Überversorgung in der Medizin

Heute soll es um ein Thema gehen, was mir schon länger im Kopf rumschwirrt, um Überversorgung in der Medizin. Das hat jetzt nur so halb mit Neurologie und auch nur so halb mit COVID-19 zu tun, aber es gibt mehrere Gründe, warum ich mich damit ein wenig beschäftigen möchte. Der Beitrag schließt sich thematisch an den Blogbeitrag zur medizinischen Versorgung am Lebensende an, wenn ihr den noch nicht kennt, lest ihn gerne zuerst.

Was ist eigentlich Überversorgung?

Anlass und Motivation: Das DIVI-Thesenpapier

Im Frühjahr 2021 irgendwo zwischen der zweiten und dritten COVID-19-Krankheitswelle erschien dieses Thesenpapier der DIVI, also der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin:

Michalsen, A., Neitzke, G., Dutzmann, J., Rogge, A., Seidlein, A.-H., Jöbges, S., Burchardi, H., Hartog, C., Nauck, F., Salomon, F., Duttge, G., Michels, G., Knochel, K., Meier, S., Gretenkort, P., & Janssens, U. (2021). Überversorgung in der Intensivmedizin: erkennen, benennen, vermeiden. Medizinische Klinik – Intensivmedizin Und Notfallmedizin, 116(4), 281–294. https://doi.org/10.1007/s00063-021-00794-4

Es ist ein sehr umfassende Paper, open access, was sich mit verschiedenen Aspekten von Überversorgung in der Intensivmedizin beschäftigt. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung ist in so fern spannend, weil die DIVI zu diesem Zeitpunkt vor allem mit der Warnung vor mangelnden Intensivkapazitäten in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde und es hier ganz wesentlich darum geht, dass und warum Intensivmedizin aus verschiedenen Gründen zu viel und unnötigerweise in Anspruch genommen wird. Und vielleicht schließt sich hier der Kreis, wenn es aktuell in den Medien (auch von Seiten der DIVI) wieder um das Thema Triage geht.

Ich werde das Paper hier nicht komplett wiedergeben (wie gesagt, es ist absolut lesenswert), aber möchte im Folgenden immer wieder Punkte aus dem Paper aufgreifen, auf die Nicht-Intensivmedizin übertragen und an der ein oder anderen Stelle ergänzen.

Wie ist Überversorgung definiert?

Überversorgung bezeichnet Behandlungsmaßnahmen, die nicht angemessen sind, weil sie zu keiner für die Patienten bedeutsamen Verbesserung der (Über‑)Lebensdauer oder Lebensqualität führen, mehr Schaden als Nutzen verursachen und/oder von Patient:innen nicht gewollt werden.

So schreiben die Autoren des DIVI-Thesenpapiers. Im ersten Teil (Link) der kleinen Blog-Serie ging es ja darum, wann eine medizinische Behandlung zulässig ist. Nämlich dann, wenn sie medizinisch indiziert ist und wenn sie dem Willen des Patienten entspricht. Ist einer der beiden Faktoren nicht erfüllt und führt man trotzdem eine Behandlung durch, begeht man ein Körperverletzungsdelikt. Grob gesagt ist Überversorgung somit die Stufe unter „nicht indiziert“, pauschal gesagt sowas wie „nicht wirklich indiziert“.

Überversorgung ist unglaublich häufig, dem DIVI-Artikel nach geht die OECD davon aus, dass ungefähr 20% der Gesundheitskosten durch Überversorgung entstehen. Es gibt Überversorgung von ganz klein und unspektakulär bis ganz groß und spektakulär. Die kleine, unspektakuläre Überversorgung ist naturgemäß viel häufiger als die spektakuläre große und alle, die ärztlich tätig sind haben schon ganz oft Überversorgung betrieben. Zu konkreten Beispielen komm ich weiter unten.

Überversorgung entsteht ganz grob eingeteilt in den zwei Themenkomplexen, die wir schon kennen: Bei der medizinischen Indikationsstellung und bei der Interpretation, bzw. Ausführung des Patientenwillens. Dazu kommen wir gleich noch einmal genauer. Vorher müssen wir die Frage beantworten, was das Problem an Überversorgung eigentlich ist.

Na und? Warum ist Überversorgung überhaupt schlimm?

Es sind zwei Punkte, die Überversorgung – abseits davon, dass es ja eine nicht angemessene Therapie ist – problematisch machen. Der erste ist das liebe Geld, beim zweiten geht es um die Frage Personalnot im Gesundheitswesen.

Money Money Money

Wie gerade weiter oben schon geschrieben geht die OECD davon aus, dass ungefähr 20% der Gesundheitsausgaben in ihren Mitgliedsländern für Überversorgung aufgewendet werden. In Deutschland betrugen die Gesundheitsausgaben im Prä-Corona-Jahr 2019 411 Milliarden Euro, das sind knapp 12% des Bruttoinlandsproduktes (Link). 20% davon sind 82,2 Milliarden Euro. Davon könnte man viele Corona-Prämien zahlen, Löhne erhöhen, Arbeitsbedingungen verbessern usw. ohne dass durch die medizinische Versorgung der Patienten in irgendeiner Weise schlechter werden würde.

Viel entscheidender ist aber meines Erachtens der zweite Punkt:

Überversorgung verstärkt den Pflexit

Überversorgung kann mit hohen Belastungen und Risiken für die betroffenen Patientinnen, ihre Familien und die Behandlungsteams verbunden sein; sie kann Leiden und Trauer verursachen oder verlängern sowie zu Gewissensnot, „moral distress“, Burn-out und Personalabwanderung beitragen

So lautet ein Absatz im DIVI-Papier. Insbesondere der letzte Punkt ist in meiner Wahrnehmung extrem wichtig und wird immer bedeutsamer. Dabei ist er ganz und gar nicht neu, hat sich aber mit der Corona-Pandemie noch einmal extrem zugespitzt und ist dann mit dem Thema Intensivkapazitäten zur Behandlung von COVID-19-Patienten endlich in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt:

Nur findet der Pflegepersonalmangel aber nicht nur auf den Intensivstationen statt sondern – und zwar ganz besonders – auf den Normalstationen in den Krankenhäusern mit hochaltrigen, multimorbiden und pflegebedürftigen Patienten, insbesondere, wenn ein hoher Belegungsdruck und dadurch Zeitmangel herrscht, also in der Inneren Medizin, der Unfallchirurgie und der Neurologie, auch – wenn ggfs. etwas weniger durch die längeren Liegezeiten – in der Geriatrie. Es gibt Untersuchungen darüber, dass Überversorgung deutlich mehr vom Pflegepersonal als von Ärzten wahrgenommen und als belastend empfunden wird (Hartog et al.), insbesondere auf Grund der oft intensiveren Interaktion mit den Patienten und ihren Angehörigen im Vergleich zu uns Ärzten.

Defizite in der interdisziplinären Zusammenarbeit, eine subjektiv zu hohe Arbeitsintensität sowie eine höhere Anzahl der Wochenendarbeitstage/Monat erhöhen das Risiko für die Wahrnehmung von Übertherapie. Emotionale Erschöpfung wird durch Stresserleben im Kontakt mit Angehörigen und zu hohe Arbeitsintensität verstärkt.

schreiben Hartog et al. Diese emotionale Erschöpfung führt zu Frustration und Überforderungserleben und befeuert neben der monetären Vergütung das Phänomen Plexit. Die mittlere Verweildauer im Beruf beträgt in der Krankenpflege (bei einer 3-jährigen Ausbildung) in Deutschland nur noch gerade mal 7,5 Jahre und in der Altenpflege 8,4 Jahre (Quelle: Link).

Dies zeigt, dass die Vermeidung von Überversorgung nicht nur gesundheitspolitisch mit Blick auf die entstehenden Kosten, sondern insbesondere was das Thema Pflegenotstand betrifft eigentlich extrem wichtig ist.

