Kompliziertes, was eigentlich ganz einfach ist: CRPS

Beim Thema CRPS befürchte ich, wird das Konzept kompliziertes, was eigentlich ganz einfach ist erstmals richtig scheitern, denn es ist unglaublich schwer, das Thema soweit zu vereinfachen, dass man das große Ganze dahinter erkennen kann, vermutlich in diesem Fall, weil niemand das große Ganze wirklich kennt.

Beim CRPS hat sich in den letzen 2-5 Jahren ganz viel getan, es gibt einen komplett geänderten Behandlungalgorithmus, weil sich auch die Auffassung, was das CRPS ist und wie man es behandeln sollte in weiten Teilen geändert hat. Das führt aber dazu, das auch in aktuellen Lehrbüchern wie dem von Diener et al. zum Thema Schmerzmedizin noch die alte Behandlung des CRPS geschildert wird und man wirklich auf aktuelle Paper und die 2018 aktualisierte Leitlinie angewiesen ist.

Unnötig verkompliziert wird das Thema zudem durch ellenlange Aufzählungen in der Literatur, welche Symptome zum CRPS gehören können (ohne dass man danach schlauer wäre) und eine ganze Menge urban legends und Fehlvorstellungen, die durch unsere Mediziner-Köpfe spuken, wann und warum man ein CRPS bekommt oder auch nicht.

Was das CRPS ist und wie es entsteht

Das CRPS ist eine Schmerzerkrankung, welche sich typischerweise nach einem Trauma einer Extremität entwickelt. Ausnahmen bestätigen die Regel und deshalb gibt es CRPS auch ohne Trauma, nur post-operativ usw., aber das mit dem Trauma ist die Regel. Wie der Name sagt, ist es eine komplexe Schmerzerkrankung, die immer aus sensiblen, motorischen, autonomen und tropischen Störungen besteht, häufig aber zusätzlich auch aus neuropsychologischen Defiziten. Das CRPS wird in 2 Subtypen unterteilt, Typ 1 ist das CRPS ohne Nervenverletzung, CRPS das mit Nervenverletzung. Für die Beschwerdekomplexe und die Behandlung außerhalb einer etwaigen Nervenrekonstruktions-OP ist das aber gar nicht erheblich. Vermutlich viel wichtiger ist die Unterscheidung in Patienten mit einem warmen CRPS

Vorstellen muss man sich das CRPS vermutlich wie eine sehr rasche Schmerzchronifizierung mit all den peripheren und zentralen Sensibilisierungsmechanismen, die ich hier aufgeführt habe. Zu dieser Sensibilisierung kommt eine heftige neurogene Entzündung hinzu, in der nicht nur CGRP und Substanz P (wie sonst immer), sondern auch klassische Entzündungsmediatoren wie TNF-⍺ und IL-6 mitmischen, zudem – zumindest im Tiermodell – Autoantikörper, die man sich so ähnlich wie die beim Guillain-Barré-Syndrom vorstellen muss und ganz viele Mastzellen und aktivierte Osteoklasten.

Welche Beschwerden macht das CRPS?

Das gute des CRPS ist, dass es eine klinische Diagnose mit Diagnosekriterien ist und diese beschreiben wiederum die Kernsymptome. Daher kann man sich im Zweifelsfall an den Diagnosekriterien entlang hangeln. Die Diagnosekriterien gehen so:

1) Anhaltender Schmerz, der durch das Anfangstrauma nicht mehr erklärt wird

2) Die Patienten müssen über jeweils mindestens 1 Symptom aus 3 der 4 folgenden Kategorien in der Anamnese berichten:

a. Hyperalgesie (Überempfindlichkeit für Schmerzreize); „Hyperästhesie“ (Überempfindlichkeit für Berührung, Allodynie)

b. Asymmetrie der Hauttemperatur; Veränderung der Hautfarbe

c. Asymmetrie des lokalen Schwitzens; Ödem

d. Reduzierte Beweglichkeit, Dystonie, Tremor, „Paresen“ (im Sinne von Schwäche); Veränderungen von Haar- oder Nagelwachstum

3) Bei den Patienten müssen jeweils mindestens 1 Symptom aus 2 der 4 folgenden Kategorien zum Zeitpunkt der Untersuchung vorliegen:

a. Hyperalgesie auf spitze Reize (z.B. Zahnstocher); Allodynie; Schmerz bei Druck auf Gelenke/Knochen/Muskeln

b. Asymmetrie der Hauttemperatur; Veränderung der Hautfarbe

c. Asymmetrie des lokalen Schwitzens; Ödem

d. Reduzierte Beweglichkeit, Dystonie, Tremor, „Paresen“ (im Sinne von Schwäche); Veränderungen von Haar- oder Nagelwachstum

4) Eine andere Erkrankung erklärt die Symptomatik nicht hinreichend.

Der Vorteil dieser Diagnosekriterien ist, dass sie sehr sensitiv sind, der Nachteil, dass sie nicht sonderlich spezifisch sind. Wichtig ist dementsprechend die Ausschlussdiagnostik, wobei es bei einem typischen CRPS auf Grund des Symptomkomplexes dann auch nicht mehr so viel auszuschließen gibt.

CRPS der Hand. Quelle: Link

Dröselt man die typischen CRPS-Symptome noch einmal nach ihren vier Symptomgruppen auf, so erscheint das ganze relativ eingängig:

Sensible Symptome: Klar, es bestehen Schmerzen, wobei die Schmerzen beim CRPS an der betroffenen Extremität „distal generalisieren“, sich also nicht mehr an das Innervationsgebiet eines Nerven, einer Nervenwurzel oder eines Plexus halten und dann distal am Arm oder Bein „schellenartige“ Schmerzen hervorrufen. Diese bestehen in der Regel aus einer erheblichen neuropathischen Schmerzkomponente mit mechanischer Allodynie und Hyperalgesie, zudem eine Druckschmerzhaftigkeit der Gelenke, welche sich innerhalb des Schmerzareals befinden (also meistens Handgelenk oder Sprunggelenk).

Motorische Symptome: Durch meinen Kopf schwirren immer als erstes dystone Fehlhaltungen, wobei das in der Regel ein späteres und prognostisch schlechtes Symptom ist. Viel, viel häufiger, weil fast immer, kommt es zu einer ganz ausgeprägten Einschränkung der aktiven und passiven Beweglichkeit distal in der betroffenen Extremität, aber auch zu zentralen motorischen Symptomen wie einer Feinmotorikstörung (und wiederum seltener zu Tremor oder Myoklonien).

Autonome Symptome finden sich nahezu immer in einer Veränderung der Hautdurchblutung mit Veränderung von Hautfarbe und -temperatur, einem Ödem und einer Veränderung der Schweißproduktion.

Trophische Störungen meint eine Veränderung von Nagel- und Hautwachstum, aber auch von Muskeln, Knochen und Bindegewebe. Auch dies trägt vermutlich zu der raschen ausgeprägten Bewegungseinschränkung in den betroffenen Gelenken bei.

Neuropsychologische Defizite: Der Klassiker ist das „Neglekt-artige Symptom“ mit einer Veränderung der sensiblen Somatotopie im sensiblen Kortex.

Apparative Diagnostik um ein CRPS festzustellen

Die 3-Phasen-Skelettszintigraphie ist nicht besonders sensitiv, aber sehr spezifisch zur Detektion des CRPS über eine Mehranreicherung im Bereiche der betroffenen Gelenke. Zudem erscheint die Messung der Hauttemperatur und ihrer Unterschiede rechts sinnvoll, um die klinische Diagnose eines CRPS zu stützen.

