Subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE)

Vorweg

So langsam möchte ich im Blog wieder von den Corona-Beiträgen wegkommen und perspektivisch zu den eigentlichen brainpainblog-Themen zurückkehren. Den Themenkomplex Masern und die Komplikationen einer Masern-Infektion finde ich allerdings in sofern interessant, da bei der ganzen Corona-Diskussion immer wieder neben Polio der Vergleich zur SSPE als Masern-Spätkomplikation gezogen wird. Nur was ist das eigentlich? Dafür müssen wir zunächst einmal in die Tiefen der Mikrobiologie und Pädiatrie eintauchen:

Die Masern: Kleiner Crashkurs

Das Masern-Virus

Auch bei der Herkunft des Masern-Virus geht man von einem eigentlich Tiere infizierenden Virus aus, welches allerdings schon frühgeschichtlich den Sprung auf den Menschen geschafft hat, vermutlich im Rahmen der Entwicklung von Viehhaltung. Anders als Corona-Viren hat das Masern-Virus keine feste Form, sondern ist relativ variabel. Auch es hat eine Hülle, die vom M-Protein gebildet wird und in dem mehrere andere – für die Infektion wichtige – Proteine stecken: Das Hämagglutinin, was in der Regel mit H abgekürzt wird und das F-Glykoprotein. Im Inneren der Hülle liegt die Virus-RNA. Übertragen wird das Masern-Virus vor allem durch Tröpfchen-Infektionen. Zunächst infiziert es Abwehrzellen, in dem das H-Protein an einen Oberflächenfaktor von Immunzellen (CD150) bindet. In den Zellen der Immunabwehr vermehrt sich das Virus und gelangt über die Blutbahn auch in die Atemwege. Dort dockt sich das Masern-Virus an das PRLV4-Protein an über dass das Masern-Virus die Zellen später auch wieder verlassen kann. Bei der Infektion der Immunzellen wird die Bildung verschiedener Zytokine induziert, unter anderem IL-6 und IL-8, begleitend wird über verschiedene Virus-Proteine eine wirksame rasche Immunantwort verzögert. Damit gewinnt das Virus Zeit, um sich im Körper vermehren zu können (das Virus lässt sich auch bei Gesunden noch bis zu 90 Tage nach Infektion in Lymphozyten nachweisen). Schlussendlich wird das Virus dann aber von der zellulären (also T-Zell-vermittelten) Immunsystem-Komponente bekämpft und eliminiert, Antikörper bilden sich erst mit Entwicklung des Hautausschlages aus.

Die Masern-Erkrankung

Masern gelten als eine der klassischen Kinderkrankheiten. Masern sind extrem ansteckend, sogar die ansteckendste derzeit bekannte Infektionskrankheit mit einem R0-Wert von 12-18 (Link Wikipedia, der R0 von COVID-19 beträgt 1,4 bis 5,7). Die Inkubationszeit liegt – auch durch die Fähigkeiten des Virus die Immunantwort zu unterdrücken – bei 10-14 Tagen. Dann entwickeln sich zunächst unspezifische Erkältungssymptome (durch die Infektion der oberen Atemwege), wie Husten, Schnupfen, Bindehautentzündungen und Fieber. Als nächstes Treten an der Mundschleimhaut kleine weiße Papeln auf, die berühmten Koplik-Flecken, die alle Mediziner mal in irgendwelchen Staatsexamens-Prüfungen per Multiple Choice ankreuzen durften. Erst 1-2 Tage später entwickelt sich das Masern-Exanthem, was typischerweise hinter den Ohren beginnt und sich von dort über den Körper ausbreitet. Dieses ist – wie es oft heißt – kirschrot mit kleinen Papeln drin, kann stippchenartig einbluten und verblasst nach ungefähr drei Tagen. Die meisten Infizierten erholen sich innerhalb von sieben Tagen. Als Hauptkomplikation in der akuten Masern-Infektion gilt die Masern-Pneumonie mit einer Häufigkeit von ca. 5%, diese ist auch die häufigste Todesursache. Generell nimmt man eine Letalität von 0,2% an, also 2 von 1.000 Infizierten versterben. Seltenere Komplikationen der akuten Erkrankung sind Durchfälle und Mittelohrentzündungen.