Wie und wo Überversorgung entsteht

Will man Überversorgung vermeiden muss man sie da verhindern, wo sie entsteht. Ich hatte ja weiter oben schon geschrieben, dass Überversorgung einmal auf der Ebene der medizinischen Indikationsstellung und einmal auf der Ebene der Interpretation und Umsetzung des Patientenwillens generiert werden kann. Und das schauen wir uns jetzt einmal genauer an, insbesondere den Teil mit der Indikationsstellung. Das mit dem Patientenwillen haben wir ja schon im ersten Blogbeitrag beleuchtet.

Medizinische Indikation und Überversorgung

Therapieeskalation

Ob eine medizinische Behandlung indiziert ist, ist zunächst eine ärztliche Entscheidung. Aber auch diese entsteht interindividuell unterschiedlich vor dem Hintergrund der jeweiligen Sozialisation, ethischen und religiösen Moralvorstellungen und auch der medizinischen „Schule“, durch die man gegangen ist. Daher kommt es durchaus vor, dass ich zum Beispiel eine Behandlung für medizinisch sinnvoll halten könnte, ein anderer Arzt, bzw. eine andere Ärztin aber nicht. Oder umgekehrt. Eine längere Berufserfahrung und eine dadurch kritischere Reflexionsfähigkeit führen dabei statistisch eher zu zurückhaltenderen Therapieentscheidungen, jüngere und unerfahrenere Behandlungsteams neigen dagegen eher zu Therapieeskalationen. Ob das wirklich so ist, da bin ich mir gar nicht so sicher.

rule of rescue, sunk cost effect und omission bias

Bei dem Thema Therapieeskalation spielt die sogenannte rule of rescue eine wichtige Rolle, das Retten um jeden Preis, die sich in der Praxis oft beobachten lässt. Die DIVI-Autoren schreiben:

Es fällt oft leichter, alle zur Verfügung stehenden Mittel unreflektiert anzuwenden, als differenziert und individuell nach Therapiezielen und Erfolgsaussicht zu fragen.

Dies ist umso wahrscheinlicher, je klarer Eskalationsstrategien festgelegt sind, was sie für viele schwere Erkrankungen nun mal sind und was auch eigentlich sehr sinnvoll ist.

Eine weiterer Faktor ist der sogenannte sunk cost effect, bei der eine einmal getroffene Behandlungsentscheidung im Verlauf nicht mehr hinterfragt wird, weil man ja schon „so viel gegeben“ hat und diese „Investition“ nicht umsonst gewesen sein soll. In der Folge wird dann die Therapie immer weiter eskaliert. Der gegenteilige Effekt ist der omission bias, die Wahrnehmung dass ein Versterben von Patienten nach Therapielimitierung oft subjektiv schlimmer wahrgenommen wird, als unter laufender Maximaltherapie, bei der man „ja alles gegeben“ hat.

Die vielen Facetten der Prognosebestimmung

Der dritte Punkt ist folgender:

Die Tabuisierung von Sterben und Tod auch innerhalb der Behandlungsteams und das Erleben von Tod als persönliches Versagen können diesen Effekt verstärken. Eine „schöngeredete“ Einschätzung der Prognose führt in diesen Fällen zu letztlich sinnlosen Therapiebemühungen.

In meiner Wahrnehmung ist die Tabuisierung des Themas Tod und Sterben im medizinischen Setting in den letzten Jahren deutlich rückläufig, aber nicht im gesamtgesellschaftlichen Kontext (wie man aktuell an den Diskussionen um COVID-19 nachvollziehen kann). Der Punkt „schöngeredete“ Prognose bleibt aber. Ich hatte das schon im ersten Teil gegen Ende des Beitrags beschrieben, dass Alter und männliches Geschlecht mit die besten Prädiktoren für ein schlechtes Outcome von frührehabilitativen Behandlungen sind, auch wenn die Abschätzung einer Prognose bei einer schweren Erkrankung immer schwierig ist und wird natürlich von vielen Variablen bestimmt wird.

Exkurs: Was ist denn eine gute Prognose?

Auch das hängt natürlich extrem von der jeweiligen Erkrankung und ihrer Schwere ab, aber auch von den persönlichen Wertvorstellungen des Patienten, ihrer Angehörigen, aber auch des medizinischen Personals ab: Patienten mit einem schweren Schlaganfall oder einer Hirnblutung, welche in der neurologischen Frührehabilitation behandelt werden müssen werden sich in nahezu allen Fällen nicht soweit erholen, dass „wieder alles wie früher“ werden wird. Leider wird das oft nicht kommuniziert, sondern so eine Vorstellung vermittelt, mit genug Therapieeinheiten könne man jedes funktionelle relevante Defizit beheben, was einfach nicht der Realität entspricht. Dabei müsste das Behandlungsziel eigentlich gar nicht zu hoch gesteckt werden:

Aus Studien zur Hemikraniotomie nach schwerem Schlaganfall wissen wir, dass Betroffene ihre Lebensqualität als „gar nicht so schlecht“ wahrnehmen, während medizinisches Personal sich eine Hemikraniotomie für sich selber nicht vorstellen kann (Schwarz 2012), weil eine komplette Abhängigkeit von Pflege uns als sehr schlechte Prognose vorkommt. Anders herum wissen wir, dass ein gewisser Grad an Selbstständigkeit Grundvorraussetzung für die soziale Teilhabe auch in einer Pflegeeinrichtung ist und dass in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation ein Alter > 80 Jahre oder vorbestehende kognitive Defizite wichtige Faktoren sind, die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit einhergehen, dass diese Teilhabefähigkeit eben nicht mehr erreicht werden kann (Seidel 2016).

Diese komplexe Grundgemengelage führt oft zu unkonkreten und euphemistischen Formulierungen der Prognose von schwer betroffenen Patienten gegenüber (vorsorgebevollmächtigten) Angehörigen mit dann oft schmerzhafter Krankheitsverarbeitung im weiteren Behandlungsverlauf, wenn deutlich wird, dass viel zu hoch gesteckten Erwartungen nicht erfüllt werden können.

Unsicherheit im Behandlungsteam

Der vermutlich entscheidendste Punkt außerhalb von ökonomischen Interessen, warum Überversorgung entsteht, ist das Thema Unsicherheit. Hieraus resultiert wohl auch die oben zitierte Feststellung, dass junge und unerfahrenere Behandlungsteams eher zur Überversorgung neigen. Die Unsicherheit entsteht ganz oft an der Frage, ob eine medizinische Behandlung überhaupt indiziert ist, wird aber nur ganz selten auch so benannt. Oft finden sich Euphemismen, wie „aus medikolegalen Erwägungen“ oder „bei unklarem Patientenwillen“ oder in Übergaben „erst mal alles machen“. Dabei spielt die Angst vor rechtlichen Folgen ärztlichen Handelns eine große Rolle, insbesondere wenn man eine ärztliche Entscheidung nicht mehr revidieren kann (z.B. weil der Patient zwischenzeitlich verstorben ist). Dieses Phänomen, welches durchaus dem Zeitgeist der Absicherungsmedizin geschuldet sein dürfte, findet sich übrigens auch in die andere Richtung: Auch „mutige“ Therapieentscheidungen, die zu eher risikobehafteten Handlungen führen, finden sich tendenziell zunehmend seltener.

Was man tun kann

Die Antwort, wie man diese Arten von Überversorgung auf Ebene des Behandlungsteams am Besten minimieren kann, ist in der Theorie relativ einfach:

Es braucht bei jedem Patienten ein realistisches, dem Patienten nutzendes, Therapieziel. Grundvorraussetzung hierfür ist die bestehende medizinische Indikation für die Behandlung und der vorliegende Patientenwille. Dieses Therapieziel muss regelmäßig, bei kritisch kranken Patienten ggfs. sogar mehrfach täglich, hinsichtlich seiner weiter vorhandenen Sinnhaftigkeit und Erreichbarkeit reevaluiert werden.

Es gibt in dem DIVI-Papier dafür sogar einen Merkspruch: Nämlich TRIKK

T: Formuliere das Therapieziel.

R: Reevaluiere das Therapieziel regelmäßig und kritisch.

I: Stelle sicher, dass für jede geplante und laufende Therapie eine Indikation besteht und diese geeignet ist, um das Therapieziel zu erreichen.

K: Stelle sicher, dass jede geplante diagnostische Prozedur eine Konsequenz hat, die den Patienten/die Patientin und das Behandlungsteam dem Therapieziel näher bringt.