Urban legends

Durch die Köpfe spuken Dinge wie:

  • Das CRPS entwickelt sich nur nach einem Behandlungsfehler
  • Das CRPS entwickelt sich nur bei vorbestellenden psychiatrischen und/oder psychosomatischen Komorbiditäten
  • Ein CRPS liegt nur vor, wenn im Röntgen eine distale Kalksalzminderung auffällig ist
  • Eine CRPS-Extremität muss man schonen und darf sie nicht anfassen oder bewegen

Wie man ein CRPS behandelt

Das hat sich mittlerweile ja relativ stark geändert und die Devise heißt mittlerweile „hands on“. Dabei ist wichtig, dass besonders am Anfang alles erlaubt ist, was die Schmerzen nicht verstärkt und eine aktive Mitarbeit des Patienten voraussetzt. Daher kann es hier sehr sinnvoll sein auch großzügig Analgetika einzusetzen, damit dieses Therapieziel auch gut und rasch erreicht werden kann. Manöver, welche zu einer Schmerzverstärkung führen haben tatsächlich das große Risiko, zu einer Exazerbation des CRPS zu führen. Je besser die Schmerzen regredient sind, desto intensiver können die rehabilitative Bemühungen erfolgen.

Medikamentöse Behandlung in der Akutphase

Am Anfang des CRPS scheint ja eine autoimmun und neurogen vermittelte Entzündungsreaktion zum stehen, welche u.a. Osteoklasten aktiviert und zu ganz viel Schmerzmediatoren-Ausschüttung führt. Daher kann man in dieser Phase tatsächlich gut mit Steroiden und Bisphosphonaten behandeln.

Da es sich bei den CRPS-Schmerzen um neuropathische Schmerzen handelt, ist die Behandlung wie bei anderen neuropathischen Schmerzsyndromen mit SSNRI, Trizyklika und Gabapentin oder Pregabalin sicher aus pathophysiologischen Erwägungen sinnvoll, eine explizite Testung gibt es aber nur für Gabapentin und tatsächlich für Ketamin i.v. als NMDA-Rezeptor-Antagonist (und für Memantine p.o. mit der selben Intention in Verbindung mit Morphin). Dann bleibt es verrückt, es gibt eine Substanz namens Dimethylsulfoxid (DMSO), welche man topisch auftragen kann und welche normalerweise als Trägersubstanz dient, wenn man irgendwelche Stoffe über die Haut applizieren will (wenn ich das richtig verstanden habe z.B. Polonium, wenn man russischer Geheimdienst-Meuchel-Mörder ist). DMSO ohne Zusatz hat aber in einer Studie aus Holland gute Erfolge beim CRPS gezeigt.

Nicht-medikamentöse Therapien

Physiotherapie hilft, ggfs. – das ist aber etwas umstritten – auch die „Pain Exposure Physical Therapy“, worunter man versteht, dass man mit der Zustimmung des Patienten die physiotherapeutischen Übungen durchführt, egal, ob sie Schmerzen hervorrufen oder auch nicht. Ergotherapie hilft auch, besonders aber die Spiegeltherapie. Ob man Psychotherapie benötigt, hängt sehr vom Einzelfall ab.

Interventionelle Therapie

Wenn es Hinweise auf eine sympathisch unterhaltenen Schmerz gibt bietet es sich an, eine Sympathikusblockade durchzuführen. Dafür benötigt man einen kundigen Anästhesisten und es gilt „Versuch macht klug“, da es keine klinischen sicheren Zeichen gibt, die einen sympathisch unterhaltenen Schmerz anzeigen. Anders herum, wenn sie dann gut hilft, wird es schon so gewesen sein (oder der Placebo-Effekt). Alles andere SCS und so, steht auf sehr wackeligen Füßen, was die Evidenz betrifft.

Prognose

Mit einem CRPS hat man lange zu tun, dennoch gilt heutzutage, dass die Prognose bei weitem nicht mehr so desolat ist, wie vor wenigen Jahren, auch wenn immer noch eine Restitutionszeit von 1 Jahr schon als guter Verlauf gilt.

Wo man weiterlesen kann

S1-Leitlinie Diagnostik und Therapie komplexer regionaler Schmerzsyndrome (CRPS) https://www.dgn.org/leitlinien/3618-ll-030-116-diagnostik-und-therapie-komplexer-regionaler-schmerzsyndrome-crps-2018

  1. Birklein, F., Ajit, S. K., Goebel, A., Perez, R. S. G. M. & Sommer, C. Complex regional pain syndrome — phenotypic characteristics and potential biomarkers. Nat. Rev. Neurol. 14, 272–284 (2018).
  2. David Clark, J., Tawfik, V. L., Tajerian, M. & Kingery, W. S. Autoinflammatory and autoimmune contributions to complex regional pain syndrome. Mol. Pain 14, 174480691879912 (2018).
  3. Maihöfner, C., Handwerker, H. O., Neundörfer, B. & Birklein, F. Cortical reorganization during recovery from complex regional pain syndrome. Neurology 63, 693–701 (2004).
  4. Frettlöh, J., Hüppe, M. & Maier, C. Severity and specificity of neglect-like symptoms in patients with complex regional pain syndrome (CRPS) compared to chronic limb pain of other origins. Pain 124, 184–189 (2006).
  5. Birklein, F. & Schlereth, T. Aktuelles zur Therapie des komplex-regionalen Schmerzsyndroms. Nervenarzt 84, 1436–1444 (2013).
  6. Krumova, E., Maier, C. & Tegenthoff, M. Neues aus der Forschung zum Komplexen Regionalen Schmerzsyndrom (CRPS). Aktuelle Neurol. 40, 478–485 (2013).
  7. Wolter, T., Knöller, S. & Rommel, O. Komplexes regionales Schmerzsyndrom bei Nervenwurzelkompression und nach Wirbelsäulenoperation. Der Schmerz 30, 227–232 (2016).

Meine Fibro und ich

Ich glaube, es war mein erster oder zweiter Tag in der Schmerztherapie, als eine Patientin von „meiner Fibro“ sprach und ich sofort dachte, „oh Gott ich bin hier falsch“. Das hat dann nicht mal zwei Wochen gedauert, bis ich zu einer anderen Patientin gesagt habe „Ihre Fibro“. Also, man gewöhnt sich dran. Aber was ist das eigentlich, das Fibromyalgie-Syndrom?

Fibromyalgie vs. Fibromyalgie-Syndrom

So Standard-Definitionen des Fibromyalgie-Syndroms lauten „Das Fibromyalgiesyndrom (FMS) ist eine extreme Ausprägung […] im Sinne eines Kontinuums von regionalen zu generalisierten Schmerzen bei zunehmendem Distress.“ Äh ja. Also, als Fibromyalgie oder Fibromyalgie-Syndrom (warum die zweite Formulierung eigentlich besser ist, dazu gleich noch mehr) oder neudeutsch chronic widespread pain (wobei das eigentlich der Oberbegriff und Fibromyalgie-Syndrom dann der Unterbegriff sein müsste) bezeichnet man diffuse, oft aber nicht immer gelenknahe, Schmerzen an verschiedenen – teils wechselnden – Körperregionen, die teilweise so multipel verteilt sind, dass am Ende Ganzkörper-Schmerzen resultieren. Das wäre dann ein chronic widespread pain. Die Schmerzen nehmen oft bei körperlicher Belastung und psychosozialem Stress zu. Dazu kommen aber noch weitere Symptome, typischerweise Schlafstörungen mit fragmentiertem, nicht erholsamen Schlaf, Morgensteifigkeit und eine vermehrte körperliche und geistige Ermüdbarkeit. Und das ist dann das Fibromyalgie-Syndrom.

Da ganz verschiedene Menschen die Fibromyalgie-Symptome entwickeln können – die typische Spanne geht von Menschen mit einer rheumatischen Erkrankung, die diese Symptomatik im Verlauf entwickeln bis hin zu Menschen mit Traumafolgestörungen und Missbrauchserfahrungen, die dann Jahre nach dem Trauma diese Schmerzen bekommen – kann es sich am Ende nicht um eine definierte Krankheit (also die eine Fibromyalgie) handeln, sondern um ein Syndrom (im klassischen neurologischen Sinne), welches die gemeinsame Endstrecke verschiedener Pathomechanismen darstellt.

Wer und wie bekommt man ein Fibromyalgie-Syndrom?

