglich eine ergänzende apparative Diagnostik zur Vermeidung der Wartezeit durchgeführt. Dies geschieht aus mehreren Gründen:
Um für die Angehörigen Klarheit zu schaffen. „Wir vermuten, dass Ihr … hirntot ist“ ist für die allermeisten Menschen sehr schwer auszuhalten.
Da IHA-Diagnostik – wie erwähnt – vor allem bei angestrebter Organspende durchgeführt wird und IHA-Patienten nicht unbedingt kreislaufstabil sind, um eine erfolgreiche Organspende realisieren zu können.
Ganz banal aus Platz- und Kapazitätsgründen.
Der Protokollbogen
Die IHA-Diagnostik wird anhand des Protokollbogens durchgeführt, den ich hier Schritt für Schritt erläutern möchte.
Seite 1 des Protokollbogens für über 2-Jährige
Die Sache mit der Nummerierung
Erster Stolperstein: Jeder beteiligte Arzt füllt einen Protokollbogen aus, der durchnummeriert wird. Beim ersten Untersuchungsgang gibt es also Protokollbogen 1 und 2. Macht man einen zweiten Untersuchungsgang, dann braucht man auch noch Protokollbogen 3 und 4.
Patientenidentifizierung, Klinik und Untersucher-Daten
Diese Dinge sind eigentlich selbsterklärend. Es gelten die selben Vorraussetzungen wie beim Ausfüllen des Totenscheins. Im Zweifelsfall vergleicht man noch mal die Patientendaten mit der Versichertenkarte, dem Personalausweis usw. damit man den Patienten zweifelsfrei identifizieren kann.
1. Vorraussetzungen
In die erste Zeile trägt man die Diagnose ein. Dann muss man sich entscheiden, ob es sich um eine primäre Hirnschädigung (z.B. Blutung) handelt und ob diese supra- oder infratentoriell lokalisiert ist oder ob eine sekundäre (z.B. hypoxischer Hirnschaden nach Reanimation) Hirnschädigung vorliegt. Zur besseren Illustration hier noch mal die drei Klassiker der zum IHA führenden Diagnosen:
SAB Hunt & Hess 5Schwerer hypoxischer HirnschadenKleinhirnblutung
Der nächste Schritt ist, sich gemeinsam die Gewissheit zu verschaffen, dass der Patient nicht intoxikiert ist, keine dämpfende Medikamente erhalten hat, die noch in wirksamer Konzentration im Körper vorhanden sein könnten, der Patient nicht muskelrelaxiert ist, nicht hypotherm, im metabolischen oder endokrinen Koma und nicht im Kreislaufschock ist. Zudem trägt man den systolischen Blutdruck und die Temperatur des Patienten ein. Diese Dinge bedürfen in der Regel eine gemeinsame Durchsicht der Patientenkurve oder des PDMS, der laufenden Perfusoren und die Überprüfung der Vitalparameter.
2. Klinische Symptome des Ausfalls der Hirnfunktion
Jetzt kommt der originär neurologische Teil der Untersuchung. Grob muss man sich die Systematik dahinter als Nicht-Neurologe wie folgt vorstellen: Bedingung für die IHA-Diagnostik ist ein komatöser Patient, bei dem alle Hirnstammreflexe als relativ stabile und ischämieresistente Funktionen ausgefallen sind. Man arbeitet sich von oben nach unten durch den Hirnstamm vor.
Das bedeutet im Einzelnen: Überprüfen, ob der Patient komatös ist. Pupillen und Lichtreaktion beurteilen (und dokumentieren, wenn das nicht geht, z.B. bei schweren Augenverletzungen, Glasauge, Katarakt-OP usw.). Vestibulo-okulären-Reflex (Puppenkopf-Phänomen) beurteilen, dabei Tubus nicht dekonektieren und nicht über die beiden Kästchen (rechts/links) zum Ankreuzen wundern (ja, eines würde reichen). Kornealreflex überprüfen. Schmerzreiz im Gesicht setzen (z.B. Nasenscheidewand) und Überprüfen, ob es zu einer Herzfrequenzzunahme oder einem Blutdruckanstieg kommt. Pharyngeal- und Trachealreflex überprüfen, dazu am Tubus rütteln und tief endotracheal absaugen und auf Hustenreiz achten.
