Neue Studie aus Großbritannien: Fußballspielen kann eine Demenz auslösen

Bei professionellen Fußballspielern erhöht sich das Risiko an einer Demenz zu erkranken auf das bis zu 5-fache. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Glasgow. „Die Daten weisen auf eine Assoziation zwischen der Dauer der Fußballkarriere und dem Risiko einer neurodegenerativen Erkrankung hin“ schreiben sie. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift „JAMA Neurology“ erschienen.

Diese unseriöse Überschrift und Artikeleinleitung wurden inspiriert durch: DER SPIEGEL. Sagen was ist: Link

Die schottische Studie

Okay, also noch mal ernsthaft. Es geht um diese Arbeit aus Schottland:

Russell ER, Mackay DF, Stewart K, MacLean JA, Pell JP, Stewart W. Association of Field Position and Career Length With Risk of Neurodegenerative Disease in Male Former Professional Soccer Players. JAMA Neurol. 2021;78(9):1057. doi:10.1001/jamaneurol.2021.2403

Die nackten Zahlen

Die zitierte Studie ist eine Folgestudie einer Arbeit aus 2019 [1]. In der aktuellen Arbeit [2] wurden retrospektiv die Patientendaten von 7.676 ehemaligen männlichen Fußballprofis mit einer Kontrollgruppe von 23.028 Probanden, welche hinsichtlich Geburtsjahr, Geschlecht und dem sozioökonomischen Status gematcht wurden, verglichen. Die Probanden waren zwischen 1900 und 1977 geboren, Patientendaten aus den Jahren 1981 bis 2016 konnten ausgewertet werden. Neben den Diagnosen auf den Totenscheinen wurden auch Daten zur psychischen Gesundheit, Medikamentenverordnungen und Klinikaufenthalten aus dem schottischen Gesundheitsregister verwendet. Über alle Probanden hinweg ergibt sich eine Nachbeobachtungszeit von 1,8 Millionen Personenjahren. Von den Profifußballern entwickelten 386 (5% der Kohorte) eine neurodegenerative Erkrankung, in der Kontrollgruppe waren 366 Probanden (1,6% der Kohorte) betroffen. Das Risiko einer neurodegenerativen Erkrankung erhöhte sich bei den Profifußballern durchschnittlich um das 3,5-fache. Unterschieden nach den einzelnen Erkrankungsentitäten lag das Risiko für eine Alzheimer-Demenz beim 3,59-fachen, für eine Parkinson-Erkrankung beim 2,1-fachen und für eine Motoneuronerkrankung beim 3,52-fachen.

Interessant ist die Aufschlüsselung nach der Spielposition und der Karrieredauer. So lag das Erkrankungsrisiko bei Torhütern „nur“ beim 1,8-fachen der Normalbevölkerung, bei Verteidigern war es 5-fach erhöht. Eine Profikarriere von mehr als 15 Jahren führte zu einem 5,2-fach erhöhten Erkrankungsrisiko.

Woran kann es liegen?

Die Autoren nehmen – kongruent zu anderen Arbeiten der letzten Jahre – wiederholte leichte Schädel-Hirn-Traumen als Ursache an. Dies würde die Assoziation zur Spielposition erklären, da Verteidiger signifikant häufiger in Zweikämpfe, aber vor allem auch Kopfballduelle verwickelt sind als zum Beispiel Torhüter. Dass die Dauer der Profikarriere einen erheblichen Einfluss auf das Erkrankungsrisiko hat, spricht für einen kumulativen Prozess. Dieses Phänomen, dass wiederholte Kopftraumen neurodegenerative Prozesse auslösen oder beschleunigen können ist schon länger bekannt und wird in der Regel unter dem Begriff „chronisch traumatische Enzephalopathie“ zusammengefasst (hierzu aber gleich mehr). Was an der aktuellen Studie noch interessant war ist, dass sich das Risiko einer neurodegenerativen Erkrankung über die Jahre nicht wesentlich verändert hat, obwohl die Bälle, mit denen Fußball gespielt wird, deutlich weicher und weniger schwer geworden sind.

Chronisch traumatische Enzephalopathie

Die chronisch traumatische Enzephalopathie (CTE) ist in der breiten Öffentlichkeit vermutlich durch erst durch den Film „Concussion“, auf Deutsch „Erschütternde Wahrheit“ mit Will Smith in den Fokus geraten:

Neben den im Film geschilderten Fällen ist die Erkrankung durch den Suizid von Aaron Hernandez (Link Wikipedia) 2017, der schon mit Mitte 20 rückblickend an einer CTE litt und auf Grund einer Verurteilung wegen Mordes im Gefängnis saß, bekannt geworden.

Pathophysiologie

Die wiederholten Kopftraumen im Profisport (im American Football entsprechend einer Studie (Link) im Schnitt 415 Kopftraumen/Saison) führen zu Verletzungen kleiner Hirngefäße in den Tiefen der Hirnwindungen. Um diese verletzten Gefäße herum bilden sich Tau-Protein-Ablagerungen, ebenso an der Oberfläche des Gehirns. Bestimmte Regionen (Riechirn, frontaler Kortex, Inselrinde und das limbische System) sind besonders häufig von diesen Veränderungen betroffen. Durch die Tau-Ablagerungen kommt es zu einem Nervenzelluntergang und einer deutlichen Abnahme des Hirnvolumens [3].

Klinisches Bild

Die CTE kann verlässlich nur postmortal diagnostiziert werden. Entsprechend breit sind die klinischen Beschwerden, die mit ihr assoziiert werden. Typisch ist die Einteilung in die „klassische“ CTE und in Erkrankungen, die mit einer CTE assoziiert sind und durch diese wahrscheinlicher auftreten (wie in der Studie aus Schottland untersucht).

Klassische CTE

Ausgehend von der „Boxer-Demenz“ wird unter der „klassischen“ CTE ein Symptomkomplex aus einem dyskognitiven Syndrom, extrapyramidal-motorischen Störungen und einem gestörten Sprachfluss verstanden, der oft mit psychiatrischen Symptomen wie einer Impulskontrollstörung, sozialem Rückzug, psychomotorischer Unruhe und einer erhöhten Suizidalität assoziiert ist.

Mit einer CTE assoziierte Erkrankungen

Häufiger als die „klassische“ CTE scheinen „normale“ neurodegenerative Erkrankungen aufzutreten, insbesondere Tauopathien (wie die Alzheimer-Demenz) und TDP-43-Erkrankungen (Motoneuronerkrankungen, frontotemporale Demenzen). Alpha-Synucleinopathien, wie das idiopathische Parkinson-Syndrom (Link) scheinen hingegen seltener aufzutreten. Diese Häufigkeitsverteilung deckt sich ebenfalls mit den schottischen Daten (siehe oben).

Für die Alzheimer-Erkrankungen sind Schädel-Hirn-Traumen als Risikofaktor für eine Krankheitsmanifestation wissenschaftlich akzeptiert, bei den Motoneuronerkrankungen scheinen insbesondere Fußballspieler ein erhöhtes Erkrankungsrisko aufzuweisen.

Therapie und Prävention

Eine kausale Therapie der CTE und auch ihrer assoziierten Erkrankungen existiert nicht. Umso mehr wird über die Krankheitsprävention diskutiert. Dabei ist zu bedenken, dass man CTE und auch ein erhöhtes Risiko von mit ihr assoziierten neurodegenerativen Erkrankungen nur bei Profisportlern nachweisen konnte, nicht bei Freizeit- und Gelegenheitssportlern. Das gerät aber in der öffentlichen Diskussion oft unter die Räder:

In den USA existiert seit einiger Zeit – auf Grund des Phänomens CTE – ein Kopfballverbot für Fußballspieler unter 16 Jahre, in Deutschland nicht, was durchaus heftig kritisiert wird: Link.

Fazit

Ein charmanter Einstieg um sich von dem monothematischen COVID-Drama der letzten Monate zu lösen: Auch beim Thema CTE hilft Vereinfachung und Dramatisierung nicht weiter, für den ganz überwiegenden Teil der Freizeitfußballer wird das Risiko-Nutzen-Verhältnis auch weiterhin stark zu Gunsten des Sports ausfallen. Trotzdem lohnt sich sicherlich der Gedanke hinsichtlich potentieller präventiver Maßnahmen. Auch wenn es vielleicht etwas zu sehr dem Zeitgeist entspricht, muss man sich schon fragen, warum genau beim Kinder- und Jugendfußball Kopfbälle trainieren werden sollen.

Wo man weiterlesen kann
  1. Mackay DF, Russell E, Stewart K et al. Neurogenerative disease mortality among former professional soccer players. NEJM 2019; 381 (19): 1801-1808 doi:10.1056/NEJMoa1908483
  2. Russell ER, Mackay DF, Stewart K, MacLean JA, Pell JP, Stewart W. Association of Field Position and Career Length With Risk of Neurodegenerative Disease in Male Former Professional Soccer Players. JAMA Neurol. 2021;78(9):1057. doi:10.1001/jamaneurol.2021.2403
  3. Gänsslen A, Krutsch W, Schmehl I, Rickels E. Chronisch Traumatische Enzephalopathie: Wie Sportverletzungen das Gehirn schädigen können. Deutsches Ärzteblatt Online. Published online September 16, 2016. doi:10.3238/PersNeuro.2016.09.16.03

SARS-CoV-2 und Neurotropie: Mein Fazit

In Teil 1 der Reihe ging es um die Grundlagen zum Thema Neurotropie von SARS-CoV-2 und um die Frage, wie das Virus überhaupt ins ZNS kommen und wie man es dort nachweisen kann. In Teil 2 bin ich dem Thema nachgegangen, ob und wie SARS-CoV-2 vielleicht Trigger von Neurodegeneration sein kann. Ich hatte mich in den ersten beiden Teilen der Reihe mit Wertungen und Einsortierungen von Sachverhalten sehr zurückgehalten. Das will ich jetzt hier tun und wenn Ihr das anders seht, dürft Ihr gern Teil 1 und 2 lesen und Euch Eure eigene Meinung bilden und diese vertreten.

Ich möchte im wesentlichen drei Fragen für mich beantworten, legen wir also los:

Was sind Besonderheiten von SARS-CoV-2 und wo decken wir gerade allgemeingültige Mechanismen auf?

Das ist für mich eine sehr spannende Frage, die ich ja schon mehrfach, u.a. kurz auf der Startseite, skizziert habe. Der Trend in den populärwissenschaftlichen Medien geht sehr zur Attribuierung von vermeintlichen exklusiven Mechanismen von SARS-CoV-2. Drama und Alarm verkaufen sich halt besser. Der Trend in den wissenschaftlichen Papern aber auch, aber das muss man etwas relativieren. Jeder, der regelmäßig Paper liest kennt das Phänomen, dass die Ergebnisse im Abstract und in der Diskussion am Ende des Beitrags in der Regel prägnant bis dramatisierend dargestellt werden. Das ist ja auch kein Wunder, weil wenn man schreiben würde: Ja, unsere Forschungsergebnisse sind nicht so berauschend, die Datenlage dünn und so richtig beweisen können wir unsere Arbeitshypothese auch nicht, würde es schwer mit der Veröffentlichung. Deshalb sind ja oft die Absätze über die Limitationen einer Studie viel interessanter als die (vermeintlich) eindeutigen und überzeugend dargestellten Studienergebnisse. Ein Beispiel hierfür kann die im zweiten Teil erwähnte FDG-PET-Studie bei sieben Kindern sein (Morand et al.), bei der nur bei dreien überhaupt ein positiver COVID-Nachweis vorlag, so dass die durchaus berechtigte Frage gestellt werden kann, was die Arbeit überhaupt aussagen kann.

Wenn ich das richtig sehe, dann gibt es einen Mechanismus, der sehr exklusiv für SARS-CoV-2 (und für SARS-1, nicht aber für andere Corona-Viren und auch nicht für andere Atemwegserkrankungs-Viren) ist und das ist die Bindung an ACE-2 in menschlichen Zellen. Über diesen Mechanismus lassen sich nahezu alle Krankheitsmanifestationen erklären, die wir bei COVID-19 sehen.

Und wenn ich es auch richtig sehe, dann gibt es ganz viele Dinge, die überhaupt nicht exklusiv für SARS-CoV-2 sind, weil es andere Viren und v.a. andere Atemwegserkrankungs-Viren auch genau so machen: Die Infektion des ZNS über die Riechzellen, die Aktivierung von Mikroglia und kognitive Defizite nach der Infektion. Viele Viren stehen seit Jahren, und Influenza seit eigentlich einem Jahrhundert in Verdacht (vgl. hier) neurodegenerative Erkrankungen auslösen oder triggern zu können.

Aktuell werden mit riesigem personellen und finanziellen Aufwand Dinge beleuchtet, die vermutlich eher allgemeingültige Mechanismen darstellen dürften. Und es werden Dinge untersucht, die bislang so noch niemand untersucht hat. Studien wie die aus dem UKE zu kognitiven Defiziten auch nach leichten COVID-Verläufen (Woo et al.) gibt es meines Wissens nicht (bzw. in dieser Qualität nicht) zu anderen häufigen Infektionserkrankungen. Und Studien wie die UK Biobank-Studie (Douaud et al.) erst Recht nicht.

Sollten uns die Erkenntnisse besorgen?

Ich denke nicht. Und zwar aus Gründen. Es werden ja im Endeffekt zwei Hauptsorgen immer wieder thematisiert: Die Triggerung von neurodegenerativen Prozessen und eine Neuroinvasion mit Spätschäden ähnlich Polio oder der SSPE bei Masern.

Bei dem Thema neurodegenerative Erkrankungen nach Infektion muss man den Satz von gerade noch mal betonen: Bei der Influenza vermuten wir seit der spanischen Grippe, dass Influenza Parkinson-Erkrankungen auslösen kann. Gestört hat es uns nur nie. Und ganz viele, die das Thema Neurodegeneration durch SARS-CoV-2 jetzt immer und immer wieder laut wiederholen haben sich bis vor zwei Jahren nie gegen Grippe impfen lassen, „weil das ja nur der Pharma-Industrie nützt“. Dazu kommt, dass sich hier seit Jahren bis Jahrzehnten wissenschaftlich nichts tut. Gerade bei Parkinson mit dem Beginn der Neurodegeneration im Riechhirn und im Darm-Nerven-System ist ein auslösender Umweltfaktor, den wir einatmen oder runterschlucken extrem wahrscheinlich, viel wahrscheinlicher als bei der Ausbreitungsmorphologie von Tau und ß-Amyloid bei der Alzheimer-Demenz. Nur, wir finden diesen Umweltfaktor bislang nicht (vermutlich sind es aber auch mehrere). Auch die Viren der Herpes-Gruppe stehen seit Jahrzehnten in Verdacht an Neurodegeneration beteiligt zu sein. Und die sind wirklich neurotrop, neuroinvasiv und neuropathogen und dazu noch DNA-Viren, die sogar unser Erbgut verändern. Aber bei EBV haben wir eine Durchsuchung (in diesem Kontext wäre der Begriff richtig benutzt) von 80-95% bei jungen Erwachsenen, bei VZV von 95%, bei HSV von 90%. Das macht die kausale Zuordnung zu den ebenfalls häufigen, aber nicht derart häufigen neurodegenerativen Erkrankungen schwer. Wenn uns das alles gar nicht stört bislang – und ich kann den Gedanken nachvollziehen, da wir uns eh alle mit diesen Viren infizieren – warum sollten wir dann bei COVID-19 anders reagieren?