Neurologische Komplikationen durch Masern-Infektionen

Es gibt insgesamt drei neurologische Erkrankungen, die nach einer Masern-Infektion kausal auftreten können und welche die Hauptmotivation für die Impfstoffentwicklung waren: Die ADEM, die Masern-Einschlusskörperchen-Enzephalitis und die SSPE.

Akute demyelinisierende Enzephalomyelitis (ADEM)

Die ADEM ist neben der Masern-Einschlusskörperchen-Enzephalitis die häufigste neurologische Komplikation nach einer Masern-Infektion mit einer Häufigkeit von 0,1% aller Infizierten. Bei der ADEM handelt es sich um einen autoimmun vermittelten Prozess, der wenige Tage bis maximal vier Wochen nach der Infektion auftreten kann und den man in der Neurologie auch nach anderen Erkrankungen und auch nach Impfungen kennt. Eine ADEM nach Masern-Impfung gibt es demnach genauso, allerdings deutlich seltener, man nimmt eine Häufigkeit von 0,25/1.000.000 Impfungen an. Bei der ADEM kommt es – ähnlich zur Multiplen Sklerose – zu einer Entzündung des Marklagers im Gehirn, allerdings deutlich großflächiger und eben monophasisch und nicht wie bei der MS wiederkehrend. Abhängig von den Orten der Infektion kommt es zu neurologischen Ausfällen, zudem werden enzephalopathische Symptome wie Bewusstseinsstörungen und epileptische Anfälle beschrieben.

Bei der ADEM lässt sich kein Masern-Virus im Hirngewebe bei Hirnbiopsien oder im Liquor nachweisen, sie ist als überschießende Immunreaktion zu verstehen. Behandelt wird die ADEM wie andere autoimmun-vermittelte ZNS-Entzündungen auch in erster Linie mit Steroiden. Die Letalität der ADEM liegt unbehandelt bei ungefähr 30%, behandelt deutlich niedriger. Die Prognose gilt gemeinhin als gut, wenn auch durchaus neurologische Residualsymptome nach durchgemachter ADEM beschrieben werden. Die MRT-Auffälligkeiten bilden sich meistens innerhalb von drei Monaten zurück.

Masern-Einschlusskörperchen-Enzephalitis (MIBE)

Hier beginnen die gruseligen Erkrankungen. Die MIBE ist neben der ADEM die zweithäufigste neurologische Masern-Komplikation mit einer Häufigkeit von 0,1-0,3% aller Infizierten. Bei der MIBE kommt es zu einer Viruspersistenz in Nerven- und Gliazellen, und zwar in den namensgebenden Einschlusskörperchen. Aus Biopsien weiß man, dass hier das Virus aus der Primärinfektion einfach im Gehirn zu persistieren scheint. Die MIBE tritt zwischen vier Wochen und neun Monaten nach Infektion auf und ist extrem stark mit Immunschwächen, wie durch Leukämien oder HIV-Infektionen assoziiert. Die Symptomatik ist oft eher unspezifisch, beginnt mit Verhaltensauffälligkeiten, Unruhezuständen, vermehrter Reizbarkeit und im Verlauf dann auch Bewusstseinsstörungen. Für die MIBE sind Letalitätsraten bis 50% der Betroffenen beschrieben. Eine kausale Therapie existiert nicht, es gibt (verzweifelte) Therapieversuche mit hochdosiertem Vitamin A, die – so scheint es zumindest – wenn aber als Post-Expositions-Prophylaxe bei nicht geimpften Kontaktpersonen (Kinder unter 12 Monaten) eines Masern-Ausbruchs wirksam sind. Zudem gibt es es einzelne Fallberichte, die eine erfolgreiche Behandlung mit Ribavirin beschreiben.