Und dann kommt der aufwändigste Teil des klinischen Untersuchungsganges. Der Apnoe-Test. Hierzu muss man wissen, dass bei Lungengesunden der Anstieg von CO2 im Blut der stärkste Atemantrieb ist. Was man also macht ist, dass man die Beatmung unterbricht, daraufhin steigt der CO2-Spiegel im Blut kontinuierlich an. Gefordert wird ein Anstieg des arteriellen pCO2 von 35-45 mmHg auf über 60 mmHg (2. Stolperstein: temperaturkorrigiert). Um eine schnelle Sauerstoffentsättigung und damit einen Kreislaufeinbruch zu vermeiden muss der Patient in der Regel präoxygeniert werden. Beim eigentlichen Apnoe-Test wird das Dekonektieren vom Beatmungsgerät immer mehr verlassen und meistens das für die Patienten weniger stressbehaftete Verfahren der apnoischen Oxygenation gewählt. Dies kann man entweder – wenn man doch dekonektiert – durch Sauerstoff-Gabe direkt in den Tubus oder durch Einstellen des Beatmungsgerätes auf CPAP-Modus, und Hochstellen des Triggers auf maximale Unempfindlichkeit erreichen. Dann wird meistens alle 30 Sekunden ein maschineller Atemzug erfolgen, in der Zwischenzeit aber nicht. Aufgabe der Untersucher ist es, auf spontane Atemexkursionen zu achten und den richtigen Zeitpunkt für BGA-Kontrollen (die ja immer eine gewisse Zeit brauchen, bis das Ergebnis vorliegt) zu wählen.
Es gibt zum klinischen Untersuchungsgang – aber auch zu den apparativen Verfahren – viele Anmerkungen und Konkretisierungen für den jeweiligen Einzelfall, die man in der unten verlinkten Richtlinie nachlesen kann.
3. Stolperstein: Die bis hierhin dokumentierten Befunde müssen einmal direkt über dem schwarzen Strich per Unterschrift bestätigt werden, direkt darunter aber mit zusätzlicher Uhrzeit-Angabe und erneuter Unterschrift quittiert werden, dass man sich bewusst ist, dass es sich hierbei um den ersten Untersuchungsgang gehandelt hat und man einen zweiten Untersuchungsgang, bzw. apparative Verfahren ergänzen wird.
Seite 2 beginnt wieder mit dem Ankreuzen der richtigen Protokollbogen-Nummer und mit den Patientendaten:
Seite 2 des Protokollbogens für über 2-Jährige
3. Irreversibilitätsnachweis
Hier geht es darum zu bestätigen, dass der auf der ersten Seite dokumentierte Hirnfunktionsausfall irreversibel ist. Das kann man entweder mit einem zweiten Untersuchungsgang machen oder mit ergänzenden apparativen Untersuchungsverfahren.
Entscheidet man sich für einen zweiten Untersuchungsgang, so muss man alle Feststellungen und Untersuchungen auf Seite 1 des Protokollbogens inklusive Apnoe-Test noch mal wiederholen und den Protokollbogen bis oberhalb der schwarzen Linie vor „Bei den hier dokumentierten Feststellungen …“ erneut ausfüllen. Diese zusätzlichen Protokollbögen werden mit 3 und 4 nummeriert.
Auf Protokollbogen 1 und 2 (4. Stolperstein) dokumentiert man dann bei 3.1 die Durchführung des zweiten Untersuchungsganges.
Wird ein apparatives Verfahren ergänzt, so greift 3.2. Hier spielen im klinischen Alltag das EEG, die CT-Angiographie und die Doppler-, bzw. Duplexsonographie die entscheidende Rolle, die anderen Untersuchungsverfahren kommen praktisch nicht (mehr) in diesem Kontext vor.
Beim EEG ist die korrekte Durchführung entsprechend den in der Richtlinie hinterlegten Bedingungen und eine Befundung, in der die wesentlichen Punkte erwähnt werden, entscheidend. Da die meisten EEG-Befunder eh Befundvorlagen benutzen, kann man sich auch eine IHA-Vorlage erstellen, die in etwa so lauten könnte:
Befund
In dem EEG nach den Richtlinien der Bundesärztekammer über xx Minuten von xx.xx Uhr bis xx.xx Uhr lässt sich auch bei maximal sensitiven Filtereinstellungen keine hirneigene elektrische Aktivität ableiten. Es finden sich lediglich einzelne EKG- und Elektrodenartefakte.
Beurteilung
EEG nach den Richtlinien der Bundesärztekammer über xx Minuten vereinbar mit einem irreversiblen Ausfall aller Hirnfunktionen (IHA).
