Überversorgung in der Medizin

Heute soll es um ein Thema gehen, was mir schon länger im Kopf rumschwirrt, um Überversorgung in der Medizin. Das hat jetzt nur so halb mit Neurologie und auch nur so halb mit COVID-19 zu tun, aber es gibt mehrere Gründe, warum ich mich damit ein wenig beschäftigen möchte. Der Beitrag schließt sich thematisch an den Blogbeitrag zur medizinischen Versorgung am Lebensende an, wenn ihr den noch nicht kennt, lest ihn gerne zuerst.

Was ist eigentlich Überversorgung?

Anlass und Motivation: Das DIVI-Thesenpapier

Im Frühjahr 2021 irgendwo zwischen der zweiten und dritten COVID-19-Krankheitswelle erschien dieses Thesenpapier der DIVI, also der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin:

Michalsen, A., Neitzke, G., Dutzmann, J., Rogge, A., Seidlein, A.-H., Jöbges, S., Burchardi, H., Hartog, C., Nauck, F., Salomon, F., Duttge, G., Michels, G., Knochel, K., Meier, S., Gretenkort, P., & Janssens, U. (2021). Überversorgung in der Intensivmedizin: erkennen, benennen, vermeiden. Medizinische Klinik – Intensivmedizin Und Notfallmedizin, 116(4), 281–294. https://doi.org/10.1007/s00063-021-00794-4

Es ist ein sehr umfassende Paper, open access, was sich mit verschiedenen Aspekten von Überversorgung in der Intensivmedizin beschäftigt. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung ist in so fern spannend, weil die DIVI zu diesem Zeitpunkt vor allem mit der Warnung vor mangelnden Intensivkapazitäten in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde und es hier ganz wesentlich darum geht, dass und warum Intensivmedizin aus verschiedenen Gründen zu viel und unnötigerweise in Anspruch genommen wird. Und vielleicht schließt sich hier der Kreis, wenn es aktuell in den Medien (auch von Seiten der DIVI) wieder um das Thema Triage geht.

Ich werde das Paper hier nicht komplett wiedergeben (wie gesagt, es ist absolut lesenswert), aber möchte im Folgenden immer wieder Punkte aus dem Paper aufgreifen, auf die Nicht-Intensivmedizin übertragen und an der ein oder anderen Stelle ergänzen.

Wie ist Überversorgung definiert?

Überversorgung bezeichnet Behandlungsmaßnahmen, die nicht angemessen sind, weil sie zu keiner für die Patienten bedeutsamen Verbesserung der (Über‑)Lebensdauer oder Lebensqualität führen, mehr Schaden als Nutzen verursachen und/oder von Patient:innen nicht gewollt werden.

So schreiben die Autoren des DIVI-Thesenpapiers. Im ersten Teil (Link) der kleinen Blog-Serie ging es ja darum, wann eine medizinische Behandlung zulässig ist. Nämlich dann, wenn sie medizinisch indiziert ist und wenn sie dem Willen des Patienten entspricht. Ist einer der beiden Faktoren nicht erfüllt und führt man trotzdem eine Behandlung durch, begeht man ein Körperverletzungsdelikt. Grob gesagt ist Überversorgung somit die Stufe unter „nicht indiziert“, pauschal gesagt sowas wie „nicht wirklich indiziert“.

Überversorgung ist unglaublich häufig, dem DIVI-Artikel nach geht die OECD davon aus, dass ungefähr 20% der Gesundheitskosten durch Überversorgung entstehen. Es gibt Überversorgung von ganz klein und unspektakulär bis ganz groß und spektakulär. Die kleine, unspektakuläre Überversorgung ist naturgemäß viel häufiger als die spektakuläre große und alle, die ärztlich tätig sind haben schon ganz oft Überversorgung betrieben. Zu konkreten Beispielen komm ich weiter unten.

Überversorgung entsteht ganz grob eingeteilt in den zwei Themenkomplexen, die wir schon kennen: Bei der medizinischen Indikationsstellung und bei der Interpretation, bzw. Ausführung des Patientenwillens. Dazu kommen wir gleich noch einmal genauer. Vorher müssen wir die Frage beantworten, was das Problem an Überversorgung eigentlich ist.

Na und? Warum ist Überversorgung überhaupt schlimm?

Es sind zwei Punkte, die Überversorgung – abseits davon, dass es ja eine nicht angemessene Therapie ist – problematisch machen. Der erste ist das liebe Geld, beim zweiten geht es um die Frage Personalnot im Gesundheitswesen.

Money Money Money

Wie gerade weiter oben schon geschrieben geht die OECD davon aus, dass ungefähr 20% der Gesundheitsausgaben in ihren Mitgliedsländern für Überversorgung aufgewendet werden. In Deutschland betrugen die Gesundheitsausgaben im Prä-Corona-Jahr 2019 411 Milliarden Euro, das sind knapp 12% des Bruttoinlandsproduktes (Link). 20% davon sind 82,2 Milliarden Euro. Davon könnte man viele Corona-Prämien zahlen, Löhne erhöhen, Arbeitsbedingungen verbessern usw. ohne dass durch die medizinische Versorgung der Patienten in irgendeiner Weise schlechter werden würde.

Viel entscheidender ist aber meines Erachtens der zweite Punkt:

Überversorgung verstärkt den Pflexit

Überversorgung kann mit hohen Belastungen und Risiken für die betroffenen Patientinnen, ihre Familien und die Behandlungsteams verbunden sein; sie kann Leiden und Trauer verursachen oder verlängern sowie zu Gewissensnot, „moral distress“, Burn-out und Personalabwanderung beitragen

So lautet ein Absatz im DIVI-Papier. Insbesondere der letzte Punkt ist in meiner Wahrnehmung extrem wichtig und wird immer bedeutsamer. Dabei ist er ganz und gar nicht neu, hat sich aber mit der Corona-Pandemie noch einmal extrem zugespitzt und ist dann mit dem Thema Intensivkapazitäten zur Behandlung von COVID-19-Patienten endlich in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt:

Nur findet der Pflegepersonalmangel aber nicht nur auf den Intensivstationen statt sondern – und zwar ganz besonders – auf den Normalstationen in den Krankenhäusern mit hochaltrigen, multimorbiden und pflegebedürftigen Patienten, insbesondere, wenn ein hoher Belegungsdruck und dadurch Zeitmangel herrscht, also in der Inneren Medizin, der Unfallchirurgie und der Neurologie, auch – wenn ggfs. etwas weniger durch die längeren Liegezeiten – in der Geriatrie. Es gibt Untersuchungen darüber, dass Überversorgung deutlich mehr vom Pflegepersonal als von Ärzten wahrgenommen und als belastend empfunden wird (Hartog et al.), insbesondere auf Grund der oft intensiveren Interaktion mit den Patienten und ihren Angehörigen im Vergleich zu uns Ärzten.

Defizite in der interdisziplinären Zusammenarbeit, eine subjektiv zu hohe Arbeitsintensität sowie eine höhere Anzahl der Wochenendarbeitstage/Monat erhöhen das Risiko für die Wahrnehmung von Übertherapie. Emotionale Erschöpfung wird durch Stresserleben im Kontakt mit Angehörigen und zu hohe Arbeitsintensität verstärkt.

schreiben Hartog et al. Diese emotionale Erschöpfung führt zu Frustration und Überforderungserleben und befeuert neben der monetären Vergütung das Phänomen Plexit. Die mittlere Verweildauer im Beruf beträgt in der Krankenpflege (bei einer 3-jährigen Ausbildung) in Deutschland nur noch gerade mal 7,5 Jahre und in der Altenpflege 8,4 Jahre (Quelle: Link).

Dies zeigt, dass die Vermeidung von Überversorgung nicht nur gesundheitspolitisch mit Blick auf die entstehenden Kosten, sondern insbesondere was das Thema Pflegenotstand betrifft eigentlich extrem wichtig ist.

Wie und wo Überversorgung entsteht

Will man Überversorgung vermeiden muss man sie da verhindern, wo sie entsteht. Ich hatte ja weiter oben schon geschrieben, dass Überversorgung einmal auf der Ebene der medizinischen Indikationsstellung und einmal auf der Ebene der Interpretation und Umsetzung des Patientenwillens generiert werden kann. Und das schauen wir uns jetzt einmal genauer an, insbesondere den Teil mit der Indikationsstellung. Das mit dem Patientenwillen haben wir ja schon im ersten Blogbeitrag beleuchtet.

Medizinische Indikation und Überversorgung

Therapieeskalation

Ob eine medizinische Behandlung indiziert ist, ist zunächst eine ärztliche Entscheidung. Aber auch diese entsteht interindividuell unterschiedlich vor dem Hintergrund der jeweiligen Sozialisation, ethischen und religiösen Moralvorstellungen und auch der medizinischen „Schule“, durch die man gegangen ist. Daher kommt es durchaus vor, dass ich zum Beispiel eine Behandlung für medizinisch sinnvoll halten könnte, ein anderer Arzt, bzw. eine andere Ärztin aber nicht. Oder umgekehrt. Eine längere Berufserfahrung und eine dadurch kritischere Reflexionsfähigkeit führen dabei statistisch eher zu zurückhaltenderen Therapieentscheidungen, jüngere und unerfahrenere Behandlungsteams neigen dagegen eher zu Therapieeskalationen. Ob das wirklich so ist, da bin ich mir gar nicht so sicher.

rule of rescue, sunk cost effect und omission bias

Bei dem Thema Therapieeskalation spielt die sogenannte rule of rescue eine wichtige Rolle, das Retten um jeden Preis, die sich in der Praxis oft beobachten lässt. Die DIVI-Autoren schreiben:

Es fällt oft leichter, alle zur Verfügung stehenden Mittel unreflektiert anzuwenden, als differenziert und individuell nach Therapiezielen und Erfolgsaussicht zu fragen.

Dies ist umso wahrscheinlicher, je klarer Eskalationsstrategien festgelegt sind, was sie für viele schwere Erkrankungen nun mal sind und was auch eigentlich sehr sinnvoll ist.

Eine weiterer Faktor ist der sogenannte sunk cost effect, bei der eine einmal getroffene Behandlungsentscheidung im Verlauf nicht mehr hinterfragt wird, weil man ja schon „so viel gegeben“ hat und diese „Investition“ nicht umsonst gewesen sein soll. In der Folge wird dann die Therapie immer weiter eskaliert. Der gegenteilige Effekt ist der omission bias, die Wahrnehmung dass ein Versterben von Patienten nach Therapielimitierung oft subjektiv schlimmer wahrgenommen wird, als unter laufender Maximaltherapie, bei der man „ja alles gegeben“ hat.

Die vielen Facetten der Prognosebestimmung

Der dritte Punkt ist folgender:

Die Tabuisierung von Sterben und Tod auch innerhalb der Behandlungsteams und das Erleben von Tod als persönliches Versagen können diesen Effekt verstärken. Eine „schöngeredete“ Einschätzung der Prognose führt in diesen Fällen zu letztlich sinnlosen Therapiebemühungen.

In meiner Wahrnehmung ist die Tabuisierung des Themas Tod und Sterben im medizinischen Setting in den letzten Jahren deutlich rückläufig, aber nicht im gesamtgesellschaftlichen Kontext (wie man aktuell an den Diskussionen um COVID-19 nachvollziehen kann). Der Punkt „schöngeredete“ Prognose bleibt aber. Ich hatte das schon im ersten Teil gegen Ende des Beitrags beschrieben, dass Alter und männliches Geschlecht mit die besten Prädiktoren für ein schlechtes Outcome von frührehabilitativen Behandlungen sind, auch wenn die Abschätzung einer Prognose bei einer schweren Erkrankung immer schwierig ist und wird natürlich von vielen Variablen bestimmt wird.

Exkurs: Was ist denn eine gute Prognose?

Auch das hängt natürlich extrem von der jeweiligen Erkrankung und ihrer Schwere ab, aber auch von den persönlichen Wertvorstellungen des Patienten, ihrer Angehörigen, aber auch des medizinischen Personals ab: Patienten mit einem schweren Schlaganfall oder einer Hirnblutung, welche in der neurologischen Frührehabilitation behandelt werden müssen werden sich in nahezu allen Fällen nicht soweit erholen, dass „wieder alles wie früher“ werden wird. Leider wird das oft nicht kommuniziert, sondern so eine Vorstellung vermittelt, mit genug Therapieeinheiten könne man jedes funktionelle relevante Defizit beheben, was einfach nicht der Realität entspricht. Dabei müsste das Behandlungsziel eigentlich gar nicht zu hoch gesteckt werden:

Aus Studien zur Hemikraniotomie nach schwerem Schlaganfall wissen wir, dass Betroffene ihre Lebensqualität als „gar nicht so schlecht“ wahrnehmen, während medizinisches Personal sich eine Hemikraniotomie für sich selber nicht vorstellen kann (Schwarz 2012), weil eine komplette Abhängigkeit von Pflege uns als sehr schlechte Prognose vorkommt. Anders herum wissen wir, dass ein gewisser Grad an Selbstständigkeit Grundvorraussetzung für die soziale Teilhabe auch in einer Pflegeeinrichtung ist und dass in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation ein Alter > 80 Jahre oder vorbestehende kognitive Defizite wichtige Faktoren sind, die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit einhergehen, dass diese Teilhabefähigkeit eben nicht mehr erreicht werden kann (Seidel 2016).

Diese komplexe Grundgemengelage führt oft zu unkonkreten und euphemistischen Formulierungen der Prognose von schwer betroffenen Patienten gegenüber (vorsorgebevollmächtigten) Angehörigen mit dann oft schmerzhafter Krankheitsverarbeitung im weiteren Behandlungsverlauf, wenn deutlich wird, dass viel zu hoch gesteckten Erwartungen nicht erfüllt werden können.

Unsicherheit im Behandlungsteam

Der vermutlich entscheidendste Punkt außerhalb von ökonomischen Interessen, warum Überversorgung entsteht, ist das Thema Unsicherheit. Hieraus resultiert wohl auch die oben zitierte Feststellung, dass junge und unerfahrenere Behandlungsteams eher zur Überversorgung neigen. Die Unsicherheit entsteht ganz oft an der Frage, ob eine medizinische Behandlung überhaupt indiziert ist, wird aber nur ganz selten auch so benannt. Oft finden sich Euphemismen, wie „aus medikolegalen Erwägungen“ oder „bei unklarem Patientenwillen“ oder in Übergaben „erst mal alles machen“. Dabei spielt die Angst vor rechtlichen Folgen ärztlichen Handelns eine große Rolle, insbesondere wenn man eine ärztliche Entscheidung nicht mehr revidieren kann (z.B. weil der Patient zwischenzeitlich verstorben ist). Dieses Phänomen, welches durchaus dem Zeitgeist der Absicherungsmedizin geschuldet sein dürfte, findet sich übrigens auch in die andere Richtung: Auch „mutige“ Therapieentscheidungen, die zu eher risikobehafteten Handlungen führen, finden sich tendenziell zunehmend seltener.

Was man tun kann

Die Antwort, wie man diese Arten von Überversorgung auf Ebene des Behandlungsteams am Besten minimieren kann, ist in der Theorie relativ einfach:

Es braucht bei jedem Patienten ein realistisches, dem Patienten nutzendes, Therapieziel. Grundvorraussetzung hierfür ist die bestehende medizinische Indikation für die Behandlung und der vorliegende Patientenwille. Dieses Therapieziel muss regelmäßig, bei kritisch kranken Patienten ggfs. sogar mehrfach täglich, hinsichtlich seiner weiter vorhandenen Sinnhaftigkeit und Erreichbarkeit reevaluiert werden.

Es gibt in dem DIVI-Papier dafür sogar einen Merkspruch: Nämlich TRIKK

T: Formuliere das Therapieziel.

R: Reevaluiere das Therapieziel regelmäßig und kritisch.

I: Stelle sicher, dass für jede geplante und laufende Therapie eine Indikation besteht und diese geeignet ist, um das Therapieziel zu erreichen.

K: Stelle sicher, dass jede geplante diagnostische Prozedur eine Konsequenz hat, die den Patienten/die Patientin und das Behandlungsteam dem Therapieziel näher bringt.

K: Stelle sicher, dass weiterhin mutmaßlicher, vorausverfügter oder definitiver Konsens des Patienten/der Patientin für alle laufenden und geplanten diagnostischen und therapeutischen Prozeduren besteht.

In der Praxis ist das viel komplizierter als es zuerst anmutet. Das mit dem Therapieziel braucht nämlich Zeit und die ist oft knapp, insbesondere wenn das Personal knapp ist. Das hatten wir oben schon beim Thema Pflexit. Der zweite Punkt ist, dass Überversorgung am Besten minimiert wird, wenn das Therapieziel und seine Erreichbarkeit mindestens in einem Visitensetting, besser noch interdisziplinär im ganzen Behandlungsteam besprochen und reevaluiert wird. Das gilt natürlich auch für die Angehörigenkommunikation, Dokumentation usw. Schneller und “einfacher“ ist es, Diagnostik und Therapien nach den jeweiligen Standards immer weiter zu eskalieren.