Subakute sklerosierende Panenzephalitis

Kommen wir zum eigentlichen Aufhänger des Beitrags. Die SSPE ist die seltenste Komplikation, man geht heutzutage von 3-11 Fällen/100.000 Infizierten aus. Die Häufigkeit hat mit steigender Impfquote stark nachgelassen, so finden sich aus den späten 1980er und frühen 1990er Jahren auch Häufigkeitsangaben von 1:1.367 bei unter 5-Jährigen und für Kleinkinder unter einem Jahr sogar von 1:6.09, nach einer anderen Arbeit aus Deutschland bei unter 5-Jährigen zwischen 1:1.700 bis 1:3.300. Man nimmt an, dass dies daran liegt, dass bei hohen Impfquoten um 95% Kleinkinder – die sonst die höchste Inzidenz haben (im Mittleren Osten zum Beispiel weiterhin 360/100.000 Infizierte) – durch die zumindest einigermaßen funktionierende Herdenimmunität geschützt sind. Auch nach Masern-Impfungen kann vermutlich eine SSPE auftreten, allerdings deutlich seltener. Aktuell wird bei einer Impfung mit Dreifachimpfstoffen (Masern, Mumps, Röteln) oder Vierfachimpfstoffen (Masern, Mumps, Röteln, Windpocken) eine Rate von 1,4 Fällen auf 1.000.000 Impfungen angenommen (es gibt aber auch Arbeiten, die dies auf Impfversager zurückführen). Die SSPE wurde erstmals 1934 beschrieben, Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen. Es sind mehrere Krankheitsstadien beschrieben, die SSPE tritt in der Regel frühestens 2 Jahre nach der Masern-Infektion auf, es sind aber auch Fälle beschrieben, bei der die SSPE mehr als 20 Jahre nach Primärinfektion begann. Die SSPE führt in ungefähr 95% der Fälle zum Tod der Betroffenen.

Pathophysiologie und Liquorbefunde

Aus Autopsie-Studien an SSPE Verstorbener weiß man mittlerweile, dass es bei der SSPE offenbar zu einer Viruspersistenz und -mutation im ZNS kommt mit einer schleichende Infektion des ganzen Gehirns mit dem mutierten Virus. Die Invasion von Nervenzellen scheint über das F-Protein des Masernvirus und CD46 als Oberflächenprotein auf den Nervenzellen zu geschehen. Um die infizierten Zellen herum kommt es zu einer starken und destruierenden Entzündungsreaktion. Offenbar führt diese Entzündungsreaktion dazu, dass das Virus nicht mehr alle Proteine ausbildet und sich in der Folge verändert. Hauptrisikofaktor für dieses Geschehen scheint ein nicht ausgereiftes Immunsystem zu sein, vor allem was die zelluläre Immunantwort betrifft, was die starke Altersabhängigkeit der Erkrankung erklären würde.

Im Liquor lässt sich bei der SSPE in der Regel ein entzündliches Liquorsyndrom und eine extrem hohe intrathekale (vergleiche den Beitrag hier) Antikörper-Produktion von Masern-IgG nachweisen (AK-Titer zwischen 1:40 und 1:1280, Antikörper-Spezifitäts-Index zwischen 5:1 bis 40:1), was man sich durch die jahrelange Virus-Persistenz im Nervensystem mit entsprechender Triggerung des Immunsystems erklärt. In neueren Arbeiten werden auch eine hohe Viruslast in PCR-Tests aus Liquores von SSPE-Betroffenen beschrieben, dieses Verfahren gibt es halt noch nicht so lang, so dass viele ältere Arbeiten vor allem die Antikörper-Titer (und die heute völlig verlassenen Viruskulturen) thematisieren.