Ort, xx.xx.20xx, xx:xx Uhr
Unterschrift
0-Linien-EEG, in dem nur die Skalierung geändert wurde.
Wichtig ist die Befund-Uhrzeit (5. Stolperstein) und dass wirklich mindestens 30 Minuten abgeleitet wurden.
Bei der Doppler-, bzw. Duplexsonographie ist entscheidend, dass das Verfahren zwei Mal im Abstand von mindestens 30 Minuten angewendet werden muss. Belegt werden soll ein zerebraler Kreislaufstillstand, der sich entweder durch biphasische Strömungssignale (mit gleichem Ein-, bzw. Ausstrom) oder sogenannte frühsystolische Spitzen (kleinen systolischen Flusssignalen unter 50 cm/s und unter 200 ms Dauer ohne weiteren detektierbaren Fluss) an den Hirnbasisarterien zeigt. Extrakraniell finden sich meistens hochpulsatile Widerstandssignale, da ja effektiv kein Blut mehr ins Gehirn fließt.
Auch hier muss der Befunder auf die Angabe einer Untersuchungsuhrzeit (für beide Untersuchungsgänge) und auf eine Befunduhrzeit achten.
Das selbe gilt für das radiologische Pendant, die CT-Angiographie.
6. Stolperstein: In die Namenszeile bei 3.2 muss der Name des befundenden Arztes der Zusatzuntersuchung eingetragen werden, zudem das Befund-Datum und die Befund-Uhrzeit (deswegen braucht man die auf dem Befund, den man dem Protokoll beilegt).
4. Feststellung des Todes
7. Stolperstein: Man bestätigt, dass sein Protokoll mit den anderen Protokollen übereinstimmt. Das bedeutet, wenn man zwei Protokolle hat (da eine apparative Zusatzuntersuchung durchgeführt wurde) trägt der Protokollant mit dem Protokoll Nr. 1 hier eine 2 ein (da Protokoll 1 mit Protokoll 2 übereinstimmt) und Protokollant Nr. 2 eine 1. Hat man zwei Untersuchungsgänge durchgeführt muss hier bei Protokollbogen 1 „2, 3, 4“ stehen und bei Protokollbogen 2 „1, 3, 4“.
Datum und Uhrzeit die man hier einträgt sind der offizielle Todeszeitpunkt, die auch auf dem Totenschein genauso anzugeben sind (nicht wann die Beatmung beendet wurde oder der Kreislaufstillstand eingetreten ist). Ab diesem dokumentierten Zeitpunkt gilt der Patient als verstorben, mit allen juristischen Implikationen. Findet keine Organspende statt, so ist die Intensivtherapie umgehend zu beenden.
Protokoll 1 und 2 werden abschließend gegenseitig unterschrieben (3 und 4 nicht, diese sind ja nur Zusatz-Befunddokumentation).
Klitzekleines Fazit
Ich habe das mit Absicht hier so detailliert vorgestellt, für alle angehenden Neurologinnen und Neurologen als „Anleitung“ und für alle interessierten Laien um falsche Vorstellungen, Vorurteile und ggfs. Befürchtungen auszuräumen.
Es gibt unglaublich viele „was ist, wenn“-Situationen, auf die die Richtlinie überraschend oft eine konkrete Antwort liefert. Und wenn man sich ein wenig intensiver mit dem Thema beschäftigen möchte, kann man sich dem Thema Spinalisationsphänomene widmen (siehe Artikel unten, leider kein open access, aber aufschlussreiche Videos).
Und noch was: Wenn ihr ärztlich tätig seid, sucht euch ein kleines Team zusammen, dass die IHA-Diagnostik regelhaft zusammen macht. Wenn man ein bisschen eingespielt ist und sich die Zeit nimmt, die man dafür braucht, kann man sogar ein wenig Gefallen an IHA-Diagnostik gewinnen. Ich mache es tatsächlich sogar recht gerne. Und man tut – wenn die IHA-Diagnostik zur Organspende führt – auch was richtig Gutes.
Wo man weiterlesen kann
Richtlinie gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 TPG für die Regeln zur Feststellung des Todes nach § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG und die Verfahrensregeln zur Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG, Vierte Fortschreibung. Deutsches Ärzteblatt. Published online 2015:31.