Klischeemäßig bekommen v.a. übergewichtigere mittelalte Frauen mit Kurzhaar-Frisur ein Fibromyalgie-Syndrom. Aber wie ist die Fibromyalgie wirklich verteilt hinsichtlich ihrer Auftretenshäufigkeit? Insgesamt ist die Fibromyalgie eine Erkrankung der westlichen Industrieländer, je nach Diagnosekriterien kann man davon ausgehen, dass zwischen 1-3% der Bevölkerung betroffen ist. Frauen sind häufiger als Männer betroffen, wobei die Angaben zur Verteilung von 6:1 bis 2:1 schwanken (ebenfalls je nach Diagnosekriterien, 2:1 ist das Verhältnis mit den neueren Diagnosekriterien von 2010). Und es ist eine Erkrankung des mittleren Lebensalters mit einem Peak zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr.

An so schwammigen Sätzen wie „Das FMS kann als funktionelles somatisches Syndrom klassifiziert werden“. kann man erkennen, dass die Pathogenese (bzw. unter der Annahme von oben die verschiedenen Wege der Pathogenese) relativ unklar sind, wobei sich so ganz langsam eine allgemein akzeptierte Auffassung herausbildet. Am Ende kann man sich das Fibromyalgie-Syndrom noch a.e. als eine abgeschlossene Schmerzchronifizierung mit (peripherer und) zentraler Sensibilisierung vorstellen, wobei der Auslöser dieser Chronifizierung nicht eindeutig zu benennen ist, bzw. vermutlich verschiedene Auslöser existieren. Aber die generelle Schmerzüberempfindlichkeit mit den Teils neuropathisch empfundenen Schmerzen und den psychischen Begleitsymptomen entspricht diesem Konstrukt recht gut.

Als akzeptierte Risikofaktoren für die Entwicklung eines Fibromyalgie-Syndromes gelten folgende Punkte, welche man noch einmal in drei Gruppen unterteilen kann:

Biologische Faktoren:

  • Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis
  • Genpolymorphismen des 5HT2- Rezeptors
  • Vitamin D Mangel

Lebensstil-Faktoren:

  • Nikotinabhängigkeit
  • Adipositas
  • Mangelnde körperliche Aktivität

Psychische Faktoren:

  • Körperlicher und sexueller Missbrauch in der Kindheit
  • sexuelle Gewalt im Erwachsenenalter
  • Depressive Erkrankungen

Zu den Veränderungen, die ich mit „abgeschlossene Schmerzchronifizierung“ zusammengefasst habe, kommen noch andere Aspekte hinzu. So konnte man bei einem Teil von Fibromyalgie-Patienten in Studien eine autonome Dysfunktion herausarbeiten, wobei sowohl sympathikotone (die meisten Arbeiten), aber auch asympathikotone Dysregulationen (dtl. weniger Arbeiten) beschrieben wurden. Relativ neu ist die Beobachtung, dass ebenfalls bei einem Teil von Fibromyalgie-Patienten eine reduzierte intraepidermale Nervenfaserdichte gefunden wurde. Dieses Phänomen findet sich (mit etwas anderer histologischer Betonung) bei der small fibre Neuropathie, aber auch bei der Zoster-Neuralgie und auch bei Parkinson-Patienten (die ja ebenfalls häufig über Schmerzen klagen). Warum das so ist bei der small fibre Neuropathie (wobei die genaue Pathogenese recht unverstanden erscheint), ist mal einen eigenen Blogeintrag wert. Auch ist mir nicht ganz klar, warum beim Fibromyalgie-Syndrom autonome Störungen als eigner Pathomechanismus neben der small fibre-Pathologie gelten, wo sie bei der small fibre Neuropathie als eine Unterformen beschrieben werden.

Wie diagnostiziert man ein Fibromyalgie-Syndrom?

In unseren Köpfen spuken beim Thema Fibromyalgie und deren Diagnose immer noch die tender points herum, wobei diese in den mittlerweile 30 Jahre alten ACR-Diagnosekriterien von 1990 vorkamen und in den auch schon 10 Jahre alten revidierten Kriterien ersatzlos gestrichen wurden. In den aktuell verwendeten Diagnosekriterien geht es einmal um einen Ausschluss einer anderen, die Symptomatik erklärenden, Diagnose und zum anderen um die Feststellung, dass an mindestens 7 von 19 Lokalisationen (die dann doch wieder den tender points ähneln) Schmerzen bestehen und dass es Zusatzsymptome wie Bauchschmerzen, depressive Störungen, Müdigkeit, nicht-erholsamer Schlaf usw. gibt. Diese Symptome werden in der Regel standardisiert über Fragebögen erfasst. Als Ausschlussdiagnostik empfehlen die Autoren der aktuellen Leitlinie eine vollständige neurologische und orthopädische Untersuchung und eine laborchemische Diagnostik incl. BSG, CRP, BB, CK, Kalzium, TSH und Vitamin D. Gefordert wird dann noch eine „Vollständige medizinische Anamnese inkl. Medikamentenanamnese“ und das wars. Das erscheint mir ingesamt recht überschaubar.

Und wie behandelt man ein Fibromyalgie-Syndrom

Zunächst einmal nicht kausal, da wir den oder die Gründe für die Entwicklung eines Fibromyalgie-Syndromes ja nicht kennen. Medikamentös ist die Studienlage sehr überschaubar, in erster Linie gibt es eine schwache Evidenz für Medikamente, welche die absteigende Schmerzhemmung stärken, also Trizyklika (und Duloxetin), das ganze aber auch nur zeitlich begrenzt. Und dann kann man noch Pregabalin erwägen, das war es dann aber schon. Der Schwerpunkt der Behandlung des Fibromyalgie-Syndromes liegt aber sowieso in den nicht-medikamentösen Verfahren, in ganz viel Edukation, ganz viel Schmerz-Psychologie und -Psychotherapie, um Schmerz-Teufelskreise zu durchbrechen, ein Verständnis für ggfs. vorliegende psychiatrische Komorbiditäten und ihre Behandlung zu schaffen und um erste Ansätze von Selbstwirksamkeit zu vermitteln; das ganze kombiniert mit der regelmäßigen Anwendung von Muskelentspannungsverfahren und einem freundlich aber bestimmten Heranführen an körperliche Betätigung in Form von Ausdauersport. Am besten gelingt dies – insbesondere bei schwereren Krankheitsverläufen – in einem multimodalen schmerztherapeutischen Behandlungssetting, idealerweise in einem tagesklinischen Setting.

Wo man weiterlesen kann

S3-Leitlinie Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Fibromyalgiesyndroms https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/145-004.html

  1. Woolf, C. J. Central sensitization: Implications for the diagnosis and treatment of pain. Pain 152, S2–S15 (2011).
  2. Eich, W. et al. Das Fibromyalgiesyndrom. Der Schmerz 26, 247–258 (2012).
  3. Chinn, S., Caldwell, W. & Gritsenko, K. Fibromyalgia Pathogenesis and Treatment Options Update. Curr. Pain Headache Rep. 20, 25 (2016).
  4. Evdokimov, D. et al. Reduction of skin innervation is associated with a severe fibromyalgia phenotype. Ann. Neurol. 86, 504–516 (2019).

Muskuläre Schmerzen

Myofasziale Schmerzen & Triggerpunkte: Es hätte so schön sein können

Heute geht es um ein Kernthema der Schmerztherapie: Die myofaszialen Schmerzen. Hier hat sich seit den 1970er Jahren eine ganze eigene Welt um die Beobachtung herum entwickelt, dass es bei vielen Menschen mit chronischen Schmerzen zu ausgesprochen druckdolenten, verhärteten und verkürzten Muskeln kommt, die im Laufe einer Schmerzerkrankung irgendwann den Hauptfaktor des Schmerzerlebens darstellen können. Dieses Konstrukt der myofaszialen Schmerzen wurde immer weiter erweitert und zuletzt sogar um Beobachtung zu CGRP ergänzt. 2015 kam dann ein aufwändig recherchiertes Paper von Quinter et al. heraus, welches das Konzept myofaszialer Schmerzen ziemlich rigoros in Frage gestellt hat. Doch Schritt für Schritt, erst einmal zum myofaszialen Schmerzsyndrom, da es auch weiterhin im wahren Leben in der Schmerztherapie und in der Physiotherapie und da besonders in der manuellen Therapie kaum weg zu denken ist.