Ein Weg dies zu durchbrechen kann sein, existierende Strukturen, wie Übergaben / Teambesprechungen (in vielen OPS-Codes, siehe unten, vorgeschrieben) hierzu zu nutzen.

Ökonomische Aspekte und Überversorgung

Das Gesundheitssystem – so wie es ist – begünstigt neben den erwähnten medizinischen Aspekten das Auftreten von Überversorgung. Ich kann hier nur für die stationäre Krankenversorgung schreiben, da ich von der Abrechnung der ambulanten Medizin viel zu wenig verstehe, aber da wird es ähnliche Mechanismen geben. Überversorgung wurde auch schon vor der Einführung der DRG 2003 durch das damalige Abrechnungssystem der Tagessätze getriggert, aber anders als jetzt. Damals gab es grob gesagt mehr Geld, je länger die Patienten da waren, also waren sie tendenziell zu lange da.

Crashkurs DRG

Diagnosis Related Groups (DRG) gibt es als Grundlage für Verteilung von Versicherungsleistungen schon ganz lange. In Deutschland wurde 2003 jedoch das damals bestehende System so geändert, dass seither jede stationäre Krankenhausbehandlung (mit Ausnahme der Psychiatrie) mit einer Fallpauschale vergütet wird, deren Höhe sich an der Diagnose und verschiedenen Schweregraden und Begleiterkrankungen bemisst. Grob gesagt kann man sich das wie einen Pauschalurlaub mit all inclusive vorstellen.

Jede Diagnose findet sich in einer Fallpauschale wieder, die in einer bestimmten Systematik durchnummeriert sind. Jeder Fallpauschale ist ein Kostengewicht (andere Begriffe sind Bewertungsrelation und Relativgewicht) zugeordnet, ein Zahlenwert, der den Schweregrad und den Behandlungsaufwand der Fallpauschale darstellen soll.

Bestimmte Prozeduren, also Operationen, aber auch Komplexbehandlungen (also interdisziplinäre Behandlungsmodelle, z.B. bei einem Schlaganfall, in der Frührehabilitation auf der Intensivstation usw. mit definierten ärztlichen, pflegerischen aber auch therapeutischen Leistungen) erhöhen die Bewertungsrelation (und damit den Abrechnungsbetrag).

Zwei Beispiele (Link):

  • Die Behandlung eines Patienten mit einem Schlaganfall ohne eine Komplexbehandlung auf einer Stroke Unit führt zur DRG B70F mit einem Kostengewicht von 0,795
  • Die Behandlung des selben Patienten auf einer Stroke Unit mit einer Dauer der Behandlung von mindestens 72 Stunden führt zur DRG B39C mit einem Kostengewicht von 2,122

Wenn man jetzt wissen will, wie viel Geld das Krankenhaus für den Fall bekommt, so muss man wissen, wieviel so ein Kostengewicht wert ist. 1,0 Kostengewichte sind gleichgesetzt mit dem Landesbasisfallwert. Der betrug z.B. 2021 in Hamburg 3.743,70 EUR (Link). Das bedeutet, dass

  • in Beispiel 1 das Krankenhaus eine Summe von 2.976,24 EUR (0,795 x 3.743,70 EUR) abrechnen kann, zuzüglich der Kosten für das Pflegepersonal (die wurden 2021 aus den DRG „rausgerechnet“ und werden gesondert abgerechnet),
  • in Beispiel 2 das Krankenhaus 7.944,13 EUR (2,122 x 3.743,70 EUR) abrechnen kann, zuzüglich der Kosten für das Pflegepersonal.

Nebendiagnosen, Prozeduren und Überversorgung

Das führt tendenziell dazu, dass Patienten möglichst hochbewertete Prozeduren (OPS-Codes) erhalten und auch bei der Kodierung des Falls versucht wird, möglichst viele die Fallpauschale erhöhende Begleiterkrankungen zu finden. Das wiederum intendiert, dass mittelfristig nach diesen Nebendiagnosen gesucht wird, was durchaus ein Mehraufwand an Diagnostik und ggfs. Therapie bedeutet, durchaus auch ohne Mehrwert für den Patienten (was dann wieder Überversorgung wäre).

Die Komplexbehandlungen (die ja zu den Prozeduren gehören) sind wiederum fast immer in verschiedene Zeiträume unterteilt, in welchen sie erbracht werden und in welchen sie verschieden viel Erlös generieren. Je länger sie erbracht werden, desto höher ist die Vergütung, was ja auch logisch ist. Das bedeutet aber, dass es „Stufen“ in der Erlösstruktur z.B. der Schlaganfallversorgung gibt, nach 24 Stunden auf der Stroke Unit gibt es mehr Geld, nach 72 Stunden noch deutlich mehr usw. Patienten werden dementsprechend eher 24,5 Stunden auf der Stroke Unit behandelt und möglichst nie 23,5 Stunden usw. Und dann „macht man die 24 Stunden noch voll“ (oder die 72 Stunden usw.), auch wenn die Behandlung auf der Stroke Unit vielleicht nicht mehr notwendig wäre, hier kein spezifisches Therapieziel mehr besteht.

Auch das ist Überversorgung.

Etwas offensichtlicher ist es, wenn eine Behandlung offenkundig unnötig ist und dennoch durchgeführt wird. Aber auch hier gibt es Graubereiche, wie diesen:

Versorgungsprobleme

Zum Abschluss noch ein aktuelles (wie immer leicht verfremdetes) Beispiel von Station: Es wird ein 92-jähriger Mann aufgenommen, bei dem Patienten besteht seit längerem eine Demenzerkrankung. Bislang wurde dies von der Ehefrau kompensiert, allerdings ist die Ehefrau vor einem Monat recht plötzlich verstorben. Seither kümmerte sich der ebenfalls hochaltrige Bruder des Patienten, dieser musste aber nun selber auf Grund eines kardiologischen Problems stationär aufgenommen werden. Übrig blieb der alte Herr, der nun nicht mehr versorgt war. Um einen Pflegedienst u.ä. hatte sich die Familie – in erster Linie die berufstätige Tochter und Nichte – bislang noch nicht bemüht. Nun kommt der alte Herr in die Notaufnahme, weil es „zu Hause einfach nicht mehr geht“.

Was machen wir? Nach Hause schicken und sagen: „Liebe Familie, euer Problem, kümmert euch!“? Das wäre die offiziell richtige Lösung, aber fast nie die realistische und auch fast nie die menschlich vertretbare. Also wird der Patient aufgenommen mit folgendem Konzept:

  • Plan A: Wir organisieren einen Pflegedienst, der den Patienten zu Hause betreut.
  • Plan B: Wir organisieren einen Kurzzeitpflegeplatz.

Akut-medizinisch ist eigentlich gar nichts zu tun. Die Demenz ist mindestens mittelgradig, klinisch eher Alzheimer-typisch, bildmorphologisch a.e. eine gemischte Demenz mit erheblicher vaskulärer Komponente. Das ganze ist demnach ein klassisches Versorgungsproblem.

Das dumme an Versorgungsproblemen ist, dass es sie offiziell nicht gibt. Denn für die rein pflegerische Versorgung eines Menschen benötigt es nicht „die besonderen Mittel eines Krankenhauses“. Ergo ist der Aufenthalt nicht indiziert, ergo gibt es kein Geld, ergo zahlen wir Kost und Logis. Tun wir? Nein, die Lösung lautet Überversorgung. Wir machen einfach eine Demenzabklärung. Die bringt dem Patienten zwar nichts, aber wir haben den Aufenthalt gerechtfertigt. Vielleicht nicht alle Tage, die der Patienten schlussendlich da ist, aber zumindest gibt es eine Gegenfinanzierung eines gewissen Teils des Aufenthalts.

Ist das verwerflich? Ich weiß nicht, eher schlecht vom Gesetzgeber her konzipiert. Von der Größenordnung her kann man sich das wie folgt vorstellen: Von den 30 neurologischen Betten bei uns auf Normalstation sind in der Regel immer 2-3 von Patienten mit derartigen Versorgungsproblemen und der dadurch intendierten Überversorgung belegt.

Ein Fazit

Überversorgung ist häufig, wir alle haben schon Überversorgung betrieben und werden es – aus verschiedenen Gründen – auch weiter tun. Überversorgung ist trotzdem ein relevantes Problem, monetär, aber insbesondere da sie zur Personalabwanderung im Gesundheitswesen beiträgt. Wenigstens deshalb sollte es uns ein Anliegen sein Überversorgung zu vermeiden.

Einfach ist es nicht, manchmal auch nicht vermeidbar. Aber ohne Problembewusstsein hierfür wird sich nicht tun.

Wo man weiterlesen kann

Michalsen, A., Neitzke, G., Dutzmann, J., Rogge, A., Seidlein, A.-H., Jöbges, S., Burchardi, H., Hartog, C., Nauck, F., Salomon, F., Duttge, G., Michels, G., Knochel, K., Meier, S., Gretenkort, P., & Janssens, U. (2021). Überversorgung in der Intensivmedizin: erkennen, benennen, vermeiden. Medizinische Klinik – Intensivmedizin Und Notfallmedizin, 116(4), 281–294. https://doi.org/10.1007/s00063-021-00794-4

Neitzke, G., Burchardi, H., Duttge, G., Hartog, C., Erchinger, R., Gretenkort, P., Michalsen, A., Mohr, M., Nauck, F., Salomon, F., Stopfkuchen, H., Weiler, N., & Janssens, U. (2016). Grenzen der Sinnhaftigkeit von Intensivmedizin. Medizinische Klinik – Intensivmedizin Und Notfallmedizin, 111(6), 486–492. https://doi.org/10.1007/s00063-016-0202-8

Literaturangaben (explizit keine Weiterlese-Tips)

Hartog, C. S., Hoffmann, F., Mikolajetz, A., Schröder, S., Michalsen, A., Dey, K., Riessen, R., Jaschinski, U., Weiss, M., Ragaller, M., Bercker, S., Briegel, J., Spies, C., & Schwarzkopf, D. (2018). Übertherapie und emotionale Erschöpfung in der „end-of-life care“. Der Anaesthesist, 67(11), 850–858. https://doi.org/10.1007/s00101-018-0485-7

Schwarz, S., & Kühner, C. (2012). Prognose und Lebensqualität nach Entlastungstrepanation. Der Nervenarzt, 83(6), 731–740. https://doi.org/10.1007/s00115-011-3402-8

Seidel, G., Eggers, L., Kücken, D., Zukunft, E., Töpper, R., Majewski, A., Klose, K., Terborg, C., Klass, I., Wohlmuth, P., & Debacher, U. (2016). Prognosefaktoren in der Frührehabilitation nach schwerem Schlaganfall. Aktuelle Neurologie, 43(09), 541–547. https://doi.org/10.1055/s-0042-118957

Medizinische Versorgung am Lebensende

Vorweg

Schon länger schwebt mir eine kleine Reihe über das Thema Medizin am Lebensende vor und ich hatte schon mal im Sommer angefangen, was zum Thema Überversorgung zu schreiben, dann aber wieder abgebrochen. Durch den Tweet von doc_ecmo

bin ich jetzt aber wieder angefixt. Ich hab mir überlegt, dass ich mit dem Thema end-of-life care anfange und dann was zu Überversorgung schreibe.

Patientenwillen und Multimorbidität

Mit zunehmender Lebenserwartung und damit auch zunehmender Multimorbidität unserer Patienten kommt dem Thema medizinische Entscheidungen am Lebensende immer mehr Bedeutung zu. Das betrifft einmal die unmittelbare Versorgung (ambulant und stationär) im Krankheitsfall, aber auch die Planung und Konzeption der jeweils medizinisch indizierten und gewünschten Behandlung. Das Phänomen der immer älter und kränker werdenden Patienten gibt es in der Medizin schon ganz lange. Fangen wir daher mit einem Klassiker der Ärzte-Literatur an:

Gomer und House of God

House of God (Link Wikipedia) ist 1978 erschienen und hat schon mehrere Ärztegenerationen (vor der meinigen) geprägt. Das liegt unter anderem an der expliziten, aber realistischen Schilderung des Krankenhausalltages in den USA in den späten 1970er Jahren, vor allem aber an den 10 Regeln des House of God und den Begriffen Gomer (für alle, die House of God nicht kennen, das heißt Get Out of My Emergency Room) und turfen (für strategische Verlegung undankbarer Patienten in eine andere Fachabteilung). In der deutschen Übersetzung von House of God werden Gomer wie folgt definiert:

Ein menschliches Wesen, das, oft durch Alter, verloren hat, was einen Menschen ausmacht.

Ja, das ist zynisch. Aber House of God ist vor 43 Jahren erschienen und Überalterung und Multimorbidität der Gesellschaft haben seither massiv zugenommen. 1978 betrug die mittlere Lebenserwartung für Männer 77,5 Jahre und für Frauen 81 Jahre, heute sind es knapp 83 Jahre bei Männern und 86 Jahre bei Frauen (Quelle: Link), das macht ein Plus von 5,5 Jahren bei Männern und 5 Jahren bei Frauen. Die Prävalenz der Alzheimer-Demenz beträgt bei > 80 Jährigen in Europa 12,1% und bei > 85-jährigen 21,8% (Quelle: Link). In selektionierten Bevölkerungsanteilen (wie den stationär behandlungsbedürftigen Patienten) sind sicherlich deutlich höhere Prävalenzen anzunehmen. Und so wundert es dann auch nicht, dass es für Gomer mittlerweile im Krankenhaus-Slang weitere, durchaus bösartigere bis offenkundig menschenverachtende Begriffe gibt, vom harmlosen internistischen Polytrauma, oder kein Hoffnungsträger über Dementor (für die Harry Potter-Generation), Ei und Vollei bis hin zu Trümmer- oderSchrotthaufen. Und es wird vermutlich keinen von uns geben, der nicht schon mal an der einen oder anderen Stelle derartige zynische und sarkastische Bezeichnungen verwendet hat, insbesondere in Phasen von Überforderungserleben und Frustration.

Sterbeort Krankenhaus

Jährlich sterben in Deutschland (die Daten sind aus der Prä-COVID-19-Ära) ungefähr 820.000-920.000 Menschen, das heißt 2.400-2.500 jeden Tag. Gute 45% der Gesamtbevölkerung versterben dabei in Krankenhäusern, von denen wiederum ein Viertel auf der Intensivstation, in absoluten Zahlen macht das ungefähr 400.000 Todesfälle in Krankenhäusern jedes Jahr, davon ca. 100.000 auf Intensivstationen (Fleischmann-Struzek et al.). Wir wissen, dass knapp 3/4 aller Pflegeheimbewohner in ihrem letzten Lebensjahr mindestens einmal in stationärer Behandlung sind, mit einem deutlichen Peak in den letzten Wochen vor Versterben (dort allein 52% im letzten Lebensmonat), 31% aller Hamburger Pflegeheimbewohner versterben im Krankenhaus (Hoffmann und Allers). Diese Rate ist im internationalen Vergleich sehr hoch, auffällig ist zudem, dass es in Deutschland keinen signifikanten Unterschied zwischen Pflegeheimbewohnern mit und ohne Demenzerkrankung gibt. Auch das ist in anderen Ländern anders.

Das Problem mit dem Patientenwillen

Aus Befragungen von „Überlebenden“ nach Intensivstationsbehandlung bei lebensbedrohlichen Erkrankungen weiß man, dass knapp 25% der Betroffenen hinterher sagen, die Behandlung sei nicht in oder sogar gegen ihren Willen erfolgt. Bei den Patienten, den wir in den Fachbereichen Innere Medizin, Neurologie, Unfallchirurgie und Geriatrie sehen ist es häufig so, dass auf Grund von vorbestehenden schweren Demenzerkrankungen (und in der Neurologie besonders auch durch Sprachstörungen nach Schlaganfall) die Patienten nicht mehr hinsichtlich ihrer Behandlungswünsche befragt werden können. Der Anteil dieser Patienten schwankt sehr, so dass über die genaue Rate keine Aussage zu treffen ist. Anekdotische Evidenz ist aber, dass insbesondere nach den großen Feiertagen Weihnachten / Ostern bis zu der Hälfte der Patienten auf einer neurologischen Normalstation nicht anamnestizierbar ist und an keinem Visitengespräch teilnehmen kann.