Interessant ist auch die Sorge vor COVID-Spätschäden analog zu Polio oder der SSPE nach Maserninfektion. Im Gegensatz zu diesen Erkrankungen gelingt bei COVID-19 der PCR-Nachweis im Liquor nur in ca. 6% und ein spezifischer intrathekaler Antikörper-Nachweis bei 23% der Infizierten. Und in erster Linie kann dann Antikörper oder Virus-RNA nachgewiesen werden, wenn die Patienten einen schweren Krankheitsverlauf mit ernsthaften neurologischen Komplikationen erleiden. Bei einer mild verlaufenden COVID-19-Infektion ohne neurologische Komplikationen gibt es so gut wie keinen reproduzierbaren COVID-Nachweis im Liquor. Dass ein nicht mehr nachweisbares Virus dann spezifische Spätschäden machen soll, auch nach leichten Krankheitsverläufen, ist nicht plausibel und es ist bei den zitierten anderen Krankheiten eben auch nicht so.

Was erhoffe ich mir von der COVID-Forschung?

Ich persönlich sehe die Chance durch den unglaublichen Fokus auf COVID-19 und seine Folgen bislang un- oder nur bruchstückhaft verstandene allgemeingültige Krankheitsmechanismen von Infektionskrankheiten entschlüsseln zu können, beim Thema Neurodegeneration ihren Einfluss auf die Kognition und vielleicht ja wirklich auch mal auf das Thema Triggerung neurodegenerativer Prozesse. Und beim Long Covid-Syndrom Licht in das Thema chronisches Erschöpfungssyndrom zu bekommen, denn da sind der aktuelle Wissenstand und die verhärteten Fronten zwischen CSF-Befürwortern und -Skeptikern eine Katastrophe. Gelänge das, wären das extrem große Errungenschaften.

Literaturangaben

Morand, A., Campion, J. Y., Lepine, A., Bosdure, E., Luciani, L., Cammilleri, S., Chabrol, B., & Guedj, E. (2021). Similar patterns of 18F-FDG brain PET hypometabolism in paediatric and adult patients with long COVID: a paediatric case series. European Journal of Nuclear Medicine and Molecular Imaging, 0123456789. https://doi.org/10.1007/s00259-021-05528-4

Woo, M. S., Malsy, J., Pöttgen, J., Seddiq Zai, S., Ufer, F., Hadjilaou, A., Schmiedel, S., Addo, M. M., Gerloff, C., Heesen, C., Schulze Zur Wiesch, J., & Friese, M. A. (2020). Frequent neurocognitive deficits after recovery from mild COVID-19. Brain Communications, 2(2), 1–9. https://doi.org/10.1093/braincomms/fcaa205

Douaud, G., Lee, S., Alfaro-Almagro, F., Arthofer, C., Wang, C., Lange, F., Andersson, J. L. R., Griffanti, L., Duff, E., Jbabdi, S., Taschler, B., Winkler, A., Nichols, T. E., Collins, R., Matthews, P. M., Allen, N., Miller, K. L., & Smith, S. M. (2021). Brain imaging before and after COVID-19 in UK Biobank. MedRxiv : The Preprint Server for Health Sciences. https://doi.org/10.1101/2021.06.11.21258690

SARS-CoV-2 als möglicher Auslöser von Neurodegeneration

Führt eine Infektion mit SARS-CoV-2 zu bleibenden kognitiven Störungen und erhöht sie eine spätere Entwicklung einer neurodegenerativen Erkrankung? Dieses Thema zieht sich seit dem Spätsommer 2020 durch die wissenschaftliche Diskussion, auch und insbesondere bei der Frage, ob man eigentlich mild verlaufende COVID-Infektionen wie bei Kindern und Jugendlichen nicht einfach zulassen sollte oder ob man das unbedingt verhindern muss.

Klar ist, bei einem relativ neuen Virus kann es keine definitiven Aussagen geben. Es ist vielmehr eine Suche nach Indizien, die sich derzeit auftut. Dabei gibt es verschiedene Hauptargumentation-Linien.

Die Indizien

Neuropsychologische Defizite durch eine SARS-CoV-2-Infektion

Ein Ausgangspunkt der Frage von kognitiven Defiziten ist häufig die Arbeit von Hampshire et al., die ich ja auch schon einmal im Long Covid-Artikel vorgestellt hatte. Hier wurde eine IQ-Abnahme um bis zu sieben Punkte durch eine COVID-Infektion postuliert. An der Studie gibt es durchaus ernstzunehmende methodische Kritik (das kann man ebenfalls im verlinkten Blogbeitrag nachlesen), sie ist nach meiner Wahrnehmung in der Folge auch in der wissenschaftlichen Diskussion etwas in der Versenkung verschwunden.

Eigentlich interessanter, wenn auch vom Patientenumfang deutlich kleiner, ist eine Untersuchung aus dem UKE. Hier wurden 18 Probanden, die eine milde bzw. moderate COVID-Infektion durchgemacht hatten im Mittel 85 Tage nach der Infektion neuropsychologisch getestet, zudem sind umfangreiche laborchemische Tests erfolgt. Verglichen wurde die Kohorte mit 10 gesunden Kontrollprobanden. Die COVID-Erkrankten schnitten erheblich schlechter in einem standardisierten Test für leichte kognitive Störungen ab, als die Kontrollgruppe. Es bestand keine Assoziation zu typischen Long Covid-Symptomen, ebenso wenig zu den umfangreichen untersuchten immunologischen Laborparametern, der gemessenen Viruslast bei der Diagnose der COVID-Erkrankung oder zur Schwere des Krankheitsverlaufes und den erhaltenen Medikamenten. Die Autoren ziehen zunächst den Vergleich zu anderen postinfektiösen Erschöpfungssyndromen, z.B. nach EBV-Infektion oder Influenza (siehe auch hier), stellen dann aber fest:

Our data indicate that neurocognitive deficits after recovery from COVID-19 are independent from fatigue and mood alterations and therefore might be different from the classical post-viral syndrome (Perrin et al., 2020) but a specific post-COVID-19 manifestation.

Der erwähnte Artikel von Perrin et al. ist ein letter to the editors, in dem ein Fallbericht eines Long Covid-Syndroms geschildert wird (Link)

Ich bin mir allerdings nach den Recherchen zum Thema Long Covid nicht so sicher, ob man diese Unterscheidung klinisch sauber machen kann. Nahezu alle Studien zu Long Covid haben bei der Symptomabfrage Mehrfachnennungen erlaubt (was ja auch Sinn macht), aber nirgendwo wird ersichtlich, dass es eine Trennung der Angabe von kognitiven Defiziten mit und ohne Assoziation mit chronischer Erschöpfung gegeben hat. Dazu kommt, dass die Autoren ja betonen, dass die Defizite zum großen Teil subklinisch waren und von den Probanden gar nicht unbedingt bemerkt wurden. Bei den Long Covid-Studien (und auch Untersuchungen zu anderen postinfektiösen Erschöpfungssyndromen) geht es aber in der Regel um subjektiv bemerkte Beschwerden.

Wo man weiterlesen kann

Hampshire, A., Trender, W., Chamberlain, S. R., Jolly, A. E., Grant, J. E., Patrick, F., Mazibuko, N., Williams, S. C., Barnby, J. M., Hellyer, P., & Mehta, M. A. (2021). Cognitive deficits in people who have recovered from COVID-19. EClinicalMedicine, 000, 101044. https://doi.org/10.1016/j.eclinm.2021.101044

Woo, M. S., Malsy, J., Pöttgen, J., Seddiq Zai, S., Ufer, F., Hadjilaou, A., Schmiedel, S., Addo, M. M., Gerloff, C., Heesen, C., Schulze Zur Wiesch, J., & Friese, M. A. (2020). Frequent neurocognitive deficits after recovery from mild COVID-19. Brain Communications, 2(2), 1–9. https://doi.org/10.1093/braincomms/fcaa205

Die PET-Studien

Im Beitrag zur Pathogenese von Long Covid (Link) hatte ich eine der mittlerweile mehreren PET-Studien zum Thema Neuro-COVID schon einmal vorgestellt: Die Arbeit von Hosp et al. und die Anschluss-Studie von Blazhenets et al..

Kurz zusammengefasst wurden 29 schwer betroffene COVID-Patienten im Schnitt einen Monat nach Infektion per FDG-PET untersucht, ebenso eine alterskorrelierte Kontrollgruppe. Herausgefunden wurde ein für neurodegenerative Erkrankungen untypisch verteilter Glukose-Hypometabolismus mit frontaler und parietaler Betonung, einhergehend mit kognitiven – nicht delirtypischen – Defiziten. In einer Folgeuntersuchung nach sechs Monaten waren kognitive Beschwerden und Hypometabolismus teilregredient. Eine kleinere Studie (Morand et al.) mit sieben Kindern, die ein ähnlichen Hypometabolismus zeigten, sorgte für wilde Diskussionen in den sozialen Netzwerken. Größte Schwäche der Kinder-Studie ist die fehlende Kontrollgruppe und die nur bei drei der sieben Kinder bestätigte COVID-Infektion.

Was die Autoren der PET-Studien betonen, ist in der Regel ein COVID-spezifisches Hypometabolismus-Muster und die fehlenden neuropsychologischen Befunde, die auf ein bestehendes Delir hindeuten würden. Dies steht allerdings im diametralen Widerspruch zu einer großen Metaanalyse über COVID-induzierte neuropsychologische und psychiatrische Folgen (Rogers et al.), in der ein Delir bei 27,9% aller COVID-Patienten eines der häufigsten Symptome war.

Wo man weiterlesen kann

Blazhenets, G., Schröter, N., Bormann, T., Thurow, J., Wagner, D., Frings, L., Weiller, C., Meyer, P. T., Dressing, A., & Hosp, J. A. (2021). Slow but evident recovery from neocortical dysfunction and cognitive impairment in a series of chronic COVID-19 patients. Journal of Nuclear Medicine, jnumed.121.262128. https://doi.org/10.2967/jnumed.121.262128

Hosp, J. A., Dressing, A., Blazhenets, G., Bormann, T., Rau, A., Schwabenland, M., Thurow, J., Wagner, D., Waller, C., Niesen, W. D., Frings, L., Urbach, H., Prinz, M., Weiller, C., Schroeter, N., & Meyer, P. T. (2021). Cognitive impairment and altered cerebral glucose metabolism in the subacute stage of COVID-19. Brain, 1–14. https://doi.org/10.1093/brain/awab009

Morand, A., Campion, J. Y., Lepine, A., Bosdure, E., Luciani, L., Cammilleri, S., Chabrol, B., & Guedj, E. (2021). Similar patterns of 18F-FDG brain PET hypometabolism in paediatric and adult patients with long COVID: a paediatric case series. European Journal of Nuclear Medicine and Molecular Imaging, 0123456789. https://doi.org/10.1007/s00259-021-05528-4

Rogers, J. P., Chesney, E., Oliver, D., Pollak, T. A., McGuire, P., Fusar-Poli, P., Zandi, M. S., Lewis, G., & David, A. S. (2020). Psychiatric and neuropsychiatric presentations associated with severe coronavirus infections: a systematic review and meta-analysis with comparison to the COVID-19 pandemic. The Lancet Psychiatry, 7(7), 611–627. https://doi.org/10.1016/S2215-0366(20)30203-0

Die MRT-basierte Studie

Eine der faszinierendsten Arbeiten zu dem Thema ist meines Erachtens ein Paper, was bislang nur als Preprint existiert. Das Konzept der Autoren war, sich der UK Biobank (Link englische Wikipedia) und der darin hinterlegten MRT-Aufnahmen zu bedienen, die vor der COVID-Pandemie angefertigt wurden. 401 Biobank-Teilnehmer mit einer zwischenzeitlich erlittenen COVID-19-Infektion und eine Kontrollgruppe von 384 Probanden wurden nach ein zweites Mal per cMRT untersucht, im Schnitt 3 Jahre nach der Erstuntersuchung. Untersuchungs- und Kontrollgruppe wurden für folgende Confunder angeglichen: Die Vorerkrankungen Blutdruck und Diabetes mellitus, den Body-Mass-Index, den sozioökonomischen Status und für den Sucht- und Genussmittelkonsum Rauchen und regelmäßiger Alkoholkonsum. Die Studienteilnehmer mussten einen neuropsychologischen Test (trail making test) absolvieren.

Die MRT-Aufnahmen vor und nach der COVID-Infektion wurden automatisiert ausgewertet und statistisch aufbereitet. Mit diesen Verfahren (also keiner klassischen Befundung, bei der sich ein Radiologe beide Aufnahmen anschaut und vergleicht) konnten eine Abnahme der Dicke der grauen Substanz im linken orbitofrontalen und beidseitigen parahippocampalen Kortex, sowie im Bereich des Riechhirns bei den SARS-CoV-2 positiven Probanden gezeigt werden. Es schnitten die SARS-CoV-2 positiven Studienteilnehmer deutlich schlechter als die Kontrollgruppe in der neuropsychologischen Testung ab. Je kränker und älter die Probanden waren, desto deutlicher war der Effekt. Eine Erholung im engeren Sinne ließ sich nicht beobachten, eine länger zurückliegende Infektion hatte keinen Einfluss auf die Untersuchungsergebnisse.

Die Autoren durchdenken zwei mögliche Erklärungsmodelle für ihre Beobachtungen: Eine neuronale Degeneration, ausgehend vom Riechhirn (bei dem eine SARS-CoV-2-Infektion auf Grund der häufigen Hyposmie gemeinhin angenommen wird). Durch die verschiedenen Faserverbindungen, die vom Riechhirn ausgehen, müsste nicht mal eine weitergehende ZNS-Infektion stattfinden. Ein ähnliches Degenerationsmuster wurde für Influenza-Viren in der Vergangenheit schon gezeigt. Die zweite Hypothese ist eine ausgeprägte (auto)inflammatorische Reaktion (der berühmte Zytokinsturm).

Wo man weiterlesen kann

Douaud, G., Lee, S., Alfaro-Almagro, F., Arthofer, C., Wang, C., Lange, F., Andersson, J. L. R., Griffanti, L., Duff, E., Jbabdi, S., Taschler, B., Winkler, A., Nichols, T. E., Collins, R., Matthews, P. M., Allen, N., Miller, K. L., & Smith, S. M. (2021). Brain imaging before and after COVID-19 in UK Biobank. MedRxiv : The Preprint Server for Health Sciences. https://doi.org/10.1101/2021.06.11.21258690

Spike-Protein und ß-Amyloid: Theoretische Betrachtungen

Wie es manchmal so ist, wurde immer wieder eine sehr theoretische und aus der Grundlagenforschung stammende Arbeit zu dem Thema zitiert, die man aber einmal einordnen muss, da sie sonst vor allem Fragen hinterlässt. In der Kurzversion des Blogbeitrages (Link) hatte ich schon mal etwas dazu geschrieben.

Die Arbeit von Idrees und Kumar hat mit einer Computersimulation mit dem HDOCK server (einer webbasierten Lösung, mit der Proteininteraktionen simuliert werden können, Link pubmed) mögliche Interaktionen und Bindungen zwischen dem Spike-Protein von SARS-CoV-2 und den vier Proteinen, welche wir von den neurodegenerativen Erkrankungen kennen (ß-Amyloid, tau-Protein, a-Synuclein und TDP-43, hier kann man zu dem Thema neuropathogene Proteine etwas weiterlesen) ermittelt. Es handelt sich also um ein theoretisches Computer-Experiment. Heraus kam, dass das Spike-Protein durchaus mit den neurodegenerativen Proteinen interagieren und auch an diese mit einer erhöhten Affinität binden kann. Die Autoren verweisen auf eine andere Arbeit, die die Induktion von neurodegenerativen Erkrankungen durch verschiedene Virusinfektionen nahegelegt habe (Zhou et al., zu der ich weiter unten noch was schreibe) und schlussfolgern, dass es sich mit SARS-CoV-2 ähnlich verhalten könnte.