Die Entstehung der Triggerpunkte

Um Muskelfasern herum, im umgebenden Bindegewebe (den Faszien) und in den Gelenkkapseln liegen relativ viele Nozizeptoren, die über A-𝛿-Fasern und C-Fasern zum Rückenmark projizieren. Normalerweise haben diese Nozizeptoren relativ hohe Reizschwellen, kommt es jedoch zu Gewebsverletzungen und zur Freisetzung proinflammatorischer Zytokine, werden diese Nozizeptoren zunehmend sensibilisiert (wie sonst auch bei der peripheren Sensibilisierung) und reagieren nun auch auf geringere Reize. Die peri-muskulären Schmerzfasern werden insbesondere durch freies ATP und einen sauren pH-Wert aktiviert. Diese Beobachtung entstammt u.a. auch der Pathogenese anderer Erkrankungen mit muskulärer Beteiligung wie den Schmerzen bei pAVK. Durch Muskeltraumata, z.B. im Rahmen einer Mehr- oder Fehlbelastung lässt sich der selbe Effekt erzielen. Durch eine vermehrte Acetylcholin-Ausschüttung kommt es dann zu einer Dauerkontraktion einzelner Muskelfasern, welche wiederum zu einer latenten Hypoxämie mit Entstehung eines noch saueren pH-Wertes führt. Diese Dauerkontrakturen kann man als „Myogelosen“ oder „Triggerpunkte“ tasten, im Englischen findet sich häufig auch der Begriff „taut band“. Diese Triggerpunkte gibt es in schlimmer, dann schmerzen sie schon in Ruhe oder nur bei leichter Belastung und heißen dann aktive Triggerpunkte oder in etwas weniger schlimm, dann schmerzen sie nur bei stärkere Druck und heißen latente Triggerpunkte. Zuletzt gab es dann noch Beobachtungen, dass in Muskeln mit aktiven Triggerpunkte z.B. erhöhte CGRP-Spiegel bestimmbar waren, welches ja zu einer neurogenen Entzündung führt, was dem ganzen Geschehen ja durchaus zu entsprechen scheint, und daher ganz passend erschien.

Auf Rückenmarksebene kommt es ebenfalls zur Sensibilisierung mit Aktivierung „stiller Synapsen“, welche ursächlich für die Übertragung des Schmerzes in weiter entfernte Körperregionen sein sollen (referred pain).

Durch psychosozialen Stress, schlechten Schlaf, Fehl- und Schonhaltungen, repetitive Bewegungen und Inaktivität kann man dieses Phänomen deutlich verschlimmern.

Wie bekommt man Triggerpunkte wieder weg?

Die Therapie gestaltet sich recht mechanistisch. Zum einen bekommt man Triggerpunkte durch manuelle Therapie wieder weg, zum anderen verhindert man durch die Anwendung von Mukelentspannungstechniken die Wiederentstehung. Danach stehen ein Muskelaufbau und vermehrte körperliche Aktivität zur Vermeidung erneuter fokaler Überlastungen der Muskeln im Vordergrund.

Der ärztliche Part in der Behandlung myofaszialer Schmerzen ist relativ überschaubar, die Wirkevidenz von muskelrelaxierend wirkenden Medikamenten noch überschaubarer, die Injektion von Botulinumtoxin war in kleinen Studien vielversprechend, ist aber off label und wird nicht von den Krankenkassen erstattet, was dazu führt, dass es angesichts des Preises von Botulinumtoxin kaum angewendet wird. Eine interessante Beobachtung bei der Botulinumtoxin-Injektion ist, dass die genaue Stelle der Injektion – also in den Triggerpunkt hinein – gar nicht so entscheidend zu sein scheint. Das macht Sinn, wenn man sich vor Augen hält, dass die Hauptwirkung von Botulinumtoxin auch bei anderen Erkrankungen gar nicht die muskelrelaxierende Wirkung ist, sondern die Blockade u.a von CGRP und Substanz P an Schmerzfasern.

Etwas aus der Mode gekommen ist die Neuraltherapie, also die Injektion von Lokalanästhetika in die Triggerpunkte, ebenfalls das etwas martialische „dry needling“, bei der einfach fächerförmig in einen Triggerpunkt mit einer Nadel reingestochen wird, um eine Hyperämie auszulösen und den Triggerpunkt so zu zerstören.

Das Charmante an der Triggerpunkt-Hypothese

Das Charmante an der Triggerpunkt-Hypothese und dem Syndrom der myofaszialen Schmerzen ist, dass es auch für die Betroffenen, aber auch für die ärztlichen und nicht ärztlichen Behandler ein rundes Bild abgibt. Es lässt logisch erscheinen, warum die Therapie chronischer Schmerzen so ist, wie sie ist, mit Muskelentspannung und parallel regelmäßiger körperlicher Bewegung, es deckt sich mit der unbestreitbaren klinischen Beobachtung der verhärteten, druckdolenten Muskeln, es begründet die medikamentöse Zurückhaltung. Und es lässt sich wirklich gut um die aktuellen Themen der Schmerzmedizin erweitern, wie man in dem Artikel von Gerwin et al. nachlesen kann.

Das Dumme an der Triggerpunkt-Hypothese

Dumm ist nur, dass es für all das keine oder nur eine ganz schlechte Evidenz gibt. Und hier setzt die Arbeit von Quinter et al. an. Die Autoren führen gleich eine ganze Armada von Gegenargumenten gegen das Konstrukt myofaszialer Schmerzen in die Schlacht, von der unglaublich schlechten Interrater-Reliabilität bei der Identifikation von aktiven und latenten Triggerpunkten, der schwierigen Abgrenzung gegenüber normalen chronischen Schmerzen, der Tatsache, dass die erhöhte CGRP-Konzentration z.B. auch in nicht betroffenen Muskeln gemessen werden konnte, der Ungenauigkeit bei der angeblichen Beobachtung von Spontanaktivität im EMG in den Triggerpunkten und der Tatsache, dass es bis heute nicht reproduzierbar gelungen ist, Triggerpunkte im MRT oder auch sonographisch als strukturell verändertes Muskelgewebe darzustellen, was sie aber angesichts der Hypothese sein müssten.

Auch die Behandlungsmethoden kommen nicht besonders gut weg. Quintessenz ist zusammenfassend, dass zum Einen der Placeboeffekt wahnsinnig hoch ist, dass unklar ist, ob die manuelle Therapie oder die detonisierenden Eigenübungen eigentlich die Schmerzen lindern und dass die meisten Behandlungsverfahren einfach nur schmerzhaft sind, was wiederum durch eine Verschiebung der Aufmerksamkeit auch zu einer Linderung des zuerst bestehenden Schmerzes führt.

Evidenz sehen die Autoren bei Überlegungen, dass eine fokale Neuritis Ursache der lokal druckdolenten Muskeln sein könnte – was wiederum CGRP mit ins Spiel bringen würde.

Die Antwort auf diese Kritik ist übrigens ziemlich müde. Sie besteht v.a. darin, zu betonen, dass es Triggerpunkte aber gibt und dass man – nur weil es überwiegend schlechte Studien ohne Evidenz gibt – nicht auf die Falschheit der Hypothese schließen könne.

Das eigentlich überraschende ist aber, dass sich in den 5 Jahren seit diesem Paper an der Behandlungsrealität in der Behandlung muskulärer Schmerzsyndrome gar nichts relevantes geändert hat. Muss es vielleicht auch nicht, da das Konstrukt ja in seiner Gänze auch weiterhin funktioniert und sich als durchaus alltagstauglich bewiesen hat und auch Quinter et al. zumindest zugestehen mussten, dass es das Phänomen der myofaszialen Schmerzen (wenn man sie denn so nennen möchte) schlicht und einfach gibt.

Wo man weiterlesen kann
  1. Gerwin, R. D., Dommerholt, J. & Shah, J. P. An expansion of Simons’ integrated hypothesis of trigger point formation. Curr. Pain Headache Rep. 8, 468–475 (2004).
  2. Quintner, J. L., Bove, G. M. & Cohen, M. L. A critical evaluation of the trigger point phenomenon. Rheumatology 54, 392–399 (2015).
  3. Dommerholt, J. & Gerwin, R. D. A critical evaluation of Quintner et al: Missing the point. J. Bodyw. Mov. Ther. 19, 193–204 (2015).