K: Stelle sicher, dass weiterhin mutmaßlicher, vorausverfügter oder definitiver Konsens des Patienten/der Patientin für alle laufenden und geplanten diagnostischen und therapeutischen Prozeduren besteht.

In der Praxis ist das viel komplizierter als es zuerst anmutet. Das mit dem Therapieziel braucht nämlich Zeit und die ist oft knapp, insbesondere wenn das Personal knapp ist. Das hatten wir oben schon beim Thema Pflexit. Der zweite Punkt ist, dass Überversorgung am Besten minimiert wird, wenn das Therapieziel und seine Erreichbarkeit mindestens in einem Visitensetting, besser noch interdisziplinär im ganzen Behandlungsteam besprochen und reevaluiert wird. Das gilt natürlich auch für die Angehörigenkommunikation, Dokumentation usw. Schneller und “einfacher“ ist es, Diagnostik und Therapien nach den jeweiligen Standards immer weiter zu eskalieren.

Ein Weg dies zu durchbrechen kann sein, existierende Strukturen, wie Übergaben / Teambesprechungen (in vielen OPS-Codes, siehe unten, vorgeschrieben) hierzu zu nutzen.

Ökonomische Aspekte und Überversorgung

Das Gesundheitssystem – so wie es ist – begünstigt neben den erwähnten medizinischen Aspekten das Auftreten von Überversorgung. Ich kann hier nur für die stationäre Krankenversorgung schreiben, da ich von der Abrechnung der ambulanten Medizin viel zu wenig verstehe, aber da wird es ähnliche Mechanismen geben. Überversorgung wurde auch schon vor der Einführung der DRG 2003 durch das damalige Abrechnungssystem der Tagessätze getriggert, aber anders als jetzt. Damals gab es grob gesagt mehr Geld, je länger die Patienten da waren, also waren sie tendenziell zu lange da.

Crashkurs DRG

Diagnosis Related Groups (DRG) gibt es als Grundlage für Verteilung von Versicherungsleistungen schon ganz lange. In Deutschland wurde 2003 jedoch das damals bestehende System so geändert, dass seither jede stationäre Krankenhausbehandlung (mit Ausnahme der Psychiatrie) mit einer Fallpauschale vergütet wird, deren Höhe sich an der Diagnose und verschiedenen Schweregraden und Begleiterkrankungen bemisst. Grob gesagt kann man sich das wie einen Pauschalurlaub mit all inclusive vorstellen.

Jede Diagnose findet sich in einer Fallpauschale wieder, die in einer bestimmten Systematik durchnummeriert sind. Jeder Fallpauschale ist ein Kostengewicht (andere Begriffe sind Bewertungsrelation und Relativgewicht) zugeordnet, ein Zahlenwert, der den Schweregrad und den Behandlungsaufwand der Fallpauschale darstellen soll.

Bestimmte Prozeduren, also Operationen, aber auch Komplexbehandlungen (also interdisziplinäre Behandlungsmodelle, z.B. bei einem Schlaganfall, in der Frührehabilitation auf der Intensivstation usw. mit definierten ärztlichen, pflegerischen aber auch therapeutischen Leistungen) erhöhen die Bewertungsrelation (und damit den Abrechnungsbetrag).

Zwei Beispiele (Link):

  • Die Behandlung eines Patienten mit einem Schlaganfall ohne eine Komplexbehandlung auf einer Stroke Unit führt zur DRG B70F mit einem Kostengewicht von 0,795
  • Die Behandlung des selben Patienten auf einer Stroke Unit mit einer Dauer der Behandlung von mindestens 72 Stunden führt zur DRG B39C mit einem Kostengewicht von 2,122

Wenn man jetzt wissen will, wie viel Geld das Krankenhaus für den Fall bekommt, so muss man wissen, wieviel so ein Kostengewicht wert ist. 1,0 Kostengewichte sind gleichgesetzt mit dem Landesbasisfallwert. Der betrug z.B. 2021 in Hamburg 3.743,70 EUR (Link). Das bedeutet, dass

  • in Beispiel 1 das Krankenhaus eine Summe von 2.976,24 EUR (0,795 x 3.743,70 EUR) abrechnen kann, zuzüglich der Kosten für das Pflegepersonal (die wurden 2021 aus den DRG „rausgerechnet“ und werden gesondert abgerechnet),
  • in Beispiel 2 das Krankenhaus 7.944,13 EUR (2,122 x 3.743,70 EUR) abrechnen kann, zuzüglich der Kosten für das Pflegepersonal.

Nebendiagnosen, Prozeduren und Überversorgung

Das führt tendenziell dazu, dass Patienten möglichst hochbewertete Prozeduren (OPS-Codes) erhalten und auch bei der Kodierung des Falls versucht wird, möglichst viele die Fallpauschale erhöhende Begleiterkrankungen zu finden. Das wiederum intendiert, dass mittelfristig nach diesen Nebendiagnosen gesucht wird, was durchaus ein Mehraufwand an Diagnostik und ggfs. Therapie bedeutet, durchaus auch ohne Mehrwert für den Patienten (was dann wieder Überversorgung wäre).

Die Komplexbehandlungen (die ja zu den Prozeduren gehören) sind wiederum fast immer in verschiedene Zeiträume unterteilt, in welchen sie erbracht werden und in welchen sie verschieden viel Erlös generieren. Je länger sie erbracht werden, desto höher ist die Vergütung, was ja auch logisch ist. Das bedeutet aber, dass es „Stufen“ in der Erlösstruktur z.B. der Schlaganfallversorgung gibt, nach 24 Stunden auf der Stroke Unit gibt es mehr Geld, nach 72 Stunden noch deutlich mehr usw. Patienten werden dementsprechend eher 24,5 Stunden auf der Stroke Unit behandelt und möglichst nie 23,5 Stunden usw. Und dann „macht man die 24 Stunden noch voll“ (oder die 72 Stunden usw.), auch wenn die Behandlung auf der Stroke Unit vielleicht nicht mehr notwendig wäre, hier kein spezifisches Therapieziel mehr besteht.

Auch das ist Überversorgung.

Etwas offensichtlicher ist es, wenn eine Behandlung offenkundig unnötig ist und dennoch durchgeführt wird. Aber auch hier gibt es Graubereiche, wie diesen:

Versorgungsprobleme

Zum Abschluss noch ein aktuelles (wie immer leicht verfremdetes) Beispiel von Station: Es wird ein 92-jähriger Mann aufgenommen, bei dem Patienten besteht seit längerem eine Demenzerkrankung. Bislang wurde dies von der Ehefrau kompensiert, allerdings ist die Ehefrau vor einem Monat recht plötzlich verstorben. Seither kümmerte sich der ebenfalls hochaltrige Bruder des Patienten, dieser musste aber nun selber auf Grund eines kardiologischen Problems stationär aufgenommen werden. Übrig blieb der alte Herr, der nun nicht mehr versorgt war. Um einen Pflegedienst u.ä. hatte sich die Familie – in erster Linie die berufstätige Tochter und Nichte – bislang noch nicht bemüht. Nun kommt der alte Herr in die Notaufnahme, weil es „zu Hause einfach nicht mehr geht“.

Was machen wir? Nach Hause schicken und sagen: „Liebe Familie, euer Problem, kümmert euch!“? Das wäre die offiziell richtige Lösung, aber fast nie die realistische und auch fast nie die menschlich vertretbare. Also wird der Patient aufgenommen mit folgendem Konzept:

  • Plan A: Wir organisieren einen Pflegedienst, der den Patienten zu Hause betreut.
  • Plan B: Wir organisieren einen Kurzzeitpflegeplatz.

Akut-medizinisch ist eigentlich gar nichts zu tun. Die Demenz ist mindestens mittelgradig, klinisch eher Alzheimer-typisch, bildmorphologisch a.e. eine gemischte Demenz mit erheblicher vaskulärer Komponente. Das ganze ist demnach ein klassisches Versorgungsproblem.