Wo man weiterlesen kann

Idrees, D., & Kumar, V. (2021). SARS-CoV-2 spike protein interactions with amyloidogenic proteins: Potential clues to neurodegeneration. Biochemical and Biophysical Research Communications, 554, 94–98. https://doi.org/10.1016/j.bbrc.2021.03.100

ACE und Neuro-COVID

Im Long Covid-Blogthema ging es schon einmal um das die Bindung des Spike-Proteins an ACE-Rezeptoren (hier kann man dazu weiterlesen, Link), aber wenn man das Thema Neurodegeneration und Covid verstehen möchte, muss man sich wohl oder übel etwas näher damit beschäftigen. Sehr empfehlenswert sind dazu die Review-Paper von Miners et al. und von Pacheco-Herrero et al.. Beide Autorengruppen geben einen umfassenden Überblick über die angenommenen Mechanismen zur möglichen Neurodegeneration verstärkenden von SARS-CoV-2. Das Thema ist sehr theoretisch und grundlagenforschungslastig, aber ich versuch mal mein bestes:

Der Schlüssel für die Invasion von Körperzellen durch SARS-CoV-2 ist die Bindung des Virus an das Angiotensin-konvertierende Enzym-2 (ACE-2). ACE-2 wird auf vielen Neuronen exprimiert, auch und insbesondere im Riechhirn, im Hippocampus und generell im Temporallappen, zudem auf vielen Gliazellen. Aus Tierexperimenten weiß man zudem, dass das SARS-1-Virus den Nervus vagus infiltrieren und hier retrograd in den Hirnstamm gelangen kann. Dieser retrograde axonale Transport ist ja ein Phänomen, welches sehr viele Viren beherrschen (nicht nur Tollwut-Viren und Viren der Herpesgruppe) und mit dem sich viele Viren durch den Körper „bewegen“. Es ist naheliegend, dass wenn SARS-1-Virus das kann, SARS-CoV-2 derartige Features auch beherrscht, v.a. weil in Autopsie-Studien vereinzelt SARS-CoV-2 im Hirnstamm und häufig (z.B. Matschke et al.) dort eine lymphozytäre Infiltration und Mikrogliaaktivierung nachgewiesen wurde, die ja in der Regel eine Reaktion auf irgendetwas andere ist, z.B. eine massive Immunreaktion.

Einen guten Hinweis in diese Richtung gibt die Arbeit von Heneka et al.. Die Autoren beschreiben die vielen verschiedenen Zytokine, die v.a. bei schweren COVID-19-Verläufen nachgewiesen wurden, namentlich: Interleukin-1β, Interleukin-2, Interleukin-2-Rezeptor, Interleukin-4, Interleukin-10, Interleukin-18, Interferon-γ, C-reaktives Protein, Granulozytenkolonie-stimulierender Faktor, Interferon-γ, CXCL10, monocyte chemoattractant protein 1, macrophage inflammatory protein 1-α und Tumornekrosefaktor-α bei parallel aber abfallenden T-Zell-Spiegeln im Blut, welche man aus der häufigen Leukopenie ableiten könne und die Aktivierung von Inflammasomen, (Link Wikipedia), also von Proteinkomplexen, die Entzündungsreaktionen auslösen können. Besonders der Protein-Komplex mit dem klangvollen Namen NLRP3 wurde auch bei anderen schweren Erkrankungen (v.a. bei Sepsis-Patienten, aber auch bei Influenza-Infektionen) als ein wesentlicher Bestandteil in der Pathogenese identifiziert und ist in Laborexperimenten mir einer Induktion von Peptid-Ablagerungen wie Amyloid-ß assoziiert gewesen. Die Autoren leiten daraus eine mögliche Induktion von Demenzerkankungen durch SARS-CoV-2 ab, beziehen sich aber klinisch v.a. auf die Assoziation von NLRP3 bei der Sepsis mit Neurodegeneration.

Mit der Infektion mit SARS-CoV-2 scheint es zu einer Spaltung von ACE-Rezeptoren und einer Internalisierung dieser zu kommen, wodurch dem Körper weniger ACE-Rezeptoren zur Verfügung stehen. Dies führt zu Ungleichgewichten im Renin-Angiotensin-System (Link Wikipedia), welches durch ACE je wesentlich gesteuert wird. Der Theorie nach führt das zu Endothelschäden und einer Dysfunktion der kleinen Gefäße, wenn man so will zu einer Mikroangiopathie. Das ist der Punkt der gemeint ist, wenn gesagt wird: COVID-19 ist eine Erkrankung des Endothels.

Aus der Grundlagenforschung zur Alzheimer-Demenz weiß man wiederum, dass auch hier in der Frühphase der Erkrankung die kleinen Gefäße eine wichtige Rolle zu spielen scheinen und eine Dysfunktion hier zu einer erhöhten Konzentration von neurotoxischen Amyloid-ß-Ansammlungen führt. Dies wiederum bedingt eine Fehlfunktion der Perizyten, also der den Kapillaren anliegenden Bindegewebezellen. Hierdurch wird die Blut-Hirn-Schranke durchlässiger. Das alles führt zu oxidativem Stress mit vermehrter NO-Ausschüttung, was wiederum Mitochondrien-Schäden verursachen kann und zudem eine Hyperphosphorilierung von Tau-Protein induziert. Das hier eine Verbindung zwischen Alzheimer-Pathomechanismen und COVID-19 besteht, wird mit Erkenntnissen aus Tiermodellen unterfüttert, bei denen transgene Mäuse nach Atemwegsinfektionen vermehrte T-Zell-Infiltrationen im Gehirn und eine vermehrte Amyloid-ß-Ablagerung bekamen. Mit zunehmendem Alter und männlichem Geschlecht gibt es weniger ACE-Exprimierung, was der Theorie nach die schwereren Krankheitsverläufe bei COVID-19 und das schlechtere Outcome erklären könnte, so die Autoren. Zudem merken sie an, dass die weiteren Risikofaktoren für ein schlechtes COVID-Outcome Bluthochdruck, Diabetes und Adipositas ebenfalls mit einer Fehlregulation des Renin-Angiotensin-Systems einhergehen. Für die Nicht-Neurologen, vor allem die Intensivmediziner sei erwähnt, dass eine Renin-Angiotensin-System-Dysfuntion auch mit einem höheren Risiko eines ARDS (Link Wikipedia) einhergeht.

Wo man weiterlesen kann

Heneka, M. T., Golenbock, D., Latz, E., Morgan, D., & Brown, R. (2020). Immediate and long-term consequences of COVID-19 infections for the development of neurological disease. Alzheimer’s Research & Therapy, 12(1), 69. https://doi.org/10.1186/s13195-020-00640-3

Matschke, J., Lütgehetmann, M., Hagel, C., Sperhake, J. P., Schröder, A. S., Edler, C., Mushumba, H., Fitzek, A., Allweiss, L., Dandri, M., Dottermusch, M., Heinemann, A., Pfefferle, S., Schwabenland, M., Sumner Magruder, D., Bonn, S., Prinz, M., Gerloff, C., Püschel, K., … Glatzel, M. (2020). Neuropathology of patients with COVID-19 in Germany: a post-mortem case series. The Lancet Neurology, 19(11), 919–929. https://doi.org/10.1016/S1474-4422(20)30308-2

Miners, S., Kehoe, P. G., & Love, S. (2020). Cognitive impact of COVID-19: looking beyond the short term. Alzheimer’s Research & Therapy, 12(1), 170. https://doi.org/10.1186/s13195-020-00744-w

Pacheco-Herrero, M., Soto-Rojas, L. O., Harrington, C. R., Flores-Martinez, Y. M., Villegas-Rojas, M. M., León-Aguilar, A. M., Martínez-Gómez, P. A., Campa-Córdoba, B. B., Apátiga-Pérez, R., Corniel-Taveras, C. N., Dominguez-García, J. de J., Blanco-Alvarez, V. M., & Luna-Muñoz, J. (2021). Elucidating the Neuropathologic Mechanisms of SARS-CoV-2 Infection. Frontiers in Neurology, 12(March 2020), 1–19. https://doi.org/10.3389/fneur.2021.660087

Was bedeutet das nun?

Allgemeines Prinzip oder SARS-CoV-2-Besonderheit?

Der Aspekt, der mich am meisten an dem Thema interessiert ist, ob es sich bei den Erkenntnissen um SARS-CoV-2-spezifische Prozesse handelt oder am Ende um allgemeingültige Pathomechanismen, die wir bei anderen Infektionskrankheiten auch sehen können (vielleicht in der Vergangenheit aber nicht genau genug hingeschaut haben). Dieser Gedanke ist in so fern naheliegend, da zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte der medizinischen Forschung mit vergleichbarem personellen und finanziellen Aufwand Forschung zu einem einzigen Krankheitsbild betrieben wurde.

Was beim Lesen der Studien und Review-Paper auffällt, dass nahezu überall andere virale Infektionskrankheiten als Referenz und Vergleich genannt werden, interessanterweise meistens Influenza, RS-Virus und die Viren der Herpesgruppe. Das betrifft die Mechanismen der Neuroinvasion über das Riechhirn, Atrophien von Nervenzellschichten nach Infektion und postinfektiös auftretenden kognitiven Störungen. Dass nach anderen Infektionen Gedächtnisstörungen auftreten, ist kein großes Geheimnis, insbesondere nicht, wenn ein komorbides Delir vorliegt. Nicht ohne Grund werden standardisierte neuropsychologische Testungen mit der Frage nach einer Demenzerkrankung in der Regel frühestens sechs Monate nach einem Delir durchgeführt.

Der Infektionsmechanismus über die ACE-2-Infiltration scheint hingegen ziemlich Corona-Virus-spezifisch zu sein, allerdings nur für SARS-CoV-2 und für das SARS-1-Virus und nicht für MERS und verschiedene Tier-Coronaviren (vgl. Ng Kee Kwong et al.)

Was man zum Zusammenhang von Virusinfektionen und Neurodegeneration weiß

In mehreren Papern wird auf die Arbeit von Zhou et al. zum Thema Neurodegeneration und Viruserkrankungen verwiesen. Auch hierzu eine kurze Zusammenfassung: Es handelt sich um eine relativ lange Review-Arbeit, in der für verschiedene (neurotrope) Viren die Möglichkeit einer Assoziation mit neurodegenerativen Erkrankungen erläutert werden. Dabei muss man beachten, dass die Arbeit von 2013 ist und einige hier präferierte Mechanismen in den letzten acht Jahren kaum noch diskutiert wurden. Die Autoren betonen eine Assoziation zwischen Herpes-Enzephalitiden und hierdurch wahrscheinlicher auftretenden Demenzerkankungen, ziehen eine (sattsam bekannte) Verbindung zwischen Infektionen mit Viren aus der Herpes-Gruppe und der Entwicklung einer Multiplen Sklerose und zwischen Influenza-Infektionen und der Entwicklung von Parkinson. Es wird auch der historische Vergleich bemüht, dass nach verschiedenen Grippe-Pandemien verstärkt postinfektiöse Parkinson-Erkrankungen beobachtet wurden.

Einschränkend muss erwähnt werden, dass man hier zwar statistische Korrelationen zeigen kann, dass bis heute aber die Virus-Hypothese bei der Multiplen Sklerose nicht bewiesen werden konnte (anders als der Einfluss des Vitamin-D-Spiegels), ebenso wenig Influenza-Infektionen als Auslöser von Parkinson. Als statistisch evidente Risikofaktoren für die Entwicklung von Parkinson-Erkrankungen gelten weiterhin fehlender Koffein- Alkohol- und Nikotinkonsum, Kopftraumata, Obstipationsneigung, depressive Störungen, Angsterkrankungen, Beta-Blocker-Einnahme, kein Bluthochdruck, Arbeiten in der Landwirtschaft, Leben auf dem Land und Pestizid-Exposition (vgl. Pan-Montojo und Reichmann und Lill und Klein).

Man muss sogar sagen, dass in den letzten Jahren das Verständnis der Entstehung neurodegenerativer Erkrankungen riesige Fortschritte gemacht hat (insbesondere was die Prion-artige Ausbreitung der pathogenen fehlgefalteten Proteine betrifft), hinsichtlich des Themas einer ggfs. Virus-bedingten Triggerung hingegen so gut wie nichts getan hat.

Wo man weiterlesen kann

Ng Kee Kwong, K. C., Mehta, P. R., Shukla, G., & Mehta, A. R. (2020). COVID-19, SARS and MERS: A neurological perspective. Journal of Clinical Neuroscience, 77(January), 13–16. https://doi.org/10.1016/j.jocn.2020.04.124

Pan-Montojo, F., & Reichmann, H. (2015). Ursache der Parkinson-Krankheit: Braak revisited. Aktuelle Neurologie, 41(10), 573–578. https://doi.org/10.1055/s-0034-1387475

Lill, C. M., & Klein, C. (2017). Epidemiologie und Ursachen der Parkinson-Erkrankung. Der Nervenarzt, 88(4), 345–355. https://doi.org/10.1007/s00115-017-0288-0

Zhou, L., Miranda-Saksena, M., & Saksena, N. K. (2013). Viruses and neurodegeneration. Virology Journal, 10(1), 1. https://doi.org/10.1186/1743-422X-10-172

Ein Fazit?

Das ziehe ich in Teil 3. Ich möchte das mit Absicht von der Schilderung der wissenschaftlichen Literatur abgrenzen, da ich denke, dass man die Frage, ob SARS-CoV-2 nun neurodegenerative Prozesse wahrscheinlicher machen kann durchaus unterschiedlich interpretieren kann.

SARS-CoV-2 und Neurodegeneration

Heute soll es relativ kurz und außer der Reihe um das Thema Führt eine COVID-19-Erkrankung zu einer höheren Wahrscheinlichkeit einer späteren neurodegenerativen Erkrankung? gehen. Anlass war diese Replik hier:

Das darin verlinkte Paper von Idrees und Kumar kannte ich bislang noch nicht, wohl aber ein ähnlich thematisch positioniertes von Pacheco-Herrero et al. (okay, zugegebenermaßen weil es im DGN-Covid-Paper-Journal-Club besprochen wurde (Link).

Kurze Zusammenfassung

SARS-CoV-2 spike protein interactions with amyloidogenic proteins: Potential clues to neurodegeneration

Diese Arbeit ist eine Arbeit aus der Grundlagenforschung. Es wurden mit einer Computersimulation mit dem HDOCK server (einer webbasierten Lösung, mit der Proteininteraktionen simuliert werden können) mögliche Interaktionen und Bindungen zwischen dem Spike-Protein von SARS-CoV-2 und den vier Proteinen, welche wir von den neurodegenerativen Erkrankungen kennen (ß-Amyloid, tau-Protein, a-Synuclein und TDP-43, hier kann man dazu etwas weiterlesen) ermittelt. Es handelt sich also um ein theoretisches Computer-Experiment. Heraus kam, dass das Spike-Protein durchaus mit den neurodegenerativen Proteinen interagieren und auch an diese mit einer gewissen Affinität binden kann. Die Autoren verweisen auf eine andere Arbeit, die die Induktion von neurodegenerativen Erkrankungen durch verschiedene Virusinfektionen gezeigt habe (Zhou et al.) und schlussfolgern, dass es sich mit SARS-CoV-2 ähnlich verhalten könnte.

Elucidating the Neuropathologic Mechanisms of SARS-CoV-2 Infection

In dieser Arbeit – welche auch im Mai 2021 erschien – ging es primär um verschiedene Infektionswege von SARS-CoV-2 und eine etwaige Neurotropie. Es ist ein sehr aufwändig gestaltetes Review-Paper, ebenfalls aus der Grundlagenforschung. Die Autoren fassen verschiedene molekularbiologische Aspekte einer SARS-CoV-2-Infektion über ACE-Rezeptoren zusammen (hier kann man dazu weiterlesen Link). Durch die ACE-Aktivierung wird NO ausgeschüttet, welches v.a. Mitochondrien-Schäden verursachen kann, zudem eine Hyperphosphorilierung von Tau-Protein induziert. Auch die Autoren verweisen auf andere Arbeiten, welche eine Assoziation zwischen Virusinfektionen und neurodegenerativen Erkrankungen zeigten.