Ein weiteres Problem ist, dass die Patientenverfügungen, wie man sie als Standard-Vordruck zum Ankreuzen herunterladen kann (z.B. hier) oft Formulierungen stehen wie

Die folgende Verfügung soll gelten für den Fall, dass ich meinen Willen nicht mehr bilden oder verständlich äußern kann und ich infolge einer Gehirnschädigung meine Fähigkeit, Einsichten zu gewinnen, Entscheidungen zu treffen und mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, nach Einschätzung zweier erfahrener Ärztinnen oder Ärzte aller Wahrscheinlichkeit nach unwiederbringlich erloschen ist, selbst wenn der Todeszeitpunkt noch nicht absehbar ist. Dies gilt für direkte Gehirnschädigung, z.B. durch Unfall, Schlaganfall oder Entzündungen, ebenso wie für indirekte Gehirnschädigung, z.B. nach Wiederbelebung, Schock oder Lungenversagen. Es ist mir bewusst, dass in solchen Situationen die Fähigkeit zu Empfindungen erhalten sein kann und dass ein Aufwachen aus diesem Zustand nicht ganz sicher auszuschließen, aber unwahrscheinlich ist.

Das trifft natürlich wortwörtlich nur in ganz wenigen Fällen zu, viel öfter handelt es sich – in der Neurologie – um schwere (linkshirnige) Schlaganfälle oder Hirnblutungen, bei denen z.B. von einer anhaltenden hochgradigen Halbseitenlähmung, einer Sprech- und einer anhaltenden Schluckstörung auszugehen ist, manchmal auch von einer fehlenden Mobilisierungsfähigkeit, so dass das Szenario eher wie folgt skizziert werden muss:

  • Vollständige Pflegebedürftigkeit, voraussichtlich in einem Pflegeheim, Ernährung über eine PEG-Sonde, Mobilisation in einen Pflegerollstuhl möglich.
  • Und in Fall zwei: Bettlägerigkeit, vollständige Pflegebedürftigkeit, voraussichtlich in einem Pflegeheim, Ernährung über eine PEG-Sonde

Es stellt sich dann die Frage, ob ein Überleben dieser Situation im Sinne des Patienten ist, oder eben nicht. Und das geht aus vielen Patientenverfügungen nicht dezidiert hervor. Der Textbaustein-Vordruck vom Bundesjustizministerium ist da etwas diffiziler und schließt auch Demenzerkrankungen ein (Link). Behelfen kann man sich oft, wenn man die Patientenverfügung als Orientierung nimmt und wenn die Patientenverfügung in Kombination mit einer Vorsorgevollmacht ausgefüllt wurde (was häufig der Fall ist) und man die vorsorgebevollmächtigten Angehörigen hinsichtlich des Patientenwillens befragen kann.

advanced care planning

Aus der Behandlung chronischer, zum Tod, bzw. zu schwerer Pflegebedürftigkeit bzw. Abhängigkeit von externer Hilfe und damit zum Verlust von medizinischer Entscheidungsfähigkeit führender Erkrankungen wie Tumorleiden oder COPD ist das Konzept des advanced care planning bekannt (Dingfield und Kayser). Dabei geht es darum, frühzeitig im Krankheitsprozess Informationen über Diagnose und Prognose zu kommunizieren, mit den Betroffenen Werte, Ziele und Ängste zu besprechen und auch die Meinung über lebenserhaltende oder -verlängernde Behandlungen und die Pflege am Ende des Lebens zu erfragen. Zudem gehört zum advanced care planning auch die Benennung von Vorsorgebevollmächtigten. In der Neurologie ist mir das seit Anbeginn meiner Tätigkeit von der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS, Link Wikipedia) bekannt, wo das – meiner Erfahrung nach – überall sehr vorbildlich und gründlich besprochen uns geplant wird. Besser sind wir Krankenhausärzte in den letzten Jahren beim Thema Demenzerkrankungen geworden, wobei den Löwenanteil immer noch Institutionen wie die Alzheimer-Gesellschaft übernehmen. Aber natürlich kann man solche Vorkehrungen und Gedanken über „den worst case“, bzw. das Lebensende „einfach so“ (Lum et al.), bzw. aktuell auf Grund der COVID-19-Pandemie treffen und dokumentieren. Darauf zielt auch die Autorengruppe um Priesemann et al. in ihrem aktuellen Strategiepapier in dem kurzen Abschnitt zum Thema advanced care planning ab (Link). Zu Beginn der COVID-Pandemie gab es immer wieder Berichte über eine „stille Triage“, z.B. hier. Mich hat das sehr geärgert, da oft nicht klar war, ob nicht eigentlich was sehr gutes passiert ist, nämlich, dass sich Menschen im Vorhinein Gedanken zu möglichen Verläufen von COVID-19 gemacht haben und sich (oder ihre Vorsorgebevollmächtigten) bewusst gegen Hospitalisierungen entschieden haben, was häufig nicht differenziert dargestellt wurde.

Spannungsfeld medizinische Indikation, Patientenwillen und Wünsche von Angehörigen

Jetzt kommen wir auf den Eingangs zitierten Tweet von doc_ecmo zurück. Eigentlich ist es ganz einfach: Eine medizinische Behandlung ist indiziert,

  • wenn sie medizinisch sinnhaft ist, da sie hilft das jeweilige Therapieziel zu erreichen
  • und sie dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen entspricht.

Das A und O ist dabei das Therapieziel. Das braucht es als Grundvorraussetzung. Fehlt einer der Punkte ist die Behandlung nicht indiziert.

Wie so oft, wenn es eigentlich ganz einfach scheint, ist es im wahren Leben dann unendlich komplizierter. Nähren wir uns dem mal an:

„Die Angehörigen wollen aber das alles gemacht wird“

Ein ganz reales Beispiel: Es wird eine 84-jährige Patientin mit einer schweren Hirnblutung links aufgenommen. Die Patientin war bislang selbstversorgend, lag nun hilflos in ihrer Wohnung und wurde durch Feuerwehr und Rettungsdienst geborgen. Klinisch ist die Patientin flach komatös, auf Schmerzreize wehrt sie mit der linken Körperhälfte ungezielt ab. In der CT-Untersuchung sieht man einen Einbruch der Hirnblutung in das Ventrikelsystem und einen beginnenden Liquoraufstau.

CT mit großer ICB linkshemisphäriell mit Einbruch in das Ventrikelsystem

Rasch nach Aufnahme kommt es zu einer weiteren klinischen Verschlechterung, die Patientin beginnt sich zu erbrechen, ist psychomotorisch unruhig, wirkt gequält. Eine erneute CT zeigt eine große Zunahme der Blutung. Es ist klar, die Patientin wird an der Blutung versterben. Die Stationsärztin spricht mit den Angehörigen und kommt aus dem Gespräch mit der Aussage zurück „die Angehörigen wollen aber das alles gemacht wird“. Der Fall hat sich so ähnlich wirklich zugetragen (hab ihn etwas verfremdet) und ich war bei dem Gespräch nicht dabei, aber hier ist offenbar einiges schief gelaufen.

Fangen wir mal vorne an: Wir brauchen immer ein Therapieziel, müssen also die Frage beantworten, was wir mit unseren Maßnahmen bewirken können und wollen. In diesem Fall können wir die Hirndrucksymptomatik und anzunehmenden Kopfschmerzen lindern, die Prognose der Blutung ist infaust, es gibt außer Palliation kein übergeordnetes Therapieziel mehr. Dementsprechend ist auch eine Intubation und Hirndrucktherapie nicht mehr indiziert.

Damit sind die anderen Punkte hinfällig, sowohl die Frage nach dem in diesem Fall nicht mehr zu ermittelnde Willen der Patientin, als auch der Wunsch der Angehörigen nach einer Maximaltherapie. Damit kommen wir zum nächsten Punkt.

Patienten- oder Angehörigenwille?

Besteht eine medizinische Indikation muss die Behandlung zudem dem Patientenwillen entsprechen. Das ist immer dann einfach, wenn Patienten auskunfts- und einwilligungsfähig sind, oder wenn im Rahmen eines advanced care planning Therapieverfahren vorbesprochen sind. Es ist immer dann schwierig, wenn Patienten nicht (mehr) auskunftsfähig sind. Die Aufgabe der Vorsorgebevollmächtigten – und auch von gesetzlichen Betreuern – ist dann, im Sinne des Patienten zu entscheiden. Und das ist ein Thema bei dem es oft viel Fingerspitzengefühl bedarf, vor allem wenn es um Familienangehörige geht, die die Vorsorgevollmacht haben. Hier mischt sich nämlich sehr schnell ein dokumentierter tatsächlicher oder mutmaßlicher Patientenwille mit Trauer und Krankheitsverarbeitung von Angehörigen. Die Aufgabe im Sinne seines Angehörigen und nicht den eigenen Gefühlen nach zu entscheiden – vor allem, wenn sie plötzlich und unerwartet kommt – ist für viele Menschen sehr herausfordernd. Helfen können hier ruhige, auch wiederholte Gespräche, die Herausnahme von Druck („wir müssen das heute nicht entscheiden, aber es wäre gut, wenn Sie im Familienrat sich noch einmal dazu besprechen“) und auch Ethik-Konsile, wie es sie in vielen Krankenhäusern gibt.

Therapielimitierungen

Nehmen wir den Fall von vorhin noch einmal und ändern die Geschichte etwas: Die Patientin ist wach, aber neurologisch weiterhin schwerst betroffen. Es kommt zu keiner Nachblutung, die Blutung bleibt stabil. Es existiert die Standard-Vordruck-Patientenverfügung, die den konkreten Fall nicht hinreichend genau beschreibt. Die vorsorgebevollmächtigten Angehörigen tun sich mit einer Entscheidung, welche Therapien erfolgen sollen, extrem schwer. Sicher ist, dass eine Behandlung auf der Intensivstation, eine Reanimation oder eine Dialyse angesichts der Schwere der Grunderkrankung nicht im Patientensinne seien. Zudem geht aus der Patientenverfügung hervor, dass die Patientin eine dauerhaft künstliche Ernährung in einem Zustand völliger Pflegeabhängigkeit nicht gewünscht hätte. Es wird daher besprochen, dass die Patientin auf der Stroke Unit verbleibt, die Therapielimitierungen (keine Intensivstation, keine Reanimation, keine Dialyse, keine PEG-Sonde) werden besprochen. Es findet die übliche frührehabilitative multimodale Behandlung auf der Stroke Unit statt. Im Verlauf gelingt eine Mobilisation der Patientin in den Pflegerollstuhl, sie kann eine angepasste Dysphagie-Kost zu sich nehmen, nach 10 Tagen erfolgt die Verlegung in eine geriatrische Klinik. Dennoch wird die Patientin auch nach der geriatrischen Behandlung schwer betroffen in eine Pflegeeinrichtung entlassen.

Derartige Therapielimitierungen stellen einen guten Mittelweg – zwischen Maximaltherapie und reiner Palliation – in nicht hochakuten Phasen kritischer Krankheiten dar, gerade wenn der weitere Genesungs- oder Krankheitsweg hochbetagter Patienten noch nicht absehbar sind.

Reevaluation von Therapieentscheidungen

Eine einmal getroffene Therapielimitierung, aber auch die Entscheidung zu einer Maximaltherapie kann man jederzeit revidieren. Dies ist in Gesprächen mit Angehörigen von Patienten ebenfalls wichtig zu vermitteln. Nehmen wir noch mal die Patientin aus dem Fallbeispiel. Im Pflegeheim kommt es nach kurzer Zeit zu einer Verweigerung der Nahrungsaufnahme durch die Patientin, auch lehnt sie die dort angebotenen physiktherapeutischen und logopädischen Therapieeinheiten zunehmend ab, lässt sich kaum noch in den Pflegerollstuhl mobilisieren. In Reevaluation der Gesamtsituation wird entschieden, etwaige Komplikationen im weiteren Krankheitsverlauf nicht mehr zu behandeln. Die Patientin entwickelt eine Lungenentzündung und verstirbt.

Das geht genausogut in die andere Richtung, auch wenn es erfahrungsgemäß bei hochaltrigen Patienten selten vorkommt, dass sich im Verlauf zu einer Ausweitung der therapeutischen Bemühungen entschieden wird.

Gesetzlich betreute Patienten und das BGH-Urteil von 2019

Kommen wir zum worst case Szenario für alle Beteiligten. Gibt es keine Vorsorgevollmacht und ist ein Patient nicht einwilligungsfähig, muss ein gesetzlicher Betreuer bestellt werden. Da Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten sehr oft zusammen ausgestellt werden, gibt es in solchen Fällen meist keinen dokumentierten Patientenwillen.

Das bedeutet aber auch, dass nichts darüber bekannt ist, welche medizinischen Maßnahmen der Patient gewünscht hätte und welche nicht. Formal-juristisch gilt dann – spätestens seit dem schon erwähnten BGH-Urteil – meistens, dass eine Maximaltherapie durchgeführt wird, selbst in relativ aussichtslosen Fällen, nicht aber in absolut aussichtslosen Fällen, doch dazu gleich noch mal.

Kurz zum BGH-Urteil (Link). Dabei ging es um eine Konstellation, in der ein schwerst dementer Mann per PEG-Sonde ernährt wurde, da über seinen Willen nichts bekannt war. Jahre später klagte dann sein Sohn gegen den Hausarzt des Patienten, der die Sondenkost verordnet hatte auf Schmerzensgeld, da seit mehreren Jahren keine Indikation zur PEG-Behandlung bestanden hatte. Die Juristerei dahinter ist komplex, höchstrichterliche Rechtsprechung ist aber nun folgende Formulierung:

Das menschliche Leben ist ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Das Urteil über seinen Wert steht keinem Dritten zu. Deshalb verbietet es sich, das Leben – auch ein leidensbehaftetes Weiterleben – als Schaden anzusehen (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Auch wenn ein Patient selbst sein Leben als lebensunwert erachten mag mit der Folge, dass eine lebenserhaltende Maßnahme gegen seinen Willen zu unterbleiben hat, verbietet die Verfassungsordnung aller staatlichen Gewalt einschließlich der Rechtsprechung ein solches Urteil über das Leben des betroffenen Patienten mit der Schlussfolgerung, dieses Leben sei ein Schaden.

Über das Urteil ist viel und kontrovers diskutiert worden. Im klinischen Alltag kommt es vielen entscheidungsvermeidend und mutlos vor und als mehr Leiden als Linderung verschaffend. Ich denke, man muss es auch im Kontext der Historie Deutschlands und die Anmaßung über lebenswertes und unwertes Leben im dritten Reich sehen. Schwierig kommt es mir dennoch oft vor. Aber es beschreibt einen sehr speziellen Fall, bei dem es rückwirkend um Schadensersatzansprüche geht. Parallel existiert ein Urteil des BGH von 2010, wo es um die unmittelbare Fortführung von Therapieverfahren in aussichtslosen Situationen geht. Erbguth und Erbguth fassen es wie folgt zusammen:

Die Beendigung von lebenserhaltenden Therapien wie Beatmung, Ernährung, Dialyse und Kreislaufstützung ist erlaubt, wenn keine Indikation und/oder Einwilligung (mehr) besteht. Ihre Fortführung ohne Indikation oder Einwilligung entspräche sogar dem Tatbestand der Körperverletzung.

Es ist demnach durchaus möglich, auch bei gesetzlich betreuten Patienten Therapiemaßnahmen einzuschränken, wenn keine medizinische Sinnhaftigkeit besteht. Und es ist nicht so, dass das nicht auch passiert. Es ist nur deutlich aufwändiger, bedarf viel Kommunikation mit dem Betreuungsgericht und dem gesetzlichen Betreuer und häufig auch externen ärztlichen Gutachten und damit ist es dann auch langwieriger.

Spezielle Fragestellungen

PEG bei Demenzerkrankungen

Soll Patienten mit einer Demenz und einer Schluckstörung eine PEG-Sonde gelegt werden? Oder ist es der Weg einer Demenzerkrankung, dass die Betroffenen irgendwann das Bedürfnis zu Essen und zu Trinken verlieren? Über diese Frage gibt es im klinischen Alltag immer mal wieder Streit, aber eigentlich ist es ziemlich sinnvoll interdisziplinär vereinbart worden. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft hat hierzu ein überschaubares Merkblatt erstellt (Link), zudem lohnt sich diese ethische Fallbesprechung im Ärzteblatt zu lesen: Link.

Zusammenfassend kann man sagen, besteht eine leicht- oder mittelschwere Demenz und die Schluckstörung resultiert aus einer anderen Ursache, z.B. einem Schlaganfall, wird bei sonst guter Lebensqualität eine PEG-Sonde in der Regel als indiziert angesehen.

Besteht eine fortgeschrittene Demenzerkrankung und die PEG-Sonde ergibt sich ausschließlich aus dieser Indikation (wie bei dem Patienten aus dem BGH-Urteil von 2019), wird von einer PEG-Anlage abgeraten.