EEG und MRT

In bis zu gut 80% der Fälle lassen sich im EEG bilaterale periodische Muster aus delta-Wellen und scharfen Wellen nachweisen, welche alle 2 bis 20 Sekunden auftreten, zunächst vor allem im Schlaf und triggerbar durch Außenreize. Man nimmt an, dass die periodischen Entladungen einer neuronale Übererregbarkeit anzeigen und auch für die häufig auftretenden Myoklonien verantwortlich sind.

In der MRT zeigen sich zunächst kortikale und juxtakortikale T2-hyperintense Läsionen, bevor im Krankheitsverlauf flächige „Sklerosen“ vor allem im hinteren periventrikulären Marklager entstehen und im Verlauf auch den Balken und den Thalamus, sowie das Corpus callosum betreffen.

Krankheitsstadien

Man nimmt gemeinhin sechs Krankheitsstadien an, wobei diese von ungefähr 80% der SSPE-Erkrankten durchlaufen werden:

  1. Die Krankheit beginnt mit diskreten neuropsychologischen Defiziten, wie Hyperaktivität, relativ subtilen Sprachentwicklungsstörungen oder schlechteren schulischen Leistungen. Sehr selten kommt es frühzeitig zu epileptischen Anfällen.
  2. Als zweites Krankheitsstadium gilt die Exazerbation der geschilderten Beschwerden, so dass meistens hier die Diagnosestellung erfolgt.
  3. Im dritten Krankheitsstadium kommt es zu Bewegungsstörungen mit stereotypen Bewegungsabläufen, Tremor, aber auch zu Koordinationsstörungen mit einer deutlichen Ataxie.
  4. Es treten zunehmend Bewusstseinsstörungen auf, bis hin zum Koma.
  5. In gut der Hälfte der Fälle kommt es zu einer Besserung der Beschwerden, diese Phase kann mehrere Jahre anhalten.
  6. Es kommt zu einem Wiederaufflammen der Beschwerden, im Durchschnitt versterben die Patienten drei Jahre nach Symptombeginn.

Bei ca. 20% der Betroffenen kommt es eher zu vier Erkrankungsstadien mit deutlich rascherem Tod nach ungefähr einem Jahr nach Symptombeginn.

Therapeutische Ansätze

Es gibt auch weiterhin keine etablierte, evidenzbasierte und wirksame Therapie der SSPE. Mit verschiedenen – experimentellen – Therapieverfahren lässt sich der SSPE-Verlauf bei bis zu einem Drittel der Betroffenen verlangsamen. Die meisten „guten“ Therapieergebnisse wurden aus einer Kombination mit einmal wöchentlich intrathekal injiziertem Interferon-alpha und der Gabe von Isoprinosin erzielt. Isoprinosin soll die Virusreplikation verlangsamen. Weniger überzeugende Ergebnisse soll es für Ribavirin geben, was als Nukleotidanalogon ebenfalls die Virusreplikation stört.

Masern und COVID-19

Ich halte das kurz, da der Vergleich irgendwie Käse ist, wie man hoffentlich nach der Lektüre bis hier gemerkt hat. Trotzdem versuche ich mal die häufigsten Fragen oder Vermutungen zu beantworten.

Sind Long Covid und SSPE das selbe oder etwas ähnliches?

Nein, nach allem, was wir wissen, entsteht ein großer Teil der postinfektiösen Erschöpfungssyndrome durch verschiedene autoimmun vermittelte Prozesse, wie man auch hier im Long Covid-Pathogenese-Beitrag nachlesen kann. Bei besonders lang anhaltenden Long Covid-Beschwerden scheinen zudem biopsychosoziale Gründe eine wichtige Rolle zu spielen. Die SSPE ist eine Gehirninfektion durch ein im ZNS persistierendes und mutiertes Masern-Virus. Es gibt nur ganz wenige Einzelfallberichte, die bei Menschen mit Long Covid SARS-CoV-2-RNA im Liquor und damit im ZNS nachweisen konnten, zum Beispiel die Veröffentlichung von Viszlayová et al., über die man sicherlich trefflich streiten kann.