Chronischer Rückenschmerz

Wenden wir uns dem Brot- und Butter-Geschäft der Schmerztherapie zu, was für den Krankenhaus-Neurologen der Schlaganfall ist, ist in der Schmerztherapie der chronische Rückenschmerz.

Alles ein alter Hut?

Die Bedeutung chronischer Rückenschmerzen durch die pure Masse der Betroffenen ist glaube ich allen bewusst, dennoch sind die – vielleicht auch mittlerweile zu oft zitierten – Kennzahlen schon beeindruckend: Die Lebenszeitprävalenz von lumbalen Rückenschmerzen beträgt mindestens 85%, mindestens 23% die von chronischen Rückenschmerzen, ca. 12% der erwachsenen Bevölkerung ist in ihrer Arbeitsfähigkeit durch Rückenschmerzen eingeschränkt, die Behandlungskosten allein für Rückenschmerzen liegen jährlich in Deutschland bei ca. 50 Milliarden Euro, was gut 2% des Bruttosozialprodukts entspricht.

Dem geneigten Neurologen ist zudem klar, dass es eine riesige Diskrepanz zwischen bildgebenden pathologischen Befunden und der Klinik der Betroffenen gibt und dass eindrückliche bildgebende Befunde mit dem Alter stark zunehmen, ohne dass sie überhaupt Symptome machen müssen. Anschaulich wird dies z.B. hier aufgearbeitet:

nach: Brinjikji, W. et al. Systematic Literature Review of Imaging Features of Spinal Degeneration in Asymptomatic Populations. Am. J. Neuroradiol. 36, 811–816 (2015).

Aus diesem Grund ist die Behandlung von Rückenschmerzen auch eigentlich extrem gut standardisiert und mit allen Arten von Leitlinien ausgestattet, die man sich nur vorstellen kann (s.u.). Und trotzdem tummeln sich auf eben diesem Gebiet extrem viel semiseriöse Behandlungsangebote, finden viel zu viele interventionelle und operative Eingriffe statt und werden Medikamente in astronomischen Ausmaß verordnet.

Was wir wissen

Bei chronischen Rückenschmerzen – und um diese, nicht um die akuten, soll es hier gehen, finden sich überhaupt nur in gerade mal 10% der Fälle überhaupt radiologische Befunde, welche sich auch bei kritischer Reevaluation mit der jeweiligen Klinik in Übereinstimmung bringen lassen. Im Umkehrschluss heißt das, das 90% der Patienten eine „unsichtbare“ Schmerzursachehaben müssen. Gute 10-15 Jahre – seit der Etablierung der multimodalen Schmerztherapie – war man sich beim Großteil der Behandler sicher, dass es sich überwiegend um funktionelle und myofasziale Schmerzen handeln muss. An dem Konzept muss man allerdings gewichtige Zweifel anmelden, doch dazu in einem eigenen Blogbeitrag mehr. Mittlerweile wird man das Phänomen des noziplastischen Schmerzes sicher mitanführen müssen, um die 90% zu erklären. Dazu kommt, dass sich diese 10-90% Unterteilung meist in neurologischen Übersichtsarbeiten findet, dass der kundige Orthopäde aber einwenden wird:

Halt, was ist mit der Stufendiagnostik?

Mit Stufendiagnostik meint man das sequenzielle Anspritzen verschiedener Strukturen an der Wirbelsäule und in ihrer Nähe mit Lokalanästhetika, um sich systematisch an den bildgebenden Auffälligkeiten entlang vorzuarbeiten, um herauszufinden, was nun schmerzt. Man arbeitet sich also von in Frage kommenden Nervenwurzeln (PRT) zu den Facettengelenken vor, dann zum ISG und ggfs. auch noch zum Hüftgelenk. Es gibt durchaus Studien, die diesem Vorgehen eine relativ hohe Spezifität zuschreiben, insbesondere bei wiederholtem und placebokontrollierten Vorgehen. Macht man eine ordentliche Stufendiagnostik, wird sich die 10-90%-Unterteilung sicherlich noch eimal deutlich verschieben.

Doppelt-Halt: Was ist denn mit der Anamnese?

Ja, irgendwie ist die Reihenfolge hier falsch. Normale Reihenfolge ist ja eigentlich immer: Anamnese, Untersuchung, Auffassung bilden, ggfs. Zusatzdiagnostik veranlassen. Und das gilt natürlich auch – und insbesondere – für chronische Rückenschmerzen. Der große Mist ist nur, dass die aktuelle Anamnese – insbesondere bei den 90% der Patienten – oft relativ gleich ist, interessant sind eher die Vorgeschichte, die bisherigen Behandlungen, die Dynamik der Schmerzen und die biographische Anamnese und die Sozialanamnese. Denn im überwiegenden Teil der Fälle berichten die Patienten, dass die aktuellen Schmerzen immer vorhanden seien, bei körperlicher Belastung – insbesondere Heben und Stehen – stark zunehmen würden, ebenfalls bei Lagewechseln, dass morgens eine gewisse Morgensteifigkeit bestehe, dass der Schlaf fragmentiert und unerholsam sei und das Wärme und leichte körperliche Bewegung schmerzlindernd seien. Typisch ist zudem eine Schmerzausstrahlung von lumbal ins Gesäß, die Leiste oder in den lateralen Oberschenkel.

Das führt dann wieder zum Thema myofasziale oder noziplastische Schmerzen, irgendwie ist es ja schon wahrscheinlich, dass die klinische Endstrecke chronischer Rückenschmerzen unabhängig ihres genauen Auslösers relativ gleich zu sein scheint.

Failed back-surgery

Eine weitere Gemeinsamkeit vieler Patienten mit chronischen Rückenschmerzen sind eine oder mehrere operative Vorbehandlungen, die zu keiner Schmerzlinderung, sondern zu gleichbleibenden oder sogar schlimmer werdenden Schmerzen geführt haben. Dies nennt man auf Neudeutsch failed back-surgery. Dieses Syndrom hat wiederum verschiedene Ursachen:

  • Zum Einen beheben viele Operationen die Schmerzen nicht, weil sie von vornherein Strukturen behandelt haben, die mit dem Schmerzen wenig bis nichts zu tun hatten und somit eigentlich gar nicht indiziert waren.
  • Verletzungen und Traumata durch die Operation, also z.B. an den die Wirbelsäule stabilisierenden tiefen Rückenmuskeln
  • Iatrogene Komplikationen durch den Eingriff
Psychopathologie: Schon wieder der ist voll Psycho

Psychopathologische und psychosoziale Gründe spielen bei vielen chronischen Schmerzsyndromen eine große Rolle, was sich über das biopsychosoziale Modell chronischer Schmerzen erklärt. Insbesondere bei chronischen Rückenschmerzen scheinen sie jedoch ganz erheblich zu sein. Das wiederum hat Gründe, welche im Wesen des Rückenschmerzes mit seinen Einschränkungen für Alltag und Berufsleben liegen, anders herum scheinen gewisse psychopathologische und psychodynamische Prozesse, die Chronifizierung von Rückenschmerzen zu begünstigen. Diese unheilvolle Kombination führt oft zu sehr ähnlichen maladaptiven Verhaltensweisen:

  • objektivierbar nicht nachvollziehbares Vermeidungsverhalten bei inadäquat erscheinend hohen wahrgenommenen Schmerzintensitäten
  • vermehrtes Rückzugsbedürfnis, lange Ruhezeiten, Fokussierung auf Schmerzmanagement
  • depressiv getönte Verhaltensweisen oder manifeste Depressionen
movement control deficit

Die Beobachtung einer sich verändernden Körperwahrnehmung mit z.B. immer schlechter werdender 2-Punkt-Diskrimination und Propriozeption bei chronischen Rückenschmerzen ist schon recht alt und stammt aus den frühen 2000er Jahren. Lange Jahre wurde dieses Phänomen unter dem Begriff movement control deficit subsumiert, mittlerweile könnte man es vermutlich beim noziplastischen Schmerz und den Folgen der Schmerzchronifizierung einsortieren.