Prognose hochaltriger Menschen in der neurologischen Frührehabilitation

Nehmen wir noch einmal die Patientin aus dem Fallbeispiel mit der schweren Hirnblutung. Wenn sie derart schwer betroffen ist, stellt sich bei der Planung der Weiterversorgung die Frage, ob nicht eine Frührehabilitationsbehandlung durchgeführt werden soll. Oft wird das von den Angehörigen gewünscht und von den Kollegen auf der Stroke Unit unterstützt. Was dabei schnell in Vergessenheit gerät ist, dass Alter (OR pro Dekade 1,5) neben männlichem Geschlecht einer der wichtigsten Prädiktoren für ein schlechteres Outcome in der Frührehabilitation sind (Pohl und Bertram, Seidel et al.).

Kurz gesagt, die Chancen der Patientin mit einer Frührehabilitation ein signifikant anderes Funktionsniveau als ohne Frühreha zu erreichen sind relativ schlecht, das Outcome (Versorgung in einer Pflegeeinrichtung, überwiegend vollkompensatorische pflegerische Versorgung) kann auch schon in der akuten Erkrankungsphase sicher vorausgesagt werden. Dies begründet dann die Altersgrenzen, die es in manchen Frührehabilitationseinrichungen gibt (z.B. keine Patienten > 80 Jahre), genau wie es derartige Grenzen auch bei vielen neurochirurgischen Eingriffen aus eben der selben Überlegung und Datenlage gibt.

Wo man weiterlesen kann

Lum, H. D., Sudore, R. L., & Bekelman, D. B. (2015). Advance Care Planning in the Elderly. Medical Clinics of North America, 99(2), 391–403. https://doi.org/10.1016/j.mcna.2014.11.010

Erbguth, F., & Erbguth, L. (2016). Therapieentscheidungen am Ende des Lebens. DMW – Deutsche Medizinische Wochenschrift, 141(20), 1484–1496. https://doi.org/10.1055/s-0042-114087

Pohl, M., & Bertram, M. (2016). Wirksamkeit der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation. Der Nervenarzt, 87(10), 1043–1050. https://doi.org/10.1007/s00115-016-0183-0

Dingfield, L. E., & Kayser, J. B. (2017). Integrating Advance Care Planning Into Practice. Chest, 151(6), 1387–1393. https://doi.org/10.1016/j.chest.2017.02.024

Fleischmann-Struzek, C., Mikolajetz, A., Reinhart, K., Curtis, J. R., Haase, U., Thomas-Rüddel, D., Dennler, U., & Hartog, C. S. (2019). Hospitalization and Intensive Therapy at the End of Life. Deutsches Aerzteblatt Online, 116(39), 653–660. https://doi.org/10.3238/arztebl.2019.0653

Seidel, G., Röttinger, A., Lorenzen, J., Kücken, D., Majewski, A., Klose, K., Terborg, C., Klass, I., Wohlmuth, P., Zukunft, E., & Debacher, U. (2019). Lebensqualität und Behinderung nach schwerem Schlaganfall und neurologischer Frührehabilitation. Der Nervenarzt, 90(10), 1031–1036. https://doi.org/10.1007/s00115-019-0740-4

Hoffmann, F., & Allers, K. (2021). Krankenhausaufenthalte von Pflegeheimbewohnern in der letzten Lebensphase: eine Analyse von Krankenkassenroutinedaten. Zeitschrift Für Gerontologie Und Geriatrie, 54(3), 247–254. https://doi.org/10.1007/s00391-020-01716-3

Drei alte Nazis, Kalk-und Eisenbirnen

Ich habe letztens die erste Folge von Das Hausboot geschaut und irgendwie kam mir da schon der Gedanke, dass ich mal was zu Eisen- und Kalkablagerungen im Gehirn schreiben könnte. Weiß nicht, ob das jetzt mehr wegen Gunter Gabriel oder dem Hausboot an und für sich war. Und dann hatten wir prompt einen Patienten mit einem Morbus Fahr auf Station und deswegen geht jetzt um diese beiden Phänomene.

Aber auch nur so halb, denn was eigentlich viel interessanter ist, ist die Frage, welche Rolle Eisen bei neurodegenerativen Erkrankungen wie dem idiopathischen Parkinson-Syndrom oder der Alzheimer-Demenz spielt. Darum soll es auf jeden Fall auch gehen. Und damit fangen wir auch an. Die Literatur dazu ist allesamt so gute 5 Jahre alt, teilweise noch älter und ein wenig drängt sich der Eindruck auf, das ganze ist etwas aus dem Fokus geraten bei allen Versuchen Antikörper gegen Tau- oder ß-Amyloid- oder alpha-Synuclein-Ablagerungen zu finden.

Eisen und Neurodegeneration

Eisen-Physiologie im Gehirn im Laufe des Lebens

Der zerebrale Eisenstoffwechsel ist eine erstaunlich komplexe Kiste. Das Problem an Eisen ist, dass es für das Gehirn ziemlich unentbehrlich ist, da es sowohl in zwei- als auch dreiwertiger Form Elektronen abgeben kann und das in verschiedenen Stoffwechselvorgängen (z.B. der Atmungskette) gebraucht wird. Dieser Vorteil ist aber gleichzeitig auch das Hauptproblem, da Eisen über diese Elektronenabgabe freie Radikale bilden kann. Im Blut gelöstes Eisen kann selber nicht die Blut-Hirn-Schranke überwinden und benötigt daher ein spezielles Transportprotein namens transferrin receptor 1 (TfR1), welches von Neuronen gebildet wird. Es gibt Regulator-Proteine mit dem einfallsreichen Namen iron regulatory protein 1 und iron regulatory protein 2, sowie weitere Steuerungsproteine wie hypoxia inducible factor. Diese Steuerproteine sind wichtig, um den Eisenstoffwechsel in exakter Balance zu halten und eben nicht zu viel Radikalbildung zuzulassen.

Mit zunehmendem Lebensalter lässt sich (teilweise auch nur mikroskopisch) bei fast allen Individuen eine progrediente Eisenablagerung in den Stammganglien und der Substantia nigra beobachten. Der Grund hierfür ist unklar, ein Zusammenhang mit der im Alter ja zunehmend durchlässigen Blut-Hirn-Schranke wird aber diskutiert. Das ist in sofern ein Problem, da bei den jetzt folgenden Punkten eine große Schwierigkeit besteht, die Rolle der Eisenablagerungen richtig einzuschätzen, in wiefern sie einen normalen Alterungsprozess oder eine Pathologie darstellen.

Eisen bei neurodegenerativen Erkrankungen

Beim idiopathischen Parkinson-Syndrom scheint dreiwertiges Eisen die Akkumulation von alpha-Synuclein in den Lewy-Körperchen zu beschleunigen. Die alpha-Synuclein-Aggregate sind selber neuropathogen, da sie AMPA-Rezeptoren im großen Stil aktivieren und diese über den damit verbundenen Kalium-Einstrom auch neurotoxisch wirken, aber auch selbst als Aggregat neurotoxisch sind. Injiziert man Ratten Eisen in die Substantia nigra, entwickeln sie einen Ratten-Parkinson. In kleinen Fallserien wurden Eisenchelatbildner in der Therapie des idiopathischen Parkinson-Syndroms ausprobiert und haben neben einer Eisenabnahme auch zu einer Vermessung im UPDRS Teil III geführt.

Auch bei der Alzheimer-Demenz findet sich ein vermehrter Eisengehalt in den pathogenen Protein-Ablagerungen, v.a. in den ß-Amyloid-Plaques. Durch den Mangel an Tau-Protein scheint es einen Einfluss auf eine verminderte Aktivität auf die Eisen-Regulations-Proteine zu geben, mit der Folge, dass immer mehr Eisen akkumuliert. Bei Patienten mit einer leichten kognitiven Störung konnte gezeigt werden, dass ein erhöhter Liquor-Ferritin-Spiegel mit einer gute 9-Monate schnelleren Konversion zu einer Alzheimer-Demenz einherging und diese Patienten auch eine ausgeprägtere Hippocampus-Atrophie zeigten.

Ziemlich sicher ist eine aus der Grundlagenforschung abgeleitete Korrelation zwischen zunehmenden Eisenablagerungen und nachlassenden kognitiver Leistungsfähigkeit, sowie zwischen Eisenablagerungen und einer zunehmenden Feinmotorikstörung der Hände belegt.

Morbus Fahr und Neurodegeneration mit Eisenakkumulation im Gehirn

Neben diesen allgemeinen Beobachtungen bei neurodegenerativen Erkrankungen existieren zwei weitere Krankheitsbilder, um die es hier gehen soll. Der Morbus Fahr, bei dem es zu Kalziumablagerungen im Gehirn kommt und die Neurodegeneration mit Eisenakkumulation im Gehirn (nun ja, hier ist der Name Programm). Beides sind – in der symptomatischen Form – seltene bis sehr seltene Krankheitsbilder.

Morbus Fahr: Der erste Nazi und Kalziumablagerungen im (alternden) Gehirn

Häufiger als zu Eisen-, kommt es zu Kalziumablagerungen v.a. im Bereich der Stammganglien und des Kleinhirns. Es sind aber auch andere Manifestationsorte beschrieben, z.B. der Thalamus, das Marklager oder auch der Kortex. Diese Ablagerungen sind – in wenig bis mäßig ausgeprägtem Ausmaß – gar nicht selten (2-10% der Fälle in bildgebenden Reihenuntersuchungen) und häufig asymptomatisch. Symptomatische Formen sollen mit einer Häufigkeit von etwas über 1:1.000.000 auftreten. Theodor Fahr hat diese Krankheit 1930 erstmal beschrieben. Theodor Fahr ist von den drei deutschen Pathologen, um die es heute gehen soll und die alle in die Kategorie alte Nazis fallen, vermutlich noch der unproblematischste. Das ist wohl auch der Grund warum – anders als bei der Neurodegeneration mit Eisenakkumulation im Gehirn – noch der Eigenname für die Krankheit verwendet wird. Synonyme, die man aber auch ab und zu findet sind: Idiopathische Stammgabglienkalzifikation, striopallidodentale Kalzifikation.

Pathophysiologie

Aufgrund eines fehlerhaften Eisentransports und der Produktion freier Radikale (siehe oben, kennen wir ja schon) kommt es zu Gewebeschäden, die dann in einem zweiten Schritt zu den Kalzifikationen führen. Die Verkalkungen entwickeln sich zunächst innerhalb der Gefäßwand und in den perivaskulären Räumen und erstrecken sich später bis zu den Neuronen. Eine fortschreitende Mineralisierung der Basalganglien neigt dazu, das Gefäßlumen zu komprimieren, wodurch ein Teufelskreis aus gestörter Durchblutung, Verletzung des Nervengewebes und Mineralablagerung ausgelöst wird.

Den Morbus Fahr gibt es in verschiedenen Varianten:

  • als autosomal-dominante Erkrankung
  • als autosomal-rezessive Erkrankung

Dann gibt es noch ein sekundäres Fahr-Syndrom bei folgenden – in erster Linie endokrinologischen – Erkrankungen:

Bei der tuberösen Sklerose finden sich gehäuft Stammganglienverkalkungen, auch bei der Brucellose als Infektionskrankheit.

Klinik des Morbus Fahr

Die Klinik des Morbus Fahr richtet sich in erster Linie nach der Lokalisation der Verkalkungen und ihrem Ausmaß. So sind hypokinetisch-rigide, choreatiforme oder dystone Symptome durch die nahezu immer vorhandene Beteiligung der Stammganglien als häufigste klinische Manifestation beschrieben, aber auch Myoklonien oder spastische Paresen bei Einbeziehung der Pyramidenbahn.

Gehäuft kommt es zu einer symptomatischen Epilepsie und zu kognitiven Störungen. Nach einer Übersichtsarbeit (siehe unten) sind die Häufigkeiten von Bewegungsstörung bei einem Morbus Fahr in etwa wie folgt beschrieben: Bei 57% Parkinson-Syndrom, bei 19% Chorea, bei 8% Tremor, bei 8% Dystonie, bei 8% Atheose 5% und bei 3% der Patienten liegt eine orofaziale Dyskinesie vor.

Diagnosekriterien

Zur Abgrenzung von symptomatischen Formen hat man erstmals in den 1970er Jahren (mit Revisionen 1989 und 2005) Diagnosekriterien geschaffen, die wie folgt lauten:

  • Bilaterale Verkalkung der Basalganglien in der Bildgebung. Andere Gehirnregionen können ebenfalls betroffen sein.
  • Progressive neurologische Dysfunktionen, die im Allgemeinen eine Bewegungsstörung und / oder neuropsychiatrische Manifestationen umfassen. Das Erkrankungsalter liegt normalerweise im vierten oder fünften Jahrzehnt, obwohl die Symptome auch in der Kindheit auftreten können
  • Fehlen biochemischer Anomalien und somatischer Merkmale, die auf eine mitochondriale oder metabolische Erkrankung oder eine andere systemische Störung hinweisen.
  • Fehlen einer infektiösen, toxischen oder traumatischen Ursache.
  • Familienanamnese im Einklang mit einer autosomal-dominanten Vererbung.
Diagnostik

Einfach ist der Morbus Fahr in der CT zu diagnostizieren, aber auch in der MRT kann man die Stammganglienkalzifizierungen mit einer Signalabsenkung in der T2 und hypo- aber auch hyperintensen T1-Veränderungen recht einfach feststellen.

Laborchemisch macht es Sinn eine Störung des Kalziumstoffwechsels zu überprüfen (Serum-Kalzium, Phosphat, Magnesium, Alkalische Phosphate, Calcitonin, PTH), ggfs. auch eine Schwermetallintoxikation zu erwägen. Zudem sollte eine diagnostische Liquorpunktion erfolgen, da es Kalzifikationen im Gehirn auch postinfektiös gibt.

Es gibt verschiedene Genloki, auf denen Mutationen vorkommen, die zu einem Morbus Fahr führen.

Behandlung

Eine kausale Therapie existiert nicht. Wenn eine endokrinologische Störung vorliegt, kann man wohl zumindest eine Progredienz durch die Behandlung der endokrinologischen Behandlung verhindern.

Die anderen beiden Nazis: Neurodegeneration mit Eisenakkumulation im Gehirn (neurodegeneration with brain iron accumulation, NBIA)

NBIA ist der Oberbegriff für verschiedene genetische Erkrankungen, die zu einer vermehrten Eisenakkumulation in den Stammganglien führen und darüber zu extrapyramidal-motorischen Symptomen. Teilweise finden sich auch noch andere Symptome, insbesondere zerebelläre Atrophien und früh einsetzende demenzielle Symptome. Teilweise sind schon Kinder- und Jungendliche betroffen. Auf Wikipedia findet sich eine recht umfangreiche Auflistung der gängigsten NBIA, die alle extrem selten sind, selbst in der Summe aller NBIA. Bei den allermeisten NBIA handelt es sich um autosomal-rezessiv vererbte Erkrankungen.

Pantothenatkinase-assoziierte Neurodegeneration

Die Pantothenatkinase-assoziierte Neurodegeneration ist noch die häufigste NBIA mit einer Prävalenz von 1-3/1.000.000 Einwohner. Und hier kommen die anderen beiden alten Nazis ins Spiel und zwar zwei wirklich schlimme: Julius Hallervorden und Hugo Spatz, beide waren unmittelbar an der Aktion T4 und auch der Kindereuthanasie beteiligt und haben im großen Stil Gehirne ermordeter Menschen mit Behinderung präpariert und untersucht. Die Pantothenatkinase-assoziierte Neurodegeneration war lange nach diesen beiden als Hallervorden-Spatz-Syndrom bekannt und diese Bezeichnung hält sich immer noch im Sprachgebrauch einzelner Neurologen und Radiologen.

Wo man weiterlesen kann:

Bei Orpha-Net: Morbus Fahr & NBIA

Saleem, S., Aslam, H., Anwar, M., Anwar, S., Saleem, M., Saleem, A., & Rehmani, M. A. (2013). Fahr’s syndrome: literature review of current evidence. Orphanet Journal of Rare Diseases, 8(1), 156. https://doi.org/10.1186/1750-1172-8-156

Schneider, S. A. (2016). Neurodegeneration with Brain Iron Accumulation. Current Neurology and Neuroscience Reports, 16(1), 9. https://doi.org/10.1007/s11910-015-0608-3

Küpper, C., Levin, J., & Klopstock, T. (2016). Eisen im alternden Gehirn. Aktuelle Neurologie, 43(01), 32–40. https://doi.org/10.1055/s-0035-1565121

Senile Chorea und Huntington

Meine spät entdeckte Liebe für die Huntington-Erkrankung

Das mit der Huntington-Erkrankung und mir war eine schwere Geburt. Selbst im Neuro eBook kann man eine gewisse Frustration über CAG-Repeats und die Namensgebung Huntingtin nur schwerlich überlesen und ganz lange habe ich die Huntington-Erkrankung für ein elendiges Thema für Staatsexamen-Prüfungsfragen gehalten. Erst in den letzten Jahren konnte ich für mich unter der Überschrift unterdiagnostizierte neurodegenerative Erkrankung mit Bewegungsstörung ein gewisses Interesse für die Erkrankung entwickeln.