Kann man eine SSPE-ähnliche Erkrankung bei SARS-CoV-2 ausschließen?

Nein, in der Medizin kann man nie irgendetwas ausschließen. Wir kennen aber Coronaviren sowohl beim Menschen, als auch bei Tieren seit Jahren. Beim Menschen sind – auch und insbesondere bei der SARS-1- und MERS-Epidemie derartige Erkrankungen nicht beschrieben worden, diese Epidemien liegen nun knapp 20, bzw. knapp 10 Jahre zurück, so dass man analog zur SSPE „so langsam“ Fälle erwarten würde. Bei Tieren hatte Christian Drosten in der Coronavirus-Podcast-Folge 99 (Link Podcast, Link Transkript) von der felinen infektiösen Peritonitis, bei der bestimmte mutierte Katzen-Coronaviren häufig tödlich verlaufende Bauchfellentzündungen verursachen gesprochen. Hier ein tiermedizinischer Artikel hierzu: Link. Dies mag etwas an die SSPE erinnern, allerdings gibt es bei der felinen infektiösen Peritonitis keine so langen Latenzen zwischen Infektion und Erkrankungsausbruch, wie bei der SSPE.

Wo man weiterlesen kann

Gutierrez, J., Issacson, R. S., & Koppel, B. S. (2010). Subacute sclerosing panencephalitis: an update. Developmental Medicine & Child Neurology, 52(10), 901–907. https://doi.org/10.1111/j.1469-8749.2010.03717.x

Weber, T. (2018). Masern – Warum ist die Impfung notwendig und wie gehe ich mit Impfgegnern um? Aktuelle Neurologie, 45(09), 672–689. https://doi.org/10.1055/a-0681-9696

Literaturangaben (keine Weiterlese-Tips)

Viszlayová, D., Sojka, M., Dobrodenková, S., Szabó, S., Bilec, O., Turzová, M., Ďurina, J., Baloghová, B., Borbély, Z., & Kršák, M. (2021). SARS-CoV-2 RNA in the Cerebrospinal Fluid of a Patient with Long COVID. Therapeutic Advances in Infectious Disease, 8, 204993612110485. https://doi.org/10.1177/20499361211048572

Kremendahl, J. (2014). Feline infektiöse Peritonitis – ein aktueller Überblick. Kleintier Konkret, 17(02), 10–14. https://doi.org/10.1055/s-0033-1361536

Was man auch im Jahr 2021 noch über Polio wissen sollte

Polio hatte ich eigentlich gar nicht mehr auf der Kappe, aber im Rahmen des Corona-Themas kocht es gerade an verschiedenen Stellen hoch, meist um die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer Impfung zu untermalen:

Doch der Vergleich hinkt und hier kommt jetzt, warum das so ist. Außerdem trifft man – zunehmend seltener – auf Patienten mit einem Post-Polio-Syndrom, von dem die meisten von uns auch nur noch wenig Ahnung haben. Also, Bühne frei für Polio.