Was man tun kann

Noch mal richtig nachgucken?

Nein! Die aller-allermeisten Patienten mit chronischen Rückenschmerzen sind schon völlig überdiagnostiziert, es existieren oft nicht 1, sondern gleich mehrere MRT der LWS, dann noch 1-2 x der HWS, dann noch eine BWS, ein Becken usw. Aufgabe bei der Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen ist es eher, diese ganzen Befunde zusammen mit dem Patienten in den entsprechenden klinischen Kontext zu rücken, hier viel Edukation zu betreiben und die Bedeutung vermeintlicher „schlimmer“ Befunde entsprechend ihrer wahren Bedeutung zu relativieren. Dies bedeutet aber auch, dass wichtiger als noch ein MRT, weil das letzte „ja schon 1 Jahr alt ist“, eine gründliche neurologische und neuro-orthopädische Untersuchung ist, damit man nicht etwaige red flags dann doch beim ganzen Relativieren übersieht.

Keine One-Man-Show

Gerade chronische Rückenschmerzen sind die Domäne der multimodalen Schmerztherapie, die ja nicht immer im stationären oder tagesklinischen Setting stattfinden muss, sondern natürlich auch ambulant erfolgen kann. Aber ein interdisziplinäres Behandlungsteam, in der es eben auch physiotherapeutische und schmerzpsychologische Expertise gibt, ist schon extrem wichtig. Denn:

Medikamente sind allgemein überbewertet

Die medikamentöse Behandlung chronischer Rückenschmerzen ist eher supportiv. In den meisten Fällen muss man erst mal ganze Cocktails nicht-wirksamer Medikamente absetzen (übrigens ein fächerübergreifendes Medizin-Phänomen, dass wenn ein Medikament nicht wirkt, dieses nicht abgesetzt wird, sondern in der Regel die Dosis erhöht und eine Kombinationstherapie begonnen wird unter Beibehaltung des unwirksamen Präparates). Dann sind viele Patienten mit chronischen Rückenschmerzen mit Opiaten vorbehandelt, ebenfalls meistens mit mäßiger Wirksamkeit. Hier stellt sich dann die Frage, ob die Schmerzen überhaupt Opiat-sensibel sind oder ob ein Wirkverlust vorliegt und es Gründe für eine Opiatrotation gibt. Als Faustregel kann gelten, dass je älter ein Patient mit chronischen Rückenschmerzen ist, desto wahrscheinlicher zumindest Teile des Rückenschmerzes Opiat-sensibel sind, da sie durch degenerative Prozesse mit entsprechender Nozizeptor-Aktivierung bedingt sind. Bei jüngeren Patienten liegen meist v.a. noziplastische Schmerzen vor, hier wirken Opiate entsprechend schlechter. Indiziert bei chronischen Schmerzen sind v.a. Medikamente zur Aktivierung des absteigenden schmerzhemmenden Systems, also trizyklische Antidepressiva oder SSNRI.

Und was macht man nun nicht-medikamentös?

Typische Therapieziele der nicht-medikamentösen Behandlung chronischer Rückenschmerzen sind:

  • Erhöhung des Aktivitätsniveaus mit Abbau inadäquaten Krankheitsverhaltens
  • Steigerung des Kontrollerlebens durch Verbesserung der Koordination und Körperwahrnehmung und Steigerung der allgemeinen Fitness
  • und hierdurch Abbau von Angst und Depressivität

Dafür braucht man zum Einen Einzel-Physiotherapie, bei der relativ schnell die Anleitung zu Eigenübungen im Fokus stehen sollte, zum Anderen so etwas wie medizinische Trainingstherapie oder Reha-Sport und ganz viel Edukation im Bereich der biopsychosozialen Schmerzfaktoren um hier den Betroffenen Handwerkszeug mitgeben zu können, Teufelskreise zu durchbrechen.

Wo man weiterlesen kann

S2k-Leitlinie Lumbale Radikulopathie https://www.dgn.org/leitlinien/3516-ll-030-058-2018-lumbale-radikulopathie

S2k-Leitlinie Zervikale Radikulopathie https://www.dgn.org/leitlinien/3514-ll-030-082-2017-zervikale-radikulopathie

Nationale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/nvl-007.html

  1. Brinjikji, W. et al. Systematic Literature Review of Imaging Features of Spinal Degeneration in Asymptomatic Populations. Am. J. Neuroradiol. 36, 811–816 (2015).
  2. Chou, R. et al. Systemic Pharmacologic Therapies for Low Back Pain: A Systematic Review for an American College of Physicians Clinical Practice Guideline. Ann. Intern. Med. 166, 480 (2017).
  3. Maschke, M. & Überall, M. Leitliniengerechte medikamentöse Therapie des chronischen Rückenschmerzes. Aktuelle Neurol. 40, 90–95 (2013).
  4. Mertens, P., Blond, S., David, R. & Rigoard, P. Anatomy, physiology and neurobiology of the nociception: A focus on low back pain (part A). Neurochirurgie 61, S22–S34 (2015).
  5. Rommel, O. Operative Eingriffe ohne interdisziplinäre Abklärung vermeiden. Nervenarzt 90, 194–196 (2019).
  6. Zhuk, A., Schiltenwolf, M. & Neubauer, E. Langfristige Wirksamkeit einer multimodalen Schmerztherapie bei chronischen Rückenschmerzen. Nervenarzt 89, 546–551 (2018).

Kompliziertes, was eigentlich ganz einfach ist: Wie Schmerzen chronifizieren

Update Ich habe den Beitrag noch mal ein wenig gepimpt und um noch einige Aspekte ergänzt, u.a. um die absteigende Schmerzhemmung, aber auch um den Begriff des noziplastischen Schmerzes.
Heute soll es also um ein klassisches Grundlagenthema gehen, nämlich die Frage wie das mit der Chronifizierung von Schmerzen eigentlich funktioniert. Das ganze kann man in drei große Themenblöcke teilen: Das, was im peripheren Nervensystem und im Rückenmark passiert, das was im Gehirn organisch passiert und das, was biopsychosozial passiert. Ganz generell spricht man von chronischen Schmerzen, wenn Schmerzen länger als 6 Monate anhalten. Es gibt aber Ausnahmen, wie primäre Kopfschmerzerkrankungen, wo das Attribut chronisch eine bestimmte Anzahl an Kopfschmerztagen im Monat beschreibt.

Periphere Sensibilisierung

Vor chronisch kommt akut: Periphere Mechanismen der Schmerzwahrnehmung

Bevor man sich Gedanken über die Chronifizierung von Schmerzen im peripheren Nervensystem machen kann, muss man einmal rekapitulieren, wie das mit der Schmerzwahrnehmung im peripheren Nervensystem überhaupt funktioniert. Ganz in der Peripherie, z.B. in der Haut sitzen Schmerzrezeptoren. Diese Nozizeptor-Zellen gehören zu den TRP-Kanälen. TRP steht für transient rezeptor potential und davon gibt es verschiedene Typen. Die verschiedenen Typen reagieren auf verschiedne Reize, Hitze, Kälte, Druck, bestimmte Zytokine usw. Allen gemeinsam ist, dass sie bei Aktivierung Kalziumkanäle öffnen, über die Kalziumionen in die Zelle einströmen können. Dadurch depolarisiert die Zelle und es kann sich ein Aktionspotential bilden. Einer der wichtigsten TRP-Kanäle ist TRPV1. TRPV1 wird durch Temperaturen über 43° Celsius aktiviert, aber auch durch Capsaicin. Das Gegenstück zu TRPV1 ist TRPM8, welcher durch Kälte aktiviert wird. Wichtig ist noch TRPA1, welcher auf verschiedene Chemikalien reagiert (das ist auch der, der Zwiebel-, Meerrettich- und Tränengas-Inhaltsstoffe als Trigger benutzen kann). Am anderen Ende der Nozizeptor-Axone – am Rückenmark – sitzen Synapsen, welche Glutamat als Substrat haben.