Das dumme an Versorgungsproblemen ist, dass es sie offiziell nicht gibt. Denn für die rein pflegerische Versorgung eines Menschen benötigt es nicht „die besonderen Mittel eines Krankenhauses“. Ergo ist der Aufenthalt nicht indiziert, ergo gibt es kein Geld, ergo zahlen wir Kost und Logis. Tun wir? Nein, die Lösung lautet Überversorgung. Wir machen einfach eine Demenzabklärung. Die bringt dem Patienten zwar nichts, aber wir haben den Aufenthalt gerechtfertigt. Vielleicht nicht alle Tage, die der Patienten schlussendlich da ist, aber zumindest gibt es eine Gegenfinanzierung eines gewissen Teils des Aufenthalts.

Ist das verwerflich? Ich weiß nicht, eher schlecht vom Gesetzgeber her konzipiert. Von der Größenordnung her kann man sich das wie folgt vorstellen: Von den 30 neurologischen Betten bei uns auf Normalstation sind in der Regel immer 2-3 von Patienten mit derartigen Versorgungsproblemen und der dadurch intendierten Überversorgung belegt.

Ein Fazit

Überversorgung ist häufig, wir alle haben schon Überversorgung betrieben und werden es – aus verschiedenen Gründen – auch weiter tun. Überversorgung ist trotzdem ein relevantes Problem, monetär, aber insbesondere da sie zur Personalabwanderung im Gesundheitswesen beiträgt. Wenigstens deshalb sollte es uns ein Anliegen sein Überversorgung zu vermeiden.

Einfach ist es nicht, manchmal auch nicht vermeidbar. Aber ohne Problembewusstsein hierfür wird sich nicht tun.

Wo man weiterlesen kann

Michalsen, A., Neitzke, G., Dutzmann, J., Rogge, A., Seidlein, A.-H., Jöbges, S., Burchardi, H., Hartog, C., Nauck, F., Salomon, F., Duttge, G., Michels, G., Knochel, K., Meier, S., Gretenkort, P., & Janssens, U. (2021). Überversorgung in der Intensivmedizin: erkennen, benennen, vermeiden. Medizinische Klinik – Intensivmedizin Und Notfallmedizin, 116(4), 281–294. https://doi.org/10.1007/s00063-021-00794-4

Neitzke, G., Burchardi, H., Duttge, G., Hartog, C., Erchinger, R., Gretenkort, P., Michalsen, A., Mohr, M., Nauck, F., Salomon, F., Stopfkuchen, H., Weiler, N., & Janssens, U. (2016). Grenzen der Sinnhaftigkeit von Intensivmedizin. Medizinische Klinik – Intensivmedizin Und Notfallmedizin, 111(6), 486–492. https://doi.org/10.1007/s00063-016-0202-8

Literaturangaben (explizit keine Weiterlese-Tips)

Hartog, C. S., Hoffmann, F., Mikolajetz, A., Schröder, S., Michalsen, A., Dey, K., Riessen, R., Jaschinski, U., Weiss, M., Ragaller, M., Bercker, S., Briegel, J., Spies, C., & Schwarzkopf, D. (2018). Übertherapie und emotionale Erschöpfung in der „end-of-life care“. Der Anaesthesist, 67(11), 850–858. https://doi.org/10.1007/s00101-018-0485-7

Schwarz, S., & Kühner, C. (2012). Prognose und Lebensqualität nach Entlastungstrepanation. Der Nervenarzt, 83(6), 731–740. https://doi.org/10.1007/s00115-011-3402-8

Seidel, G., Eggers, L., Kücken, D., Zukunft, E., Töpper, R., Majewski, A., Klose, K., Terborg, C., Klass, I., Wohlmuth, P., & Debacher, U. (2016). Prognosefaktoren in der Frührehabilitation nach schwerem Schlaganfall. Aktuelle Neurologie, 43(09), 541–547. https://doi.org/10.1055/s-0042-118957

Medizinische Versorgung am Lebensende

Vorweg

Schon länger schwebt mir eine kleine Reihe über das Thema Medizin am Lebensende vor und ich hatte schon mal im Sommer angefangen, was zum Thema Überversorgung zu schreiben, dann aber wieder abgebrochen. Durch den Tweet von doc_ecmo

bin ich jetzt aber wieder angefixt. Ich hab mir überlegt, dass ich mit dem Thema end-of-life care anfange und dann was zu Überversorgung schreibe.

Patientenwillen und Multimorbidität

Mit zunehmender Lebenserwartung und damit auch zunehmender Multimorbidität unserer Patienten kommt dem Thema medizinische Entscheidungen am Lebensende immer mehr Bedeutung zu. Das betrifft einmal die unmittelbare Versorgung (ambulant und stationär) im Krankheitsfall, aber auch die Planung und Konzeption der jeweils medizinisch indizierten und gewünschten Behandlung. Das Phänomen der immer älter und kränker werdenden Patienten gibt es in der Medizin schon ganz lange. Fangen wir daher mit einem Klassiker der Ärzte-Literatur an:

Gomer und House of God

House of God (Link Wikipedia) ist 1978 erschienen und hat schon mehrere Ärztegenerationen (vor der meinigen) geprägt. Das liegt unter anderem an der expliziten, aber realistischen Schilderung des Krankenhausalltages in den USA in den späten 1970er Jahren, vor allem aber an den 10 Regeln des House of God und den Begriffen Gomer (für alle, die House of God nicht kennen, das heißt Get Out of My Emergency Room) und turfen (für strategische Verlegung undankbarer Patienten in eine andere Fachabteilung). In der deutschen Übersetzung von House of God werden Gomer wie folgt definiert:

Ein menschliches Wesen, das, oft durch Alter, verloren hat, was einen Menschen ausmacht.

Ja, das ist zynisch. Aber House of God ist vor 43 Jahren erschienen und Überalterung und Multimorbidität der Gesellschaft haben seither massiv zugenommen. 1978 betrug die mittlere Lebenserwartung für Männer 77,5 Jahre und für Frauen 81 Jahre, heute sind es knapp 83 Jahre bei Männern und 86 Jahre bei Frauen (Quelle: Link), das macht ein Plus von 5,5 Jahren bei Männern und 5 Jahren bei Frauen. Die Prävalenz der Alzheimer-Demenz beträgt bei > 80 Jährigen in Europa 12,1% und bei > 85-jährigen 21,8% (Quelle: Link). In selektionierten Bevölkerungsanteilen (wie den stationär behandlungsbedürftigen Patienten) sind sicherlich deutlich höhere Prävalenzen anzunehmen. Und so wundert es dann auch nicht, dass es für Gomer mittlerweile im Krankenhaus-Slang weitere, durchaus bösartigere bis offenkundig menschenverachtende Begriffe gibt, vom harmlosen internistischen Polytrauma, oder kein Hoffnungsträger über Dementor (für die Harry Potter-Generation), Ei und Vollei bis hin zu Trümmer- oderSchrotthaufen. Und es wird vermutlich keinen von uns geben, der nicht schon mal an der einen oder anderen Stelle derartige zynische und sarkastische Bezeichnungen verwendet hat, insbesondere in Phasen von Überforderungserleben und Frustration.

Sterbeort Krankenhaus

Jährlich sterben in Deutschland (die Daten sind aus der Prä-COVID-19-Ära) ungefähr 820.000-920.000 Menschen, das heißt 2.400-2.500 jeden Tag. Gute 45% der Gesamtbevölkerung versterben dabei in Krankenhäusern, von denen wiederum ein Viertel auf der Intensivstation, in absoluten Zahlen macht das ungefähr 400.000 Todesfälle in Krankenhäusern jedes Jahr, davon ca. 100.000 auf Intensivstationen (Fleischmann-Struzek et al.). Wir wissen, dass knapp 3/4 aller Pflegeheimbewohner in ihrem letzten Lebensjahr mindestens einmal in stationärer Behandlung sind, mit einem deutlichen Peak in den letzten Wochen vor Versterben (dort allein 52% im letzten Lebensmonat), 31% aller Hamburger Pflegeheimbewohner versterben im Krankenhaus (Hoffmann und Allers). Diese Rate ist im internationalen Vergleich sehr hoch, auffällig ist zudem, dass es in Deutschland keinen signifikanten Unterschied zwischen Pflegeheimbewohnern mit und ohne Demenzerkrankung gibt. Auch das ist in anderen Ländern anders.