In der letzten Info Neurologie + Psychiatrie bin ich dann zufällig über ein Interview mit Herwig Lange gestolpert, der relativ viel Ahnung von der Huntington-Erkrankung hat. Meistens lese ich diese Interviews nicht, aber das fand ich dann doch interessant. Da ging es dann um verschiedene Antisense-Oligonucleotide (um so was geht’s in diesen Interviews oft, deshalb interessieren sie mich auch nur selten), aber in einer kurzen Frage auch um Spätmanifestationen der Huntington-Erkrankung. Und da sagte dann der Herr Lange, dass man durchaus einige der senilen Choreas doch einer spät und mild verlaufenden Huntington-Erkrankung zuschreiben kann. Und da ich diesen Gedanken interessant finde und den ein oder anderen Blick in verschiedene Paper wert, wollte ich hier mal was dazu schreiben.

Was man über die Huntington-Krankheit wissen könnte

Das, was alle wissen (und nach dem Staatsexamen sofort wieder verdrängen)
Berühmter Huntington-Patient und Linken-Vorzeige-Ikone: Woody Guthrie
Berühmter Huntington-Patient und Linken-Vorzeige-Ikone: Woody Guthrie, Link.

Die Huntington-Erkrankung ist eine autosomal dominant vererbte Erkrankung, bei der es zu einer übermäßigen Ansammlung von CAG-Repeats auf dem kurzen Arm von Chromosom 4 kommt. Dadurch wird das Protein Huntingtin in seiner Funktion erheblich gestört. Es gibt das Phänomen der Antizipation, d.h. das von Generation zu Generation immer mehr CAG-Repeats hinzukommen und sich damit die Erkrankung immer früher manifestiert, ganz nach dem Motto je mehr Repeats, desto früher und schwerer die Erkrankung. Und es gibt de-novo Mutationen, bei denen Menschen eine Huntington-Erkrankung bekommen, ohne dass in der Familie andere Mitglieder auch betroffen sind. Was man irgendwann auch mal auswendig gelernt hatte ist, dass sich die Huntington-Erkrankung typischerweise ab mehr als 60 CAG-Repeats manifestiert, physiologisch bis zu 35 Repeats sind. Was man sich meist länger merkt ist, dass die Huntington-Erkrankung meistens eine rasch progrediente Demenz und eine Bewegungsstörung beinhaltet und dass es sich dabei oft um eine Chorea handelt und dass es keine kausale Therapie gibt.

Das, was nur wenige wissen, was aber eigentlich interessant ist: Thema Genetik

So banal 35 CAG-Repeats sind normal und bei 60 bekommt man Huntington, ist es dann doch nicht (aber das war ja auch eigentlich klar). Also, eine vollständige Penetranz (also jede Generation bekommt die Huntington-Erkrankung) findet man wohl schon ab 39 CAG-Repeats, zwischen 36 und 39 Repeats ist die Penetranz unvollständig und zwischen 27 und 35 Repeats besteht ein erhöhtes Erkrankungsrisiko ohne sichere Vorhersagbarkeit, CAG-Repeats unter 27 sind normal. Werden die CAG-Repeats von CAA-Tripletts unterbrochen, so kann man eine insgesamt höhere Anzahl an Repeats haben, ohne zu erkranken.

Evolutionär höher entwickelte Lebewesen haben eine höhere Anzahl an CAG-Repeats als evolutionstechnisch gesehen ältere Arten. Vermutlich korreliert die CAG-Repeat-Anzahl mit der Hirnmasse (in Relation zum Körpergewicht), in einigen Huntington-Studien sind für Kinder und junge Erwachsene mit 40 CAG-Repeats sehr hohe IQ-Werte beschrieben worden. Diese Zahl 40 ist auch deshalb interessant, weil das auch die Größenordnung von CAG-Repeats ist, bei der Spätmanifestationen in Studien beschrieben wurden (was im Englischen dann oft Late Onset Huntington Disease (LoHD) heißt. Die normalen Erkrankungsverläufe scheinen sich eher bei 44 und mehr Repeats zu manifestieren. Die Spätmanifestationen machen in Huntington-Studien oft zwischen 4 und 11% der eingeschlossenen Erkrankungen aus, man nimmt aber eine deutliche Unterdiagnostik in der Bevölkerung an.

Das, was nur wenige wissen, was aber eigentlich interessant ist: Huntingtin

Mit zunehmender Repeat-Anzahl verklumpt das Huntingtin in den Zellen immer mehr, dadurch nimmt die Lebensdauer der Zellen stark ab, weil sich rascher eine Apoptose entwickelt. In Körperzellen, welche eh einer kürzere Lebensdauer haben und dann ersetzt werden, ist das gar nicht so relevant, im zentralen Nervensystem umso mehr. Huntingtin scheint physiologischerweise beim Transport von Vesikeln, aber auch bei Zellreparatur-Vorgängen eine wichtige Rolle zu spielen, vermutlich entscheidender ist aber die toxische Wirkung des kranken Huntingtin mit zu vielen Repeats, welches direkt zytotoxische Effekte zu haben scheint.

Das, was nur wenige wissen, was aber eigentlich interessant ist: Es muss nicht immer Chorea sein

Die Huntington-Erkrankung ist auch vermutlich deshalb unterdiagnostiziert, weil immer alle auf die Chorea warten. Die manifestiert sich aber teilweise gar nicht oder nur sehr diskret. Generell ist eine zweiphasige Bewegungsstörung beschrieben, mit zuerst hyperkinetischen Bewegungen, welche klassischerweise distal beginnen und sich dann nach proximal ausbreiten und dann einer Phase mit einer hypokinetisch, teils rigiden Bewegungsstörung und einer Gangstörung inklusive Störung der posturalen Stabilität. In diesem ersten Teil, der hyperkinetischen – sich von distal nach proximal – ausbreitenden Bewegungsstörung ist auch die ehemals namensgebenden Chorea verortet. Aber es muss nicht immer eine Chorea sein, auch Dystonien, Myoklonien, Tremores sind beschrieben, ebenso aber auch ein vollständiges Ausbleiben der hyperkinetischen Bewegungsstörung. Das bedeutet aber auch, dass eine Huntington-Erkrankung durchaus als atypisch anmutendes Parkinson-Syndrom daherkommen kann oder als eins der schlecht klinisch einzuordnenden neurodegenerativen Erkrankungen mit einer komplexen Bewegungsstörung und einer (schnell fortschreitenden) Demenz, über die man im klinischen Alltag immer mal wieder stolpert.

Ein gewisses Problem: Die Diagnosestellung

Ja klar, man kann eine genetische Untersuchung vornehmen und die CAG-Repeats zählen und dann ist die Diagnose gestellt. Aber so läuft es in der Regel ja nicht. Gerade wenn wir über Spätmanifestationen der Huntington-Erkrankung reden, muss man davon ausgehen, dass eben nicht ein junger Mensch mit einer positiven Familienanamnese mit einer Bewegungsstörung mit zunächst hyperkinetischer Komponente und einer fortschreitenden psychiatrischen Symptomatik incl. Demenz sich vorstellt, sondern eher die schon skizzierten Patienten mit der (vermeintlich) senilen Chorea oder mit den erwähnten unklaren Syndromen mit Bewegungsstörung und Demenz. Und abseits der Genetik wird es dann schnell dünn. Was sind also Punkte, die die Differentialdiagnose Huntington zumindest in den Raum stellen sollten?

Klinik

Das hab ich jetzt schon erwähnt, eigentlich jede progrediente unklare Bewegungsstörung mit Demenzsymptomatik und psychiatrischen Symptomen. Spätestens hier lohnt sich eine Fremd- und Familienanamnese. Fremdanamnestisch wird nämlich wohl häufig berichtet, dass sich Huntington-Patienten ihrer Bewegungsstörung (und ihrer neuropsychiatrischen Symptomatik) oft gar nicht bewusst sind. Und die Familienanamnese lohnt sich, weil es ja eben dann doch eine autosomal-dominante Erkrankung ist. Eine klinische Stratifizierung des Ausmaßes der Symptomatik kann man mit der UHDRS erreichen, was so ziemlich genau das Gegenstück zur UPDRS beim Parkinson ist.

Bildgebung

Das ist ein etwas frustrierendes Thema. Da kann man Artikel wie solche lesen: Wilson, H., Dervenoulas, G. & Politis, M. Structural Magnetic Resonance Imaging in Huntington’s Disease. in International Review of Neurobiology vol. 142 335–380 (Elsevier Inc., 2018) oder Johnson, E. B. & Gregory, S. Huntington’s disease: Brain imaging in Huntington’s disease. in Progress in Molecular Biology and Translational Science vol. 165 321–369 (Elsevier Inc., 2019) und ist hinterher fast genau so schlau wie vorher. Im normalen MRT werden eine einseitig betonte Atrophie von Ncl. caudatus und Striatum als häufiger Befund beschrieben, zudem Eisenablagerungen in den Stammganglien (das ist aber ein Phänomen bei vielen neurodegenerativen Erkrankungen und eigentlich einen Blogbeitrag wert) und das war’s auch schon. Spezifische Stigmata, wie bei der CJK oder der MSA und PSP gibt es nicht. Dann kann man im diffusion tensor imaging (und wie die eher forschungsbasierten Verfahren so heißen) verminderte Faserdichten feststellen und in der Voxelmetrie eine sowohl die graue, als auch weiße Substanz einschließende generelle Hirnatrophie, aber das ist natürlich auch überhaupt nicht spezifisch. Ebenso ist auch ein verminderter Stoffwechsel im präfrontalen und parietalen Kortex, wie er in der fMRT wohl beobachtet werden kann, spezifisch für eine Huntington-Erkrankung.

Liquor

Im Liquor finden sich wohl häufig recht hohe tau-Protein-Konzentrationen, welche aber auch nur einen generellen Neuronenuntergang anzeigen. Dann taucht auch bei der Huntington-Erkrankung eine Erhöhung von NFL (neurofilament light chain) in diversen Papern auf. Das Charmante hieran ist, dass NFL-Werte im Serum mit denen im Liquor recht gut zu korrelieren scheinen und dementsprechend eine Liquorpunktion überflüssig machen könnten (aber auch hier ist ein eigener Blogbeitrag fällig), das Dumme, dass das auch nicht viel spezifischer als eine tau-Erhöhung zu sein scheint.

Ein großes Problem: Die Behandlung

Auch ein etwas dürftiges Kapitel: Etabliert ist die symptomatische Behandlung der verschiedenen Beschwerden bei der Huntington-Erkrankung. D.h. Tiaprid und Tetrabenazin werden bei Chorea eingesetzt, atypische Neuroleptika bei psychotischer Symptomatik und es gibt gewisse Hinweise, dass Amantadin bei parkinsonoiden Symptomen helfen kann. Und wie immer bei verzweifelten Fällen taucht auch Riluzol auf, für dessen Wirksamkeit es aber keine Evidenz gibt. Pridopidin als Regulator der Dopamin-Freisetzung wurde in einer ersten Studie als nicht wirksam getestet, da es aber große inhaltlich-pathophysiologische Hoffnungen in den Wirkstoff gibt, wurde eine erneute Studie aufgesetzt.

Große Hoffnung legt man in die Antisense-Oligonukleotide, welche nach dem großen Erfolg von Nusinersen bei der spinalen Muskelatrophie jetzt für verschiedene neurodegenerative Erkrankungen erprobt werden. Hier laufen gerade Phase III-Studien, man wird also bald mehr wissen.

Jetzt aber: Senile Chorea und Huntington

Eine neu aufgetretene Chorea im Alter ist ein selteneres Symptom, aber auch nicht so furchtbar selten. Verschiedene Untersuchungen taxieren die Häufigkeit um die 0,2-0,25% aller neurologischen Vorstellungen (was mir subjektiv aber eher zu häufig erscheint, weil dann jeder 400. bis 500. Patient so etwas haben müsste). Der Großteil (ca. 2/3) dieser sich spätmanifestierenden Choreas – v.a. wenn sie einseitig sind – beruht auf Stammganglieninfarkten, ein weiterer relevanter Anteil – dann häufig, aber nicht immer, beidseitig symptomatisch – auf metabolischen Entgleisungen (v.a. Elektrolyte, Niereninsuffizienz, Diabetes). Vaskulitische, toxische (durch Drogenkonsum) und HIV-assoziierte Gründe für choreatiforme Bewegungsstörungen betreffen eher jüngere Patienten, können natürlich aber dennoch auch im Alter auftreten. Übrig bleiben knapp 10% der Patienten, bei denen die Ursache unklar bleibt. Und hierauf bezog sich das Eingangs erwähnte Interview, in einer Untersuchung fanden sich bei der Hälfte dieser unklaren Chorea-Erkrankungen dann vermehrte CAG-Repeats, eben um die 40, in der durchgeführten genetischen Testung, weshalb man diese Fälle dann als Spätmanifestation einer Huntington-Erkrankung eingeordnet hat. Und da schließt sich der Kreis, wenn die schweren Fälle mit einer Prävalenz von 1:10.000 auftreten, müssten die leichteren und späteren Manifestationen noch häufiger sein. Und dann lohnt es sich doch, sich ein bisschen mehr mit der Erkrankung zu beschäftigen …

Wo man weiterlesen kann

S2k-Leitlinie Chorea/Morbus Huntington https://dgn.org/leitlinien/2017-chorea-morbus-huntington/

  1. Ha, A. D. & Fung, V. S. C. Huntingtonʼs disease. Curr. Opin. Neurol. 25, 491–498 (2012).
  2. Lorincz, M. T. Geriatric Chorea. Clin. Geriatr. Med. 22, 879–897 (2006).
  3. Chaganti, S. S., McCusker, E. A. & Loy, C. T. What do we know about Late Onset Huntington’s Disease? J. Huntingtons. Dis. 6, 95–103 (2017).
  4. McColgan, P. & Tabrizi, S. J. Huntington’s disease: a clinical review. Eur. J. Neurol. 25, 24–34 (2018).
  5. Oosterloo, M., Bijlsma, E. K., van Kuijk, S. M., Minkels, F. & de Die-Smulders, C. E. Clinical and genetic characteristics of late-onset Huntington’s disease. Parkinsonism Relat. Disord. 61, 101–105 (2019).

Kopfschmerzen im Alter = Riesenzellarteriitis!

Ja, wirklich: Riesenzellarteriitis

Heute geht es tatsächlich um die Riesenzellarteriitis, welche übrigens die häufigste Vaskulitis in den Industrieländern ist. Frauen sind doppelt so häufig wie Männer von einer Riesenzellarteriitis betroffen, die Prävalenz liegt bei 15-44/100.00, das typische Erstmanifestationsalter bei über 50 Jahren mit einer deutlichen Erkrankungshäufigkeitszunahme im höheren Lebensalter, insbesondere nach dem 80. Lebensjahr. Die Riesenzellarteriitis ist mit einer bestimmten HLA-Konfiguration assoziiert (HLA-DRB1*04). Und wie immer bei autoimmunvermittelten Erkrankungen, welche mit einer bestimmten HLA-Konfiguration verknüpft sind, stellt sich die Frage nach einem (infektiösen) Auslöser; für die Riesenzellarteriitis ganz genauso, hier werden VZV, Parvoviren, Mycoplasmen und Clamydien als virale oder bakterielle eine Kreuzreaktion auslösende Antigene diskutiert.

Histologie and stuff

Aber worum handelt es sich bei der Riesenzellarteriitis denn wirklich? Histologisch gesehen um eine granulomatöse Panarteriitis – und wie bei allen anderen granulomatösen Erkrankungen finden sich hier im Rand des Granuloms eben Riesenzellen – welche große und mittelgroße supraaortale Gefäße betrifft. Durch eine ausgeprägte Intimaproliferation kommt es zu Stenosen – und bei kleineren Gefäßen – auch zu Gefäßverschlüssen. Immunhistochemisch spielen T-Zellen, welche Lymphozyten und Monozyten anlocken eine entscheidende Rolle in der Pathophysiologie der Riesenzellarteriitis. Die Lymphozyten scheinen dabei über IL-6 und IL-17 aktiviert zu werden, die Monozyten eher über IL-12 und IFN gamma.