Periphere Sensibilisierung

Insgesamt drei Mechanismen können zum Komplex periphere Sensibilisierung gezählt werden:
Die Phosphorilierung von TRP-Kanälen: In der Nähe der TRP-Kanäle befinden sich G-Protein-gesteuerte Rezeptoren, die auf inflammatorische Zytokine reagieren. Bei einer Entzündungsreaktion mit Einwanderung von Immunzellen, welche ja eben diese Zytokine freisetzen, werden die Rezeptoren aktiviert und sorgen über Proteinkinasen für eine Phosphorilierung von TRP-Rezeptoren. Durch diese Phosphorilierung werden die TRP-Kanäle empfindlicher. So wird z.B. TRPV1 in seiner phosphorilierten Version schon bei 37° Celsius aktiviert. Das bedeutet aber, dass dann auch schon normale Temperaturen einen Schmerz- und Hitzereiz auslösen. Das selbe gilt für die anderen TRP-Rezeptoren. So erklärt man sich das Auftreten von thermischer Hyperalgesie, Kältealllodynie und mechanischer Allodynie. Diesen Prozess bezeichnet man auch als periphere Sensibilisierung. Der physiologische Sinn dieser peripheren Sensibilisierung ist bei einer akuten Entzündung sicherlich nachvollziehbar. Wenn schon normale Sinnesreize zu Schmerzen führen, wird das entsprechende Körperteil stärker geschont. Der genaue Mechanismus bei chronischen Schmerzen, der zur peripheren Sensibilisierung führt und der tiefere Sinn dahinter ist hingegen nur teilweise verstanden. Ein Aspekt scheint die durch CGRP vermittelte neurogene Entzündung zu sein, mehr dazu aber gleich.
Vermehrte Expression von spannungsabhängigen Natriumkanälen: Die Nervenfasern selber, die die Schmerzreize weiter Richtung Rückenmark leiten, sind ja unmyelinisierte C-Fasern oder nur dünn myelinisierte A-𝛿-Fasern. Diese benutzen wiederum spannungsabhängige Natrium-Kanäle um das Nerven-Aktionspotential fortzureiten. Bei einer Gewebsverletzung geht mit relativ großer Wahrscheinlichkeit auch eine kleine Nervenfaser mit kaputt, auf jeden Fall bei einer schwereren Verletzung. Diese Nervenverletzung führt über die Ausschüttung von TNF-⍺ und IL-6 zu einer vermehrten – und sehr schnellen – Mehrexpression eben dieser Natriumkanäle. Dies führt zu einer vermehrten Erregbarkeit der Schmerzfasern im entzündeten Gewebe. Die analgetische Wirkung von Lidocain kann man vermutlich hierüber erklären, ja klar es betäubt auch einfach und hindert die Axone über die Blockade der Natriumkanäle an der Schmerzweiterleitung, in niedriger Dosierung, z.B. in einem Lidocain-Pflaster wirkt es aber in erster Linie schmerzlindernd. Vermutlich in dem es die über-exprimierten Natriumkanäle blockiert.
Sympathikus-Aktivierung: Das Konzept des sympathisch unterhaltenen Schmerzes ist mit der zunehmenden Neurologisierung der Schmerzmedizin ein wenig in die Ecke komischer Anästhesisten-Kram gedrängt worden und kommt irgendwie immer wenig in den Übersichtsarbeiten vor, ist aber in der Therapie dennoch von Bedeutung. Bei einer Nervenverletzung kommt es nämlich auch zu einer Mehrexpression von ⍺1- und ⍺2-Adrenorezeptoren mit einer vermehrten Empfindlichkeit der Nervenfasern für Katecholamine. Dies passiert physiologischerweise z.B. bei Kältereizen, pathophysiologisch aber auch bei verschiedenen neuropathischen Schmerzsyndromen, u.a. bei der Trigeminus-, Post-Zoster-Neuralgie und beim CRPS. Das Konzept der Sympathikusblockaden – in der Regel mit Opioiden im Rahmen einer GLOA – mag mit seinen langen Nadeln und den Injektionsvorrichtungen tatsächlich wie komischer Anästhesisten-Kram anmuten, hilft – zumindest der Erfahrung nach – relativ gut bei sonst therapierefraktären Schmerzsyndromen, auch wenn die Datenlage insgesamt relativ dünn ist.

Zentrale Sensibilisierung

Sensibilisierung auf Rückenmarksebene: Alles wird schlimmer gemacht, als es eh schon war

Im Rückenmark passieren vier entscheidende, aber verschiedene Mechanismen, die hier zu einer Schmerzverstärkung führen.
Erstens: Wie erwähnt, ist der Neurotransmitter der Schmerzfasern hier Glutamat. Und wie man sich vielleicht noch ganz dunkel an Biochemie erinnern kann, gibt es zwei glutamaterge Rezeptoren. AMPA- und NMDA-Rezeptoren. Die NMDA-Rezeptoren machen bei Aktivierung ja nichts anderes, als die Depolarisation der AMPA-Rezeptoren noch einmal zu verstärken. Schmerzreize verstärken sich also auf Rückenmarkseben selber, parallel kommt es zudem zu einer Hemmung schmerzweiterleitungshindernder GABA-erger und Glycin-erger Neuronen.
Der zweite Aspekt ist die neurogene Entzündung. Es ist nämlich so, dass schon die Aktivierung von TRP-Kanälen zur Freisetzung von inflammatorischen Neuropetiden führt, insbesondere zur Freisetzung von CGRP. CGRP wiederum macht eine Vasidilatation, lockt v.a. T-Zellen an und aktiviert diese über CGRP-Rezeptoren auf den Immunzellen. Dies führt wiederum zur Aktivierung von Mikroglia im Hinterhorn des Rückenmarks, dies wiederum zur Freisetzung von noch mehr Zytokinen, die zu noch mehr lokaler Entzündung und zu noch mehr Aktivierung von nozizeptiven Fasern führen. Und nun schließt sich der Kreis, unter diesen Zytokine sind auch Prostaglandine, welche wiederum die Phosphorilierung der TRP-Kanäle vorantreiben, was – und das hatten wir ja schon – auch noch zu noch mehr peripherer Sensibilisierung führt.
Drittens gibt es auf Rückenmarksebene sogenannte wide-dynamic-range-Neurone, was man mit WDR abkürzen kann und was an den Kölner Tatort erinnert und ein wenig nach besseren Handyfotos vom Sonnenuntergang klingt (aber das ist HDR). Diese lassen sich durch den schon beschriebenen Glutamat-Stoffwechsel aktivieren und haben Afferenzen sowohl aus dem nozizeptiven, aber auch aus dem epikritischen Nervenfaser-System. Dies führt zum Einen mit zur mechanischen Allodynie, zum Anderen, durch die jeweils großen Input-Areale der WDR-Neuronen zu dem Phänomen, dass das allodyne Areal oft deutlich größer ist, als das eigentlich schmerzhafte primär geschädigte Areal.
Viertens gehören die im ersten Punkt erwähnten schmerzweiterleitungshindernde GABA-ergen und Glycin-ergen Neuronen zum absteigenden schmerzhemmenden System, welches vom Hypothalamus aus auf Rückenmarksebene projiziert und ganz entscheidend eine gate-keeper-Funktion einnimmt und im Normalfall die Weiterleitung eines Großteils der eingehenden nozizeptiven Reize über die GABA- und Glycin-vermittelte Hyperpolarisation verhindert. Diese absteigende Schmerzhemmung die in ihren proximalen Abschnitten mit Serotonin und Noradrenalin als Botenstoffen arbeitet, erschöpft sich leider bei vermehrter Inanspruchnahme relativ schnell. Dieses System „wieder aufzufüllen“ ist die Rationale hinter dem Einsatz serotonerg und noradrenerg wirkender Antidepressiva in der Behandlung von Schmerzen.