Das Problem mit dem Patientenwillen

Aus Befragungen von „Überlebenden“ nach Intensivstationsbehandlung bei lebensbedrohlichen Erkrankungen weiß man, dass knapp 25% der Betroffenen hinterher sagen, die Behandlung sei nicht in oder sogar gegen ihren Willen erfolgt. Bei den Patienten, den wir in den Fachbereichen Innere Medizin, Neurologie, Unfallchirurgie und Geriatrie sehen ist es häufig so, dass auf Grund von vorbestehenden schweren Demenzerkrankungen (und in der Neurologie besonders auch durch Sprachstörungen nach Schlaganfall) die Patienten nicht mehr hinsichtlich ihrer Behandlungswünsche befragt werden können. Der Anteil dieser Patienten schwankt sehr, so dass über die genaue Rate keine Aussage zu treffen ist. Anekdotische Evidenz ist aber, dass insbesondere nach den großen Feiertagen Weihnachten / Ostern bis zu der Hälfte der Patienten auf einer neurologischen Normalstation nicht anamnestizierbar ist und an keinem Visitengespräch teilnehmen kann.

Ein weiteres Problem ist, dass die Patientenverfügungen, wie man sie als Standard-Vordruck zum Ankreuzen herunterladen kann (z.B. hier) oft Formulierungen stehen wie

Die folgende Verfügung soll gelten für den Fall, dass ich meinen Willen nicht mehr bilden oder verständlich äußern kann und ich infolge einer Gehirnschädigung meine Fähigkeit, Einsichten zu gewinnen, Entscheidungen zu treffen und mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, nach Einschätzung zweier erfahrener Ärztinnen oder Ärzte aller Wahrscheinlichkeit nach unwiederbringlich erloschen ist, selbst wenn der Todeszeitpunkt noch nicht absehbar ist. Dies gilt für direkte Gehirnschädigung, z.B. durch Unfall, Schlaganfall oder Entzündungen, ebenso wie für indirekte Gehirnschädigung, z.B. nach Wiederbelebung, Schock oder Lungenversagen. Es ist mir bewusst, dass in solchen Situationen die Fähigkeit zu Empfindungen erhalten sein kann und dass ein Aufwachen aus diesem Zustand nicht ganz sicher auszuschließen, aber unwahrscheinlich ist.

Das trifft natürlich wortwörtlich nur in ganz wenigen Fällen zu, viel öfter handelt es sich – in der Neurologie – um schwere (linkshirnige) Schlaganfälle oder Hirnblutungen, bei denen z.B. von einer anhaltenden hochgradigen Halbseitenlähmung, einer Sprech- und einer anhaltenden Schluckstörung auszugehen ist, manchmal auch von einer fehlenden Mobilisierungsfähigkeit, so dass das Szenario eher wie folgt skizziert werden muss:

  • Vollständige Pflegebedürftigkeit, voraussichtlich in einem Pflegeheim, Ernährung über eine PEG-Sonde, Mobilisation in einen Pflegerollstuhl möglich.
  • Und in Fall zwei: Bettlägerigkeit, vollständige Pflegebedürftigkeit, voraussichtlich in einem Pflegeheim, Ernährung über eine PEG-Sonde

Es stellt sich dann die Frage, ob ein Überleben dieser Situation im Sinne des Patienten ist, oder eben nicht. Und das geht aus vielen Patientenverfügungen nicht dezidiert hervor. Der Textbaustein-Vordruck vom Bundesjustizministerium ist da etwas diffiziler und schließt auch Demenzerkrankungen ein (Link). Behelfen kann man sich oft, wenn man die Patientenverfügung als Orientierung nimmt und wenn die Patientenverfügung in Kombination mit einer Vorsorgevollmacht ausgefüllt wurde (was häufig der Fall ist) und man die vorsorgebevollmächtigten Angehörigen hinsichtlich des Patientenwillens befragen kann.

advanced care planning

Aus der Behandlung chronischer, zum Tod, bzw. zu schwerer Pflegebedürftigkeit bzw. Abhängigkeit von externer Hilfe und damit zum Verlust von medizinischer Entscheidungsfähigkeit führender Erkrankungen wie Tumorleiden oder COPD ist das Konzept des advanced care planning bekannt (Dingfield und Kayser). Dabei geht es darum, frühzeitig im Krankheitsprozess Informationen über Diagnose und Prognose zu kommunizieren, mit den Betroffenen Werte, Ziele und Ängste zu besprechen und auch die Meinung über lebenserhaltende oder -verlängernde Behandlungen und die Pflege am Ende des Lebens zu erfragen. Zudem gehört zum advanced care planning auch die Benennung von Vorsorgebevollmächtigten. In der Neurologie ist mir das seit Anbeginn meiner Tätigkeit von der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS, Link Wikipedia) bekannt, wo das – meiner Erfahrung nach – überall sehr vorbildlich und gründlich besprochen uns geplant wird. Besser sind wir Krankenhausärzte in den letzten Jahren beim Thema Demenzerkrankungen geworden, wobei den Löwenanteil immer noch Institutionen wie die Alzheimer-Gesellschaft übernehmen. Aber natürlich kann man solche Vorkehrungen und Gedanken über „den worst case“, bzw. das Lebensende „einfach so“ (Lum et al.), bzw. aktuell auf Grund der COVID-19-Pandemie treffen und dokumentieren. Darauf zielt auch die Autorengruppe um Priesemann et al. in ihrem aktuellen Strategiepapier in dem kurzen Abschnitt zum Thema advanced care planning ab (Link). Zu Beginn der COVID-Pandemie gab es immer wieder Berichte über eine „stille Triage“, z.B. hier. Mich hat das sehr geärgert, da oft nicht klar war, ob nicht eigentlich was sehr gutes passiert ist, nämlich, dass sich Menschen im Vorhinein Gedanken zu möglichen Verläufen von COVID-19 gemacht haben und sich (oder ihre Vorsorgebevollmächtigten) bewusst gegen Hospitalisierungen entschieden haben, was häufig nicht differenziert dargestellt wurde.

Spannungsfeld medizinische Indikation, Patientenwillen und Wünsche von Angehörigen

Jetzt kommen wir auf den Eingangs zitierten Tweet von doc_ecmo zurück. Eigentlich ist es ganz einfach: Eine medizinische Behandlung ist indiziert,

  • wenn sie medizinisch sinnhaft ist, da sie hilft das jeweilige Therapieziel zu erreichen
  • und sie dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen entspricht.

Das A und O ist dabei das Therapieziel. Das braucht es als Grundvorraussetzung. Fehlt einer der Punkte ist die Behandlung nicht indiziert.

Wie so oft, wenn es eigentlich ganz einfach scheint, ist es im wahren Leben dann unendlich komplizierter. Nähren wir uns dem mal an:

„Die Angehörigen wollen aber das alles gemacht wird“

Ein ganz reales Beispiel: Es wird eine 84-jährige Patientin mit einer schweren Hirnblutung links aufgenommen. Die Patientin war bislang selbstversorgend, lag nun hilflos in ihrer Wohnung und wurde durch Feuerwehr und Rettungsdienst geborgen. Klinisch ist die Patientin flach komatös, auf Schmerzreize wehrt sie mit der linken Körperhälfte ungezielt ab. In der CT-Untersuchung sieht man einen Einbruch der Hirnblutung in das Ventrikelsystem und einen beginnenden Liquoraufstau.

CT mit großer ICB linkshemisphäriell mit Einbruch in das Ventrikelsystem

Rasch nach Aufnahme kommt es zu einer weiteren klinischen Verschlechterung, die Patientin beginnt sich zu erbrechen, ist psychomotorisch unruhig, wirkt gequält. Eine erneute CT zeigt eine große Zunahme der Blutung. Es ist klar, die Patientin wird an der Blutung versterben. Die Stationsärztin spricht mit den Angehörigen und kommt aus dem Gespräch mit der Aussage zurück „die Angehörigen wollen aber das alles gemacht wird“. Der Fall hat sich so ähnlich wirklich zugetragen (hab ihn etwas verfremdet) und ich war bei dem Gespräch nicht dabei, aber hier ist offenbar einiges schief gelaufen.