Wie will man diese Erkenntnisse deuten?

Das ist die große Frage. Verwiesen wird in beiden Arbeiten auf andere Studien, zum Beispiel die von Zhou et al. zum Thema Neurodegeneration und Viruserkrankungen.

Noch ein Paper: Viruses and neurodegeneration

Auch hierzu eine kurze Zusammenfassung. Es handelt sich um eine relativ lange Review-Arbeit, in der für verschiedene (neurotrope) Viren die Möglichkeit einer Assoziation mit neurodegenerativen Erkrankungen erläutert werden. Dabei muss man beachten, dass die Arbeit von 2013 ist und einige hier präferierte Mechanismen in den letzten acht Jahren kaum noch diskutiert wurden. Die Autoren betonen eine Assoziation zwischen Herpes-Enzephalitiden und hierdurch wahrscheinlicher auftretenden Demenzerkrankungen, ziehen eine (sattsam bekannte) Verbindung zwischen Infektionen mit Viren aus der Herpes-Gruppe und der Entwicklung einer Multiplen Sklerose und zwischen Influenza-Infektionen und der Entwicklung von Parkinson. Es wird auch der historische Vergleich bemüht, dass nach verschiedenen Grippe-Pandemien verstärkt postinfektiöse Parkinson-Erkrankungen beobachtet wurden.

Einschränkend muss erwähnt werden, dass man hier zwar statistische Korrelationen zeigen kann, dass bis heute aber die Virus-Hypothese bei der Multiplen Sklerose nicht bewiesen werden konnte (anders als der Einfluss des Vitamin-D-Spiegels), ebenso wenig Influenza-Infektionen als Auslöser von Parkinson. Als statistisch evidente Risikofaktoren für die Entwicklung von Parkinson-Erkrankungen gelten weiterhin fehlender Koffein- Alkohol- und Nikotinkonsum, Kopftraumata, Obstipationsneigung, depressive Störungen, Angsterkrankungen, Beta-Blocker-Einnahme, kein Bluthochdruck, Arbeiten in der Landwirtschaft, Leben auf dem Land und Pestizid-Exposition (vgl. Pan-Montojo und Reichmann und Lill und Klein).

Beunruhigen mich die Paper?

Eher nicht. Und zwar in erster Linie deshalb, weil diese Frage nach der Rolle von Viren in der Genese sowohl von autoimmun-entzündlichen Erkrankungen als auch bei der Entstehung von neurodegenerativen Syndromen seit Jahren (im Endeffekt seit ich Neurologie mache) in ihrer Beantwortung stagniert und man sagen kann: Ja, es ist möglich, aber nicht unbedingt wahrscheinlich.

Wo man weiterlesen kann

Zhou, L., Miranda-Saksena, M., & Saksena, N. K. (2013). Viruses and neurodegeneration. Virology Journal, 10(1), 1. https://doi.org/10.1186/1743-422X-10-172

Pan-Montojo, F., & Reichmann, H. (2015). Ursache der Parkinson-Krankheit: Braak revisited. Aktuelle Neurologie, 41(10), 573–578. https://doi.org/10.1055/s-0034-1387475

Lill, C. M., & Klein, C. (2017). Epidemiologie und Ursachen der Parkinson-Erkrankung. Der Nervenarzt, 88(4), 345–355. https://doi.org/10.1007/s00115-017-0288-0

Idrees, D., & Kumar, V. (2021). SARS-CoV-2 spike protein interactions with amyloidogenic proteins: Potential clues to neurodegeneration. Biochemical and Biophysical Research Communications, 554, 94–98. https://doi.org/10.1016/j.bbrc.2021.03.100

Pacheco-Herrero, M., Soto-Rojas, L. O., Harrington, C. R., Flores-Martinez, Y. M., Villegas-Rojas, M. M., León-Aguilar, A. M., Martínez-Gómez, P. A., Campa-Córdoba, B. B., Apátiga-Pérez, R., Corniel-Taveras, C. N., Dominguez-García, J. de J., Blanco-Alvarez, V. M., & Luna-Muñoz, J. (2021). Elucidating the Neuropathologic Mechanisms of SARS-CoV-2 Infection. Frontiers in Neurology, 12(March 2020), 1–19. https://doi.org/10.3389/fneur.2021.660087

Parkinson für Dummies 05: Schmerz und Parkinson

Nach langer Zeit geht es mit der Parkinson-Mini-Serie weiter. Dazu verwurste ich mal einen Artikel, den ich schon vor einiger Zeit mal als Paper konzipiert hatte, den aber bis auf so eine extrem abgespeckte Version im Hamburger Ärzteblatt (Link) niemand je so richtig haben wollte.

Epidemiologie von Schmerzen bei Parkinson

Schmerzen beim idiopathischen Parkinson-Syndrom werden zu den nicht-motorischen Symptomen gezählt, so wie die Obstipationsneigung, die Riech- und REM-Schlaf-Verhaltensstörung und die häufige orthostatische Dysregulation. Die nicht-motorischen Symptome standen lange Jahre sehr im Hintergrund und wurden erst in der letzten Zeit wieder zunehmend mehr beachtet. Und wie in allen Parkinson-Artikeln kann man auch in diesem Artikel an dieser Stelle dann was mit James Parkinson schreiben. Ich versuche das mal standesgemäß:

Dies ist in so fern erstaunlich, da die nicht motorischen Symptome schon in der Erstbeschreibung der Erkrankung durch James Parkinson 1817 einen gewichtigen Stellenwert eingenommen haben, selbst Schmerzen bei Parkinson als „schmerzhafte rheumatoide Beschwerden“ zumindest in einem Halbsatz erwähnt wurden.

Je nach Studie leiden dabei bis zu 85% aller Parkinson-Patienten an chronischen Schmerzen, im Gegenzug zu durchschnittlich 19% der Menschen in der europäischen Gesamtbevölkerung (was mir extrem viel vorkommt by the way). Für 25% der Parkinson-Erkrankten sind Schmerzen bei Parkinson eines der drei am relevantesten Beschwerden, für knapp 10% sogar die relevanteste Einschränkung, noch vor den motorischen Symptomen. Das Vorhandensein chronischer Schmerzen geht wiederum stark mit einer Einschränkung der Lebensqualität einher. Weibliches Geschlecht, eine komorbide depressive Störung, motorische Wirkfluktuationen und bestimmte genetische Konstellationen scheinen das Auftreten von Schmerzen bei Parkinson zu begünstigen.

Viele Parkinson-Erkrankte leiden an mehreren Schmerzqualitäten. Insgesamt werden die Häufigkeiten der einzelnen Schmerzen, welche in den verfügbaren Studien erheblich variieren (meist bei Möglichkeit von Mehrfachnennungen) in etwas wie folgt angegeben: Muskuloskelettale Schmerzen treten am häufigsten auf und werden in 41-70 % der Fälle berichtet, Schmerzen im Rahmen von motorischen Wirkfluktuationen in 17-40 %, radikuläre Schmerzen in 27-35% und Schmerzen, welche als zentrale Schmerzen klassifiziert werden (siehe unten), machen 10-20 % aus.

Pathophysiologie von Schmerzen bei Parkinson

Schmerzen bei Parkinson-Syndromen entstehen durch mehrere Mechanismen. Zum einen scheint es es durch Fehl- und Schonhaltungen häufiger als in der Normalbevölkerung muskuloskelettale und radikuläre Schmerzen zu geben, zum anderen verursacht die Parkinson-Erkrankung selbst offenbar häufig Schmerzen, was sich mit den in den letzten 10 Jahren gewonnenen Erkenntnissen über die pathophysiologischen Mechanismen neurodegenerativen Erkrankungen plausibel erklären lässt (also die Prion-artige Ausbreitung pathogener Eiweiße im ZNS). Wer hier noch wenig bewandert ist, kann dazu etwas im Blogeintrag zu Braak & Co nachlesen). Sehr früh, noch vor dem Beginn erster motorischer Kernsymptome lassen sich Lewy-Körperchen (also pathogenes alpha-Synuclein) im Riechhirn und im enterischen Nervensystem nachweisen, dann aszendierend über den Nervus vagus im Hirnstamm in den Kerngebieten des Nervus vagus und von dort sich über Hirnstamm, Mittel- und Zwischenhirn zum Großhirn ausbreitend. Zurück zum Schmerz: Das schmerzverarbeitenden afferenten Faserverbindungen werden in zwei Bahnsysteme unterteilt: Das mediale und das laterale System (das hatte ich hier auch schon mal erklärt). Das mediale System ist in die kognitive und affektive Schmerzverarbeitung, das Schmerzgedächtnis und in autonome Antworten auf Schmerzreize eingebunden. Im lateralen System werden insbesondere Informationen zum Schmerzort und zur Dauer des Schmerzreizes verarbeitet. Die absteigenden, schmerzhemmenden, Fasern als dritter Teil des schmerzverarbeitenden Systems verlaufen wiederum vom periaquäduktalen Grau, über den Locus caeruleus zum Rückenmark.

Bringt man diese Beobachtungen der Grundlagenforschung zusammen, wird deutlich, dass bei der Parkinson-Krankheit im Rahmen der sich ausbreitenden alpha-Synuklein-Pathologie schon sehr früh im Krankheitsverlauf schmerzverarbeitende Systeme von Neurodegeneration betroffen sind und sich hierüber – neben mechanischen Krankheitskonzepten insbesondere bei muskuloskelettalen Schmerzen – das häufige Auftreten von durch die Grunderkrankung bedingter Schmerzen erklären.

King’s Parkinson’s Disease Pain Scale

Zur Erfassung von Schmerzen bei Parkinson existierte lange Zeit kein validiertes Scoring-Instrument. In der Non-motor Symptoms Questionnaire und Scale als gängigster Score zur Erfassung nicht motorischer Symptome werden Schmerzen lediglich im Selbstauskunftsbogen in einer Frage thematisiert, ansonsten wird auf das Phänomen Schmerz bei Parkinson nicht weiter eingegangen.

Für den englischen Sprachraum wurde am King’s College in London eine semiquantitative Skala entwickelt, die seit kurzem auch in einer konsentierten Übersetzung vorliegt. In sieben Domänen werden 14 Items zu den Themen muskuloskelettale Schmerzen, chronische Schmerzen, Schmerzen im Rahmen von Wirkfluktuationen, nächtliche Schmerzen, orofaziale und abdominelle Schmerzen, Schmerzen durch Ödeme und radikuläre Schmerzen. Für alle 14 Items können der Schweregrad in den Stufen 0-3 (keine Beschwerden, leicht Beschwerden, mäßige Beschwerden, schwere Beschwerden) und die Häufigkeit in den Stufen 0-4 (nie Schmerzen, seltener als 1 x wöchentlich, 1 x wöchentlich, mehrere Male wöchentlich, täglich) angegeben werden. Beide Punktwerte werden miteinander multipliziert. Am Ende wird aus allen 14 Punktwerten die Gesamtsumme gebildet.

Schmerzarten bei Parkinson und ihre Therapie

Muskuloskelettale Rückenschmerzen

Muskuloskelettale Schmerzen machen – wie erwähnt – den größten Teil der Schmerzen bei Parkinson-Erkrankungen aus, am häufigsten ist der untere Rücken betroffen, aber auch die Schulter-Nacken-Region, Hüfte und Knie werden häufig als Schmerzorte angegeben. Typisch für muskuloskelettale Schmerzen bei Parkinson sind eine Zunahme der Beschwerden in Off-Phasen und ein relativ gutes Ansprechen auf eine dopaminerge Medikation. Neben dieser offenbar kausalen Verbindung zwischen muskuloskelettalen Schmerzen und der Parkinson-Erkrankung, entstehen derartige Beschwerden bei Parkinson-Patienten auch sekundär über ganz gewöhnliche Mechanismen – wie weiter oben schon erwähnt – welche sich auch bei nicht an Parkinson erkrankten Rückenschmerz-Patienten beobachten lassen: Zum Beispiel durch Fehl- und Schonhaltungen, Immobilität und Gangstörungen, welche zu einer Fehlbelastung der Rücken- und Extremitätenmuskulatur führen.

Ein weiteres häufiges Symptom sind Schulterschmerzen, insbesondere das Syndrom der frozen shoulder. Auch hier wird oft eine Beschwerdezunahme im Off und eine Besserung unter dopaminergen Substanzen berichtet. Bei 2-8% aller Parkinson-Patienten sind Schulterschmerzen sogar das erste Symptom der Erkrankung.

Muskuloskelettale Schmerzen bei Parkinson-Syndromen werden prinzipiell genauso wie bei nicht an Parkinson Erkrankten behandelt: Medikamentös mit NSAR, Metamizol, Opioiden (wo indiziert), bei chronischen Schmerzen mit Koanalgesie durch SSNRI oder Trizyklika (diese werden trotz anticholinerger Wirkung in der Regel gut vertragen) und insbesondere mit nicht-medikamentösen Therapiemaßnahmen, wie detonierenden Übungen, Muskelentspannungstechniken, manueller Therapie, Wärmeapplikation und – wenn zur Symptomkontrolle als hilfreich empfunden – auch mittels transkutaner elektrischen Nervenstimulation (TENS). Therapeutisch sollte zudem immer ein Ansprechen der Schmerzen auf eine dopaminerge Medikation überprüft werden.

Kamptokormie

Die Kamptokormie, also die ausgeprägte nach vorn übergebeugte Fehlhaltung des Rumpfes, tritt zwar am häufigsten bei Parkinson-Syndromen auf, ist für diese jedoch nicht spezifisch und kann auch bei anderen – in erster Linie neurodegenerativen – Erkrankungen beobachtet werden, wie bei Muskeldystrophien und Myositiden. Eine Kamptokormie bei Parkinson tritt in der Regel 4-14 Jahre nach den ersten motorischen Symptomen auf und spricht meis schlecht auf eine dopaminerge Medikation an. Andererseits wurde beobachtet, dass sich bei der tiefen Hirnstimulation, insbesondere des Globus pallidus internus Kamptokormien rasch und deutlich bessern können, so dass als Ursache des Phänomens Kamptokormie bei Parkinson mittlerweile a.e. eine nichtdopaminergen neuronalen Funktionsstörung in den Basalganglien angenommen wird.

Die Therapie der Kamptokormie, welche häufig auf Grund der ausgeprägten Fehlhaltung mit muskuloskelettalen Rückenschmerzen aber auch Radikulopathien assoziiert ist, ist medikamentös – wie erwähnt – schwierig. Neben dem schlechten Ansprechen auf L-Dopa, waren auch Therapiestudien mit der lokalen Injektion von Botulinumtoxin unter der Vorstellung einer fokalen Dystonie, als auch mit Steroiden unter der Auffassung einer Myopathie oder Myositis negativ. Für nicht-medikamentöse Therapieverfahren existieren einzelne, teils widersprüchliche, Fallberichte.

