Delir

Was ist das eigentlich und woher kommt das?

Das Phänomen Delir ist seit Hippocrates, also seit über 2500 Jahren, bekannt. Gemeint ist dabei eine sich über wenige Stunden bis einige Tage entwickelnde Bewusstseins-, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörung, welche typischerweise bei einer schweren Erkrankung, nach einem operativen Eingriff oder bei älteren und dementen Patienten nach einem Umgebungswechsel auftritt. Schwankungen der Klinik im Tagesverlauf sind eher die Regel als die Ausnahme, oft mit einer Zunahme in den Abend- und Nachtstunden. Dadurch bedingt kommt es häufig zu einer Umkehr des Tag-Nacht-Rhythmus. Definitionsgemäß liegt eine systemische oder hirnorganische Erkrankung zu Grunde, Hauptunterscheidungsmerkmale zur Demenz sind die rasche Entwicklung der Symptomatik und die Schwankungen der Schwere der Symptome. Zudem kommt es in schweren Verlaufsformen zu vegetativen Entgleisungen, die eine IMC- oder Intensivpflichtigkeit bedingen können. Visuelle szenische Halluzinationen sind häufig, aber anders als die Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsstörung kein obligates Syndrom. Die meisten Delirien erstrecken sich über wenige Tage, ein Delir kann aber auch prolongiert über Wochen, teils auch über Monate anhalten. Für postoperative Delirien gibt es überzeugende Studiendaten, die kognitive Defizite nach einem durchgemachten Delir noch nach 12 Monaten nachweisen konnten. Während nahezu jedem klinisch tätigen Menschen hyperaktive oder produktive Delirien in guter Erinnerung sind, wird häufig übersehen, dass mindestens die Hälfte der Delirien als hypoaktives Delir oder gemischtes Delir verläuft. Gerade das hypoaktive Delir gilt als massiv unterdiagnostiziert und wird häufig nur zufällig, z.B. im Rahmen einer verzögerten Aufwachreaktion im Weaning richtig gedeutet.

Noch vor knapp 10 Jahren war der Begriff Delir für Delirien im Alkohol- oder Benzodiazepinentzug reserviert. Diese stoffgebundenen Delirien unterscheiden sich in ihrer Pathogenese erheblich von den „anderen“, nicht stoffgebundenen Delirien. Diese hießen früher oft hirnorganisches Psychosyndrom (HOPS), akuter Verwirrtheitszustand oder insbesondere im operativen Bereich Durchgangssyndrom.

Grundlage des stoffgebundenen Delirs ist, dass Alkohol, aber auch Benzodiazepine zum Einen GABA-erg wirken zum Anderen die Wirkung von NMDA-Rezeptoren hemmen. Dies führt kompensatorisch zu einer verminderten Synthese von GABA im Gehirn und einer Up-Regulation von NMDA-Rezeptoren. Beim raschen und plötzlichen Absetzen von Alkohol oder Benzodiazepinen resultiert dann ein relativer Mangel von GABA als Neurotransmitter im Gehirn, während den in vermehrter Anzahl vorhandenen NMDA-Rezeptoren recht plötzlich die Inhibition fehlt. Die Therapie der Wahl beim stoffgebundenen Delir ist dann auch die Substitution (eben mit Benzodiazepinen) und schrittweise Reduktion, um dem plötzlichen Absetzeffekt entgegen zu wirken und dem Gehirn zu ermöglichen, die hemmenden Neurotransmitter in entsprechender Menge wieder selbst zu synthetisieren.