Fangen wir mal vorne an: Wir brauchen immer ein Therapieziel, müssen also die Frage beantworten, was wir mit unseren Maßnahmen bewirken können und wollen. In diesem Fall können wir die Hirndrucksymptomatik und anzunehmenden Kopfschmerzen lindern, die Prognose der Blutung ist infaust, es gibt außer Palliation kein übergeordnetes Therapieziel mehr. Dementsprechend ist auch eine Intubation und Hirndrucktherapie nicht mehr indiziert.

Damit sind die anderen Punkte hinfällig, sowohl die Frage nach dem in diesem Fall nicht mehr zu ermittelnde Willen der Patientin, als auch der Wunsch der Angehörigen nach einer Maximaltherapie. Damit kommen wir zum nächsten Punkt.

Patienten- oder Angehörigenwille?

Besteht eine medizinische Indikation muss die Behandlung zudem dem Patientenwillen entsprechen. Das ist immer dann einfach, wenn Patienten auskunfts- und einwilligungsfähig sind, oder wenn im Rahmen eines advanced care planning Therapieverfahren vorbesprochen sind. Es ist immer dann schwierig, wenn Patienten nicht (mehr) auskunftsfähig sind. Die Aufgabe der Vorsorgebevollmächtigten – und auch von gesetzlichen Betreuern – ist dann, im Sinne des Patienten zu entscheiden. Und das ist ein Thema bei dem es oft viel Fingerspitzengefühl bedarf, vor allem wenn es um Familienangehörige geht, die die Vorsorgevollmacht haben. Hier mischt sich nämlich sehr schnell ein dokumentierter tatsächlicher oder mutmaßlicher Patientenwille mit Trauer und Krankheitsverarbeitung von Angehörigen. Die Aufgabe im Sinne seines Angehörigen und nicht den eigenen Gefühlen nach zu entscheiden – vor allem, wenn sie plötzlich und unerwartet kommt – ist für viele Menschen sehr herausfordernd. Helfen können hier ruhige, auch wiederholte Gespräche, die Herausnahme von Druck („wir müssen das heute nicht entscheiden, aber es wäre gut, wenn Sie im Familienrat sich noch einmal dazu besprechen“) und auch Ethik-Konsile, wie es sie in vielen Krankenhäusern gibt.

Therapielimitierungen

Nehmen wir den Fall von vorhin noch einmal und ändern die Geschichte etwas: Die Patientin ist wach, aber neurologisch weiterhin schwerst betroffen. Es kommt zu keiner Nachblutung, die Blutung bleibt stabil. Es existiert die Standard-Vordruck-Patientenverfügung, die den konkreten Fall nicht hinreichend genau beschreibt. Die vorsorgebevollmächtigten Angehörigen tun sich mit einer Entscheidung, welche Therapien erfolgen sollen, extrem schwer. Sicher ist, dass eine Behandlung auf der Intensivstation, eine Reanimation oder eine Dialyse angesichts der Schwere der Grunderkrankung nicht im Patientensinne seien. Zudem geht aus der Patientenverfügung hervor, dass die Patientin eine dauerhaft künstliche Ernährung in einem Zustand völliger Pflegeabhängigkeit nicht gewünscht hätte. Es wird daher besprochen, dass die Patientin auf der Stroke Unit verbleibt, die Therapielimitierungen (keine Intensivstation, keine Reanimation, keine Dialyse, keine PEG-Sonde) werden besprochen. Es findet die übliche frührehabilitative multimodale Behandlung auf der Stroke Unit statt. Im Verlauf gelingt eine Mobilisation der Patientin in den Pflegerollstuhl, sie kann eine angepasste Dysphagie-Kost zu sich nehmen, nach 10 Tagen erfolgt die Verlegung in eine geriatrische Klinik. Dennoch wird die Patientin auch nach der geriatrischen Behandlung schwer betroffen in eine Pflegeeinrichtung entlassen.

Derartige Therapielimitierungen stellen einen guten Mittelweg – zwischen Maximaltherapie und reiner Palliation – in nicht hochakuten Phasen kritischer Krankheiten dar, gerade wenn der weitere Genesungs- oder Krankheitsweg hochbetagter Patienten noch nicht absehbar sind.

Reevaluation von Therapieentscheidungen

Eine einmal getroffene Therapielimitierung, aber auch die Entscheidung zu einer Maximaltherapie kann man jederzeit revidieren. Dies ist in Gesprächen mit Angehörigen von Patienten ebenfalls wichtig zu vermitteln. Nehmen wir noch mal die Patientin aus dem Fallbeispiel. Im Pflegeheim kommt es nach kurzer Zeit zu einer Verweigerung der Nahrungsaufnahme durch die Patientin, auch lehnt sie die dort angebotenen physiktherapeutischen und logopädischen Therapieeinheiten zunehmend ab, lässt sich kaum noch in den Pflegerollstuhl mobilisieren. In Reevaluation der Gesamtsituation wird entschieden, etwaige Komplikationen im weiteren Krankheitsverlauf nicht mehr zu behandeln. Die Patientin entwickelt eine Lungenentzündung und verstirbt.

Das geht genausogut in die andere Richtung, auch wenn es erfahrungsgemäß bei hochaltrigen Patienten selten vorkommt, dass sich im Verlauf zu einer Ausweitung der therapeutischen Bemühungen entschieden wird.

Gesetzlich betreute Patienten und das BGH-Urteil von 2019

Kommen wir zum worst case Szenario für alle Beteiligten. Gibt es keine Vorsorgevollmacht und ist ein Patient nicht einwilligungsfähig, muss ein gesetzlicher Betreuer bestellt werden. Da Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten sehr oft zusammen ausgestellt werden, gibt es in solchen Fällen meist keinen dokumentierten Patientenwillen.

Das bedeutet aber auch, dass nichts darüber bekannt ist, welche medizinischen Maßnahmen der Patient gewünscht hätte und welche nicht. Formal-juristisch gilt dann – spätestens seit dem schon erwähnten BGH-Urteil – meistens, dass eine Maximaltherapie durchgeführt wird, selbst in relativ aussichtslosen Fällen, nicht aber in absolut aussichtslosen Fällen, doch dazu gleich noch mal.

Kurz zum BGH-Urteil (Link). Dabei ging es um eine Konstellation, in der ein schwerst dementer Mann per PEG-Sonde ernährt wurde, da über seinen Willen nichts bekannt war. Jahre später klagte dann sein Sohn gegen den Hausarzt des Patienten, der die Sondenkost verordnet hatte auf Schmerzensgeld, da seit mehreren Jahren keine Indikation zur PEG-Behandlung bestanden hatte. Die Juristerei dahinter ist komplex, höchstrichterliche Rechtsprechung ist aber nun folgende Formulierung:

Das menschliche Leben ist ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Das Urteil über seinen Wert steht keinem Dritten zu. Deshalb verbietet es sich, das Leben – auch ein leidensbehaftetes Weiterleben – als Schaden anzusehen (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Auch wenn ein Patient selbst sein Leben als lebensunwert erachten mag mit der Folge, dass eine lebenserhaltende Maßnahme gegen seinen Willen zu unterbleiben hat, verbietet die Verfassungsordnung aller staatlichen Gewalt einschließlich der Rechtsprechung ein solches Urteil über das Leben des betroffenen Patienten mit der Schlussfolgerung, dieses Leben sei ein Schaden.

Über das Urteil ist viel und kontrovers diskutiert worden. Im klinischen Alltag kommt es vielen entscheidungsvermeidend und mutlos vor und als mehr Leiden als Linderung verschaffend. Ich denke, man muss es auch im Kontext der Historie Deutschlands und die Anmaßung über lebenswertes und unwertes Leben im dritten Reich sehen. Schwierig kommt es mir dennoch oft vor. Aber es beschreibt einen sehr speziellen Fall, bei dem es rückwirkend um Schadensersatzansprüche geht. Parallel existiert ein Urteil des BGH von 2010, wo es um die unmittelbare Fortführung von Therapieverfahren in aussichtslosen Situationen geht. Erbguth und Erbguth fassen es wie folgt zusammen:

Die Beendigung von lebenserhaltenden Therapien wie Beatmung, Ernährung, Dialyse und Kreislaufstützung ist erlaubt, wenn keine Indikation und/oder Einwilligung (mehr) besteht. Ihre Fortführung ohne Indikation oder Einwilligung entspräche sogar dem Tatbestand der Körperverletzung.