Viszerale, nozizeptive Schmerzen

Bei einem Großteil aller Parkinson-Patienten besteht eine gestörte Darmmotilität, was sich über die frühe Neurodegeneration des enterischen Nervensystems durch pathologische alpha-Synuklein-Ablagerungen erklärt. Das häufigste, in diesem Zusammenhang geäußerte Symptom ist eine Obstipationsneigung. Aber auch viszerale, eher dumpf-drückende Schmerzen werden bei Parkinsonerkrankten beschrieben. Diese Schmerzen können im gesamten Gastrointestinaltrakt von oral bis zum Analsphinkter beobachtet werden und treten oft wellen- und kolikartig im Rahmen der Peristaltik auf. Neben dem Einsatz von Prokinetika, einer vermehrten flüssigkeits- und ballaststoffreichen Ernährung und der Gabe von Laxanzien wie Macrogol, wird zudem die Durchführung einer Ernährungsberatung empfohlen. Die Gabe von Anticholinergika ist hingegen oft kontraproduktiv und führt eher zu einer Beschwerdezunahme.

Dystonie-bedingte Schmerzen

Unter dem Begriff Dystonie-bedingte Schmerzen – im englischen Sprachraum treffender als pain linked to motor symptoms bezeichnet – fasst man die typischen, häufig schmerzhaften, Wirkfluktuationen fortgeschrittener Parkinson-Syndrome zusammen, also beginning-of-dose-, end-of-dose- bzw. wearing-off-Phänomene, aber auch die teils schmerzhaften Überdosierungen oder Schmerzen in der Anflutungsphase des L-Dopa nach Medikamenteneinnahme. Das Erkennen und die Behandlung dieser Symptome ist in der Behandlung von Parkinson-Syndromen in der Regel gut etabliert, so dass Dystonie-bedingte Schmerzen relativ zuverlässig detektiert, durch Anpassung der dopaminergen Medikation behandelt werden und somit als weniger unterdiagnostiziert und -therapiert gelten, als die übrigen hier geschilderten Symptomkomplexe. Schmerzhafte Dystonien treten insbesondere bei jung erkrankten Parkinson-Patienten und bei bestimmten genetisch determinierten Parkinson-Formen, wie bei Parkin- oder PINK1-Mutationen auf.

Am häufigsten lassen sich frühmorgendlich auftretende schmerzhafte Dystonien beobachten, entweder vor der ersten morgendlichen Einnahme des L-Dopa oder während des langsamen Anfluten des ersten eingenommenen L-Dopa, welche typischerweise die unteren Extremitäten betreffen und mit muskelkrampfartiger Plantarflexion, Fußinversion und einer Streckung der Knie einhergehen.

Neuropathische Schmerzen

Bei den neuropathischen Schmerzen kann zwischen radikulären und zentralen Schmerzen unterschieden werden.

Radikuläre Schmerzen

Während – je nach epidemiologischer Studie – in der Allgemeinbevölkerung eine Prävalenz von Radikulopathien von ca. 10% beschrieben wird, leiden 14-35% der Parkinson-Erkrankten an radikulären Schmerzen. Dies wird in erster Linie mit der vermehrten mechanischen Schädigung der Wirbelsäule durch chronische Fehlhaltungen, wie durch die Kamptokormie und Dystonien erklärt.

Therapeutisch werden in der Regel – wie bei nicht an Parkinson Erkrankten – Koanalgetika aus der Gruppe der Antikonvulsiva eingesetzt, insbesondere Gabapentin und Pregabalin. Für Gabapentin, welches auch bei Parkinson überwiegend gut vertragen wird, existiert eine deutlich bessere Studienlage zum Einsatz bei neuropathischen Schmerzen im Rahmen einer Parkinson-Erkrankung als für Pregabalin. Auch die koanalgetische Aktivierung der absteigenden Schmerzhemmung mittels Gabe von Trizyklika und SSNRI unterscheidet sich nicht von der Behandlung von radikulären Syndromen ohne begleitende Parkinson-Erkrankung.

Zentrale Schmerzen

Ungefähr 10% der Schmerzen bei Parkinson-Syndromen machen zentrale Schmerzen aus. Diese werden oft an für Dyskinesien/Dystonien oder muskuloskelettale Schmerzen ungewöhnlichen Lokalisationen (Gesicht, Nase-/Rachen-Raum, Mund, Abdomen, Genitale) beschrieben, erscheinen teils bizarr, für Außenstehende wenig nachvollziehbar, werden meist als brennend und/oder verkrampfend beschrieben und zeigen oft eine Seitenbetonung, kongruent zu der von der Parkinson-Erkrankung schwerer betroffenen Körperseite. Vermehrt treten zentrale Schmerzen in Off-Phasen auf. Erklärt werden diese Schmerzen durch pathologische Alpha-Synuclein-Ablagerungen im Tractus spinoreticularis und Tractus spinothalamicus, die dort zur Neurodegeneration führen. Zentrale Schmerzen werden oft als derart beeinträchtigend empfunden, dass sie die übrige Parkinson-Symptomatik deutlich in den Hintergrund rücken lassen. Oft führt dies zu einer umfangreichen Abklärung des Schmerzes, ohne dass sich ein wegweisendes pathologisches Korrelat ergibt. Häufig besteht ein gutes Ansprechen der Schmerzen auf eine dopaminerge Medikation. Bei Therapieversagen können klassische Analgetika incl. Opioide, aber auch Trizyklika und atypische Neuroleptika versucht werden. Positive Fallberichte bestehen bei ansonsten therapierefraktären Schmerzen auch für eine tiefe Hirnstimulation des Ncl. subthalamicus beidseits.

Eine konsensuelle Definition und Abgrenzung zentraler Schmerzen von anderen Schmerzqualitäten bei der Parkinson-Erkrankung existiert nicht, üblicherweise werden Schmerzen, die nicht in eine der anderen genannten Kategorien fallen und für welche es keine plausiblere Erklärung als die Parkinson-Erkrankung selbst, als zentrale Schmerzen eingeordnet.

Schmerz und Parkinson: Wo und wie behandeln?

Ich glaube, das A&O ist das dran denken und das nachfragen, wenn Patienten von alleine nicht von Schmerzen berichten. Zudem muss man im Hinterkopf haben, dass es sich bei Schmerzen beim Parkinson-Syndrom oft um Mischbilder verschiedener Schmerzqualitäten handelt, welche zudem chronifiziert sind und im Rahmen einer progredienten, neurodegenerativen Erkrankung auftreten. Das kann dazu führen, dass die klassische unimodale Schmerztherapie rasch an ihre Grenzen gerät und eine Behandlung im Setting einer multimodalen Schmerztherapie mit einem interdisziplinären Behandlungsteam vorteilhafter sein kann.

Wo man weiterlesen kann:

Beiske AG, Loge JH, Rønningen A, Svensson E. Pain in Parkinson’s disease: Prevalence and characteristics. Pain. 2009;141:173–177.

Ford B. Pain in Parkinson’s disease. Mov Disord. 2010;25 Suppl 1:S98–S103.

Truini A, Frontoni M, Cruccu G. Parkinson’s disease related pain: a review of recent findings. J Neurol. 2013;260:330–334.

Valkovic P, Minar M, Singliarova H, et al. Pain in Parkinson’s Disease: A Cross-Sectional Study of Its Prevalence, Types, and Relationship to Depression and Quality of Life. PLoS ONE. 2015;10:e0136541.

Drei alte Nazis, Kalk-und Eisenbirnen

Ich habe letztens die erste Folge von Das Hausboot geschaut und irgendwie kam mir da schon der Gedanke, dass ich mal was zu Eisen- und Kalkablagerungen im Gehirn schreiben könnte. Weiß nicht, ob das jetzt mehr wegen Gunter Gabriel oder dem Hausboot an und für sich war. Und dann hatten wir prompt einen Patienten mit einem Morbus Fahr auf Station und deswegen geht jetzt um diese beiden Phänomene.

Aber auch nur so halb, denn was eigentlich viel interessanter ist, ist die Frage, welche Rolle Eisen bei neurodegenerativen Erkrankungen wie dem idiopathischen Parkinson-Syndrom oder der Alzheimer-Demenz spielt. Darum soll es auf jeden Fall auch gehen. Und damit fangen wir auch an. Die Literatur dazu ist allesamt so gute 5 Jahre alt, teilweise noch älter und ein wenig drängt sich der Eindruck auf, das ganze ist etwas aus dem Fokus geraten bei allen Versuchen Antikörper gegen Tau- oder ß-Amyloid- oder alpha-Synuclein-Ablagerungen zu finden.

Eisen und Neurodegeneration

Eisen-Physiologie im Gehirn im Laufe des Lebens

Der zerebrale Eisenstoffwechsel ist eine erstaunlich komplexe Kiste. Das Problem an Eisen ist, dass es für das Gehirn ziemlich unentbehrlich ist, da es sowohl in zwei- als auch dreiwertiger Form Elektronen abgeben kann und das in verschiedenen Stoffwechselvorgängen (z.B. der Atmungskette) gebraucht wird. Dieser Vorteil ist aber gleichzeitig auch das Hauptproblem, da Eisen über diese Elektronenabgabe freie Radikale bilden kann. Im Blut gelöstes Eisen kann selber nicht die Blut-Hirn-Schranke überwinden und benötigt daher ein spezielles Transportprotein namens transferrin receptor 1 (TfR1), welches von Neuronen gebildet wird. Es gibt Regulator-Proteine mit dem einfallsreichen Namen iron regulatory protein 1 und iron regulatory protein 2, sowie weitere Steuerungsproteine wie hypoxia inducible factor. Diese Steuerproteine sind wichtig, um den Eisenstoffwechsel in exakter Balance zu halten und eben nicht zu viel Radikalbildung zuzulassen.

Mit zunehmendem Lebensalter lässt sich (teilweise auch nur mikroskopisch) bei fast allen Individuen eine progrediente Eisenablagerung in den Stammganglien und der Substantia nigra beobachten. Der Grund hierfür ist unklar, ein Zusammenhang mit der im Alter ja zunehmend durchlässigen Blut-Hirn-Schranke wird aber diskutiert. Das ist in sofern ein Problem, da bei den jetzt folgenden Punkten eine große Schwierigkeit besteht, die Rolle der Eisenablagerungen richtig einzuschätzen, in wiefern sie einen normalen Alterungsprozess oder eine Pathologie darstellen.

Eisen bei neurodegenerativen Erkrankungen

Beim idiopathischen Parkinson-Syndrom scheint dreiwertiges Eisen die Akkumulation von alpha-Synuclein in den Lewy-Körperchen zu beschleunigen. Die alpha-Synuclein-Aggregate sind selber neuropathogen, da sie AMPA-Rezeptoren im großen Stil aktivieren und diese über den damit verbundenen Kalium-Einstrom auch neurotoxisch wirken, aber auch selbst als Aggregat neurotoxisch sind. Injiziert man Ratten Eisen in die Substantia nigra, entwickeln sie einen Ratten-Parkinson. In kleinen Fallserien wurden Eisenchelatbildner in der Therapie des idiopathischen Parkinson-Syndroms ausprobiert und haben neben einer Eisenabnahme auch zu einer Vermessung im UPDRS Teil III geführt.

Auch bei der Alzheimer-Demenz findet sich ein vermehrter Eisengehalt in den pathogenen Protein-Ablagerungen, v.a. in den ß-Amyloid-Plaques. Durch den Mangel an Tau-Protein scheint es einen Einfluss auf eine verminderte Aktivität auf die Eisen-Regulations-Proteine zu geben, mit der Folge, dass immer mehr Eisen akkumuliert. Bei Patienten mit einer leichten kognitiven Störung konnte gezeigt werden, dass ein erhöhter Liquor-Ferritin-Spiegel mit einer gute 9-Monate schnelleren Konversion zu einer Alzheimer-Demenz einherging und diese Patienten auch eine ausgeprägtere Hippocampus-Atrophie zeigten.

Ziemlich sicher ist eine aus der Grundlagenforschung abgeleitete Korrelation zwischen zunehmenden Eisenablagerungen und nachlassenden kognitiver Leistungsfähigkeit, sowie zwischen Eisenablagerungen und einer zunehmenden Feinmotorikstörung der Hände belegt.

Morbus Fahr und Neurodegeneration mit Eisenakkumulation im Gehirn

Neben diesen allgemeinen Beobachtungen bei neurodegenerativen Erkrankungen existieren zwei weitere Krankheitsbilder, um die es hier gehen soll. Der Morbus Fahr, bei dem es zu Kalziumablagerungen im Gehirn kommt und die Neurodegeneration mit Eisenakkumulation im Gehirn (nun ja, hier ist der Name Programm). Beides sind – in der symptomatischen Form – seltene bis sehr seltene Krankheitsbilder.

Morbus Fahr: Der erste Nazi und Kalziumablagerungen im (alternden) Gehirn

Häufiger als zu Eisen-, kommt es zu Kalziumablagerungen v.a. im Bereich der Stammganglien und des Kleinhirns. Es sind aber auch andere Manifestationsorte beschrieben, z.B. der Thalamus, das Marklager oder auch der Kortex. Diese Ablagerungen sind – in wenig bis mäßig ausgeprägtem Ausmaß – gar nicht selten (2-10% der Fälle in bildgebenden Reihenuntersuchungen) und häufig asymptomatisch. Symptomatische Formen sollen mit einer Häufigkeit von etwas über 1:1.000.000 auftreten. Theodor Fahr hat diese Krankheit 1930 erstmal beschrieben. Theodor Fahr ist von den drei deutschen Pathologen, um die es heute gehen soll und die alle in die Kategorie alte Nazis fallen, vermutlich noch der unproblematischste. Das ist wohl auch der Grund warum – anders als bei der Neurodegeneration mit Eisenakkumulation im Gehirn – noch der Eigenname für die Krankheit verwendet wird. Synonyme, die man aber auch ab und zu findet sind: Idiopathische Stammgabglienkalzifikation, striopallidodentale Kalzifikation.

Pathophysiologie

Aufgrund eines fehlerhaften Eisentransports und der Produktion freier Radikale (siehe oben, kennen wir ja schon) kommt es zu Gewebeschäden, die dann in einem zweiten Schritt zu den Kalzifikationen führen. Die Verkalkungen entwickeln sich zunächst innerhalb der Gefäßwand und in den perivaskulären Räumen und erstrecken sich später bis zu den Neuronen. Eine fortschreitende Mineralisierung der Basalganglien neigt dazu, das Gefäßlumen zu komprimieren, wodurch ein Teufelskreis aus gestörter Durchblutung, Verletzung des Nervengewebes und Mineralablagerung ausgelöst wird.

Den Morbus Fahr gibt es in verschiedenen Varianten:

  • als autosomal-dominante Erkrankung
  • als autosomal-rezessive Erkrankung

Dann gibt es noch ein sekundäres Fahr-Syndrom bei folgenden – in erster Linie endokrinologischen – Erkrankungen:

Bei der tuberösen Sklerose finden sich gehäuft Stammganglienverkalkungen, auch bei der Brucellose als Infektionskrankheit.

Klinik des Morbus Fahr

Die Klinik des Morbus Fahr richtet sich in erster Linie nach der Lokalisation der Verkalkungen und ihrem Ausmaß. So sind hypokinetisch-rigide, choreatiforme oder dystone Symptome durch die nahezu immer vorhandene Beteiligung der Stammganglien als häufigste klinische Manifestation beschrieben, aber auch Myoklonien oder spastische Paresen bei Einbeziehung der Pyramidenbahn.

Gehäuft kommt es zu einer symptomatischen Epilepsie und zu kognitiven Störungen. Nach einer Übersichtsarbeit (siehe unten) sind die Häufigkeiten von Bewegungsstörung bei einem Morbus Fahr in etwa wie folgt beschrieben: Bei 57% Parkinson-Syndrom, bei 19% Chorea, bei 8% Tremor, bei 8% Dystonie, bei 8% Atheose 5% und bei 3% der Patienten liegt eine orofaziale Dyskinesie vor.