Im Gehirn: Mediales und laterales schmerzverarbeitendes System

Im Gehirn wird das ganze weniger one-way, sondern durchaus komplexer. Die entscheidenden Informationen zur Funktionsweise der zerebralen Schmerzverarbeitung beim Menschen stammen v.a. aus fMRT-Untersuchungen. Verschiedene Strukturen des Gehirns scheinen je nach Situation in unterschiedlichem Ausmaß an der Schmerzverarbeitung beteiligt zu sein, so dass man von der Schmerzmatrix spricht. Diese ist auf Grund der weniger anatomisch-physiologischen Erforschung eher diffuser und „funktionaler“ in ihrer Beschreibung in der Literatur. Von unten nach oben sind Hirnstamm, Mittelhirn, Hypothalamus, Thalamus, Kleinhirn, Amygdala, präfrontaler Kortex, insulärer Kortex, anteriorer zingulärer Kortex und natürlich die sensiblen Kortexareale hauptsächlich in die Schmerzverarbeitung involviert. Funktionell unterscheidet man dann zwei „Haupt-Schmerzbahnen“: Das laterale und das mediale schmerzverarbeitende System. Das laterale System ist sozusagen der „objektive“ Schenkel der Schmerzverarbeitung, hier geht es um Schmerzintensität und -lokalisation. Hierzu zählen lateraler Thalamus, sensorischer Kortex , Stammganglien und Kleinhirn. Das **mediale System **dient v.a. der affektiv-emotionalen Interpretation von Schmerzreizen und besteht aus medialem Thalamus, insulärer Kortex, zingulärer Kortex und präfrontaler Kortex gehören.
Das bildgebend darstellbare Hauptphänomen bei der Chronifizierung von Schmerzen auf Gehirn-Ebene scheint eine Verschiebung der Schmerzverarbeitung mit Zunahme der Funktion des medialen Schmerzsystems und parallel geringerer Bedeutung des lateralen Schmerzsystems zu sein. Insbesondere im limbischen System und im präfrontalen Kortex nimmt die Stoffwechselaktivität bei chronischen Schmerzen zu. Dies ist insofern interessant, da diese Strukturen ja auch ganz entscheidend im Lern- und Belohnungssystem involviert sind. Bei bestimmten chronischen Schmerzsyndromen, beschrieben ist es für das CRPS, kommt es sehr rasch zudem zu einer Umorganisation des sensiblen Kortex mit Verschiebung der Somatopie, was z.B. die veränderte Körperwahrnehmung und die Neglekt-artigen Symptome beim CRPS erklären könnte. Und zwar wird die kortikale Repräsentation des schmerzhaften Areals sehr schnell sehr viel kleiner und damit schlechter in ihrer Ortsauflösung. Letztlich kommt es zudem auch – ähnlich wie schon in den anderen Strukturen – zu einer Veränderung der Zytokin- und Neurotransmitter-Situation mit Umorganisation von Zellen mit Opioid-Rezeptoren, aber auch des dopaminergen Systems.

Der ist ja auch voll Psycho und so: Biopsychosoziale Faktoren bei chronischen Schmerzen

Irgendwie ja auch ein zentrales weil zerebrales Thema, aber mehr inhaltlich als strukturell-neuroanatomisch, ist die Bedeutung verschiedener Lebens- und Umwelteinflüsse auf die Schmerzchronifizierung. In der Praxis der Behandlung von Menschen mit chronischen Schmerzen sind diese Faktoren ganz sicher viel entscheidender als alle Kenntnis über die Veränderung in Stoffwechselvorgängen oder (fehlgeleiteter) Neuroplastizität, wie ich sie bisher beschrieben habe. Kernerkenntnis dieses biopsychosozialen Modells chronischer Schmerzen ist es, dass man Schmerzentstehung, -verarbeitung und -chronifizierung eben nicht diametral in körperliche und psychische Faktoren unterscheiden kann, sondern dass sich diese zusammen mit Umwelt- und Gesellschaftseinflüssen beeinflussen. In den meisten Arbeiten werden beim biopsychosozialen Modell chronischer Schmerzen emotionale, kognitive, körperliche Faktoren und Verhaltensmechanismen und ihre Interaktion untereinander genannt. Da ich die Zuordnung der Faktoren zu den einzelnen Unterpunkten teilweise widersprüchlich und redundant empfinde, hier einmal mit Absicht ungeordnet die wichtigsten Punkte:

  • Die erlernte Hilf- und Hoffnungslosigkeit durch lang andauernde Schmerzen
  • Die Neigung zum Katastrophisierung auf Grund des Gefühls, dass die Schmerzen nicht zu kontrollieren sind und die aus diesen beiden Punkten häufig resultierenden (reaktiven) depressiven Symptome und -Erkrankungen
  • Die Fixierung auf den Schmerz und die Schmerzfreiheit als absolutes Ziel, ohne dass ein „normales“ Leben nicht wieder möglich erscheint
  • Die Wahrnehmung sehr hoher Schmerzintensitäten (NRS 8-10) ohne relevante Schwankungen der Schmerzintensität unabhängig von äußeren Faktoren aber auch unabhängig von Medikamenteneinnahme
  • Die Vermeidung körperlicher Betätigung aus der Erfahrung heraus, dass diese zu einer Schmerzzunahme führen kann oder auch das Gegenmodell, ein krankhaftes Durchhalten
  • Die Verstärkung des Schmerzerlebens im lernpsychologischen Sinn durch die dauerhafte und wiederholte Thematisierung und Fokussierung der Schmerzen bei verschiedenen und häufigen Arzt- und Therapeutenkontakten
  • Zielkonflikte (früher mal sekundärer Krankheitsgewinn) durch ein Mehr an Zuwendung von Freunden, Familie, Partnern und sozialem Umfeld auf Grund der Schmerzen, die Vermeidung und Lösung von interaktionellen Konflikten durch die Schmerzen, die Lösung nicht befriedigender Arbeitssituationen, die dazu führen, dass die Schmerzen „gar nicht besser werden dürfen“, da sonst die Konfliktlösung wegfällt.
  • Vereinsamung durch Abbruch sozialer Beziehungen, auch weil Partner/Freunde sich irgendwann von der dauerhaft hilfsbedürftigen Person abwenden
  • Frustrane Behandlungserfahrungen von medizinischen Vorbehandlungen
  • Wirtschaftliche Bedrohung durch Armut durch Wegfall von Lohnfortzahlung, Krankengeld oder durch Arbeitslosigkeit.
  • Diese Punkte zu thematisieren, für sich anzunehmen und Bewältigungsstrategien zu entwickeln, ist – wie schon gesagt – der entscheidende Teil bei der Behandlung chronischer Schmerzen, oft weit mehr als jede medikamentöse und erst recht als jede interventionelle oder operative Behandlung.

Diese Punkte zu thematisieren, für sich anzunehmen und Bewältigungsstrategien zu entwickeln, ist – wie schon gesagt – der entscheidende Teil bei der Behandlung chronischer Schmerzen, oft weit mehr als jede medikamentöse und erst recht als jede interventionelle oder operative Behandlung.

Noziplastischer Schmerz

Die beschriebenen Mechanismen führen an ganz verschiedenen Stellen zu dem Phänomen, dass ab einem gewissen Punkt der Schmerz durch die fehlgeleitete Neuroplastizität sich selbst unterhalten kann und gar keinen nozizeptiven Input mehr braucht. Um dieses Phänomen von den sonst etablierten Schmerzarten nozizeptive und neuropathische Schmerzen abzugrenzen, wurde der Begriff noziplastische Schmerzen eingeführt.

Wo man weiterlesen kann
  1. Borsook, D., Youssef, A. M., Simons, L., Elman, I. & Eccleston, C. When pain gets stuck. Pain 159, 2421–2436 (2018).
  2. Morlion, B. et al. Pain chronification: what should a non-pain medicine specialist know? Curr. Med. Res. Opin. 34, 1169–1178 (2018).
  3. Pak, D. J., Yong, R. J., Kaye, A. D. & Urman, R. D. Chronification of Pain: Mechanisms, Current Understanding, and Clinical Implications. Curr. Pain Headache Rep. 22, 9 (2018).
  4. Trouvin, A.-P. & Perrot, S. New concepts of pain. Best Pract. Res. Clin. Rheumatol. 33, 101415 (2019).