Was man auch im Jahr 2021 noch über Polio wissen sollte

Polio hatte ich eigentlich gar nicht mehr auf der Kappe, aber im Rahmen des Corona-Themas kocht es gerade an verschiedenen Stellen hoch, meist um die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer Impfung zu untermalen:

Doch der Vergleich hinkt und hier kommt jetzt, warum das so ist. Außerdem trifft man – zunehmend seltener – auf Patienten mit einem Post-Polio-Syndrom, von dem die meisten von uns auch nur noch wenig Ahnung haben. Also, Bühne frei für Polio.

Die große Familie der Enteroviren

Polioviren gehören zu den Enteroviren. Das ist eine große Gruppe von umhüllten RNA-Viren, die sich – wie der Name sagt – vor allem im Magen-Darm-Trakt vermehren. Durch ihre Hülle sind Enteroviren relativ resistent gegen Umwelteinflüsse und auch gegen Desinfektionsmittel. Es gibt weit über 100 Viren-Spezies der Enteroviren, von denen viele Infektionen beim Menschen verursachen. In vielen Fällen erscheinen diese wahllos irgendwelche Schleimhäute zu betreffen, so dass Atemwegsinfekt, Gastroenteritiden, Bindehautentzündungen, Myositiden, Myokarditiden und Perikarditiden beschrieben sind. Zudem sind die meisten Enteroviren relativ neurotrop invasiv. Fast alle in der Neurologie Beschäftigten haben schon Patienten mit einer viralen, durch Enteroviren bedingten, Meningitis gesehen. Eltern von Kita-Kindern kennen zudem Coxsackie-Viren, die auch zu den Enteroviren gehören, und die die allseits beliebte Hand-Mund-Fuß-Krankheit verursachen (ein großer Spaß). Und auch Polioviren gehören zu den Enteroviren. Allen Enteroviren ist gemein, dass sie in erste Linie Kinder bis zum 10. Lebensjahr infizieren (und Erwachsene deutlich seltener).

In den letzten 10 Jahren sind insbesondere aus dem asiatischen Raum zudem Fallberichte von Patienten mit einem „neuen“ Enterovirus-Serotyp aufgetaucht, dem Enterovirus EV-71. So furchtbar neu ist EV-71 aber nicht, man kennt es seit den 1960er Jahren. EV-71 scheint sehr variabel in den Beschwerden zu sein, welche es verursacht. Sowohl Hand-Mund-Fuß-Syndrome, als auch Meningitiden, als auch Polio-ähnliche-Symptome und Hirnstammenzephalitiden wurden beschrieben, teils auch mit tödlichem Verlauf.

Das Polio-Virus

Vom Polio-Virus sind drei Serotypen bekannt, die einfach durchnummeriert worden sind, von Poliovirus Typ 1, über Poliovirus Typ 2 zu Poliovirus Typ 3. Die Serotypen 2 und 3 spielen seit Jahren klinisch keine Rolle mehr. Es gibt bei Polio keine Kreuzimmunität zwischen den verschiedenen Serotypen oder anderen Enteroviren. Polio wird in der Regel fokal-oral oder oral-oral übertragen und zu einem geringen Teil auch über Tröpfcheninfektionen.

Virus-Vermehrung

Nach Infektion mit dem Polio-Virus kommt es im Magen-Darm-Trakt, aber auch im Rachenraum zu einer Vermehrung des Virus. Von dort kann das Virus in den Blutkreislauf gelangen. Bei einem kleinen Teil der Infizierten (5-10%) gelingt dem Virus ein Befall des ZNS – das ist die Poliomyelitis – die anderen bilden Antikörper aus ohne je ernsthaft krank geworden zu sein. Die Inkubationszeit bis zu einer Erkrankung dauert zwischen sechs und 20 Tagen.

Die Poliomyelitis

Das Poliovirus befällt vorwiegend – aber nicht nur – motorische Vorderhornzellen im Rückenmark. Zweithäufigster Manifestationsort sind die Hirnnervenkerne. Die neurodestruktive Wirkung von Polio beruht einmal auf der Neuroinvasion durch das Virus selber, zum Anderen auf der Immunreaktion auf die stattgehabte Infektion. Man unterscheidet drei Verlaufsformen der Poliomyelitis:

Die abortive Poliomyelitis

Schätzungsweise 4-8% der Infizierten bekommen eine subklinisch verlaufende Poliomyelitis. Die Symptomatik beschränkt sich auf Allgemeinsymptome wie Abgeschlagenheit, Halsschmerzen, Durchfall, Fieber und Krankheitsgefühl.