Komplexer ist die Situation beim nicht-stoffgebundenen Delir, also dem Delir welches wir am häufigsten und insbesondere bei älteren Patienten sehen. In den meisten Publikationen zum Delir beschränkt sich die Erklärung zur Genese auf „ein Delir entsteht, wenn eine Noxe auf ein vorgeschädigtes Gehirn trifft“, was sicherlich prinzipiell stimmt, das Ganze aber schwammig und wenig greifbar macht. Vermutlich ist es so, dass es nicht den einen Weg ins Delir gibt, was ja auch mit der klinischen Beobachtung ganz unterschiedlicher „Noxen“ (Infekte, Medikamente, Operationen, Veränderung von Umgebung, Tag-Nacht-Rhythmus, soziale, optische und akustische Deprivation), die auf unsere Patienten einwirken und die ja oft erst in der Summe zu einem Delir führen, konform geht. Und natürlich ist die Art der Vorschädigung auch von Person zu Person verschieden, mal ist es eine Demenz, mal eine bleibende strukturelle Läsion wie ein Schlaganfall oder eine transiente wie ein epileptischer Anfall. In der Summe resultieren aber offenbar auf verschiedenen Wegen ein cholinerges Defizit und ein Überwiegen dopaminerger Neurone. Die Bedeutung der anderen, ansonsten im Gehirn bedeutsamen Neurotransmitter wie Serotonin, GABA oder Glutamat ist hingegen hier weiterhin unklar. Diese Erklärung ist zum Einen charmant, weil sie ganz gut mit der Beobachtung von potentiell delirogen wirkenden Medikamenten, aber auch der medikamentösen Delirbehandlung vereinbar scheint, zum Anderen aber auch recht plausibel die verschiedenen „Noxen“ erklärbar macht. Direkte prodelirogene Effekte werden durch anticholinerg und dopaminerg wirkende Substanzen erklärt. Metabolische Störungen wie (lokale) Hypoxien oder Hypoglykämien (z.B. im Rahmen einer Minderversorgung bei einem Schlaganfall oder einem Mehrverbrauch bei einem epileptischen Anfall) führen zu einer direkten neuronalen Funktionsstörung mit gestörter Synthese, bzw. vermehrter oder verminderter Freisetzung von Neurotransmittern. Infekte, Verletzungen oder Operationen betreffen meist nicht primär das ZNS führen aber zu einer systemischen und dann oft auch sekundär neurogenen Entzündung, was wiederum zum Einen neurotoxisch wirkt, zum Anderen die Neurotransmitter-Freisetzung verändert. Vermehrte Freisetzung von Stresshormonen wie Noradrenalin oder Steroide bewirkt eine Aktivierung von Gliazellen und hierüber eine neuronale Schädigung.

Wie erkennt man ein Delir?

Kurz gesagt über die beschriebene Klinik mit ihrer typischerweise ausgeprägten Fluktuation, der immer vorliegenden Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsstörung (mindestens als Orientierungsstörung) und über die Triggerfaktoren. Hilfreich können gerade auf Intensivstationen und in neurologisch oder psychiatrisch nicht allzu bewanderten Stationen und Fachabteilungen auch Screenings-Tests wie der CAM oder der CAM-ICU sein, welcher zusammen mit der RASS oft auf Intensivstationen routinemäßig eingesetzt wird (z.B. https://www.divi.de/empfehlungen/publikationen/bewusstseinsstoerungen-und-koma/967-cam-icu-ras-und-bps-a4/file).

Haldol tut wohl und fertig?

Die Behandlung des nicht-stoffgebundenen Delirs setzt sich zusammen aus den (vermutlich weitaus wichtigeren) nicht-medikamentösen Maßnahmen und ggfs. einer Medikamentengabe. Die nicht-medikamentösen Maßnahmen zielen allesamt auf eine Re-Strukturierung des Alltages mit physiologischem Tag-Nacht-Rhythmus, Verhinderung von Deprivation durch Einsetzen von Hörgeräten, Tragen von Brillen, Anbringen von Uhren/Kalendern in Sichtweite und – und das geschieht regelhaft auf Intensiv- und Überwachungsstationen nicht – Ermöglichen einer entsprechenden Tagesstruktur, in denen die Patienten eben nicht um 4 Uhr morgens gewaschen werden, um 5 Uhr das Blut abgenommen wird und immer wieder nachts bei Kontrollgängen die Neonbeleuchtung im Raum eingeschaltet wird. Die zweite Säule der Delirbehandlung ist die Behandlung der Grunderkrankung, also z.B. des das Delir triggernden Infektes. Drittens gibt es (eine bescheidene) Evidenz für die Behandlung des hyperaktiven (und nicht des hypoaktiven) Delirs mit Dopaminantagonisten, also Neuroleptika bezüglich der Schwere und der Dauer des Delirs. Ein besseres Outcome, eine niedrigere Mortalität usw. lässt sich hingegen beim Einsatz von Neuroleptika nicht belegen. Im Gegenteil erhöhen gerade die typischen Neuroleptika ganz erheblich das kardiovaskuläre Risiko, insbesondere wenn sie (wie es im Alltag häufig geschieht) über einen längeren Zeitraum gegeben werden. In Studien wurde am häufigsten Haloperidol (1-5 mg/Tag) untersucht, weshalb es hierfür auch die beste Datenlage gibt. Allerdings ist Haloperidol hinsichtlich der Nebenwirkungen nun ganz und gar nicht unproblematisch, die i.v.-Gabe nur unter Monitorüberwachung auf Grund der Gefahr des Auftretens relevanter Herzrhythmusstörung, insbesondere ventrikulärer Tachykardien und eines LongQT-Syndroms zugelassen, die i.m.-Gabe insbesondere bei antikoagulierten Patienten nicht ohne weiteres möglich. Zudem wird das Risiko relevanter extrapyramidal-motorischer Nebenwirkungen auch nach kurzfristiger Haloperidol-Einnahme eher unterschätzt.