Die Sache mit den Temporalarterieren und der BSG

Es gibt relativ alte – von 1990 stammende – klinische Klassifikationskriterien der Riesenzellarteriitis, welche aber bis heute unverändert gelten.

ACR-Klassifikationskriterien der RZA (1990)
Alter > 50 Jahre
Neuartige oder neu aufgetretene Kopfschmerzen
Abnorme Temporalarterien (Druckdolenz, abgeschwächte Pulsation)
BSG > 50 mm in der ersten Stunde
Histologische Veränderungen bei Biospie der Temporalarterie

Dennoch hat man in den letzten 30 Jahren deutlich mehr über die Erkrankung gelernt und weiß, dass es bei der Riesenzellarteriitis eben nicht nur um Kopfschmerzen bei über 50-Jährigen mit druckdolenten Temporalarterien und einer BSG-Erhöhung geht. So weiß man, das bestimmte Kombinationen klinischer Charakteristika die Wahrscheinlichkeit, dass eine Risenzellarteriitis stark erhöhen, hin bis zu einem positiven prädiktiven Wert von 100% bei der Kombination einer neu aufgetretenen Sehstörung und Schmerzen beim Kauen.

Klinische MerkmalePPV in %Betroffene Pat. in %
Neue oder neuartige Kopfschmerzen4649
Überempfindlichkeit der Kopfhaut6118
Ermüdbarkeit beim Kauen7817
Doppelbilder6510
Ermüdbarkeit beim Kauen + Überempfindlichkeit der Kopfhaut + neue oder neuartige Kopfschmerzen906
Ermüdbarkeit beim Kauen + Doppelbilder oder Visusminderung1000,7
Positiver prädiktiver Wert verschiedener klinischer Merkmale bei der RZA

Die Sehstörungen bei der Riesenzellarteriitis entstehen übrigens durch eine vaskulitische Mitbeteiligung des Sehnerven, welche dann zu einer AION führt. Das tückische ist, dass wenn erst eine AION besteht – welche eben auch zu einer Erblindung des Auges führen kann – die zweite oft nicht weit ist, was die mit dem Thema verknüpfte Dramatik begründet. Der Aortenbogen ist in 40-60% der Fälle mitbetroffen, die Aa. vertebrales wegen deren möglicher Mitbeteiligung wir Neurologen immer ganz nervös werden, gerade mal bei 2% der Erkrankungen. Dass es eine signifikante Überlappung der Riesenzellarteriitis mit der Polymyalgia rheumatica gibt, ist wiederum allen bekannt.

Ultraschall oder Biopsie

Zu diesem Thema sind relativ viele Studien erfolgt und es finden sich – wenn man hierzu sucht – Paper über Paper. Zusammenfassend lässt sich sagen, in Kombination mit einem passenden klinischen Befund liegt die Sensitivität beider Verfahren jeweils bei über 90% und die Spezifität zwischen 77 und 81%. Dementsprechend wird heute meist folgender Algorithmus vorgeschlagen: Screening bei klinischem Verdacht mit Ultraschall und nur, wenn der Ultraschall nicht eindeutig ist, zusätzliche Durchführung einer Biopsie.

Behandlung: Kortison und dann?

Dass man bei einer Riesenzellarteriitis eine längerfristige Therapie mit Steroiden durchführt, ist uns allen klar. Doch wie lange und wie hoch dosiert soll es denn sein? Und soll man ASS dazu geben oder nicht? Sichere Antworten hierauf gibt es übrigens nicht. Das mit dem ASS geben wird tatsächlich meist so gehandhabt. Steroidschemata gibt es – wie meistens bei fehlender eindeutiger Studienlage – mehrere. Hier sei dass aus der DGN-Leitlinie erwähnt, nach der man ganz klassisch internistisch mit 1 mg Prednisolon je kg Körpergewicht beginnt. Nach klinischer Besserung und Normalisierung der Entzündungsparameter – die man zum Therapiemonitoring benutzt – kann man alle 2 Wochen um 10 mg auf eine Tagesdosis von 20 mg reduzieren, dann nur noch 2,5 mg alle 2 Wochen und unter 10 mg dann 1 mg im Monat. Bei einer Riesenzellarteriitis mit eine AION oder anderen schweren Gefäßkomplikationen wird ein Steroidstoß mit 500-1000 mg Methylprednisolon für 3-5 Tage empfohlen. Bei einem Rezidiv der Riesenzellarteriitis geht man auf die letzte wirksame Prednisolons und legt noch 10 mg drauf.

Prinzipiell scheint der IL-6/IL-17-Transduktionsweg deutlich besser auf eine Steroidtherapie anzusprechen, als der IL-12/IFN-gamma-Weg. Rezidive stellen generell ein großes Problem bei der Riesenzellarteriitis dar. Gerade mal 1/3 aller Betroffenen haben kein Rezidiv der Riesenzellarteriitis innerhalb von 12 Monaten.

Dementsprechend muss eine längerfristige Therapie her, mit der man ebenfalls immunsuppressiv und gleichzeitig steroidsparend unterwegs ist. Klassischerweise ist das Methotrexat (0,3 mg/kg KG/Woche) inklusive Gabe von 10 mg Folsäure am nächsten Tag. Aber wie das so ist mit „alten“ Therapieverfahren ist, ist die MTX-Gabe schon immer eine off-label-Therapie gewesen. Eine Zulassung-, eine Zulassungsstudie usw. hat es nie gegeben. Anders ist das mit Tocilizumab einem monoklonalen Antikörper gegen IL-6. Tocilizumab wird einmal wöchentlich s.c. appliziert. Der Hauptvorteil von Tocilizumab ist, dass im Rahmen der Zulassungsstudie ein Steroid-Ausschleichschema vorgesehen war, was innerhalb von 6 Monaten zu einem kompletten Absetzen des Kortisons führt. Hauptnachteil sind sicherlich die monatlichen Behandlungkosten von 1840 Euro gegenüber gut 30 EUR bei einer MTX-Behandlung.

Wo man weiterlesen kann

S1-Leitlinie Zerebrale Vaskulitis und zerebrale Beteiligung bei systemischen Vaskulitiden und rheumatischen Grunderkrankungen https://www.dgn.org/leitlinien/3601-ll-030085-zerebrale-vaskulitis-2018

  1. Labarca, C. et al. Predictors of relapse and treatment outcomes in biopsy-proven giant cell arteritis: a retrospective cohort study. Rheumatology 55, 347–356 (2016).
  2. Luqmani, R. et al. The Role of Ultrasound Compared to Biopsy of Temporal Arteries in the Diagnosis and Treatment of Giant Cell Arteritis (TABUL): a diagnostic accuracy and cost-effectiveness study. Health Technol. Assess. (Rockv). 20, 1–238 (2016).
  3. Younger, D. S. Giant Cell Arteritis. Neurol. Clin. 37, 335–344 (2019).

Parkinson für Dummies 03: Braak & Co. Wie geht eigentlich Parkinson?

Eigentlich das erste Thema der Serie. Aber irgendwie auch nicht. Nach der Erstbeschreibung der shaking palsy durch James Parkinson 1817, welcher durchaus auch nicht-motorische Symptome der Parkinson-Erkrankung beschrieb, standen spätestens nach der Verfügbarkeit von L-Dopa v.a. die motorischen Symptome und ihre Behandlung im Vordergrund.

95 Jahre später, 1912, wurden durch Friedrich Jacob Heinrich Lewy die später nach ihm benannten Einschlusskörperchen in Neuronen von Parkinson-Patienten entdeckt, von denen man heute weiß, dass diese Einschlusskörperchen aus großen Mengen fehlgefaltetem alpha-Synuclein bestehen. Alpha-Synuclein ist ein kleines, ubiquitär in Nervenzellen vorkommendes Protein, welches normalerweise Stützaufgaben beim Vesikeltransport zu haben scheint.

In den frühen bis mittleren 2000er Jahren finden dann zwei bahnbrechende Entdeckungen statt: In einer Arbeit von Li et al. (Li, J.-Y. et al. Lewy bodies in grafted neurons in subjects with Parkinson’s disease suggest host-to-graft disease propagation. Nat. Med. 14, 501–503 (2008)) wurde in Hinbiopsien verstorbener Patienten, welche zuvor eine Stammzell-Transplantation bei einer Parkinson-Erkrankung erhalten hatten, Lewy Körperchen in den Transplantaten nachgewiesen. Dies kollidierte mit den damals vorherrschenden Erklärungsmodellen der Parkinson-Erkrankung (einer genetisch determinierten Erkrankung, bzw. einem verfrühten Alterungsprozess), da die Zellen ja von einem genetisch unterschiedlichen Individuum stammten und im Gegensatz zum restlichen Gehirn erst 11-16 Jahre alt waren. Parallel publizierte der Ulmer Neuropathologe Heiko Braak zusammen mit seiner Arbeitsgruppe Fallserien von Autopsien von Parkinson-Patienten, in welchen er eine Ausbreitung der Lewy-Körperchen vom Hirnstamm, über die Pons, die Stammganglien bis in die Kortexareale nachweisen und diese mit den jeweiligen klinischen Befunden vor Versterben in Einklang bringen konnte.

Braak-StadiumBetroffene neuroanatomische Strukturen
IBulbus olfactorius und dorsaler Vaguskern
IIUntere Raphe-Kerne sowie der Coeruleus/Subcoeruleus-Komplex 
IIIMittelhirn mit der Substantia nigra
IVbasales Vorderhirn 
V-VIkortikale Strukturen
Braak-Stadien
Bildquelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/Gray%27s_Anatomy_plates, eigene Anmerkungen

Später konnte er diese Stadien noch um den N. vagus, das enterische Nervensystem und das Riechhirn erweitern, in welchen noch früher alpha-Synuclein-Ablagerungen nachweisbar waren.

Aszensionshypothese beim idiopathischen Parkinson-Syndrom

Damit war die Aszensionshypothese zumindest beim idiopathischen Parkinson-Syndrom geboren. Es stellte sich dann nur die Frage, wie kommen die Lewy-Körperchen von Zelle zu Zelle. Und damit kommen die frühen 1990er Jahre und die BSE-Krise ins Spiel. Damals wurde das Konzept der Prion-Erkrankungen hoffähig, also die Annahme, dass ein reguläres intrazelluläres Protein durch eine Konformationsänderung zu einem pathogenen Agens werden kann, dann andere „normale“ Proteine ebenfalls zu einer Konformationsänderung bringt und sich zudem von Zelle zu Zelle ausbreitet. Bei den klassischen Prion-Erkrankungen kommt zur Dramatiksteigerung noch hinzu, dass das Prion-Protein in der pathologischen Form auch noch extrem hitzebeständig und auch ansonsten nahezu unzerstörbar ist.

Ähnlich wie das Prion-Protein scheint das fehlgefaltete alpha-Synuclein über verschiedene relativ unspektakuläre Exozytose- und Endozytose-Mechanismen (Golgi Apparat, endoplasmatisches Retikulum) von Zelle zu Zelle zu gelangen. Das Fehlen spezifischer Transportmechanismen macht wiederum eine zielgerichtete, z.B. Antikörper-Therapie gegen den Krankheitsprogress ungemein schwierig.

Der Clou an der Sache ist aber eigentlich, dass nach und nach klar wurde, dass eigentlich alle neurodegenerativen Erkrankung auf diese Weise (pathologische Protein-Ablagerungen, Prion-artige Ausbreitung) zu funktionieren scheinen, nur dass sich die jeweiligen Proteine und Ausbreitungswege unterscheiden. Aber das ist ein eigenen Blogeintrag wert.

Ist Parkinson dann nicht eigentlich ansteckend? Und warum bekommen nicht alle Parkinson?

Von den Prion-Erkrankung kommend, müsste man eigentlich annehmen, dass Parkinson dann auch ansteckend sein könnte. V.a. wenn die Erkrankung im enterischen Nervensystem und im Riechhirn zu beginnen scheint, also in Strukturen, wo Nervenzellen relativ direkten Kontakt zur Außenwelt haben. Epidemiologische Daten und auch Tiermodelle scheinen dies aber nicht zu bestätigen. Vielmehr scheint es so zu sein, dass eine genetische Prädisposition vorhanden sein muss, damit fehlgefaltetes alpha-Synuclein sich von Zelle zu Zelle ausbreiten kann, was relativ überzeugend mit transgenen Mäusen gezeigt werden konnte. Und so scheint es am Ende zu sein, wie bei vielen anderen Erkrankungen: Es muss eine genetische Prädisposition vorhanden sein, damit verschiedene Umweltfaktoren dann eine Parkinson-Erkrankung auslösen können. Diese sind bislang nur in Ansätzen offenbar: So scheinen fehlender Kaffee-, Nikotin- und Alkoholkonsum das Auftreten einer Parkinson-Erkrankung zu begünstigen, ebenfalls Kopftraumata in der Vorgeschichte. Eine Obstipationsneigung, depressive Symptome, fehlender Bluthochdruck und Betablocker-Einnahme scheinen eher Frühsymptomen der Parkinson-Erkrankung, bzw. ihrer Behandlung zu entsprechen. Das Quartett Leben auf dem Land, Trinken von Brunnenwasser, Pestizid-Exposition und Tätigkeit in der Landwirtschaft stammt aus großen amerikanischen Registern und gehört vermutlich zusammen, wobei der Kern dann wohl a.e. die Pestizid-Exposition sein dürfte. Interessanterweise sind sogar die sonst immer angeschuldigten drei Faktoren Handystrahlung, Impfen und Aluminum-Exposition untersucht und als nicht das Risiko einer Parkinson-Syndroms erhöhend eingeschätzt worden.

Wo man weiterlesen kann
  1. Braak, H. et al. Staging of brain pathology related to sporadic Parkinson’s disease. Neurobiol. Aging 24, 197–211 (2003).
  2. Braak, H., Sastre, M., Bohl, J. R. E., de Vos, R. A. I. & Del Tredici, K. Parkinson’s disease: lesions in dorsal horn layer I, involvement of parasympathetic and sympathetic pre- and postganglionic neurons. Acta Neuropathol. 113, 421–429 (2007).
  3. Pan-Montojo, F. & Reichmann, H. Ursache der Parkinson-Krankheit: Braak revisited. Aktuelle Neurol. 41, 573–578 (2015).
  4. Klingelhoefer, L. & Reichmann, H. Aszensionshypothese beim idiopathischen Parkinson-Syndrom. Aktuelle Neurol. 44, 170–179 (2017).

Kopfschmerzen im Alter = Riesenzellarteriitis?

Vorweg

Zeit für eine neue Miniserie zum Thema Kopfschmerzen im Alter. Die eine oder der andere wird wissen, dass das Thema einem Vortrag entliehen ist, den ich vor nicht allzu langer Zeit gehalten habe. Aber das gibt mir die Möglichkeit, mich daran entlang zu hangeln und das eine oder andere hinzuzufügen, aber auch Dinge wegzulassen. Die Parkinson-Serie läuft aber trotzdem weiter. Da soll es als nächstes um die Braak-Stadien gehen und dann um Parkinson und Schmerz.

Migräne im Alter

Wir alle glauben zu wissen, dass Migräne im Alter, besser noch nach den Wechseljahren seltener wird und daher bei älteren Menschen kaum noch eine Rolle spielt. Außerdem haben wir alle schon Sätze wie „nach dem 55. Lebensjahr werden Sie praktisch keine Erstmanifestation primärer Kopfschmerzerkrankungen mehr sehen“ gehört und verinnerlicht. Doch stimmt das eigentlich?

Die Antwort ist nicht ganz banal. Es gibt recht gute Daten zur Prävalenz der Migräne bis zum Alter von 75 Jahren (und sehr schlechte für ältere Semester), die schon ein gewisses Seltener-Werden zu belegen scheinen:

> 60 Jahre60-65 Jahre65-70 Jahre70-75 Jahre> 80 Jahre
♂︎bis 20,4 %8,9 %6,8 %3,4 %5 %
♀︎5,63 %4,3 %3,8 %2,1 %5 %
1-Jahres Prävalenz der Migräne nach:
1. Wijeratne, T., Tang, H. M., Crewther, D. & Crewther, S. Prevalence of Migraine in the Elderly: A Narrated Review. Neuroepidemiology 52, 104–110 (2019).
2. Haan, J., Hollander, J. & Ferrari, M. Migraine in The Elderly: A Review. Cephalalgia 27, 97–106 (2007).