Die große Familie der Enteroviren

Polioviren gehören zu den Enteroviren. Das ist eine große Gruppe von umhüllten RNA-Viren, die sich – wie der Name sagt – vor allem im Magen-Darm-Trakt vermehren. Durch ihre Hülle sind Enteroviren relativ resistent gegen Umwelteinflüsse und auch gegen Desinfektionsmittel. Es gibt weit über 100 Viren-Spezies der Enteroviren, von denen viele Infektionen beim Menschen verursachen. In vielen Fällen erscheinen diese wahllos irgendwelche Schleimhäute zu betreffen, so dass Atemwegsinfekt, Gastroenteritiden, Bindehautentzündungen, Myositiden, Myokarditiden und Perikarditiden beschrieben sind. Zudem sind die meisten Enteroviren relativ neurotrop invasiv. Fast alle in der Neurologie Beschäftigten haben schon Patienten mit einer viralen, durch Enteroviren bedingten, Meningitis gesehen. Eltern von Kita-Kindern kennen zudem Coxsackie-Viren, die auch zu den Enteroviren gehören, und die die allseits beliebte Hand-Mund-Fuß-Krankheit verursachen (ein großer Spaß). Und auch Polioviren gehören zu den Enteroviren. Allen Enteroviren ist gemein, dass sie in erste Linie Kinder bis zum 10. Lebensjahr infizieren (und Erwachsene deutlich seltener).

In den letzten 10 Jahren sind insbesondere aus dem asiatischen Raum zudem Fallberichte von Patienten mit einem „neuen“ Enterovirus-Serotyp aufgetaucht, dem Enterovirus EV-71. So furchtbar neu ist EV-71 aber nicht, man kennt es seit den 1960er Jahren. EV-71 scheint sehr variabel in den Beschwerden zu sein, welche es verursacht. Sowohl Hand-Mund-Fuß-Syndrome, als auch Meningitiden, als auch Polio-ähnliche-Symptome und Hirnstammenzephalitiden wurden beschrieben, teils auch mit tödlichem Verlauf.

Das Polio-Virus

Vom Polio-Virus sind drei Serotypen bekannt, die einfach durchnummeriert worden sind, von Poliovirus Typ 1, über Poliovirus Typ 2 zu Poliovirus Typ 3. Die Serotypen 2 und 3 spielen seit Jahren klinisch keine Rolle mehr. Es gibt bei Polio keine Kreuzimmunität zwischen den verschiedenen Serotypen oder anderen Enteroviren. Polio wird in der Regel fokal-oral oder oral-oral übertragen und zu einem geringen Teil auch über Tröpfcheninfektionen.

Virus-Vermehrung

Nach Infektion mit dem Polio-Virus kommt es im Magen-Darm-Trakt, aber auch im Rachenraum zu einer Vermehrung des Virus. Von dort kann das Virus in den Blutkreislauf gelangen. Bei einem kleinen Teil der Infizierten (5-10%) gelingt dem Virus ein Befall des ZNS – das ist die Poliomyelitis – die anderen bilden Antikörper aus ohne je ernsthaft krank geworden zu sein. Die Inkubationszeit bis zu einer Erkrankung dauert zwischen sechs und 20 Tagen.

Die Poliomyelitis

Das Poliovirus befällt vorwiegend – aber nicht nur – motorische Vorderhornzellen im Rückenmark. Zweithäufigster Manifestationsort sind die Hirnnervenkerne. Die neurodestruktive Wirkung von Polio beruht einmal auf der Neuroinvasion durch das Virus selber, zum Anderen auf der Immunreaktion auf die stattgehabte Infektion. Man unterscheidet drei Verlaufsformen der Poliomyelitis:

Die abortive Poliomyelitis

Schätzungsweise 4-8% der Infizierten bekommen eine subklinisch verlaufende Poliomyelitis. Die Symptomatik beschränkt sich auf Allgemeinsymptome wie Abgeschlagenheit, Halsschmerzen, Durchfall, Fieber und Krankheitsgefühl.

Die nicht-paralytische Poliomyelitis

1-2% der Infizierten bekommen ein meningitisches Krankheitsbild mit Kopfschmerzen, Übelkeit, Nackensteifigkeit und Fieber. Die nicht-paralytische Poliomyelitis kann in einem zweigipfeligen Krankheitsverlauf in eine paralytische Poliomyelitis übergehen.