Es ist demnach durchaus möglich, auch bei gesetzlich betreuten Patienten Therapiemaßnahmen einzuschränken, wenn keine medizinische Sinnhaftigkeit besteht. Und es ist nicht so, dass das nicht auch passiert. Es ist nur deutlich aufwändiger, bedarf viel Kommunikation mit dem Betreuungsgericht und dem gesetzlichen Betreuer und häufig auch externen ärztlichen Gutachten und damit ist es dann auch langwieriger.

Spezielle Fragestellungen

PEG bei Demenzerkrankungen

Soll Patienten mit einer Demenz und einer Schluckstörung eine PEG-Sonde gelegt werden? Oder ist es der Weg einer Demenzerkrankung, dass die Betroffenen irgendwann das Bedürfnis zu Essen und zu Trinken verlieren? Über diese Frage gibt es im klinischen Alltag immer mal wieder Streit, aber eigentlich ist es ziemlich sinnvoll interdisziplinär vereinbart worden. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft hat hierzu ein überschaubares Merkblatt erstellt (Link), zudem lohnt sich diese ethische Fallbesprechung im Ärzteblatt zu lesen: Link.

Zusammenfassend kann man sagen, besteht eine leicht- oder mittelschwere Demenz und die Schluckstörung resultiert aus einer anderen Ursache, z.B. einem Schlaganfall, wird bei sonst guter Lebensqualität eine PEG-Sonde in der Regel als indiziert angesehen.

Besteht eine fortgeschrittene Demenzerkrankung und die PEG-Sonde ergibt sich ausschließlich aus dieser Indikation (wie bei dem Patienten aus dem BGH-Urteil von 2019), wird von einer PEG-Anlage abgeraten.

Prognose hochaltriger Menschen in der neurologischen Frührehabilitation

Nehmen wir noch einmal die Patientin aus dem Fallbeispiel mit der schweren Hirnblutung. Wenn sie derart schwer betroffen ist, stellt sich bei der Planung der Weiterversorgung die Frage, ob nicht eine Frührehabilitationsbehandlung durchgeführt werden soll. Oft wird das von den Angehörigen gewünscht und von den Kollegen auf der Stroke Unit unterstützt. Was dabei schnell in Vergessenheit gerät ist, dass Alter (OR pro Dekade 1,5) neben männlichem Geschlecht einer der wichtigsten Prädiktoren für ein schlechteres Outcome in der Frührehabilitation sind (Pohl und Bertram, Seidel et al.).

Kurz gesagt, die Chancen der Patientin mit einer Frührehabilitation ein signifikant anderes Funktionsniveau als ohne Frühreha zu erreichen sind relativ schlecht, das Outcome (Versorgung in einer Pflegeeinrichtung, überwiegend vollkompensatorische pflegerische Versorgung) kann auch schon in der akuten Erkrankungsphase sicher vorausgesagt werden. Dies begründet dann die Altersgrenzen, die es in manchen Frührehabilitationseinrichungen gibt (z.B. keine Patienten > 80 Jahre), genau wie es derartige Grenzen auch bei vielen neurochirurgischen Eingriffen aus eben der selben Überlegung und Datenlage gibt.

Wo man weiterlesen kann

Lum, H. D., Sudore, R. L., & Bekelman, D. B. (2015). Advance Care Planning in the Elderly. Medical Clinics of North America, 99(2), 391–403. https://doi.org/10.1016/j.mcna.2014.11.010

Erbguth, F., & Erbguth, L. (2016). Therapieentscheidungen am Ende des Lebens. DMW – Deutsche Medizinische Wochenschrift, 141(20), 1484–1496. https://doi.org/10.1055/s-0042-114087

Pohl, M., & Bertram, M. (2016). Wirksamkeit der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation. Der Nervenarzt, 87(10), 1043–1050. https://doi.org/10.1007/s00115-016-0183-0

Dingfield, L. E., & Kayser, J. B. (2017). Integrating Advance Care Planning Into Practice. Chest, 151(6), 1387–1393. https://doi.org/10.1016/j.chest.2017.02.024

Fleischmann-Struzek, C., Mikolajetz, A., Reinhart, K., Curtis, J. R., Haase, U., Thomas-Rüddel, D., Dennler, U., & Hartog, C. S. (2019). Hospitalization and Intensive Therapy at the End of Life. Deutsches Aerzteblatt Online, 116(39), 653–660. https://doi.org/10.3238/arztebl.2019.0653

Seidel, G., Röttinger, A., Lorenzen, J., Kücken, D., Majewski, A., Klose, K., Terborg, C., Klass, I., Wohlmuth, P., Zukunft, E., & Debacher, U. (2019). Lebensqualität und Behinderung nach schwerem Schlaganfall und neurologischer Frührehabilitation. Der Nervenarzt, 90(10), 1031–1036. https://doi.org/10.1007/s00115-019-0740-4

Hoffmann, F., & Allers, K. (2021). Krankenhausaufenthalte von Pflegeheimbewohnern in der letzten Lebensphase: eine Analyse von Krankenkassenroutinedaten. Zeitschrift Für Gerontologie Und Geriatrie, 54(3), 247–254. https://doi.org/10.1007/s00391-020-01716-3

Critical illness-Polyneuropathie und -Myopathie

Wenn ich jetzt mal wieder die Frühreha mache, ist es nach den ganzen Corona-Beiträgen höchste Zeit für das Thema critical illness-Polyneuropathie und -Myopathie, welche man meistens mit CIP/CIM abkürzt und welche ja die Standarddiagnose in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation ist. Außerdem ist es für das Thema Long Covid wichtig, da die CIP/CIM die Diagnose ist, an der die meisten schwer betroffenen COVID-Patienten nach einer intensivmedizinischen Behandlung am häufigsten leiden und weshalb sie am meisten Unterstützung benötigen.

Viele Namen, ein Phänomen

Die Beobachtung, dass schwer erkrankte (v.a. an einer Sepsis) Patienten nach der eigentlichen Erkrankung anhaltende Lähmungen der Arme, Beine aber auch der Atemmuskulatur aufweisen, taucht in der medizinischen Literatur seit dem 19. Jahrhundert immer wieder auf. Mit der Entwicklung der Intensivmedizin zu dem, was wir heutzutage als Intensivmedizin verstehen in den 1960er und 1970er Jahren, wurde dieses Phänomen immer häufiger beschrieben. Aus den 1980er Jahren stammt dann der Begriff critical illness Polyneuropathie. Erst später wurde in elektrophysiologischen Studien klar, dass gar nicht immer eine Polyneuropathie das führende Problem ist, sondern oft auch eine Myopathie, also eine primäre Erkrankung der Muskulatur. So wurde der Terminus critical illness Myopathie geprägt. Im englischen Sprachgebrauch tauchen diese Begriffe aber kaum auf, in den meisten Arbeiten werden beide Erkrankungen – die klinisch ohne EMG eh kaum unterscheidbar sind – als intensiv care unit-acquired weakness (ICUAW) bezeichnet und zusammengefasst.

Was man über die Epidemiologie weiß

Man kann es sich einfach machen und feststellen: Die CIP/CIM ist eine sehr häufige Erkrankung bei kritisch kranken Patienten und tritt bei diesen Patienten in ca. 50% der Fälle auf. Das ist allerdings ein sehr grober Mittelwert, in einzelnen Studien werden – je nach Patientenklientel und Diagnosekriterien und -Mittel – Prävalenzen zwischen 25% und 100% aller untersuchten Patienten beschrieben. Insgesamt scheint die konkrete Häufigkeit sehr stark von verschiedenen Risikofaktoren abzuhängen. Wichtigster Punkt scheinen das Auftreten einer Sepsis (Prävalenzen um 70%) und eines Multiorganversagens (bis 100% aller Patienten entwickeln eine CIP/CIM) zu sein. Zweitwichtigster Risikofaktor ist offenbar die Beatmungsdauer auf einer Intensivstation. Patienten, die kurz (um 24 Stunden) beatmet wurden, entwickeln in gut 10% aller Fälle eine CIP/CIM. Eine Beatmungsdauer von bis zu sieben Tagen führt zu einer CIP/CIM in 25-65% aller Fälle, eine Beatmungsdauer länger als sieben Tage zu einer Häufigkeit von mehr als 66%. Ein acute respiratory distress syndrome (ARDS) Link Wikipedia , erhöhte Blutzuckerspiegel, ein höheres Patientenalter und weibliches Geschlecht (viermal höheres CIP/CIM-Risiko als bei Männern) sind weitere wichtige Risikofaktoren. Es gibt die Theorie, dass Frauen und ältere Menschen auf Grund der der geringeren Muskelmasse häufiger betroffen sein könnten.