Auch andere Studien zeigen eine Abnahme der Attackenfrequenz im Alter. Anders herum ist genauso gut belegt, dass sich die Charakteristika von Migränekopfschmerz und Migräneattacken im Alter verändern. So weiß man, das bei unter 60-Jährigen ungefähr 70% der Migränepatienten unter einer Migräne ohne Aura leiden, ca. 30% unter einer Migräne mit Aura. Bei >60-Jährigen nimmt die Prävalenz von Attacken ohne Aura ab und Migräneattacken mit Aura werden im Gegenzug häufiger. Auch eine Migräneaura ohne nachfolgenden Kopfschmerz, also eine Migraine sans Migraine wird im Alter häufiger, ebenso nuchale muskuläre Schmerzen als Triggerfaktor für Migräneattacken. Parallel verändern sich aber auch die Attacken. Sie werden eher kürzer, treten öfters beidseitig auf, sind dann weniger pulsierend und öfters drückend, die Schmerzintensität nimmt ab, ebenso die vegetativen Begleitsymptome und die Verstärkung der Kopfschmerzen durch körperliche Aktivität. Kurz gesagt, sie ähneln zunehmend Spannungskopfschmerzen. Dies führt aber vermutlich zu einer Unterdiagnostik von Migräneattacken.

Selbst Neumanifestationen im Alter scheint es zu geben, so wurde schon in den 1980er Jahren ein Konzept zur Abgrenzung von Migräneattacken mit Aura von Schlaganfallsymptomen entwickelt und in den letzten Jahren weiter verfeinert.

Late life migraine accompaniments (LLMA)

  • Visuelle Aura-Symptome
  • Graduelle Zunahme, Expansion, march of convulsion der Aura, „serieller Übergang“ eines Aurasymptomes in ein anderes (visuell → Parästhesien)
  • Mindestens 2 Aurasymptome treten auf
  • In mindestens 50% der Fälle Kopfschmerzen
  • Dauer der Aura 15–25 min (vs. TIA meist < 15 min)
  • Unauffällige Schlaganfallabklärung

Migräneattacken im Alter behandeln: NSAR oder Triptane oder gar nix?

Hält man sich an die reine Lehre und an alle PRISCUS-Listen und so müsste man eigentlich sagen: Gar nix, ist aber nicht so schlimm, da die Attacken ja oft weniger intensiv sind und notfalls geht ja auch noch Paracetamol. Im wahren Leben funktioniert die reine Lehre aber wie so oft nur mehr schlecht als recht, und genauso wie bei Schwangeren die Antwort „eigentlich gar nix“ zwar formal richtig sein mag, bringt es den Betroffenen aber meist ebenfalls rein gar nix.

Also wird man wohl oder übel auf die NSAR vs. Triptan-Frage zurück kommen. Von NSAR wissen wir, dass sie bei älteren Menschen das kardiovaskuläre Risiko deutlich erhöhen. Für Ibuprofen liegt dies bei einem 1,6-fach erhöhten Risiko für Herzinfarkte, einem über 3,36 fach erhöhten für Schlaganfälle und einem 2,4 fach erhöhten Risiko für einen kardiovaskulären Tod. Ähnlich sieht das für Diclofenac aus und erst recht für COX2-Hemmer. ASS und Naproxen scheinen hier weniger schlimm zu sein, führen aber beide zu einer massiven Zunahme von GI-Blutungen gerade bei Älteren.

Für Triptane sieht es hingegen – vielleicht etwas unerwartet – sogar besser aus. Es gibt zu dem Thema sogar prospektive Daten aus der Framnigham Heart Study, nach denen es vertretbar ist Triptane einzunehmen, wenn das 10-Jahres-kardiovaskulärer Tod-Risiko nach dem Framnigham Risk Score (https://www.mdcalc.com/framingham-risk-score-hard-coronary-heart-disease) unter 10% liegt. Zudem gibt es eine große retrospektive Auswertung von knapp 30.000 Patienten mit einer Triptan- und Ergotamin-Einnahme auch mit parallel vorhandenen Herz-Kreislauf-Erkrankungen (und damit einem Framnigham Risk Score > 10%), welche kein erhöhtes vaskuläres Risiko zeigen konnte, selbst bei einem Triptan-Übergebrauch.

Migräneprophylaxe im Alter: Synergie-Effekte nutzen

Medikamentöse Migräneprophylaxe im Alter ist eigentlich viel einfacher als bei jungen Menschen, da man relativ oft Synergie-Effekte nutzen kann. So benötigen viele Patienten eh einen Betablocker oder ein Sartan oder aber auch ein Antiepileptikum oder ein Antidepressivum. Gerade die gut verträglichen ACE-Hemmer und Sartane, die aber in der Migräneprophylaxe off label-Medikamente sind, können ja aber on label als Antihypertensivum verordnet werden. Richtig abgeraten wird (nicht nur in der PRISCUS-Liste) eigentlich nur von dem ansonsten von mir sehr geschätzten Amitriptylin (auf Grund seines Nebenwirkungsprofils), das stattdessen empfohlene Topiramat halte ich nach meiner Erfahrung für das am häufigsten schon nach kurzer Zeit wegen nicht tolerabler Nebenwirkungen abgesetzte Medikament zur Migräneprophylaxe.

Die nicht-medikamentöse Migräneprophylaxe, die ja den deutlich wichtigeren Part darstellt, kann so oder so auch im Alter durchgeführt werden. Gegen die regelmäßige Anwendung von Muskelentspannungsverfahren spricht sowieso gar nichts, 2-3 x wöchentlicher Ausdauersport länger als 30 Minuten muss ggfs. etwas an die jeweilige Realität angepasst werden.

Wo man weiterlesen kann

S1-Leitlinie Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne: https://www.dgn.org/leitlinien/3583-ll-030-057-2018-therapie-der-migraeneattacke-und-prophylaxe-der-migraene

  1. Wammes-van der Heijden, E. A., Rahimtoola, H., Leufkens, H. G. M., Tijssen, C. C. & Egberts, A. C. G. Risk of ischemic complications related to the intensity of triptan and ergotamine use. Neurology 67, 1128–1134 (2006).
  2. Haan, J., Hollander, J. & Ferrari, M. Migraine in The Elderly: A Review. Cephalalgia 27, 97–106 (2007).
  3. Mathew, S. & Ailani, J. Traditional and Novel Migraine Therapy in the Aging Population. Curr. Pain Headache Rep. 23, 42 (2019)
  4. Wijeratne, T., Tang, H. M., Crewther, D. & Crewther, S. Prevalence of Migraine in the Elderly: A Narrated Review. Neuroepidemiology 52, 104–110 (2019).

Parkinson für Dummies 02: Parkinson-Behandlung bei älteren Patienten

Medikamentöse Behandlung von älteren Patienten mit idiopathischen Parkinson-Syndromen: L-Dopa

Folgt man noch einmal dem Therapieschema aus Teil 1, dann besteht die Behandlung älterer Patienten mit (idiopathischen) Parkinson-Syndromen vor allem aus einer Monotherapie mit L-Dopa.

Für den klassischen Krankenhausneurologen wird dies der Regelfall sein, da Ersteinstellungen (und auch Therapieanpassungen) bei unter 70-jährigen in der Regel eine Domäne der ambulanten Neurologie sind. Im Krankenhaus sehen wir hingegen eher ältere, multimorbide und sehr häufig begleitend demenzkranke Patienten.

Wie fange ich an?

Naja könnte man sagen, irgendwie so wie immer: Kleine Dosis L-Dopa erst einmal, dann zweimal, dann dreimal täglich und fertig. Ist auch fast so, aber nicht ganz. Zunächst muss man bedenken, dass L-Dopa (auch wenn in den Präparaten ein Decarboxylasehemmer enthalten ist, der die Umwandlung in Dopamin in der Peripherie weitestgehend verhindert), im enterischen Nervensystem und der Area postrema wirkt und doch relativ stark zu Übelkeit und Erbrechen führt. Darum fängt man mit einem antiemetisch und prokinetisch wirkenden Medikament an, was nicht Metoclopramid ist, da dieses als zentraler Dopaminantagonist Parkinson-Syndrome verschlimmert, sondern mit Domperidon. Hier ist die Standarddosis 3 x 10 mg und 1-2 Tage vor Beginn einer L-Dopa-Behandlung sollte man anfangen, Domperidon zu verordnen.

Erst danach sollte man das L-Dopa eindosieren.

L-Dopa und L-Dopa

Hier ist nur wichtig zu wissen, dass es L-Dopa mit zwei verschiedenen Decarboxylasehemmern zu kaufen gibt, zum Einen mit Carbidopa, zum Anderen mit Benserazid. Die Präparate mit L-Dopa/Carbidopa sind immer mit der Dosis L-Dopa/Dosis Decarboxylasehemmer bezeichnet, also z.B. 100/25 mg oder 50/12,5 mg. Die Firma, die die Präparate mit Benserazid unter dem Namen Madopar vertreibt, rechnet beide Dosen zusammen. Deshalb sind in Madopar 125 mg ebenfalls 100 mg L-Dopa und 25 mg Benserazid enthalten. Theoretisch sind die beiden Präparate-Gruppen austauschbar und man könnte sie vermutlich wild abwechselnd geben, in der Praxis wird man dies vermeiden um nicht irgendwelche Unterschiede in Pharmakodynamik und -kinetik versehentlich mitzunehmen.

L-Dopa 3 x tgl.

Wie gesagt, es lohnt sich mit der niedrigsten Dosis, also der 50 mg-Dosis unter Domperidon-Gabe zu beginnen und die L-Dopa-Dosis nach einigen Tagen dann auf 3 x 100 mg zu steigern. Nach wenigen Tagen kann man dann auch das Domperidon wieder absetzen. Eine Sache gilt es zu beachten, L-Dopa muss eine halbe Stunde vor oder 1,5 Stunden nach den Mahlzeiten eingenommen werden, damit es wirken kann. Dementsprechend müssen die Einnahmezeitpunkte „um die Mahlzeiten herum“ geplant werden. Die drei mal tägliche L-Dopa-Gabe funktioniert meistens nur einen begrenzten Zeitraum lang. Dies hat folgenden Hintergrund: L-Dopa muss, damit es nicht zu Phasen von Über- und Unterdosierung kommt, bei der drei mal täglichen Gabe als Dopamin in der Substantia nigra zwischengespeichert und dann nach und nach wieder freigesetzt werden. Dies geht natürlich nur so lange es ausreichend Dopamin-speichernde Neuronen in der Substantia nigra gibt. Da man grob davon ausgehen kann, dass eine typische Parkinson-Klinik erst bei einem Zelluntergang von 50% aller dopaminergen Neuronen auftritt, kann man sich vorstellen, dass bei einer weiteren Neurodegeneration die Zahl der intakten Neuronen derart schnell abnimmt, dass die Zwischenspeicherfunktion nicht sehr lange ausreicht. Und das leitet über zu:

L-Dopa 4 x tgl.: Das L-Dopa-Uhrzeit-Raster

Mit einer 4 x tgl. Gabe alle 4 Stunden schafft man es in den allermeisten Fällen den Wach-Zeitraum am Tag abzudecken und trotzdem „nur“ 2 Halbwertszeiten in der L-Dopa-Verstoffwechselung zwischen den einzelnen Einnahmezeitpunkten zu haben und so einen relativ konstanten Wirkstoffspiegel gewährleisten zu können. Dies bedeutet aber auch, dass man schon ab einer 4 x tgl. Gabe eine Gabe nach Uhrzeiten einführt, um die Einnahme-Abstände zu gewährleisten. Und das führt zu dem „Standard-Uhrzeiten-Raster“ der L-Dopa-Gabe was sich sehr bewährt hat: 7, 11, 15, 19 Uhr. An diesem Raster, welches man je nach Lebenssituation der Patienten nach vorne und nach hinten schieben kann, kann man sich in der Behandlung von Parkinson-Syndromen meistens sehr lange entlang hangeln und zwar so:

Einfaches Therapieschema, L-Dopa Tagesdosis 400 mg
7.00 Uhr11.00 Uhr15.00 Uhr19.00 Uhr
L-Dopa/Carbidopa 100/25 mg
 oder
L-Dopa/Benserazid 100/25 mg
1111
Erweiterung des Therapieschemas, L-Dopa Tagesdosis 600 mg

Wenn dies nicht mehr reicht, dann meistens weil entweder der Start in den Tag oder der nächtliche Toilettengang Probleme bereiten. Den Start morgens kann man mit schnell wirksamen L-Dopa-Formulierungen erleichtern, die Nacht mit den sonst auf Grund ihrer unzuverlässigen kontinuierlichen Wirkstofffreisetzung wenig benutzten Retard-Tabletten.

06.30 Uhr7.00 Uhr11.00 Uhr15.00 Uhr19.00 Uhr22.00 Uhr
L-Dopa/Carbidopa 100/25 mg
 oder
L-Dopa/Benserazid 100/25 mg
1111
L-Dopa/Benserazid 100/25 mg LT1
L-Dopa/Benserazid 100/25 mg retard1
Eskalation des Schemas bei Wirkfluktuationen

Im weiteren Verlauf der Erkrankung kommt es typischerweise trotz der 4-Stunden-Abstände mit zunehmender Neurodegeneration zu Wirkfluktuationen mit End-of-Dose-Phänomenen und wearing-off. Dann kann ein COMT-Hemmer helfen, die Wirkdauer des L-Dopa trotzdem auf 4 Stunden zu strecken:

06.30 Uhr7.00 Uhr11.00 Uhr15.00 Uhr19.00 Uhr22.00 Uhr
L-Dopa/Carbidopa/Entacapon 100/25/200 mg1111
L-Dopa/Benserazid 100/25 mg LT1
L-Dopa/Benserazid 100/25 mg retard1
Fortgeschrittene Parkinson-Syndrome

In den allermeisten Fällen wird man irgendwann die Höhe einzelner Dosen ändern müssen, um auf einzelne unter- oder überbewegliche Phasen zu reagieren. Oft reicht die Morgendosis trotz LT-Tablette eigentlich nicht aus, so dass man so etwas versuchen kann:

06.30 Uhr7.00 Uhr11.00 Uhr15.00 Uhr19.00 Uhr22.00 Uhr
L-Dopa/Carbidopa/Entacapon 150/37,5/200 mg1
L-Dopa/Carbidopa/Entacapon 100/25/200 mg111
L-Dopa/Benserazid 100/25 mg LT1
L-Dopa/Benserazid 100/25 mg retard1

Häufig kommt es dafür dann nachmittags zu eher überbeweglichen Phasen (oder psychotischen Nebenwirkungen), so dass man dann hier die Dosis verringern kann und muss:

06.30 Uhr7.00 Uhr11.00 Uhr15.00 Uhr19.00 Uhr22.00 Uhr
L-Dopa/Carbidopa/Entacapon 150/37,5/200 mg1
L-Dopa/Carbidopa/Entacapon 100/25/200 mg1
L-Dopa/Carbidopa/Entacapon 50/12,5/200 mg11
L-Dopa/Benserazid 100/25 mg LT1
L-Dopa/Benserazid 100/25 mg retard1

Die Einnahmeabstände muss man in den allerwenigsten Fällen ändern, was sehr oft das ganze unheimlich kompliziert macht, da es dann kürzere und längere Zeiträume gibt, die es zu überbrücken gilt. Die meisten Probleme lassen sich mit einer Dosis- oder Wirkstoffanpassung gut kompensieren.

Was schief gehen kann, geht schief: Fallstricke

Die beiden typischsten Fallstricke sind sicherlich:

  • komplizierte, ausufernde Medikationen mit teilweise antagonistisch wirkenden Präparaten und
  • zu hektische Medikamentenumstellungen und
  • multimorbide Patienten, welche im Rahmen einer akuten Erkrankung oder eines Delirs ihre Medikamente nicht mehr schlucken können
Fallstrick: Gas und Bremse gleichzeitig

So etwas sieht man relativ häufig:

06.30 Uhr7.00 Uhr11.00 Uhr15.00 Uhr19.00 Uhr22.00 Uhr
L-Dopa/Carbidopa/Entacapon 100/25/200 mg1111
L-Dopa/Benserazid 100/25 mg LT1
L-Dopa/Benserazid 100/25 mg retard1
Pramipexol 0,35 mg111
Quetiapin 25 mg12
Rivastigmin 9,5 mg/24h-Pflaster1

Und hier gilt frei nach Kettcar: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Jetzt sind Parkinson-Medikationspläne meist historisch gewachsen und uns ist oft die Vorgeschichte nur in Teilen bekannt, aber gerade deshalb kann ein unverstellter Blick von außen manchmal recht hilfreich sein. Da aber auch Neurologen narzisstisch kränkbar sind, lohnt es sich ,vor dem Absetzen der meisten Präparate durchaus mit dem Verordner einmal zu telefonieren und sich abzusprechen. In dem aufgeführten (relativ typischen) Beispiel könnte man sich folgendes überlegen: Pramipexol führt wie alle Dopaminagonisten gerade bei älteren Patienten oft zu psychotischen Nebenwirkungen, insbesondere wenn eine Demenzerkrankung (Rivastigmin-Pflaster) vorliegt. Rivastigmin wiederum ist zwar zur Behandlung der Parkinson-Demenz zugelassen und indiziert, führt aber wiederum durch die cholinerge Wirkung oft zu einer motorischen Verschlechterung und wirkt zudem noch prodelirogen. Quetiapin und L-Dopa parallel zu geben ist in gewisser Weise widersinnig, auch wenn uns das Phänomen von psychiatrischen Nebenwirkungen bei dennoch unterbeweglichen Patienten sicherlich allen gut bekannt ist. Und an dieser Stelle hilft die gute alte geriatrische Medikamentenhygiene: Absetzen, was für die Patienten keinen nennenswerten Effekt (mehr) hat. Und so wäre es einen Versuch wert, dass Rivastigmin zu pausieren und das Pramipexol abzusetzen, vermutlich muss man dann gar nicht so viel an der L-Dopa-Dosis verändern und kann auch das Quetiapin nur noch bedarfsweise geben. Und im schlimmsten Fall setzt man einzelne Präparate halt wieder schrittweise an.

