Heute soll es um ein Thema gehen, was mir schon länger im Kopf rumschwirrt, um Überversorgung in der Medizin. Das hat jetzt nur so halb mit Neurologie und auch nur so halb mit COVID-19 zu tun, aber es gibt mehrere Gründe, warum ich mich damit ein wenig beschäftigen möchte. Der Beitrag schließt sich thematisch an den Blogbeitrag zur medizinischen Versorgung am Lebensende an, wenn ihr den noch nicht kennt, lest ihn gerne zuerst.
Was ist eigentlich Überversorgung?
Anlass und Motivation: Das DIVI-Thesenpapier
Im Frühjahr 2021 irgendwo zwischen der zweiten und dritten COVID-19-Krankheitswelle erschien dieses Thesenpapier der DIVI, also der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin:
Michalsen, A., Neitzke, G., Dutzmann, J., Rogge, A., Seidlein, A.-H., Jöbges, S., Burchardi, H., Hartog, C., Nauck, F., Salomon, F., Duttge, G., Michels, G., Knochel, K., Meier, S., Gretenkort, P., & Janssens, U. (2021). Überversorgung in der Intensivmedizin: erkennen, benennen, vermeiden. Medizinische Klinik – Intensivmedizin Und Notfallmedizin, 116(4), 281–294. https://doi.org/10.1007/s00063-021-00794-4
Es ist ein sehr umfassende Paper, open access, was sich mit verschiedenen Aspekten von Überversorgung in der Intensivmedizin beschäftigt. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung ist in so fern spannend, weil die DIVI zu diesem Zeitpunkt vor allem mit der Warnung vor mangelnden Intensivkapazitäten in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde und es hier ganz wesentlich darum geht, dass und warum Intensivmedizin aus verschiedenen Gründen zu viel und unnötigerweise in Anspruch genommen wird. Und vielleicht schließt sich hier der Kreis, wenn es aktuell in den Medien (auch von Seiten der DIVI) wieder um das Thema Triage geht.
Ich werde das Paper hier nicht komplett wiedergeben (wie gesagt, es ist absolut lesenswert), aber möchte im Folgenden immer wieder Punkte aus dem Paper aufgreifen, auf die Nicht-Intensivmedizin übertragen und an der ein oder anderen Stelle ergänzen.
Wie ist Überversorgung definiert?
Überversorgung bezeichnet Behandlungsmaßnahmen, die nicht angemessen sind, weil sie zu keiner für die Patienten bedeutsamen Verbesserung der (Über‑)Lebensdauer oder Lebensqualität führen, mehr Schaden als Nutzen verursachen und/oder von Patient:innen nicht gewollt werden.
So schreiben die Autoren des DIVI-Thesenpapiers. Im ersten Teil (Link) der kleinen Blog-Serie ging es ja darum, wann eine medizinische Behandlung zulässig ist. Nämlich dann, wenn sie medizinisch indiziert ist und wenn sie dem Willen des Patienten entspricht. Ist einer der beiden Faktoren nicht erfüllt und führt man trotzdem eine Behandlung durch, begeht man ein Körperverletzungsdelikt. Grob gesagt ist Überversorgung somit die Stufe unter „nicht indiziert“, pauschal gesagt sowas wie „nicht wirklich indiziert“.
Überversorgung ist unglaublich häufig, dem DIVI-Artikel nach geht die OECD davon aus, dass ungefähr 20% der Gesundheitskosten durch Überversorgung entstehen. Es gibt Überversorgung von ganz klein und unspektakulär bis ganz groß und spektakulär. Die kleine, unspektakuläre Überversorgung ist naturgemäß viel häufiger als die spektakuläre große und alle, die ärztlich tätig sind haben schon ganz oft Überversorgung betrieben. Zu konkreten Beispielen komm ich weiter unten.
Überversorgung entsteht ganz grob eingeteilt in den zwei Themenkomplexen, die wir schon kennen: Bei der medizinischen Indikationsstellung und bei der Interpretation, bzw. Ausführung des Patientenwillens. Dazu kommen wir gleich noch einmal genauer. Vorher müssen wir die Frage beantworten, was das Problem an Überversorgung eigentlich ist.
Na und? Warum ist Überversorgung überhaupt schlimm?