Janzen, R. W. C., Lambeck, J., Niesen, W., & Erbguth, F. (2021). Irreversibler Hirnfunktionsausfall – Teil 2. Spinalisationsphänomene. iDer Nervenarzt, 92(2), 169–180. https://doi.org/10.1007/s00115-020-01048-y
Weiter geht’s: Widmen wir uns einem Paper zum Thema Long COVID, bzw. Post COVID (die Bezeichnung setzt sich immer mehr durch, diese komische Unterscheidung in Long und Post COVID irgendwie nicht). Hier gibt es ja sehr, sehr, sehr viele Studien, sehr sehr sehr viele davon mit deutlichen methodischen Mängeln von extrem gravierend (keine Kontrollgruppe, kein COVID-Nachweis erforderlich) bis viel weniger schwerwiegend. Dennoch, viele Studien sind retrospektiv, haben Probleme mit einer ausgewogenen Rekrutierung ihrer Probanden oder beschränken sich auf Selbstauskunftsbögen statt klinischen Untersuchungen. Hier gibt es einen Überblick über mehrere Post COVID-Studie aus der Frühphase der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema, in der im letzen Beitrag zu Qualitäts-COVID-Papern vorgestellten Studie hatten die Autoren ja allgemeingültige Qualitätskriterien für COVID-Studien aufgeführt.
Endlich eine richtig gut gemachte Post COVID Studie
Heute soll es um eine Studie gehen, die sehr viel richtig macht, was anderen Studien als Mängel ausgelegt wurde:
Sneller MC, Liang CJ, Marques AR, et al. A Longitudinal Study of COVID-19 Sequelae and Immunity: Baseline Findings. Ann Intern Med. Published online May 24, 2022:M21-4905. doi:10.7326/M21-4905
Studiendesign und Rekrutierung
Es handelt sich um eine prospektive Kohortenstudie aus Maryland, in die vom 30.06.2020 bis 01.07.2021 189 Probanden mit einem laborchemischen COVID-Nachweis und eine Kontrollgruppe von 122 Personen ohne COVID-Infektion eingeschlossen wurden. Insgesamt wurden eher leicht betroffene Probanden eingeschlossen, nur 12% der COVID-Gruppe wurden stationär behandelt. Die Studie ist Teil einer größeren – weiter laufenden – Längsschnittstudie, auf Grund des großen Interesse an dem Thema wurden aber die Daten aus dem ersten Studienjahr jetzt schon mal veröffentlicht. Um eine möglichst repräsentative Studie zu erhalten, ohne Bias durch verschiedenen geographischen und sozioökonomischen Hintergrund, wurden nur Probanden in einem Radius von 100 Meilen um Bethesda in Maryland (Link, man beachte die Nachbarsiedlung Chevy Chase) eingeschlossen. Zudem wurde auf eine aktive Rekrutierung, insbesondere in sozialen Medien verzichtet, lediglich bei clinicaltrials.gov und auf einer NIH-Seite wurden Details veröffentlicht. Zudem wurden COVID-positive Probanden in die Studie unabhängig vom Vorhandensein von Post COVID-Symptomen eingeschlossen. Die Kontrollgruppe wurden ebenfalls über die Webseiten und einen Newsletter, in dem Studienfreiwillige gesucht werden, rekrutiert. Als Post COVID-Symptom wurden jede Erkrankung und jedes Symptom gewertet, welches nach der COVID-Infektion begann oder sich verschlechterte, bis zum ersten Screening anhielt und von mindestens 1% der Probanden angegeben wurde. Im Mittel betrug die Dauer zwischen COVID-Infektion und erstem Screening 149 Tage, also ziemlich genau 5 Monate. Um keine akuten COVID-Symptome zu erfassen, wurden alle Teilnehmer bei den Studienvisiten per PCR-Testung untersucht.
Durchgeführte Diagnostik
Einer der Punkte, die die Studie wirklich auszeichnet ist neben der möglichst bias-freien Rekrutierung die umfangreiche körperliche, laborchemische und testpsychologische Diagnostik, die durchgeführt wurde. So wurden neben einer ausführlichen Anamnese, den selbst gemachten Angaben zu Symptomen auch das Vorhandensein von 17 „typischen“ Post COVID-Symptomen abgefragt. Es wurde eine gründliche körperliche Untersuchung durchgeführt. Laborchemisch wurden an Routineparametern Blutbild, CRP, D-Dimere, Troponin, BNP, eine Rheuma- und Vaskulitis-Serologie (Rheumafaktor, ANA, Anti-Cardiolipin-Antikörper), eine Immunfixation und SARS-CoV-2-Antikörper untersucht, zudem verschiedene Forschungsparameter, u.a. Neurofilament Light Chain (NFL) bestimmt. Es erfolgte eine neuropsychologische Testung, ein TTE (Herzultraschall) und eine Lungenfunktionstestung, sowie der 6-Minuten-Gehtest. Die Lebensqualität wurde – wie in sehr vielen Studien – mittels SF-36-Fragebogen ermittelt, zudem wurden ein kurzer Depressions- (PHQ-2) und Angst-Screening-Test (GAD-2) durchgeführt.