Fallstrick: Schnell-schnell

In unserem Beispiel von gerade kann man jetzt natürlich alle Medikamente auf einmal ab- oder auch wieder ansetzen oder das ganze schrittweise machen. Je älter und multimorbider Patienten sind, desto langsamer und schrittweiser sollten Medikamentenumstellungen erfolgen, da sich sonst die einzelnen Umstellungsschritte gar nicht mehr zuordnen lassen.

Der nächste Fehler ist, Medikamentenumstellung in (abklingende) Infekte oder Delirien hinein zu beginnen. Ähnlich wie bei anderen chronischen ZNS-Erkrankungen lässt sich eine infektbedingte Verschlechterung auch bei Parkinson-Erkrankungen beobachten, welche oft auch wieder reversibel ist.

Fallstrick: Patient kann die Medikamente nicht schlucken

Um es kurz zu sagen: Man kann alle Parkinson-Medikamente mörsern und über eine Magensonde geben bis auf Kapseln (die man aber 1:1 in Tabletten umsetzen kann) und Retard-Präparate. Und das ist in den meisten Fällen auch der einfachste Weg.

Alternativ kann man auch ein Rotigotin-Pflaster geben, was aber in den allermeisten Fällen die 1:1-Umsetzung der Hausmedikation nicht ersetzen kann, drittens Amantadin i.v., für welches das selbe gilt + dass Amantadin gerade bei älteren Patienten oft zu psychotischem Erleben führt.

Wo man weiterlesen kann

S3-Leitlinie Idiopathisches Parkinson-Syndrom: https://www.dgn.org/leitlinien/3219-030-010-idiopathisches-parkinson-syndrom

  1. Jost, W. H. Medikamentöse Therapie der motorischen Symptome beim Morbus Parkinson. Nervenarzt 88, 373–382 (2017).
  2. Deuschl, G. Frühtherapie bei Morbus Parkinson. Aktuelle Neurol. 38, 483–487 (2011).
  3. Baas, H. et al. Stellenwert von L-Dopa in der Therapie der Parkinson-Krankheit. Aktuelle Neurol. 40, 338–342 (2013).

Delir

Was ist das eigentlich und woher kommt das?

Das Phänomen Delir ist seit Hippocrates, also seit über 2500 Jahren, bekannt. Gemeint ist dabei eine sich über wenige Stunden bis einige Tage entwickelnde Bewusstseins-, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörung, welche typischerweise bei einer schweren Erkrankung, nach einem operativen Eingriff oder bei älteren und dementen Patienten nach einem Umgebungswechsel auftritt. Schwankungen der Klinik im Tagesverlauf sind eher die Regel als die Ausnahme, oft mit einer Zunahme in den Abend- und Nachtstunden. Dadurch bedingt kommt es häufig zu einer Umkehr des Tag-Nacht-Rhythmus. Definitionsgemäß liegt eine systemische oder hirnorganische Erkrankung zu Grunde, Hauptunterscheidungsmerkmale zur Demenz sind die rasche Entwicklung der Symptomatik und die Schwankungen der Schwere der Symptome. Zudem kommt es in schweren Verlaufsformen zu vegetativen Entgleisungen, die eine IMC- oder Intensivpflichtigkeit bedingen können. Visuelle szenische Halluzinationen sind häufig, aber anders als die Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsstörung kein obligates Syndrom. Die meisten Delirien erstrecken sich über wenige Tage, ein Delir kann aber auch prolongiert über Wochen, teils auch über Monate anhalten. Für postoperative Delirien gibt es überzeugende Studiendaten, die kognitive Defizite nach einem durchgemachten Delir noch nach 12 Monaten nachweisen konnten. Während nahezu jedem klinisch tätigen Menschen hyperaktive oder produktive Delirien in guter Erinnerung sind, wird häufig übersehen, dass mindestens die Hälfte der Delirien als hypoaktives Delir oder gemischtes Delir verläuft. Gerade das hypoaktive Delir gilt als massiv unterdiagnostiziert und wird häufig nur zufällig, z.B. im Rahmen einer verzögerten Aufwachreaktion im Weaning richtig gedeutet.

Noch vor knapp 10 Jahren war der Begriff Delir für Delirien im Alkohol- oder Benzodiazepinentzug reserviert. Diese stoffgebundenen Delirien unterscheiden sich in ihrer Pathogenese erheblich von den „anderen“, nicht stoffgebundenen Delirien. Diese hießen früher oft hirnorganisches Psychosyndrom (HOPS), akuter Verwirrtheitszustand oder insbesondere im operativen Bereich Durchgangssyndrom.

Grundlage des stoffgebundenen Delirs ist, dass Alkohol, aber auch Benzodiazepine zum Einen GABA-erg wirken zum Anderen die Wirkung von NMDA-Rezeptoren hemmen. Dies führt kompensatorisch zu einer verminderten Synthese von GABA im Gehirn und einer Up-Regulation von NMDA-Rezeptoren. Beim raschen und plötzlichen Absetzen von Alkohol oder Benzodiazepinen resultiert dann ein relativer Mangel von GABA als Neurotransmitter im Gehirn, während den in vermehrter Anzahl vorhandenen NMDA-Rezeptoren recht plötzlich die Inhibition fehlt. Die Therapie der Wahl beim stoffgebundenen Delir ist dann auch die Substitution (eben mit Benzodiazepinen) und schrittweise Reduktion, um dem plötzlichen Absetzeffekt entgegen zu wirken und dem Gehirn zu ermöglichen, die hemmenden Neurotransmitter in entsprechender Menge wieder selbst zu synthetisieren.

Komplexer ist die Situation beim nicht-stoffgebundenen Delir, also dem Delir welches wir am häufigsten und insbesondere bei älteren Patienten sehen. In den meisten Publikationen zum Delir beschränkt sich die Erklärung zur Genese auf „ein Delir entsteht, wenn eine Noxe auf ein vorgeschädigtes Gehirn trifft“, was sicherlich prinzipiell stimmt, das Ganze aber schwammig und wenig greifbar macht. Vermutlich ist es so, dass es nicht den einen Weg ins Delir gibt, was ja auch mit der klinischen Beobachtung ganz unterschiedlicher „Noxen“ (Infekte, Medikamente, Operationen, Veränderung von Umgebung, Tag-Nacht-Rhythmus, soziale, optische und akustische Deprivation), die auf unsere Patienten einwirken und die ja oft erst in der Summe zu einem Delir führen, konform geht. Und natürlich ist die Art der Vorschädigung auch von Person zu Person verschieden, mal ist es eine Demenz, mal eine bleibende strukturelle Läsion wie ein Schlaganfall oder eine transiente wie ein epileptischer Anfall. In der Summe resultieren aber offenbar auf verschiedenen Wegen ein cholinerges Defizit und ein Überwiegen dopaminerger Neurone. Die Bedeutung der anderen, ansonsten im Gehirn bedeutsamen Neurotransmitter wie Serotonin, GABA oder Glutamat ist hingegen hier weiterhin unklar. Diese Erklärung ist zum Einen charmant, weil sie ganz gut mit der Beobachtung von potentiell delirogen wirkenden Medikamenten, aber auch der medikamentösen Delirbehandlung vereinbar scheint, zum Anderen aber auch recht plausibel die verschiedenen „Noxen“ erklärbar macht. Direkte prodelirogene Effekte werden durch anticholinerg und dopaminerg wirkende Substanzen erklärt. Metabolische Störungen wie (lokale) Hypoxien oder Hypoglykämien (z.B. im Rahmen einer Minderversorgung bei einem Schlaganfall oder einem Mehrverbrauch bei einem epileptischen Anfall) führen zu einer direkten neuronalen Funktionsstörung mit gestörter Synthese, bzw. vermehrter oder verminderter Freisetzung von Neurotransmittern. Infekte, Verletzungen oder Operationen betreffen meist nicht primär das ZNS führen aber zu einer systemischen und dann oft auch sekundär neurogenen Entzündung, was wiederum zum Einen neurotoxisch wirkt, zum Anderen die Neurotransmitter-Freisetzung verändert. Vermehrte Freisetzung von Stresshormonen wie Noradrenalin oder Steroide bewirkt eine Aktivierung von Gliazellen und hierüber eine neuronale Schädigung.

Wie erkennt man ein Delir?

Kurz gesagt über die beschriebene Klinik mit ihrer typischerweise ausgeprägten Fluktuation, der immer vorliegenden Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsstörung (mindestens als Orientierungsstörung) und über die Triggerfaktoren. Hilfreich können gerade auf Intensivstationen und in neurologisch oder psychiatrisch nicht allzu bewanderten Stationen und Fachabteilungen auch Screenings-Tests wie der CAM oder der CAM-ICU sein, welcher zusammen mit der RASS oft auf Intensivstationen routinemäßig eingesetzt wird (z.B. https://www.divi.de/empfehlungen/publikationen/bewusstseinsstoerungen-und-koma/967-cam-icu-ras-und-bps-a4/file).

Haldol tut wohl und fertig?

Die Behandlung des nicht-stoffgebundenen Delirs setzt sich zusammen aus den (vermutlich weitaus wichtigeren) nicht-medikamentösen Maßnahmen und ggfs. einer Medikamentengabe. Die nicht-medikamentösen Maßnahmen zielen allesamt auf eine Re-Strukturierung des Alltages mit physiologischem Tag-Nacht-Rhythmus, Verhinderung von Deprivation durch Einsetzen von Hörgeräten, Tragen von Brillen, Anbringen von Uhren/Kalendern in Sichtweite und – und das geschieht regelhaft auf Intensiv- und Überwachungsstationen nicht – Ermöglichen einer entsprechenden Tagesstruktur, in denen die Patienten eben nicht um 4 Uhr morgens gewaschen werden, um 5 Uhr das Blut abgenommen wird und immer wieder nachts bei Kontrollgängen die Neonbeleuchtung im Raum eingeschaltet wird. Die zweite Säule der Delirbehandlung ist die Behandlung der Grunderkrankung, also z.B. des das Delir triggernden Infektes. Drittens gibt es (eine bescheidene) Evidenz für die Behandlung des hyperaktiven (und nicht des hypoaktiven) Delirs mit Dopaminantagonisten, also Neuroleptika bezüglich der Schwere und der Dauer des Delirs. Ein besseres Outcome, eine niedrigere Mortalität usw. lässt sich hingegen beim Einsatz von Neuroleptika nicht belegen. Im Gegenteil erhöhen gerade die typischen Neuroleptika ganz erheblich das kardiovaskuläre Risiko, insbesondere wenn sie (wie es im Alltag häufig geschieht) über einen längeren Zeitraum gegeben werden. In Studien wurde am häufigsten Haloperidol (1-5 mg/Tag) untersucht, weshalb es hierfür auch die beste Datenlage gibt. Allerdings ist Haloperidol hinsichtlich der Nebenwirkungen nun ganz und gar nicht unproblematisch, die i.v.-Gabe nur unter Monitorüberwachung auf Grund der Gefahr des Auftretens relevanter Herzrhythmusstörung, insbesondere ventrikulärer Tachykardien und eines LongQT-Syndroms zugelassen, die i.m.-Gabe insbesondere bei antikoagulierten Patienten nicht ohne weiteres möglich. Zudem wird das Risiko relevanter extrapyramidal-motorischer Nebenwirkungen auch nach kurzfristiger Haloperidol-Einnahme eher unterschätzt.

Risperidon löst Haloperidol gerade in der Neurologie zunehmend ab und wird typischerweise in Dosen zwischen 0,5 und 3 mg/Tag gegeben. Ob Quetiapin in der Behandlung des Delirs außerhalb der Behandlung von Parkinson-Patienten überhaupt einen Stellenwert hat oder nur ein besonders teures Schlafmittel ist, ist umstritten. Wenn es nur um die schlafanstoßende Wirkung geht, eignet sich ein niedrig potentes Neuroleptikum wie Melperon (auf die lange Wirklatenz achten, 3-6 Stunden vor der erwünschten Wirkung geben) in der Regel genauso gut. Wilde Mischintoxikationen insbesondere mit zusätzlich gegebenen Benzodiazepinen sollte man – wenn möglich – so gut es geht vermeiden. Zur Behandlung vegetativer Entgleisung eignen sich Alpha 2-Adrenorezeptor-Agonisten wie Clonidin oder intensivmedizinischen Setting Dexmedetomidin, welche als Nebeneffekt auch sedierend wirken.

Wenn das alles so kompliziert ist, warum geb ich dann nicht einfach Benzos?

Weil Benzodiazepine – wie erwähnt – GABA-erg wirken und damit einfach gar nichts an der Pathopyhsiologie des Delirs ändern, wenn es ein nicht-stoffgebundenes ist. Das heißt, der Patient ist nur sediert, das Delir aber weiter unbehandelt und wird spätestens beim Abklingen der Benzodiazepinwirkung wieder symptomatisch. Zudem können Benzodiazepine paradox und damit sogar prodelirogen wirken.

Delir behandelt, Patient trotzdem tot?

Delirien sind häufig und treten (je nach Untersuchung etwas schwankend) bei ca. einem Drittel aller auf peripheren Bettenstationen liegender Patienten und bei bis zu 80% aller Patienten auf Intensivstationen auf. Es besteht eine starke Korrelation der Auftretenshäufigkeit zum Alter des Patienten und zu einer komorbid vorhandenen Demenz. Das Vorhandensein eines Delirs ist per se ein schlechter prognostischer Faktor und mit einer erhöhten Sterblichkeit assoziiert. Diese ist mit 10% relativ erhöhter Mortalität pro Delirtag erschreckend hoch und hat vermutlich verschiedene, krankheitsbedingte, aber auch iatrogene – durch die Delirbehandlung bedingte – Gründe. Auch das Outcome bei Überleben des Delirs ist signifikant schlechter, so sind 40% aller Patienten mit einem Delir nicht in die Häuslichkeit entlassbar und benötigen eine Unterbringung in einem Pflegeheim, Delirien verschlechtern regelhaft das Outcome rehabilitative Behandlungen. Der Einsatz von typischen Neuroleptika erhöht die kardiovaskuläre Sterblichkeit innerhalb von 12 Monaten um den Faktor 1,5 gegenüber einer Behandlung mit Atypika. Diese wiederum sind mit einer bis zu 2,5 fach erhöhten Sterblichkeit gegenüber einem Nichtgebrauch assoziiert. Alle in der Delirbehandlung eingesetzten Medikamente wirken sedierend, hierüber kommt es zu vermehrten Stürzen mit Traumafolgen und zu einer vermehrten Immobilität mit entsprechend höherem Risiko von Pneumonien. Interessanterweise wurde im letzten Jahr eine Metaanalyse veröffentlicht, die auf den ersten Blick praktisch das Gegenteil zu zeigen scheint (Wu et al.), wobei die Nachbeobachtungszeit der eingeschlossenen Studien unklar bleibt.

Wo man weiterlesen kann
  1. Weintraub, D. et al. Association of Antipsychotic Use With Mortality Risk in Patients With Parkinson Disease. JAMA Neurol. 73, 535 (2016).
  2. Hüfner, K. & Sperner-Unterweger, B. Delir in der Neurologie. Nervenarzt 85, 427–436 (2014).
  3. Hübscher, A. & Isenmann, S. Delir: Konzepte, Ätiologie und klinisches Management. Aktuelle Neurol. 43, 452–463 (2016).
  4. Müllges, W. Ätiologie und Therapie des Delirs. Aktuelle Neurol. 41, 586–596 (2015).
  5. Mann, K. Das Delir — Klinik, Pathogenese, Therapie und Prävention. InFo Neurol. Psychiatr. 20, 38–46 (2018).
  6. Wu, Y.-C. et al. Association of Delirium Response and Safety of Pharmacological Interventions for the Management and Prevention of Delirium. JAMA Psychiatry 76, 526 (2019).