Diagnosekriterien

Zur Abgrenzung von symptomatischen Formen hat man erstmals in den 1970er Jahren (mit Revisionen 1989 und 2005) Diagnosekriterien geschaffen, die wie folgt lauten:

  • Bilaterale Verkalkung der Basalganglien in der Bildgebung. Andere Gehirnregionen können ebenfalls betroffen sein.
  • Progressive neurologische Dysfunktionen, die im Allgemeinen eine Bewegungsstörung und / oder neuropsychiatrische Manifestationen umfassen. Das Erkrankungsalter liegt normalerweise im vierten oder fünften Jahrzehnt, obwohl die Symptome auch in der Kindheit auftreten können
  • Fehlen biochemischer Anomalien und somatischer Merkmale, die auf eine mitochondriale oder metabolische Erkrankung oder eine andere systemische Störung hinweisen.
  • Fehlen einer infektiösen, toxischen oder traumatischen Ursache.
  • Familienanamnese im Einklang mit einer autosomal-dominanten Vererbung.
Diagnostik

Einfach ist der Morbus Fahr in der CT zu diagnostizieren, aber auch in der MRT kann man die Stammganglienkalzifizierungen mit einer Signalabsenkung in der T2 und hypo- aber auch hyperintensen T1-Veränderungen recht einfach feststellen.

Laborchemisch macht es Sinn eine Störung des Kalziumstoffwechsels zu überprüfen (Serum-Kalzium, Phosphat, Magnesium, Alkalische Phosphate, Calcitonin, PTH), ggfs. auch eine Schwermetallintoxikation zu erwägen. Zudem sollte eine diagnostische Liquorpunktion erfolgen, da es Kalzifikationen im Gehirn auch postinfektiös gibt.

Es gibt verschiedene Genloki, auf denen Mutationen vorkommen, die zu einem Morbus Fahr führen.

Behandlung

Eine kausale Therapie existiert nicht. Wenn eine endokrinologische Störung vorliegt, kann man wohl zumindest eine Progredienz durch die Behandlung der endokrinologischen Behandlung verhindern.

Die anderen beiden Nazis: Neurodegeneration mit Eisenakkumulation im Gehirn (neurodegeneration with brain iron accumulation, NBIA)

NBIA ist der Oberbegriff für verschiedene genetische Erkrankungen, die zu einer vermehrten Eisenakkumulation in den Stammganglien führen und darüber zu extrapyramidal-motorischen Symptomen. Teilweise finden sich auch noch andere Symptome, insbesondere zerebelläre Atrophien und früh einsetzende demenzielle Symptome. Teilweise sind schon Kinder- und Jungendliche betroffen. Auf Wikipedia findet sich eine recht umfangreiche Auflistung der gängigsten NBIA, die alle extrem selten sind, selbst in der Summe aller NBIA. Bei den allermeisten NBIA handelt es sich um autosomal-rezessiv vererbte Erkrankungen.

Pantothenatkinase-assoziierte Neurodegeneration

Die Pantothenatkinase-assoziierte Neurodegeneration ist noch die häufigste NBIA mit einer Prävalenz von 1-3/1.000.000 Einwohner. Und hier kommen die anderen beiden alten Nazis ins Spiel und zwar zwei wirklich schlimme: Julius Hallervorden und Hugo Spatz, beide waren unmittelbar an der Aktion T4 und auch der Kindereuthanasie beteiligt und haben im großen Stil Gehirne ermordeter Menschen mit Behinderung präpariert und untersucht. Die Pantothenatkinase-assoziierte Neurodegeneration war lange nach diesen beiden als Hallervorden-Spatz-Syndrom bekannt und diese Bezeichnung hält sich immer noch im Sprachgebrauch einzelner Neurologen und Radiologen.

Wo man weiterlesen kann:

Bei Orpha-Net: Morbus Fahr & NBIA

Saleem, S., Aslam, H., Anwar, M., Anwar, S., Saleem, M., Saleem, A., & Rehmani, M. A. (2013). Fahr’s syndrome: literature review of current evidence. Orphanet Journal of Rare Diseases, 8(1), 156. https://doi.org/10.1186/1750-1172-8-156

Schneider, S. A. (2016). Neurodegeneration with Brain Iron Accumulation. Current Neurology and Neuroscience Reports, 16(1), 9. https://doi.org/10.1007/s11910-015-0608-3

Küpper, C., Levin, J., & Klopstock, T. (2016). Eisen im alternden Gehirn. Aktuelle Neurologie, 43(01), 32–40. https://doi.org/10.1055/s-0035-1565121

Neurodegenerative Krankheiten: WYSIWYG oder nicht? Die Sache mit den Tauopathien und den Synukleinopathien.

Windows 95 und neurodegenerative Erkrankungen

Den WYSIWYG-Vergleich wollte ich schon ganz lange machen. Gehen soll es heute um neurodegenerative Erkrankungen und die Frage, ob es auch wirklich Parkinson ist, wenn es wie Parkinson ausschaut. WYSIWYG ist ja so ein Begriff, der ungefähr aus der Ära von Karl Klammer und Windows 95 kommt. Ganz kurz gesagt: Word ist WYSIWYG. Da sieht man beim Erstellen das Dokument, so wie es später – aus dem Drucker – herauskommt. Markdown-Editoren (mit so einem schreibe ich das hier) sind eher das Gegenteil.

Die einzelnen neurodegenerativen Erkrankungen sind in der Regel historisch bedingte Syndrome, von deren Pathogenese man bei der Erstbeschreibung und Krankheitsdefinition noch gar keine Idee hatte. Dies war insbesondere bei den atypischen Parkinson-Syndromen so, für die es relativ strenge und dogmatische Diagnosekriterien gab. Da war es dann ein Ding der Unmöglichkeit, dass eine Erkrankung z.B. eine Multisystematrophie sein konnte, da der Patient ja auch eine Demenz hatte und das bei der Multisystematrophie aber definitionsgemäß nicht vorkommt. Exemplarisch findet man das z.B. bei Gilman et al. (s.u.), wo eine Demenz-Symptomatik als explizites Ausschlusskriterium einer MSA aufgeführt wird.

Aber das war ganz lange so, es gab klinische Diagnosekriterien – typischerweise mit der Unterteilung mögliche, wahrscheinliche und gesicherte MSA/PSP/Alzheimer-Demenz/Lewy-Körperchen-Demenz/idiopathisches Parkinson-Syndrom – wobei die gesicherte Variante stets eine post mortem-Autopsiediagnose war. Ganz übersichtlich finden sich diese Diagnosekriterien für die atypischen Parkinson-Syndrome z.B. bei Fuchs et al.:

Wo man weiterlesen kann
  1. Gilman, S. et al. Consensus statement on the diagnosis of multiple system atrophy. J. Neurol. Sci. 163, 94–98 (1999).
  2. Fuchs, P. & Wenning, G. Atypische Parkinsonsyndrome – Neues aus Diagnostik und Therapie. Aktuelle Neurol. 39, 534–545 (2013).

Zusätzlich zu den klinischen Diagnosekriterien bestand meist seit der Erstbeschreibung eine histopathologische Beschreibung der Erkrankung, eben die gesicherte Version. So wurden für einzelne neurodegenerative Erkrankungen morphologische Beschreibungen von Einschlusskörperchen (z.B. Lewy-Körperchen, gliale zytoplasmatische Einschlusskörperchen bei der MSA, senile Plaques, neurofibrilläre Bündel usw.) veröffentlicht, teilweise gelang es auch die jeweiligen Proteine zu identifizieren, über die jeweilige Binnenstruktur in den Proteinablagerungen konnte man jedoch in der Regel nichts sagen.

Synukleinopathien, Tauopathien und ß-Amyloid-Erkrankungen

Aus dieser Zeit stammt die Einteilung der neurodegenerativen Erkrankungen in die Gruppe der Synukleinopathien, Tauopathien und ß-Amyloid-Erkrankungen, wobei die Alzheimer-Demenz interessanterweise relativ lange irgendwie parallel lief und es keine systematische Verknüpfung zu anderen neurodegenerativen Erkrankungen (v.a. denen mit Bewegungsstörungen) gab.

Zu den ⍺-Synukleinopathien in diesem klassischen Sinn gehören das idiopathische Parkinson-Syndrom, die Lewy-Körperchen-Demenz und die verschiedenen Multisystematrophie-Formen, zu den Tauopathien die PSP und die CBD. Die Alzheimer-Demenz war demnach eine ß-Amyloid-Erkrankung. Dem geneigten Leser im Jahr 2021 fällt auch hier recht mühelos die Schwierigkeit dieser – wieder sehr schematischen – Einteilung auf, da natürlich bei der Alzheimer-Erkrankung sowohl Tau-Protein als auch ß-Amyloid-Ablagerung vorkommen, bei der Lewy-Körperchen-Demenz ⍺-Synuclein und ß-Amyloid usw.

Das Problem mit der kortikobasalen Degeneration (CBD)

Bei der CBD kam man in diesem Krankheitskonzept schnell an die Grenzen, da man zwar sehr schön ein kortikobasales Syndrom (CBS) bestehend aus alien limb Phänomen, lateralisierten Apraxien, Neglect-artigen Wahrnehmungsstörungen, stimulus-sensitiven Myoklonien und fokale Dystonien definieren kann, dieses sich aber sehr oft in eine andere neurodegenerative Erkrankung weiterentwickelt, häufig eine PSP oder eine FTD-Variante (v.a. die Varianten mit Aphasie, wie primär progressive Aphasie und semantische Demenz). Insbesondere die fronttemporale Demenzen hatten zu diesem Zeitpunkt noch gar keine richtige Verbindung zu den atypischen Parkinson-Syndromen.

Neuropathologie mit Elektronenmikroskop und Immunhistochemie

Zunehmend war es dann möglich die Binnenstrukturen der für die einzelnen neurodegenerativen Erkrankungen typischen Protein-Ablagerungen aufzudecken und darüber dann die jeweiligen Erkrankungen zu definieren. Wenn man das post mortem macht, kann es aber vorkommen (und das gar nicht so selten), dass ein Patient klinisch z.B. ein idiopathisches Parkinson-Syndrom hatte oder eine reine Demenzerkrankung, neuropathologisch aber eine PSP. Dies führte bei der PSP zur Differenzierung der Erkrankung in verschiedene Subtypen, der schon geschilderten Erkenntnis, dass ein kortikobasales Syndrom nicht unbedingt eine kortikobasale Degeneration sein muss und dem Standardsatz in vielen Publikationen, dass die PSP vermutlich unterdiagnostiziert sei. Durch diesen Schritt gelang es aber erstmals die historisch gewachsene Unterteilung in Bewegungsstörungen und Demenzen zu brechen.

Die Prion-Hypothese

Richtig in Fahrt kam das neue (jetzt auch schon so gut 15 Jahre alte) Verständnis der neurodegenerativen Erkrankungen dann durch die Erkenntnis, dass die Protein-Ablagerungen in der Regel selber pathogen sind und nicht nur die Folge von Neurodegeneration und dass sie sich von Zelle zu Zelle prion-artig ausbreiten. Besonders bekannt ist das durch die Braak-Stadien beim idiopathischen Parkinson-Syndrom geworden, man kann das aber im Endeffekt für alle neurodegenerativen Erkrankungen und die unterschiedlichen Eiweiße zeigen:

Wo man weiterlesen kann
  1. Braak, H. et al. Staging of brain pathology related to sporadic Parkinson’s disease. Neurobiol. Aging 24, 197–211 (2003).
  2. Braak, H., Rub, U., Jansen Steur, E. N. H., Del Tredici, K. & de Vos, R. A. I. Cognitive status correlates with neuropathologic stage in Parkinson disease. Neurology 64, 1404–1410 (2005).
  3. Braak, H., Ghebremedhin, E., Rüb, U., Bratzke, H. & Del Tredici, K. Stages in the development of Parkinson’s disease-related pathology. Cell Tissue Res. 318, 121–134 (2004).
  4. Braak, H., Feldengut, S. & Del Tredici, K. Pathogenese und Prävention des M. Alzheimer. Nervenarzt 84, 477–482 (2013).
  5. Braak, H., Neumann, M., Ludolph, A. & Del Tredici, K. Breitet sich die sporadisch auftretende amyotrophe Lateralsklerose über axonale Verbindungen aus? Aktuelle Neurol. 44, 409–414 (2017).

Und was heißt das jetzt?

Zusammengefasst kann man folgende grundlegende Eigenschaften neurodegenerativer Erkrankungen definieren:

  • Neurodegenerative Erkrankungen werden in der Regel von sich prion-artig ausbreitenden pathogenen Protein-Konfigurationen von physiologisch vorkommenden neuronalen Proteinen verursacht.
  • Eine spezifische Protein-Pathologie kann zu verschiedenen klinischen Phänotypen führen.
  • Von einem klinischen Syndrom kann man nicht zwanglos auf die zu Grunde liegende Protein-Pathologie schließen.
  • Overlap-Syndrome, welche Symptome verschiedener klassischer neurodegenerativer Erkrankungen aufweisen sind häufig.

Bei mir führt das Einreißen von vorher dogmatisch und stur vorgetragenen Gewissheiten in der Medizin immer zu einer tiefen Befriedigung. Darüber hinaus kann das natürlich zu einer gewissen Beliebigkeit in der Diagnostik neurodegenerativer Erkrankungen führen, da man sich ja gar nicht mehr festlegen muss (und/oder kann). Am Ende wird man das jeweilige Syndrom zunächst einmal deskriptiv beschreiben müssen und darf sich nicht wundern, wenn man eine Diagnose im weiteren Verlauf auch mal revidieren muss. Für die Patienten ist zunächst einmal wichtig, gibt es eine dopamin-sensitive Bewegungsstörung und ist eine kognitive Störung dabei, ggfs. liquordiagnostisch eine, die man zu einer Alzheimer-Demenz zählen kann und welche man zumindest symptomatisch antidementiv behandeln könnte?

Wo man weiterlesen kann
  1. Klucken, J. et al. Parkinson-Syndrom(e) – Neue Konzepte für eine sich ausbreitende Erkrankung? Aktuelle Neurol. 40, 327–332 (2013).
  2. Pan-Montojo, F. & Reichmann, H. Ursache der Parkinson-Krankheit: Braak revisited. Aktuelle Neurol. 41, 573–578 (2015).
  3. Schäffer, E. & Berg, D. Neudefinition der Parkinson-Erkrankung. Aktuelle Neurol. 44, 260–266 (2017).
  4. Becktepe, J., Gövert, F. & Deuschl, G. Übergreifende Konzepte der Neurodegeneration. Aktuelle Neurol. 44, 19–26 (2017).

Senile Chorea und Huntington

Meine spät entdeckte Liebe für die Huntington-Erkrankung

Das mit der Huntington-Erkrankung und mir war eine schwere Geburt. Selbst im Neuro eBook kann man eine gewisse Frustration über CAG-Repeats und die Namensgebung Huntingtin nur schwerlich überlesen und ganz lange habe ich die Huntington-Erkrankung für ein elendiges Thema für Staatsexamen-Prüfungsfragen gehalten. Erst in den letzten Jahren konnte ich für mich unter der Überschrift unterdiagnostizierte neurodegenerative Erkrankung mit Bewegungsstörung ein gewisses Interesse für die Erkrankung entwickeln.

In der letzten Info Neurologie + Psychiatrie bin ich dann zufällig über ein Interview mit Herwig Lange gestolpert, der relativ viel Ahnung von der Huntington-Erkrankung hat. Meistens lese ich diese Interviews nicht, aber das fand ich dann doch interessant. Da ging es dann um verschiedene Antisense-Oligonucleotide (um so was geht’s in diesen Interviews oft, deshalb interessieren sie mich auch nur selten), aber in einer kurzen Frage auch um Spätmanifestationen der Huntington-Erkrankung. Und da sagte dann der Herr Lange, dass man durchaus einige der senilen Choreas doch einer spät und mild verlaufenden Huntington-Erkrankung zuschreiben kann. Und da ich diesen Gedanken interessant finde und den ein oder anderen Blick in verschiedene Paper wert, wollte ich hier mal was dazu schreiben.