Studienergebnisse
Die Antikörperprävalenz gegen das Spike-Protein betrug nach Infektion 73%, 27% der nachweislich (PCR-Test positiv) Infizierten entwickelten keine neutralisierenden SARS-CoV-2 Antikörper. 55% der COVID-Kohorte gaben ein oder mehrere Post COVID-Syndrom Beschwerden an, 13% der Kontrollgruppe. Am häufigsten wurden Müdigkeit, Luftnot/Brustbeschwerden, Konzentrationsstörungen, Kopfschmerzen, Gedächtnisstörungen, Schlaflosigkeit und Angstattacken berichtet und damit typische Post COVID-Symptome.
Die Untersuchungsbefunde in der körperlichen und klinisch-neurologischen Untersuchung korrelierte nicht mit den angegebenen Beschwerden. Ausnahme waren muskuloskelettale Symptome, bei denen auch in der COVID-Gruppe deutlich häufiger pathologische Befunde erhoben wurden (8% vs. 1%), in erster Linie schmerzhafte Schleimbeutel, Muskel- oder Sehnenansätze und aktivierte degenerative Gelenkbeschwerden.
Laborchemisch konnte zwischen den beiden Gruppen kein signifikanter Unterschied gemessen werden, auch nicht hinsichtlich der neueren Neurodegenerations-Marker wie NFL. Auch bei der Rheuma- und Vaskulitis-Serologie gab es kein signifikanten Unterschied zwischen den beiden Gruppen, bei den Probanden aus COVID- und Kontrollgruppe, bei denen ein positiver Autoantikörper-Befund bestand hatte klinische Hinweise auf eine Autoimmunerkrankung.
Die Autoren haben noch eine ganze Menge weiterer experimenteller Marker, welche in der klinischen Routine nicht etabliert sind, wie verschiedene Zytokine – von denen ich teilweise nicht die korrekte deutschsprachige Bezeichnung weiß – bestimmt: Macrophage inflammatory protein-1b, Interferon-gamma, Tumornekrosefaktor-alpha, programmed cell death ligand-1 (PDL-1), interferon g–induced protein 10, Interleukin-2-Rezeptor, Interleukin-1b, Interleukin-6, Interleukin-8, RANTES (regulated on activation, normal T cell expressed and secreted), und CD40 als wichtiger auf B-Zellen, Makrophagen und dendritischen Zellen vorkommender Immunmodulator bestimmt, zudem eine Serinprotease names Granzyme B, welche in der T-Zell-Regulation eine wichtige Rolle spielt. Der Granzyme B-Spiegel war nach COVID-Infektion deutlich höher als in der Kontrollgruppe, unterschied sich aber nicht zwischen Probanden mit durchgemachter COVID-Infektion mit Post COVID-Beschwerden von Probanden mit durchgemachter Infektion ohne Post COVID. Das selbe Ergebnis bestand bei der Durchflusszytometrie (FACS), welche in einer Subgruppe durchgeführt wurde. Auch hier bestand nach COVID-Infektion in einer T-Zell-Gruppe (vermehrte CD25-Expression) ein Unterschied zu nicht COVID-Infizierten, aber kein Unterschied zwischen Probanden mit Post COVID-Beschwerden und ohne.
In mehreren Studien wurde eine SARS-CoV-2-Viruspersistenz als Ursache von Post COVID-Beschwerden diskutiert. Die Autoren nahmen daher COVID-PCR und Bluttests auf das Vorhandensein von viralen Oberflächenproteinen ab. Hier konnte kein Hinweis auf eine Viruspersistenz gefunden werden (zumindest nicht im Nasen-Rachen-Raum und Blut).
Herzultraschall und Lungenfunktionsdiagnostik ergaben ebenfalls keinen signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen.