Die nicht-paralytische Poliomyelitis

1-2% der Infizierten bekommen ein meningitisches Krankheitsbild mit Kopfschmerzen, Übelkeit, Nackensteifigkeit und Fieber. Die nicht-paralytische Poliomyelitis kann in einem zweigipfeligen Krankheitsverlauf in eine paralytische Poliomyelitis übergehen.

Die paralytische Poliomyelitis

Die paralytische Poliomyelitis ist das Krankheitsbild, was man gemeinhin mit Polio verbindet. Es betrifft 0,1-1% aller Infizierten, beginnt häufig mit schweren Schmerzsyndromen, sowohl radikuläre Schmerzen als auch unspezifische Rücken- und Kopfschmerzen, anschließend bilden sich rasch asymmetrische schlaffe Paresen aus. Besonders häufig sind die Beine betroffen, aber auch Arme, Atemmuskulatur können betroffen sein und sehr selten – dann aber mit einer hohen Letalität – kommt es zu einem bulbären Verlauf der Erkrankung.

Die Paresen bleiben oft mehrere Monate bestehen, bevor sie sich langsam zurückbilden, oft kommt es aber zu Defektsyndromen.

Diagnostik und Therapie von Polio

Polio-Viren können aus allen Körperflüssigkeiten, v.a. aber im Stuhl isoliert werden, wobei die Virusisolation eine eher in die Jahre gekommene Technik ist. Heute wird man den Nachweis eher per PCR führen. Wichtig für die Neurologen unter uns ist, dass die PCR alleine aus dem Liquor eine niedrige Sensitivität hat.

Eine spezifische Therapie gegen Polio gibt es nicht. Es bleibt die rein symptomatische Therapie und das Containment ganz Corona-Like mit Isolation der Betroffenen und Quarantäne für Kontaktpersonen.

Impfung

Die Impfung gegen Polio wird von der STIKO als Dreifach-Schutzimpfung empfohlen. Sie ist in dem 6-fach-Impfstoff enthalten, den Babys und Kleinkinder mit zwei, vier und elf Monaten bekommen (der 6-fach-Impfstoff beinhaltet darüber hinaus noch Tetanus, Diphertie, Keuchhusten, Haemophilus influenzae Typ B und Hepatitis B). Eine weitere Auffrischimpfung (oder neudeutsch Booster-Impfung) gibt es dann im Teenager-Alter und dann noch mal als Reiseimpfung bei Reisen in Risikogebiete, wenn die letzte Impfung länger als 10 Jahre zurück liegt.

Auch für Polio benötigt man für eine Herdenimmunität sehr hohe Impfquoten um 95%, die in Deutschland seit einigen Jahren nicht mehr erreicht werden. Schlusslicht der Impfquote ist dabei der Südwesten Deutschlands, wo nur um die 90% der Kinder gegen Polio geimpft sind.

Post-Polio-Syndrom

Das Post-Polio-Syndrom ist bis heute nur schlecht verstanden. 20-50% derjenigen, die eine paralytische Myelitis erlitten hatten, bekommen 15-40 Jahre nach der Polio-Infektion erneut schlaffe Paresen, oft an den ehemals betroffenen Extremitäten und oft erneut mit Schmerzen und einer Fatigue einhergehend.

Pathogenese des Post-Polio-Syndroms

Es gibt verschiedene Ideen zur Pathogenese, eine Viruspersitenz in den Vorderhornzellen, autoimmune Phänomene, eine im Verlauf der Jahre dekompensierende Begleit-Myopathie und die sogenannte distale Degeneration. Diese Theorie besagt, dass es im Verlauf der Jahre zu einem Untergang der im Rahmen der Infektion zunächst beschädigten und dann regenerierten motorischen Einheiten kommt. Das muss man für alle Nicht-Neurologen und für die, die das EMG nur von weitem gesehen haben noch einmal in Ruhe erklären:

Bei einer neuerogenen Schädigung – wie sie bei Polio passiert, aber auch bei einer Polyneuropathie – gehen ja Nervenfasern kaputt. Dadurch werden einzelne Muskelfasern nicht mehr angesteuert. Den denervierten Muskelfasern fehlt die Kontrolle vom Rückenmark. Es kommt zu spontanen Muskelkontraktionen, der Spontanaktivität. Sprossen dann die Nervenfasern im Rahmen von Reparaturvorgängen im Verlauf wieder aus, gelingt es dem Körper nicht, wieder eine 1:1-Nerv-Muskel-Versorgung herzustellen. Vielmehr versorgen nun einzelne Nervenfasern ganze Gruppen motorischer Einheiten. Hierdurch kommt es zu sogenannten Risenpotentialen im EMG, eben weil mehrere motorische Einheiten simultan angesteuert und innerviert werden. Statt einer gleichmäßigen und abwechselnden Innervation verschiedener motorischer Einheiten, werden die verbliebenen sehr großen Einheiten sehr schnell und hochfrequent angesteuert.

Diese großen motorischen Einheiten können – so die Theorie – nicht über Jahre aufrechterhalten werden, v.a. wenn eine gewisse Autoimmunität vorliegen sollte. In Autopsiestudien zum Post-Polio-Syndrom konnte wohl zudem ein (erneuter) entzündlicher Rückenmarksprozess in den Vorderhörnern gezeigt werden.

Therapie des Post-Polio-Syndroms

Die Therapie des Post-Polio-Syndroms ist in erster Linie nicht-medikamentös mit Physiotherapie und ggfs. Orthesen-Versorgung. IVIG sollen gegen die begleitenden Schmerzen helfen, ebenso Lamotrigin, welchem neben einem schmerzlindernden auch ein fatiguebessernder Effekt nachgesagt wird.

Was interessiert es mich? Polio kommt doch gar nicht mehr vor

Das stimmt nur so halb. In Deutschland wurden seit den frühen 1990er Jahren keine Wildtyp-Polio-Fälle mehr beobachtet, wohl aber in Ländern aus denen es Migration nach Deutschland gibt (Afghanistan, Pakistan, Syrien, Demokratische Republik Kongo, Nigeria). Zudem gibt es durch den zunächst verwendeten Lebendimpfstoff Polio-Fälle durch endemisch zirkulierende verwilderte ehemalige Impfstoff-Viren. Diese Polio-Variante hat den schönen Namen cVDPV. Weltweit wurden 2018 105 Fälle von cVDPV beobachtet.

Zunehmend relevanter werden zudem andere neurotrope Enteroviren, insbesondere der Serotyp EV-71 (siehe oben). Neurologische Hauptkomplikation von EV-71 ist zunächst die (normale) virale Meningitis, bei den schwereren Krankheitsbildern vor allem eine Hirnstammenzephalitis, allerdings werden auch Polio-artige Krankheitsbilder beobachtet. EV-D68 – ein weiterer neuer Enterovirus-Serotyp verursacht vor allem schwer verlaufende Atemwegsinfekte, darüber hinaus aber auch eine relativ hohe Rate an der akuten schlaffen Myelitis. Dies ist ein Krankheitsbild was der Polio-Myelitis frappierend ähnelt.

Wo man weiterlesen kann

Kidd, D., Williams, A. J., & Howard, R. S. (1996). Poliomyelitis. Postgraduate Medical Journal, 72(853), 641–647. https://doi.org/10.1136/pgmj.72.853.641

Möhn, N., Skripuletz, T., & Stangel, M. (2018). Neurologische Komplikationen bei Infektionen mit (neuen) Enteroviren. Der Nervenarzt, 89(12), 1320–1331. https://doi.org/10.1007/s00115-018-0619-9

Bao, J., Thorley, B., Isaacs, D., Dinsmore, N., Elliott, E. J., McIntyre, P., & Britton, P. N. (2020). Polio – The old foe and new challenges: An update for clinicians. Journal of Paediatrics and Child Health, 56(10), 1527–1532. https://doi.org/10.1111/jpc.15140

Meyding-Lamadé, U., & Craemer, E. M. (2020). Update Poliomyelitis: Eradikation oder ein wiederkehrendes Problem? NeuroTransmitter, 31(12), 26–30. https://doi.org/10.1007/s15016-020-7576-9