Ob eine CIP/CIM durch den Einsatz von Steroiden oder Muskelrelaxantien generell oder zu bestimmten Zeitpunkten im Krankheitsverlauf begünstigt wird, lässt sich anhand der vorliegenden Studien nicht eindeutig beantworten.

Mindestens ein Drittel aller CIP/CIM-Patienten haben längerfristige motorische Einschränkungen. Typische Kennzahlen bewegen sich in etwa in dem Korridor: 30% der Intensivstations-Patienten sind bei Krankenhausentlassung durch eine CIP/CIM relevant eingeschränkt, nach drei Monaten 20%, nach sechs Monaten 15% und nach zwei Jahren 10%. Im Barthel-Index bessern sich die Patienten durchschnittlich von 20 Punkten auf 85 Punkte nach einem Jahr. Schwieriger ist es mit der Aussage, dass das Auftreten einer CIP/CIM die Sterblichkeit auf mindestens das Doppelte erhöht, da eine CIP/CIM immer mit einem schwereren Krankheitsverlauf assoziiert ist und dieser eh schon mit einer höheren Mortalität.

Was man über die Pathogenese weiß

Die Pathogenese der CIP/CIM ist relativ komplex, zudem besteht eine vermutete Diskrepanz zwischen vermeintlichen pathogenetischen Mechanismen, die im Labor im Zell- oder Tierexperiment ermittelt werden können und der klinischen Realität. Ganz ähnlich zum großen Thema Corona gerade scheint es sich bei der CIP um eine Endothel-Krankheit im Rahmen einer ausgeprägten Ausschüttung von proinflammatorischen Zytokinen zu handeln. Hierdurch kommt es zu einer neuerogenen Entzündung mit Ausschüttung weiterer Zytokine, wodurch es zum Einen zu einer Überexpression von Gefäßendothel und zum Anderen durch eine vermehrte Gefäßpermeabilität zu einer Ödembildung in den Nerven kommt. Beides führt zu einer Minderdurchblutung im Rahmen der Mikrozirkulation in den Vasa vasorum der Nerven. Diese Hypoxämie führt dann zu einer atonalen Schädigung. Parallel können durch die gesteigerte Gefäßdurchlässigkeit toxische Metabolite direkt schädigend am Axon wirken. Drittens kommt es bei den besonders schädlichen Hyperglykämien zu mitochondrialen Dysfunktionen und einer Störung der Atmungskette mit vermehrter Kumulation von ADP. In einer Sepsis kommt es durch die dort vorherrschende katabole Stoffwechsellage und eine Hypoalbuminämie zu einer weiteren Zunahme von Ödembildung im Gewebe mit einer Verstärkung der beschriebenen Pathomechanismen.

Zum Thema CIM kann ich die Pathogenese nur noch gröber skizzieren: Zum Einen spielt der katabole Stoffwechsel mit einem rapiden Abbau von Muskelgewebe eine relevante Rolle, zum Anderen scheinen insbesondere TNF-⍺, IL-2 und GDF-15 (growth and differentiation factor) zu verstärkten Muskelatrophien zu führen.

Wen das Thema Pathogenese weiter interessiert, dem sei der Artikel von Bloch et al. empfohlen (siehe unten).

Klinik und Diagnostik

Klassisches Kapitel, in dem man versucht eine Selbstverständlichkeit irgendwie ein bisschen genauer aufzudröseln. Also, dass es zu einer ausgeprägten schlaffen Lähmung der Atem-, aber auch Extremitätenmuskulatur kommt, ist uns allen klar. Die meisten CIP/CIM-Patienten werden recht früh, im weaning als solche diagnostiziert, da dieses oft prolongiert oder kompliziert verläuft. Beim wachen, extubierten Patienten fällt dann in der Regel eine schlaffe Paraphrase mit distaler (CIP) oder proximaler Betonung (CIM) auf. Bei der häufigen Kombination CIP/CIM, bzw. ICUAW gibt es diese lokale Betonung dementsprechend nicht und kann auch nicht diagnostisch verwendet werden. Bei der CIP handelt es sich um eine distal-symmetrische, motorisch führende, axonale Polyneuropathie, sowohl klinisch, als auch elektrophysiologisch. Dementsprechend sind die neben den schlaffen Paresen die Muskeleigenreflexe erloschen, eine relevante sensible Störung besteht eher in geringerem Ausmaß. Bei der Kombination CIP/CIM sind aber auch begleitende small fibre Neuropathien (das muss auch noch ein Blog-Thema werden, Link Wikipedia) beschrieben. Eine Hirnnervenbeteiligung ist sehr selten und sollte immer an eine Guillain-Barré-Syndrom-Variante wie ein Miller-Fisher-Syndrom (Link Wikipedia) denken lassen. Schluckstörungen sind hingegen sehr häufig, aber sehr häufig außergewöhnlich schnell regredient, so dass hier gemeinhin weniger eine neurogene Dysphagie im eigentlichen Sinne, sondern eine mechanische Affektion des Schluckaktes nach Intubation angenommen wird.

Die CIM mit den proxmial betonten Paresen lässt sich durch eine sogenannte direkte Muskelstimulation elektrophysiologisch von einer CIP abgrenzen, auch kommen bei der reinen CIP keine sensiblen Störungen vor.

Bei beiden Erkrankungsentitäten fällt im EMG in der Regel eine lebhafte Spontanaktivität (Faszikulationen und positive scharfe Wellen) auf.

Therapeutische Optionen

In Einzelfallberichten wurde eine Therapie mit IVIG geschildert, eine wie auch immer geartete Studie hierzu ist mir aber nicht bekannt. In der Regel erfolgt die Therapie (und auch die Prophylaxe) nicht-medikamentös und in erster Linie (physio)therapeutisch, in der Frührehabilitation multimodal therapeutisch. Regelmäßige Physiotherapie mit Beginn innerhalb von 48 Stunden nach Aufnahme auf die Intensivstation konnte in einer Studie die Gehstrecke bei Entlassung aus dem Krankenhaus von 0 m auf 33 m verbessern. Dabei zeigt insbesondere die CIM eine sehr rasche Besserungstendenz, so dass Patienten mit einer isolierten CIM innerhalb eines Jahres zu 80-100% beschwerdefrei sind, gegenüber 50-70% bei Patienten mit einer isolierten CIP.

Insgesamt bleibt die Studienqualität aber bescheiden, eine Cochrane-Review von 2015 kommt zu dem Schluss, dass man keine Metaanalyse nach dem Cochrane-Standard machen könne, da die entsprechend methodisch ausreichend guten Studien fehlen würden (Link).

Wo man weiterlesen kann

Bloch, S., Polkey, M. I., Griffiths, M., & Kemp, P. (2012). Molecular mechanisms of intensive care unit-acquired weakness. European Respiratory Journal, 39(4), 1000–1011. https://doi.org/10.1183/09031936.00090011

Senger, D., & Erbguth, F. (2017). Critical-illness-Myopathie und -Polyneuropathie. Medizinische Klinik – Intensivmedizin Und Notfallmedizin, 112(7), 589–596. https://doi.org/10.1007/s00063-017-0339-0

Vanhorebeek, I., Latronico, N., & Van den Berghe, G. (2020). ICU-acquired weakness. Intensive Care Medicine, 46(4), 637–653. https://doi.org/10.1007/s00134-020-05944-4