Die paralytische Poliomyelitis

Die paralytische Poliomyelitis ist das Krankheitsbild, was man gemeinhin mit Polio verbindet. Es betrifft 0,1-1% aller Infizierten, beginnt häufig mit schweren Schmerzsyndromen, sowohl radikuläre Schmerzen als auch unspezifische Rücken- und Kopfschmerzen, anschließend bilden sich rasch asymmetrische schlaffe Paresen aus. Besonders häufig sind die Beine betroffen, aber auch Arme, Atemmuskulatur können betroffen sein und sehr selten – dann aber mit einer hohen Letalität – kommt es zu einem bulbären Verlauf der Erkrankung.

Die Paresen bleiben oft mehrere Monate bestehen, bevor sie sich langsam zurückbilden, oft kommt es aber zu Defektsyndromen.

Diagnostik und Therapie von Polio

Polio-Viren können aus allen Körperflüssigkeiten, v.a. aber im Stuhl isoliert werden, wobei die Virusisolation eine eher in die Jahre gekommene Technik ist. Heute wird man den Nachweis eher per PCR führen. Wichtig für die Neurologen unter uns ist, dass die PCR alleine aus dem Liquor eine niedrige Sensitivität hat.

Eine spezifische Therapie gegen Polio gibt es nicht. Es bleibt die rein symptomatische Therapie und das Containment ganz Corona-Like mit Isolation der Betroffenen und Quarantäne für Kontaktpersonen.

Impfung

Die Impfung gegen Polio wird von der STIKO als Dreifach-Schutzimpfung empfohlen. Sie ist in dem 6-fach-Impfstoff enthalten, den Babys und Kleinkinder mit zwei, vier und elf Monaten bekommen (der 6-fach-Impfstoff beinhaltet darüber hinaus noch Tetanus, Diphertie, Keuchhusten, Haemophilus influenzae Typ B und Hepatitis B). Eine weitere Auffrischimpfung (oder neudeutsch Booster-Impfung) gibt es dann im Teenager-Alter und dann noch mal als Reiseimpfung bei Reisen in Risikogebiete, wenn die letzte Impfung länger als 10 Jahre zurück liegt.

Auch für Polio benötigt man für eine Herdenimmunität sehr hohe Impfquoten um 95%, die in Deutschland seit einigen Jahren nicht mehr erreicht werden. Schlusslicht der Impfquote ist dabei der Südwesten Deutschlands, wo nur um die 90% der Kinder gegen Polio geimpft sind.

Post-Polio-Syndrom

Das Post-Polio-Syndrom ist bis heute nur schlecht verstanden. 20-50% derjenigen, die eine paralytische Myelitis erlitten hatten, bekommen 15-40 Jahre nach der Polio-Infektion erneut schlaffe Paresen, oft an den ehemals betroffenen Extremitäten und oft erneut mit Schmerzen und einer Fatigue einhergehend.

Pathogenese des Post-Polio-Syndroms

Es gibt verschiedene Ideen zur Pathogenese, eine Viruspersitenz in den Vorderhornzellen, autoimmune Phänomene, eine im Verlauf der Jahre dekompensierende Begleit-Myopathie und die sogenannte distale Degeneration. Diese Theorie besagt, dass es im Verlauf der Jahre zu einem Untergang der im Rahmen der Infektion zunächst beschädigten und dann regenerierten motorischen Einheiten kommt. Das muss man für alle Nicht-Neurologen und für die, die das EMG nur von weitem gesehen haben noch einmal in Ruhe erklären:

Bei einer neuerogenen Schädigung – wie sie bei Polio passiert, aber auch bei einer Polyneuropathie – gehen ja Nervenfasern kaputt. Dadurch werden einzelne Muskelfasern nicht mehr angesteuert. Den denervierten Muskelfasern fehlt die Kontrolle vom Rückenmark. Es kommt zu spontanen Muskelkontraktionen, der Spontanaktivität. Sprossen dann die Nervenfasern im Rahmen von Reparaturvorgängen im Verlauf wieder aus, gelingt es dem Körper nicht, wieder eine 1:1-Nerv-Muskel-Versorgung herzustellen. Vielmehr versorgen nun einzelne Nervenfasern ganze Gruppen motorischer Einheiten. Hierdurch kommt es zu sogenannten Risenpotentialen im EMG, eben weil mehrere motorische Einheiten simultan angesteuert und innerviert werden. Statt einer gleichmäßigen und abwechselnden Innervation verschiedener motorischer Einheiten, werden die verbliebenen sehr großen Einheiten sehr schnell und hochfrequent angesteuert.

Diese großen motorischen Einheiten können – so die Theorie – nicht über Jahre aufrechterhalten werden, v.a. wenn eine gewisse Autoimmunität vorliegen sollte. In Autopsiestudien zum Post-Polio-Syndrom konnte wohl zudem ein (erneuter) entzündlicher Rückenmarksprozess in den Vorderhörnern gezeigt werden.

Therapie des Post-Polio-Syndroms

Die Therapie des Post-Polio-Syndroms ist in erster Linie nicht-medikamentös mit Physiotherapie und ggfs. Orthesen-Versorgung. IVIG sollen gegen die begleitenden Schmerzen helfen, ebenso Lamotrigin, welchem neben einem schmerzlindernden auch ein fatiguebessernder Effekt nachgesagt wird.

Was interessiert es mich? Polio kommt doch gar nicht mehr vor

Das stimmt nur so halb. In Deutschland wurden seit den frühen 1990er Jahren keine Wildtyp-Polio-Fälle mehr beobachtet, wohl aber in Ländern aus denen es Migration nach Deutschland gibt (Afghanistan, Pakistan, Syrien, Demokratische Republik Kongo, Nigeria). Zudem gibt es durch den zunächst verwendeten Lebendimpfstoff Polio-Fälle durch endemisch zirkulierende verwilderte ehemalige Impfstoff-Viren. Diese Polio-Variante hat den schönen Namen cVDPV. Weltweit wurden 2018 105 Fälle von cVDPV beobachtet.

Zunehmend relevanter werden zudem andere neurotrope Enteroviren, insbesondere der Serotyp EV-71 (siehe oben). Neurologische Hauptkomplikation von EV-71 ist zunächst die (normale) virale Meningitis, bei den schwereren Krankheitsbildern vor allem eine Hirnstammenzephalitis, allerdings werden auch Polio-artige Krankheitsbilder beobachtet. EV-D68 – ein weiterer neuer Enterovirus-Serotyp verursacht vor allem schwer verlaufende Atemwegsinfekte, darüber hinaus aber auch eine relativ hohe Rate an der akuten schlaffen Myelitis. Dies ist ein Krankheitsbild was der Polio-Myelitis frappierend ähnelt.

Wo man weiterlesen kann

Kidd, D., Williams, A. J., & Howard, R. S. (1996). Poliomyelitis. Postgraduate Medical Journal, 72(853), 641–647. https://doi.org/10.1136/pgmj.72.853.641

Möhn, N., Skripuletz, T., & Stangel, M. (2018). Neurologische Komplikationen bei Infektionen mit (neuen) Enteroviren. Der Nervenarzt, 89(12), 1320–1331. https://doi.org/10.1007/s00115-018-0619-9

Bao, J., Thorley, B., Isaacs, D., Dinsmore, N., Elliott, E. J., McIntyre, P., & Britton, P. N. (2020). Polio – The old foe and new challenges: An update for clinicians. Journal of Paediatrics and Child Health, 56(10), 1527–1532. https://doi.org/10.1111/jpc.15140

Meyding-Lamadé, U., & Craemer, E. M. (2020). Update Poliomyelitis: Eradikation oder ein wiederkehrendes Problem? NeuroTransmitter, 31(12), 26–30. https://doi.org/10.1007/s15016-020-7576-9