Was man über die Huntington-Krankheit wissen könnte

Das, was alle wissen (und nach dem Staatsexamen sofort wieder verdrängen)
Berühmter Huntington-Patient und Linken-Vorzeige-Ikone: Woody Guthrie
Berühmter Huntington-Patient und Linken-Vorzeige-Ikone: Woody Guthrie, Link.

Die Huntington-Erkrankung ist eine autosomal dominant vererbte Erkrankung, bei der es zu einer übermäßigen Ansammlung von CAG-Repeats auf dem kurzen Arm von Chromosom 4 kommt. Dadurch wird das Protein Huntingtin in seiner Funktion erheblich gestört. Es gibt das Phänomen der Antizipation, d.h. das von Generation zu Generation immer mehr CAG-Repeats hinzukommen und sich damit die Erkrankung immer früher manifestiert, ganz nach dem Motto je mehr Repeats, desto früher und schwerer die Erkrankung. Und es gibt de-novo Mutationen, bei denen Menschen eine Huntington-Erkrankung bekommen, ohne dass in der Familie andere Mitglieder auch betroffen sind. Was man irgendwann auch mal auswendig gelernt hatte ist, dass sich die Huntington-Erkrankung typischerweise ab mehr als 60 CAG-Repeats manifestiert, physiologisch bis zu 35 Repeats sind. Was man sich meist länger merkt ist, dass die Huntington-Erkrankung meistens eine rasch progrediente Demenz und eine Bewegungsstörung beinhaltet und dass es sich dabei oft um eine Chorea handelt und dass es keine kausale Therapie gibt.

Das, was nur wenige wissen, was aber eigentlich interessant ist: Thema Genetik

So banal 35 CAG-Repeats sind normal und bei 60 bekommt man Huntington, ist es dann doch nicht (aber das war ja auch eigentlich klar). Also, eine vollständige Penetranz (also jede Generation bekommt die Huntington-Erkrankung) findet man wohl schon ab 39 CAG-Repeats, zwischen 36 und 39 Repeats ist die Penetranz unvollständig und zwischen 27 und 35 Repeats besteht ein erhöhtes Erkrankungsrisiko ohne sichere Vorhersagbarkeit, CAG-Repeats unter 27 sind normal. Werden die CAG-Repeats von CAA-Tripletts unterbrochen, so kann man eine insgesamt höhere Anzahl an Repeats haben, ohne zu erkranken.

Evolutionär höher entwickelte Lebewesen haben eine höhere Anzahl an CAG-Repeats als evolutionstechnisch gesehen ältere Arten. Vermutlich korreliert die CAG-Repeat-Anzahl mit der Hirnmasse (in Relation zum Körpergewicht), in einigen Huntington-Studien sind für Kinder und junge Erwachsene mit 40 CAG-Repeats sehr hohe IQ-Werte beschrieben worden. Diese Zahl 40 ist auch deshalb interessant, weil das auch die Größenordnung von CAG-Repeats ist, bei der Spätmanifestationen in Studien beschrieben wurden (was im Englischen dann oft Late Onset Huntington Disease (LoHD) heißt. Die normalen Erkrankungsverläufe scheinen sich eher bei 44 und mehr Repeats zu manifestieren. Die Spätmanifestationen machen in Huntington-Studien oft zwischen 4 und 11% der eingeschlossenen Erkrankungen aus, man nimmt aber eine deutliche Unterdiagnostik in der Bevölkerung an.

Das, was nur wenige wissen, was aber eigentlich interessant ist: Huntingtin

Mit zunehmender Repeat-Anzahl verklumpt das Huntingtin in den Zellen immer mehr, dadurch nimmt die Lebensdauer der Zellen stark ab, weil sich rascher eine Apoptose entwickelt. In Körperzellen, welche eh einer kürzere Lebensdauer haben und dann ersetzt werden, ist das gar nicht so relevant, im zentralen Nervensystem umso mehr. Huntingtin scheint physiologischerweise beim Transport von Vesikeln, aber auch bei Zellreparatur-Vorgängen eine wichtige Rolle zu spielen, vermutlich entscheidender ist aber die toxische Wirkung des kranken Huntingtin mit zu vielen Repeats, welches direkt zytotoxische Effekte zu haben scheint.

Das, was nur wenige wissen, was aber eigentlich interessant ist: Es muss nicht immer Chorea sein

Die Huntington-Erkrankung ist auch vermutlich deshalb unterdiagnostiziert, weil immer alle auf die Chorea warten. Die manifestiert sich aber teilweise gar nicht oder nur sehr diskret. Generell ist eine zweiphasige Bewegungsstörung beschrieben, mit zuerst hyperkinetischen Bewegungen, welche klassischerweise distal beginnen und sich dann nach proximal ausbreiten und dann einer Phase mit einer hypokinetisch, teils rigiden Bewegungsstörung und einer Gangstörung inklusive Störung der posturalen Stabilität. In diesem ersten Teil, der hyperkinetischen – sich von distal nach proximal – ausbreitenden Bewegungsstörung ist auch die ehemals namensgebenden Chorea verortet. Aber es muss nicht immer eine Chorea sein, auch Dystonien, Myoklonien, Tremores sind beschrieben, ebenso aber auch ein vollständiges Ausbleiben der hyperkinetischen Bewegungsstörung. Das bedeutet aber auch, dass eine Huntington-Erkrankung durchaus als atypisch anmutendes Parkinson-Syndrom daherkommen kann oder als eins der schlecht klinisch einzuordnenden neurodegenerativen Erkrankungen mit einer komplexen Bewegungsstörung und einer (schnell fortschreitenden) Demenz, über die man im klinischen Alltag immer mal wieder stolpert.

Ein gewisses Problem: Die Diagnosestellung

Ja klar, man kann eine genetische Untersuchung vornehmen und die CAG-Repeats zählen und dann ist die Diagnose gestellt. Aber so läuft es in der Regel ja nicht. Gerade wenn wir über Spätmanifestationen der Huntington-Erkrankung reden, muss man davon ausgehen, dass eben nicht ein junger Mensch mit einer positiven Familienanamnese mit einer Bewegungsstörung mit zunächst hyperkinetischer Komponente und einer fortschreitenden psychiatrischen Symptomatik incl. Demenz sich vorstellt, sondern eher die schon skizzierten Patienten mit der (vermeintlich) senilen Chorea oder mit den erwähnten unklaren Syndromen mit Bewegungsstörung und Demenz. Und abseits der Genetik wird es dann schnell dünn. Was sind also Punkte, die die Differentialdiagnose Huntington zumindest in den Raum stellen sollten?

Klinik

Das hab ich jetzt schon erwähnt, eigentlich jede progrediente unklare Bewegungsstörung mit Demenzsymptomatik und psychiatrischen Symptomen. Spätestens hier lohnt sich eine Fremd- und Familienanamnese. Fremdanamnestisch wird nämlich wohl häufig berichtet, dass sich Huntington-Patienten ihrer Bewegungsstörung (und ihrer neuropsychiatrischen Symptomatik) oft gar nicht bewusst sind. Und die Familienanamnese lohnt sich, weil es ja eben dann doch eine autosomal-dominante Erkrankung ist. Eine klinische Stratifizierung des Ausmaßes der Symptomatik kann man mit der UHDRS erreichen, was so ziemlich genau das Gegenstück zur UPDRS beim Parkinson ist.

Bildgebung

Das ist ein etwas frustrierendes Thema. Da kann man Artikel wie solche lesen: Wilson, H., Dervenoulas, G. & Politis, M. Structural Magnetic Resonance Imaging in Huntington’s Disease. in International Review of Neurobiology vol. 142 335–380 (Elsevier Inc., 2018) oder Johnson, E. B. & Gregory, S. Huntington’s disease: Brain imaging in Huntington’s disease. in Progress in Molecular Biology and Translational Science vol. 165 321–369 (Elsevier Inc., 2019) und ist hinterher fast genau so schlau wie vorher. Im normalen MRT werden eine einseitig betonte Atrophie von Ncl. caudatus und Striatum als häufiger Befund beschrieben, zudem Eisenablagerungen in den Stammganglien (das ist aber ein Phänomen bei vielen neurodegenerativen Erkrankungen und eigentlich einen Blogbeitrag wert) und das war’s auch schon. Spezifische Stigmata, wie bei der CJK oder der MSA und PSP gibt es nicht. Dann kann man im diffusion tensor imaging (und wie die eher forschungsbasierten Verfahren so heißen) verminderte Faserdichten feststellen und in der Voxelmetrie eine sowohl die graue, als auch weiße Substanz einschließende generelle Hirnatrophie, aber das ist natürlich auch überhaupt nicht spezifisch. Ebenso ist auch ein verminderter Stoffwechsel im präfrontalen und parietalen Kortex, wie er in der fMRT wohl beobachtet werden kann, spezifisch für eine Huntington-Erkrankung.

Liquor

Im Liquor finden sich wohl häufig recht hohe tau-Protein-Konzentrationen, welche aber auch nur einen generellen Neuronenuntergang anzeigen. Dann taucht auch bei der Huntington-Erkrankung eine Erhöhung von NFL (neurofilament light chain) in diversen Papern auf. Das Charmante hieran ist, dass NFL-Werte im Serum mit denen im Liquor recht gut zu korrelieren scheinen und dementsprechend eine Liquorpunktion überflüssig machen könnten (aber auch hier ist ein eigener Blogbeitrag fällig), das Dumme, dass das auch nicht viel spezifischer als eine tau-Erhöhung zu sein scheint.

Ein großes Problem: Die Behandlung

Auch ein etwas dürftiges Kapitel: Etabliert ist die symptomatische Behandlung der verschiedenen Beschwerden bei der Huntington-Erkrankung. D.h. Tiaprid und Tetrabenazin werden bei Chorea eingesetzt, atypische Neuroleptika bei psychotischer Symptomatik und es gibt gewisse Hinweise, dass Amantadin bei parkinsonoiden Symptomen helfen kann. Und wie immer bei verzweifelten Fällen taucht auch Riluzol auf, für dessen Wirksamkeit es aber keine Evidenz gibt. Pridopidin als Regulator der Dopamin-Freisetzung wurde in einer ersten Studie als nicht wirksam getestet, da es aber große inhaltlich-pathophysiologische Hoffnungen in den Wirkstoff gibt, wurde eine erneute Studie aufgesetzt.

Große Hoffnung legt man in die Antisense-Oligonukleotide, welche nach dem großen Erfolg von Nusinersen bei der spinalen Muskelatrophie jetzt für verschiedene neurodegenerative Erkrankungen erprobt werden. Hier laufen gerade Phase III-Studien, man wird also bald mehr wissen.

Jetzt aber: Senile Chorea und Huntington

Eine neu aufgetretene Chorea im Alter ist ein selteneres Symptom, aber auch nicht so furchtbar selten. Verschiedene Untersuchungen taxieren die Häufigkeit um die 0,2-0,25% aller neurologischen Vorstellungen (was mir subjektiv aber eher zu häufig erscheint, weil dann jeder 400. bis 500. Patient so etwas haben müsste). Der Großteil (ca. 2/3) dieser sich spätmanifestierenden Choreas – v.a. wenn sie einseitig sind – beruht auf Stammganglieninfarkten, ein weiterer relevanter Anteil – dann häufig, aber nicht immer, beidseitig symptomatisch – auf metabolischen Entgleisungen (v.a. Elektrolyte, Niereninsuffizienz, Diabetes). Vaskulitische, toxische (durch Drogenkonsum) und HIV-assoziierte Gründe für choreatiforme Bewegungsstörungen betreffen eher jüngere Patienten, können natürlich aber dennoch auch im Alter auftreten. Übrig bleiben knapp 10% der Patienten, bei denen die Ursache unklar bleibt. Und hierauf bezog sich das Eingangs erwähnte Interview, in einer Untersuchung fanden sich bei der Hälfte dieser unklaren Chorea-Erkrankungen dann vermehrte CAG-Repeats, eben um die 40, in der durchgeführten genetischen Testung, weshalb man diese Fälle dann als Spätmanifestation einer Huntington-Erkrankung eingeordnet hat. Und da schließt sich der Kreis, wenn die schweren Fälle mit einer Prävalenz von 1:10.000 auftreten, müssten die leichteren und späteren Manifestationen noch häufiger sein. Und dann lohnt es sich doch, sich ein bisschen mehr mit der Erkrankung zu beschäftigen …

Wo man weiterlesen kann

S2k-Leitlinie Chorea/Morbus Huntington https://dgn.org/leitlinien/2017-chorea-morbus-huntington/

  1. Ha, A. D. & Fung, V. S. C. Huntingtonʼs disease. Curr. Opin. Neurol. 25, 491–498 (2012).
  2. Lorincz, M. T. Geriatric Chorea. Clin. Geriatr. Med. 22, 879–897 (2006).
  3. Chaganti, S. S., McCusker, E. A. & Loy, C. T. What do we know about Late Onset Huntington’s Disease? J. Huntingtons. Dis. 6, 95–103 (2017).
  4. McColgan, P. & Tabrizi, S. J. Huntington’s disease: a clinical review. Eur. J. Neurol. 25, 24–34 (2018).
  5. Oosterloo, M., Bijlsma, E. K., van Kuijk, S. M., Minkels, F. & de Die-Smulders, C. E. Clinical and genetic characteristics of late-onset Huntington’s disease. Parkinsonism Relat. Disord. 61, 101–105 (2019).

Parkinson für Dummies 04: Tremordominantes Parkinson-Syndrom

Mehr Schüttel als Lähmung: Tremordominantes Parkinson–Syndrom

Aus aktuellem Anlass (brainpainblog hat ein kleines Tip-Problem), wie man ja so schön sagt, versuche ich mich mal mit einem Blog-Beitrag, den ich über Siri diktiere und dann hoffentlich nicht bis unendlich korrigieren muss. Also schauen wir mal, wie das so wird.

„Häufiges ist häufig“ bringt einem manchmal nichts

Das tremordominante Parkinson-Syndrom ist im Vergleich zum Parkinson-Syndrom vom Äquivalenztyp und zum akinetisch-rigiden Parkinson-Syndrom durchaus seltener und führt in der der Wald und Wiesen-Neurologie, wie sie die meisten von uns betreiben, ein wenig ein Schattendasein. Das liegt sicherlich auch daran, dass Patienten mit tremordominanten Parkinson-Syndrom eher früher erkranken als Patienten, die ein Parkinson-Syndrom vom Äquivalenztyp oder ein akinetisch-rigides Parkinson-Syndrom entwickeln und dass auch die genetisch bedingten Parkinson-Syndrome durchaus mit tremordominanten Verlaufsformen einhergehen. Daher findet man diese Patienten eher in spezialisierten Zentren und weniger im klinischen Alltag des Durchschnittsneurologen.

Zudem – und das scheint angesichts der durchaus verschiedenen Erkrankungsverläufe (neben dem früheren Erkrankungsalter sind die Verläufe oft milder, affektive Begleiterkrankungen seltener, Demenzen ebenfalls) auch gut nachvollziehbar – unterscheidet sich die Pathophysiologie bei tremordominanten Parkinson-Erkrankungen durchaus von den anderen Verlaufsformen. Neuroinflammation scheint bei tremordominanten Verlaufsformen eine viel größere Rolle zu spielen, ein Hypometabolismus im präfrontalen Kortex und den Stammganglien hingegen viel seltener aufzutreten.