Risperidon löst Haloperidol gerade in der Neurologie zunehmend ab und wird typischerweise in Dosen zwischen 0,5 und 3 mg/Tag gegeben. Ob Quetiapin in der Behandlung des Delirs außerhalb der Behandlung von Parkinson-Patienten überhaupt einen Stellenwert hat oder nur ein besonders teures Schlafmittel ist, ist umstritten. Wenn es nur um die schlafanstoßende Wirkung geht, eignet sich ein niedrig potentes Neuroleptikum wie Melperon (auf die lange Wirklatenz achten, 3-6 Stunden vor der erwünschten Wirkung geben) in der Regel genauso gut. Wilde Mischintoxikationen insbesondere mit zusätzlich gegebenen Benzodiazepinen sollte man – wenn möglich – so gut es geht vermeiden. Zur Behandlung vegetativer Entgleisung eignen sich Alpha 2-Adrenorezeptor-Agonisten wie Clonidin oder intensivmedizinischen Setting Dexmedetomidin, welche als Nebeneffekt auch sedierend wirken.

Wenn das alles so kompliziert ist, warum geb ich dann nicht einfach Benzos?

Weil Benzodiazepine – wie erwähnt – GABA-erg wirken und damit einfach gar nichts an der Pathopyhsiologie des Delirs ändern, wenn es ein nicht-stoffgebundenes ist. Das heißt, der Patient ist nur sediert, das Delir aber weiter unbehandelt und wird spätestens beim Abklingen der Benzodiazepinwirkung wieder symptomatisch. Zudem können Benzodiazepine paradox und damit sogar prodelirogen wirken.

Delir behandelt, Patient trotzdem tot?

Delirien sind häufig und treten (je nach Untersuchung etwas schwankend) bei ca. einem Drittel aller auf peripheren Bettenstationen liegender Patienten und bei bis zu 80% aller Patienten auf Intensivstationen auf. Es besteht eine starke Korrelation der Auftretenshäufigkeit zum Alter des Patienten und zu einer komorbid vorhandenen Demenz. Das Vorhandensein eines Delirs ist per se ein schlechter prognostischer Faktor und mit einer erhöhten Sterblichkeit assoziiert. Diese ist mit 10% relativ erhöhter Mortalität pro Delirtag erschreckend hoch und hat vermutlich verschiedene, krankheitsbedingte, aber auch iatrogene – durch die Delirbehandlung bedingte – Gründe. Auch das Outcome bei Überleben des Delirs ist signifikant schlechter, so sind 40% aller Patienten mit einem Delir nicht in die Häuslichkeit entlassbar und benötigen eine Unterbringung in einem Pflegeheim, Delirien verschlechtern regelhaft das Outcome rehabilitative Behandlungen. Der Einsatz von typischen Neuroleptika erhöht die kardiovaskuläre Sterblichkeit innerhalb von 12 Monaten um den Faktor 1,5 gegenüber einer Behandlung mit Atypika. Diese wiederum sind mit einer bis zu 2,5 fach erhöhten Sterblichkeit gegenüber einem Nichtgebrauch assoziiert. Alle in der Delirbehandlung eingesetzten Medikamente wirken sedierend, hierüber kommt es zu vermehrten Stürzen mit Traumafolgen und zu einer vermehrten Immobilität mit entsprechend höherem Risiko von Pneumonien. Interessanterweise wurde im letzten Jahr eine Metaanalyse veröffentlicht, die auf den ersten Blick praktisch das Gegenteil zu zeigen scheint (Wu et al.), wobei die Nachbeobachtungszeit der eingeschlossenen Studien unklar bleibt.

Wo man weiterlesen kann
  1. Weintraub, D. et al. Association of Antipsychotic Use With Mortality Risk in Patients With Parkinson Disease. JAMA Neurol. 73, 535 (2016).
  2. Hüfner, K. & Sperner-Unterweger, B. Delir in der Neurologie. Nervenarzt 85, 427–436 (2014).
  3. Hübscher, A. & Isenmann, S. Delir: Konzepte, Ätiologie und klinisches Management. Aktuelle Neurol. 43, 452–463 (2016).
  4. Müllges, W. Ätiologie und Therapie des Delirs. Aktuelle Neurol. 41, 586–596 (2015).
  5. Mann, K. Das Delir — Klinik, Pathogenese, Therapie und Prävention. InFo Neurol. Psychiatr. 20, 38–46 (2018).
  6. Wu, Y.-C. et al. Association of Delirium Response and Safety of Pharmacological Interventions for the Management and Prevention of Delirium. JAMA Psychiatry 76, 526 (2019).