Es sind zwei Punkte, die Überversorgung – abseits davon, dass es ja eine nicht angemessene Therapie ist – problematisch machen. Der erste ist das liebe Geld, beim zweiten geht es um die Frage Personalnot im Gesundheitswesen.
Money Money Money
Wie gerade weiter oben schon geschrieben geht die OECD davon aus, dass ungefähr 20% der Gesundheitsausgaben in ihren Mitgliedsländern für Überversorgung aufgewendet werden. In Deutschland betrugen die Gesundheitsausgaben im Prä-Corona-Jahr 2019 411 Milliarden Euro, das sind knapp 12% des Bruttoinlandsproduktes (Link). 20% davon sind 82,2 Milliarden Euro. Davon könnte man viele Corona-Prämien zahlen, Löhne erhöhen, Arbeitsbedingungen verbessern usw. ohne dass durch die medizinische Versorgung der Patienten in irgendeiner Weise schlechter werden würde.
Viel entscheidender ist aber meines Erachtens der zweite Punkt:
Überversorgung verstärkt den Pflexit
Überversorgung kann mit hohen Belastungen und Risiken für die betroffenen Patientinnen, ihre Familien und die Behandlungsteams verbunden sein; sie kann Leiden und Trauer verursachen oder verlängern sowie zu Gewissensnot, „moral distress“, Burn-out und Personalabwanderung beitragen
So lautet ein Absatz im DIVI-Papier. Insbesondere der letzte Punkt ist in meiner Wahrnehmung extrem wichtig und wird immer bedeutsamer. Dabei ist er ganz und gar nicht neu, hat sich aber mit der Corona-Pandemie noch einmal extrem zugespitzt und ist dann mit dem Thema Intensivkapazitäten zur Behandlung von COVID-19-Patienten endlich in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt:
Nur findet der Pflegepersonalmangel aber nicht nur auf den Intensivstationen statt sondern – und zwar ganz besonders – auf den Normalstationen in den Krankenhäusern mit hochaltrigen, multimorbiden und pflegebedürftigen Patienten, insbesondere, wenn ein hoher Belegungsdruck und dadurch Zeitmangel herrscht, also in der Inneren Medizin, der Unfallchirurgie und der Neurologie, auch – wenn ggfs. etwas weniger durch die längeren Liegezeiten – in der Geriatrie. Es gibt Untersuchungen darüber, dass Überversorgung deutlich mehr vom Pflegepersonal als von Ärzten wahrgenommen und als belastend empfunden wird (Hartog et al.), insbesondere auf Grund der oft intensiveren Interaktion mit den Patienten und ihren Angehörigen im Vergleich zu uns Ärzten.
Defizite in der interdisziplinären Zusammenarbeit, eine subjektiv zu hohe Arbeitsintensität sowie eine höhere Anzahl der Wochenendarbeitstage/Monat erhöhen das Risiko für die Wahrnehmung von Übertherapie. Emotionale Erschöpfung wird durch Stresserleben im Kontakt mit Angehörigen und zu hohe Arbeitsintensität verstärkt.
schreiben Hartog et al. Diese emotionale Erschöpfung führt zu Frustration und Überforderungserleben und befeuert neben der monetären Vergütung das Phänomen Plexit. Die mittlere Verweildauer im Beruf beträgt in der Krankenpflege (bei einer 3-jährigen Ausbildung) in Deutschland nur noch gerade mal 7,5 Jahre und in der Altenpflege 8,4 Jahre (Quelle: Link).
Dies zeigt, dass die Vermeidung von Überversorgung nicht nur gesundheitspolitisch mit Blick auf die entstehenden Kosten, sondern insbesondere was das Thema Pflegenotstand betrifft eigentlich extrem wichtig ist.
Wie und wo Überversorgung entsteht
Will man Überversorgung vermeiden muss man sie da verhindern, wo sie entsteht. Ich hatte ja weiter oben schon geschrieben, dass Überversorgung einmal auf der Ebene der medizinischen Indikationsstellung und einmal auf der Ebene der Interpretation und Umsetzung des Patientenwillens generiert werden kann. Und das schauen wir uns jetzt einmal genauer an, insbesondere den Teil mit der Indikationsstellung. Das mit dem Patientenwillen haben wir ja schon im ersten Blogbeitrag beleuchtet.