Parallel ist die Datenlage zur medikamentösen Behandlung der tremordominanten Verlaufsformen eher dünn und das was es gibt, beschäftigt sich vor allem mit dem Thema tiefe Hirnstimulation und neuerdings auch mit ultraschallgestützter läsioneller Chirurgie. Nur das bringt einem im klinischen Alltag alles herzlich wenig, wenn die einzige wirklich gut fundierte Empfehlung ist, Patienten mit tremordominanten Parkinson-Syndromen möglichst frühzeitig in Zentren vorzustellen, wo eine tiefe Hirnstimulation erfolgen kann, wenn die medikamentöse Therapie denn gescheitert ist. Aber genau da stellt sich ja die Frage, wie diese Therapie denn auszusehen hat.

Das Pferd von hinten aufzäumen: Ist die tiefe Hirnstimulation wirklich so gut?

Fangen wir doch von hinten an, wenn es am Ende auf eine tiefe Hirnstimulation hinausläuft, was ist denn der so unschlagbare Vorteil dieses Verfahrens? Es gibt fünf große randomisierte Studien, welche zwischen 2006 und 2013 veröffentlicht wurden und welche alle eine Überlegenheit der tiefen Hirnstimulation gegenüber einer medikamentösen Therapie zeigen konnten, wenn bestimmte Eingangsvoraussetzungen erfüllt waren. Hauptvorteil der tiefen Hirnstimulation ist neben der Verbesserung nahezu aller klinischer Parameter, welche man bei Parkinson-Erkrankten messen kann, die gute Tremor-Unterdrückung, welche medikamentös oft deutlich schlechter gelingt. Nachteilig sind die Komplikationen durch den Hirnstimulator, zum Beispiel Infektionen und die Prozedur der Implantation der Hirnstimulator-Sonden als solche, welche nicht für alle Patienten in Frage kommt. Als Eingangsvoraussetzungen zur Hirnstimulator-Anlage gelten:

  • medikamentös nicht ausreichend behandelbare Wirkfluktuationen und/oder Dyskinesien und/oder Tremor
    Oder
    • Patientenalter beim Auftreten von Wirkfluktuationen oder Dyskinesien unter 60 Jahre
    Und
    • Ansprechen der Symptome prinzipiell auf L-Dopa (30% UPDRS-Besserung bei Wirkfluktuationen, 50%-Besserung bei jungen Patienten)
    • keine Frühsymptome einer Demenz
    • Keine instabilen psychiatrischen Komorbiditäten
    • Keine signifikanten somatischen Komorbiditäten
    • Keine neurochirurgischen Kontraindikationen

Und welche Medikamente helfen gegen Tremor?

L-Dopa

Natürlich hilft L-Dopa in den meisten Fällen durchaus gegen Tremor, wenn auch Hypokinese und Rigor oft besser ansprechen. Das mag an den Zielstrukturen liegen – Substantia nigra bei Hypokinese und Rigor und Thalamus und cerebello-thalamische Bahnen beim Tremor und die Stammganglien bei allen Symptomen, dennoch ist – s.o. – das Ansprechen auf L-Dopa sogar Vorbedingung für eine Implantation eines tiefen Hirnstimulators. Zur Dosierung und den Einnahmezeitpunkten unterscheiden sich die Empfehlungen nicht von den Leitgedanken bei hypokinetisch-rigiden oder Parkinson-Syndromen vom Äquivalenztyp.

Pramipexol

Für Pramipexol existiert eine Studie aus 2002, welche ein besonders gutes Ansprechen auch des Tremors auf die Pramipexol-Standarddosis von 2,1 mg/Tag zeigen konnte. Ob die anderen Dopaminagonisten genauso gut helfen, bleibt auch bei intensiverer Recherche etwas schwammig, vermutlich aber schon.

Biperiden

Mit den Anticholinergika ist das so eine Sache. Es gibt wenige Medikamente, welche noch mehr psychotrop wirken, als Anticholinergika und welche gleichzeitig auch noch ein Abhängigkeitspotential (mehr bei der i.v.-, als bei der p.o.-Gabe) haben. Wenn man einen psychisch gesunden, jüngeren Parkinson-Patienten dennoch mit Biperiden behandeln will, beginnt man mit 1 mg 1 x Tag und steigert dies auf 3 x 2-4 mg. Ein bisschen witzig ist, dass eine besondere tremorlytische Eigenschaft von Biperiden überhaupt nicht belegt ist, Biperiden aber in allen mir bekannten Neurologenköpfen relativ weit vorne herumspukt, wenn es um die Behandlung von tremordominanten Parkinson-Syndromen geht,

Amantadin

Getestet und belegt ist die Wirkung auf motorische Wirkfluktuationen, insbesondere Dyskinesien in Spätstadien der Parkinson-Erkrankung, nicht aber in der Frühphase. Sichere Daten, die eine Tremorlyse abseits von Expertenmeinungen zeigen, gibt es nicht, außer wenn der Tremor insbesondere bei Wirkfluktuationen auftritt. Die übliche Tagesdosis bei Parkinson-Patienten liegt zwischen 100 und 300 mg Amantadin, welche in 1-2 Einnahmezeitpunkte aufgeteilt wird. Hauptproblem bei Amantadin sind psychotische Nebenwirkungen, welche teilweise schon bei niedriger Tagesdosis auftreten können.

Clozapin

Clozapin ist sozusagen der Gegenentwurf zum Biperiden. Clozapin wirkt recht gut auf Tremores, ist allerdings auf Grund seiner blutdrucksenkenden und sezierenden Nebenwirkungen bei Parkinson-Patienten nicht ganz unproblematisch, ganz abgesehen von den anderen Clozapin-Besonderheiten (Blutbildkontrollen, Gewichtszunahme). Dafür wirkt es antipsychotisch und gegen den Tremor, was sozusagen ein Alleinstellungsmerkmal im Vergleich zu den anderen Substanzen ist. Clozapin kann man in Dosierungen von 25-75 mg abends versuchen, ggfs. auch noch etwas steigern.

Propranolol und Primidon

Mit sehr schlechter Evidenz oder bei Überschneidungen mit einem essentiellen Tremor (Haltetremor steht im Vordergrund), gibt es auch noch die Option die symptomatische essentielle Tremor-Therapie zu versuchen.

Das Kochrezept

Alles in allem kann man vermutlich festhalten: Am Ende unterscheidet sich die Erstbehandlung von tremordominanten Parkinson-Syndromen gar nicht so sehr von der der anderen Verlaufsform. Man würde also bei jüngeren Patienten mit Dopamin-Agonisten und dann L-Dopa beginnen, bei älteren direkt mit L-Dopa. Spannender wird, wenn diese Standardbehandlung nicht ausreicht. Dann wird man eines oder mehrere der genannten zusätzlichen Medikamente probieren müssen, je jünger und weniger psychiatrisch krank die Patienten dann sind, desto mehr Optionen hat man.

Muss die Therapie-Schema-Abbildung nicht geändert werden?

Hier (Mini-Serie: Parkinson für Dummies // 01) und hier (Mini-Serie: Parkinson für Dummies // 02) hatte ich ja ein Therapieschema-Bild gepostet, was seit Jahren durch meine Unterlagen spukt. Ich würde es nach der jetzigen Recherche ein wenig anpassen und dann auch in den älteren Beiträgen geändert einfügen.

Wo man weiterlesen kann

S3-Leitlinie Idiopathisches Parkinson-Syndrom: https://www.dgn.org/leitlinien/3219-030-010-idiopathisches-parkinson-syndrom

  1. Prodoehl, J. et al. Differences in brain activation between tremor- and nontremor-dominant parkinson disease. Arch. Neurol. 70, 100–106 (2013).
  2. Bond, A. E. et al. Safety and efficacy of focused ultrasound thalamotomy for patients with medication-refractory, tremor-dominant Parkinson disease a randomized Clinical trial. JAMA Neurol. 74, 1412–1418 (2017).
  3. Dirkx, M. F. et al. Dopamine controls Parkinson’s tremor by inhibiting the cerebellar thalamus. Brain 140, 721–734 (2017).
  4. Lian, T.-H. et al. Tremor-Dominant in Parkinson Disease: The Relevance to Iron Metabolism and Inflammation. Front. Neurosci. 13, 1–9 (2019).

Parkinson für Dummies 03: Braak & Co. Wie geht eigentlich Parkinson?

Eigentlich das erste Thema der Serie. Aber irgendwie auch nicht. Nach der Erstbeschreibung der shaking palsy durch James Parkinson 1817, welcher durchaus auch nicht-motorische Symptome der Parkinson-Erkrankung beschrieb, standen spätestens nach der Verfügbarkeit von L-Dopa v.a. die motorischen Symptome und ihre Behandlung im Vordergrund.

95 Jahre später, 1912, wurden durch Friedrich Jacob Heinrich Lewy die später nach ihm benannten Einschlusskörperchen in Neuronen von Parkinson-Patienten entdeckt, von denen man heute weiß, dass diese Einschlusskörperchen aus großen Mengen fehlgefaltetem alpha-Synuclein bestehen. Alpha-Synuclein ist ein kleines, ubiquitär in Nervenzellen vorkommendes Protein, welches normalerweise Stützaufgaben beim Vesikeltransport zu haben scheint.

In den frühen bis mittleren 2000er Jahren finden dann zwei bahnbrechende Entdeckungen statt: In einer Arbeit von Li et al. (Li, J.-Y. et al. Lewy bodies in grafted neurons in subjects with Parkinson’s disease suggest host-to-graft disease propagation. Nat. Med. 14, 501–503 (2008)) wurde in Hinbiopsien verstorbener Patienten, welche zuvor eine Stammzell-Transplantation bei einer Parkinson-Erkrankung erhalten hatten, Lewy Körperchen in den Transplantaten nachgewiesen. Dies kollidierte mit den damals vorherrschenden Erklärungsmodellen der Parkinson-Erkrankung (einer genetisch determinierten Erkrankung, bzw. einem verfrühten Alterungsprozess), da die Zellen ja von einem genetisch unterschiedlichen Individuum stammten und im Gegensatz zum restlichen Gehirn erst 11-16 Jahre alt waren. Parallel publizierte der Ulmer Neuropathologe Heiko Braak zusammen mit seiner Arbeitsgruppe Fallserien von Autopsien von Parkinson-Patienten, in welchen er eine Ausbreitung der Lewy-Körperchen vom Hirnstamm, über die Pons, die Stammganglien bis in die Kortexareale nachweisen und diese mit den jeweiligen klinischen Befunden vor Versterben in Einklang bringen konnte.

Braak-StadiumBetroffene neuroanatomische Strukturen
IBulbus olfactorius und dorsaler Vaguskern
IIUntere Raphe-Kerne sowie der Coeruleus/Subcoeruleus-Komplex 
IIIMittelhirn mit der Substantia nigra
IVbasales Vorderhirn 
V-VIkortikale Strukturen
Braak-Stadien
Bildquelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/Gray%27s_Anatomy_plates, eigene Anmerkungen

Später konnte er diese Stadien noch um den N. vagus, das enterische Nervensystem und das Riechhirn erweitern, in welchen noch früher alpha-Synuclein-Ablagerungen nachweisbar waren.

Aszensionshypothese beim idiopathischen Parkinson-Syndrom

Damit war die Aszensionshypothese zumindest beim idiopathischen Parkinson-Syndrom geboren. Es stellte sich dann nur die Frage, wie kommen die Lewy-Körperchen von Zelle zu Zelle. Und damit kommen die frühen 1990er Jahre und die BSE-Krise ins Spiel. Damals wurde das Konzept der Prion-Erkrankungen hoffähig, also die Annahme, dass ein reguläres intrazelluläres Protein durch eine Konformationsänderung zu einem pathogenen Agens werden kann, dann andere „normale“ Proteine ebenfalls zu einer Konformationsänderung bringt und sich zudem von Zelle zu Zelle ausbreitet. Bei den klassischen Prion-Erkrankungen kommt zur Dramatiksteigerung noch hinzu, dass das Prion-Protein in der pathologischen Form auch noch extrem hitzebeständig und auch ansonsten nahezu unzerstörbar ist.

Ähnlich wie das Prion-Protein scheint das fehlgefaltete alpha-Synuclein über verschiedene relativ unspektakuläre Exozytose- und Endozytose-Mechanismen (Golgi Apparat, endoplasmatisches Retikulum) von Zelle zu Zelle zu gelangen. Das Fehlen spezifischer Transportmechanismen macht wiederum eine zielgerichtete, z.B. Antikörper-Therapie gegen den Krankheitsprogress ungemein schwierig.

Der Clou an der Sache ist aber eigentlich, dass nach und nach klar wurde, dass eigentlich alle neurodegenerativen Erkrankung auf diese Weise (pathologische Protein-Ablagerungen, Prion-artige Ausbreitung) zu funktionieren scheinen, nur dass sich die jeweiligen Proteine und Ausbreitungswege unterscheiden. Aber das ist ein eigenen Blogeintrag wert.

Ist Parkinson dann nicht eigentlich ansteckend? Und warum bekommen nicht alle Parkinson?

Von den Prion-Erkrankung kommend, müsste man eigentlich annehmen, dass Parkinson dann auch ansteckend sein könnte. V.a. wenn die Erkrankung im enterischen Nervensystem und im Riechhirn zu beginnen scheint, also in Strukturen, wo Nervenzellen relativ direkten Kontakt zur Außenwelt haben. Epidemiologische Daten und auch Tiermodelle scheinen dies aber nicht zu bestätigen. Vielmehr scheint es so zu sein, dass eine genetische Prädisposition vorhanden sein muss, damit fehlgefaltetes alpha-Synuclein sich von Zelle zu Zelle ausbreiten kann, was relativ überzeugend mit transgenen Mäusen gezeigt werden konnte. Und so scheint es am Ende zu sein, wie bei vielen anderen Erkrankungen: Es muss eine genetische Prädisposition vorhanden sein, damit verschiedene Umweltfaktoren dann eine Parkinson-Erkrankung auslösen können. Diese sind bislang nur in Ansätzen offenbar: So scheinen fehlender Kaffee-, Nikotin- und Alkoholkonsum das Auftreten einer Parkinson-Erkrankung zu begünstigen, ebenfalls Kopftraumata in der Vorgeschichte. Eine Obstipationsneigung, depressive Symptome, fehlender Bluthochdruck und Betablocker-Einnahme scheinen eher Frühsymptomen der Parkinson-Erkrankung, bzw. ihrer Behandlung zu entsprechen. Das Quartett Leben auf dem Land, Trinken von Brunnenwasser, Pestizid-Exposition und Tätigkeit in der Landwirtschaft stammt aus großen amerikanischen Registern und gehört vermutlich zusammen, wobei der Kern dann wohl a.e. die Pestizid-Exposition sein dürfte. Interessanterweise sind sogar die sonst immer angeschuldigten drei Faktoren Handystrahlung, Impfen und Aluminum-Exposition untersucht und als nicht das Risiko einer Parkinson-Syndroms erhöhend eingeschätzt worden.

Wo man weiterlesen kann
  1. Braak, H. et al. Staging of brain pathology related to sporadic Parkinson’s disease. Neurobiol. Aging 24, 197–211 (2003).
  2. Braak, H., Sastre, M., Bohl, J. R. E., de Vos, R. A. I. & Del Tredici, K. Parkinson’s disease: lesions in dorsal horn layer I, involvement of parasympathetic and sympathetic pre- and postganglionic neurons. Acta Neuropathol. 113, 421–429 (2007).
  3. Pan-Montojo, F. & Reichmann, H. Ursache der Parkinson-Krankheit: Braak revisited. Aktuelle Neurol. 41, 573–578 (2015).
  4. Klingelhoefer, L. & Reichmann, H. Aszensionshypothese beim idiopathischen Parkinson-Syndrom. Aktuelle Neurol. 44, 170–179 (2017).