Übersicht über die Befunde der apparativen und laborchemischen Diagnostik. Aus: Sneller MC, Liang CJ, Marques AR, et al. A Longitudinal Study of COVID-19 Sequelae and Immunity: Baseline Findings. Ann Intern Med. Published online May 24, 2022:M21-4905. doi:10.7326/M21-4905
Was unterschiedlich war, war zum Beispiel der 6-Minuten-Gehtest, in dem sich ein signifikanter Unterschied der zurückgelegten Gehstrecke (560 m vs. 595 m) zeigte. Interessant ist die graphische Darstellung der odds ratio für die einzelnen Risikofaktoren. Eine Assoziation mit Post COVID-Symptomen bestand in erster Linie bei Angststörungen und depressiven Erkrankungen.
Odd ratio im Vergleich der einzelnen Risikofaktoren, Test- und Fragebogenergebnisse.
Limitationen der Studie
Die Autoren führen an, dass sie überwiegend Probanden mit leichtem COVID-Verlauf eingeschlossen hätten, was ggfs. zur Einschränkung der Aussagekräftigkeit hinsichtlich des gesamten Spektrums an Post COVID-Beschwerden führe. In meinen Augen ist das sogar eher ein Vorteil, da sich die postinfektiösen Beschwerden je nach Krankheitsschwere durchaus unterscheiden. Die klassischen oder typischen Post COVID-Symptome werden ja eher nach leichten Verläufen berichtet, nach schweren dominieren eher COVID-Enzephalopathie (Link), ausgeprägte kognitive Defizite (Link), CIP/CIM (Link) usw. Zu den Krankheitsfolgen nach schwerer COVID-Erkrankung gibt es überdies gute Arbeiten, die dort auch eigene Pathomechanismen zeigen konnten.
Ein wichtiger Punkt bei den Häufigkeitsangaben von Post COVID-Beschwerden ist die Überlegung der Autoren, dass auch ihr Rekrutierungsmechanismus vermutlich zu einer Überschätzung der Post COVID-Häufigkeit führen dürfte. Zudem wurden alle Post COVID-Beschwerden, welche sich bis zur ersten Studien-Visite verflüchtigt hatten, nicht gewertet, was einer Überbetonung anhaltender Post COVID-Symptome gleichkommen dürfte.
Was kann man aus der Studie lernen?
Meiner Meinung eine ganze Menge:
Erstens, und das ist die wichtigste Botschaft: Man kann auch gute Post COVID-Studien machen, mit einer vernünftigen Rekrutierung, einer Kontrollgruppe und einem prospektiven Studiendesign.
Zweitens: Es gibt jetzt mehrere Studien (sicherlich auch viele mit methodischen Schwächen), bei denen die Suche nach Post COVID-Ursachen mit „Routine-Diagnostik“ (im Sinne von flächendeckend verfügbarer und gut verstandener Labor- und Bildgebungsdiagnostik) zu keinem greifbaren Ergebnis geführt hat. Hier reiht sich die Studie mit ein. Das bedeutet aber auch, dass man es perspektivisch wohl langsam sein lassen kann hier nach einer Antwort zu suchen.
Drittens: Wenn man eine Post COVID- (und CFS-)Ursache finden möchte, muss man vermutlich weiter eher nach neuen Ansätzen Ausschau halten, wie zum Beispiel die Autoren in diesem Preprint (ja, es ist ein Preprint):
oder in dieser Arbeit mit Tiermodellen: Link. Was man sich aber bewusst sein muss. Das Suchen im Bereich experimentieller Laborwerte u.ä. wird immer wieder zu zunächst mehr oder weniger spektakulären Ergebnissen führen, die sich in weiteren Arbeiten nicht belegen lassen. Von daher, hier Bedarfs es einer gewissen Gelassenheit Studien auch einfach mal abzuwarten.
Viertens: Psychosoziale Faktoren und auch bestimmte psychiatrische Vorerkrankungen erhöhen das Erkrankungsrisiko für Post COVID. Aber die die Bedeutung psychosozialer Faktoren illustrieren, bleiben daher weiter spannend: Link. Generell verschwimmt bei Syndromen die Grenze zwischen somatischer und psychosomatischer Erkrankung zunehmend. Ich befürworte das sehr, da ich diese Trennung (die ja aus der Psychosomatik und Tiefenpsychologie kommt) angesichts des zunehmenden Wissens über die Interaktion von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren für immer fragwürdiger halte.
Wo man weiterlesen kann
Sneller MC, Liang CJ, Marques AR, et al. A Longitudinal Study of COVID-19 Sequelae and Immunity: Baseline Findings. Ann Intern Med. Published online May 24, 2022:M21-4905. doi:10.7326/M21-4905