Medizinische Indikation und Überversorgung
Therapieeskalation
Ob eine medizinische Behandlung indiziert ist, ist zunächst eine ärztliche Entscheidung. Aber auch diese entsteht interindividuell unterschiedlich vor dem Hintergrund der jeweiligen Sozialisation, ethischen und religiösen Moralvorstellungen und auch der medizinischen „Schule“, durch die man gegangen ist. Daher kommt es durchaus vor, dass ich zum Beispiel eine Behandlung für medizinisch sinnvoll halten könnte, ein anderer Arzt, bzw. eine andere Ärztin aber nicht. Oder umgekehrt. Eine längere Berufserfahrung und eine dadurch kritischere Reflexionsfähigkeit führen dabei statistisch eher zu zurückhaltenderen Therapieentscheidungen, jüngere und unerfahrenere Behandlungsteams neigen dagegen eher zu Therapieeskalationen. Ob das wirklich so ist, da bin ich mir gar nicht so sicher.
rule of rescue, sunk cost effect und omission bias
Bei dem Thema Therapieeskalation spielt die sogenannte rule of rescue eine wichtige Rolle, das Retten um jeden Preis, die sich in der Praxis oft beobachten lässt. Die DIVI-Autoren schreiben:
Es fällt oft leichter, alle zur Verfügung stehenden Mittel unreflektiert anzuwenden, als differenziert und individuell nach Therapiezielen und Erfolgsaussicht zu fragen.
Dies ist umso wahrscheinlicher, je klarer Eskalationsstrategien festgelegt sind, was sie für viele schwere Erkrankungen nun mal sind und was auch eigentlich sehr sinnvoll ist.
Eine weiterer Faktor ist der sogenannte sunk cost effect, bei der eine einmal getroffene Behandlungsentscheidung im Verlauf nicht mehr hinterfragt wird, weil man ja schon „so viel gegeben“ hat und diese „Investition“ nicht umsonst gewesen sein soll. In der Folge wird dann die Therapie immer weiter eskaliert. Der gegenteilige Effekt ist der omission bias, die Wahrnehmung dass ein Versterben von Patienten nach Therapielimitierung oft subjektiv schlimmer wahrgenommen wird, als unter laufender Maximaltherapie, bei der man „ja alles gegeben“ hat.
Die vielen Facetten der Prognosebestimmung
Der dritte Punkt ist folgender:
Die Tabuisierung von Sterben und Tod auch innerhalb der Behandlungsteams und das Erleben von Tod als persönliches Versagen können diesen Effekt verstärken. Eine „schöngeredete“ Einschätzung der Prognose führt in diesen Fällen zu letztlich sinnlosen Therapiebemühungen.
In meiner Wahrnehmung ist die Tabuisierung des Themas Tod und Sterben im medizinischen Setting in den letzten Jahren deutlich rückläufig, aber nicht im gesamtgesellschaftlichen Kontext (wie man aktuell an den Diskussionen um COVID-19 nachvollziehen kann). Der Punkt „schöngeredete“ Prognose bleibt aber. Ich hatte das schon im ersten Teil gegen Ende des Beitrags beschrieben, dass Alter und männliches Geschlecht mit die besten Prädiktoren für ein schlechtes Outcome von frührehabilitativen Behandlungen sind, auch wenn die Abschätzung einer Prognose bei einer schweren Erkrankung immer schwierig ist und wird natürlich von vielen Variablen bestimmt wird.
Exkurs: Was ist denn eine gute Prognose?
Auch das hängt natürlich extrem von der jeweiligen Erkrankung und ihrer Schwere ab, aber auch von den persönlichen Wertvorstellungen des Patienten, ihrer Angehörigen, aber auch des medizinischen Personals ab: Patienten mit einem schweren Schlaganfall oder einer Hirnblutung, welche in der neurologischen Frührehabilitation behandelt werden müssen werden sich in nahezu allen Fällen nicht soweit erholen, dass „wieder alles wie früher“ werden wird. Leider wird das oft nicht kommuniziert, sondern so eine Vorstellung vermittelt, mit genug Therapieeinheiten könne man jedes funktionelle relevante Defizit beheben, was einfach nicht der Realität entspricht. Dabei müsste das Behandlungsziel eigentlich gar nicht zu hoch gesteckt werden:
Aus Studien zur Hemikraniotomie nach schwerem Schlaganfall wissen wir, dass Betroffene ihre Lebensqualität als „gar nicht so schlecht“ wahrnehmen, während medizinisches Personal sich eine Hemikraniotomie für sich selber nicht vorstellen kann (Schwarz 2012), weil eine komplette Abhängigkeit von Pflege uns als sehr schlechte Prognose vorkommt. Anders herum wissen wir, dass ein gewisser Grad an Selbstständigkeit Grundvorraussetzung für die soziale Teilhabe auch in einer Pflegeeinrichtung ist und dass in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation ein Alter > 80 Jahre oder vorbestehende kognitive Defizite wichtige Faktoren sind, die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit einhergehen, dass diese Teilhabefähigkeit eben nicht mehr erreicht werden kann (Seidel 2016).
Diese komplexe Grundgemengelage führt oft zu unkonkreten und euphemistischen Formulierungen der Prognose von schwer betroffenen Patienten gegenüber (vorsorgebevollmächtigten) Angehörigen mit dann oft schmerzhafter Krankheitsverarbeitung im weiteren Behandlungsverlauf, wenn deutlich wird, dass viel zu hoch gesteckten Erwartungen nicht erfüllt werden können.
Unsicherheit im Behandlungsteam
Der vermutlich entscheidendste Punkt außerhalb von ökonomischen Interessen, warum Überversorgung entsteht, ist das Thema Unsicherheit. Hieraus resultiert wohl auch die oben zitierte Feststellung, dass junge und unerfahrenere Behandlungsteams eher zur Überversorgung neigen. Die Unsicherheit entsteht ganz oft an der Frage, ob eine medizinische Behandlung überhaupt indiziert ist, wird aber nur ganz selten auch so benannt. Oft finden sich Euphemismen, wie „aus medikolegalen Erwägungen“ oder „bei unklarem Patientenwillen“ oder in Übergaben „erst mal alles machen“. Dabei spielt die Angst vor rechtlichen Folgen ärztlichen Handelns eine große Rolle, insbesondere wenn man eine ärztliche Entscheidung nicht mehr revidieren kann (z.B. weil der Patient zwischenzeitlich verstorben ist). Dieses Phänomen, welches durchaus dem Zeitgeist der Absicherungsmedizin geschuldet sein dürfte, findet sich übrigens auch in die andere Richtung: Auch „mutige“ Therapieentscheidungen, die zu eher risikobehafteten Handlungen führen, finden sich tendenziell zunehmend seltener.
Was man tun kann
Die Antwort, wie man diese Arten von Überversorgung auf Ebene des Behandlungsteams am Besten minimieren kann, ist in der Theorie relativ einfach:
Es braucht bei jedem Patienten ein realistisches, dem Patienten nutzendes, Therapieziel. Grundvorraussetzung hierfür ist die bestehende medizinische Indikation für die Behandlung und der vorliegende Patientenwille. Dieses Therapieziel muss regelmäßig, bei kritisch kranken Patienten ggfs. sogar mehrfach täglich, hinsichtlich seiner weiter vorhandenen Sinnhaftigkeit und Erreichbarkeit reevaluiert werden.
Es gibt in dem DIVI-Papier dafür sogar einen Merkspruch: Nämlich TRIKK
T: Formuliere das Therapieziel.
R: Reevaluiere das Therapieziel regelmäßig und kritisch.
I: Stelle sicher, dass für jede geplante und laufende Therapie eine Indikation besteht und diese geeignet ist, um das Therapieziel zu erreichen.
K: Stelle sicher, dass jede geplante diagnostische Prozedur eine Konsequenz hat, die den Patienten/die Patientin und das Behandlungsteam dem Therapieziel näher bringt.
K: Stelle sicher, dass weiterhin mutmaßlicher, vorausverfügter oder definitiver Konsens des Patienten/der Patientin für alle laufenden und geplanten diagnostischen und therapeutischen Prozeduren besteht.
In der Praxis ist das viel komplizierter als es zuerst anmutet. Das mit dem Therapieziel braucht nämlich Zeit und die ist oft knapp, insbesondere wenn das Personal knapp ist. Das hatten wir oben schon beim Thema Pflexit. Der zweite Punkt ist, dass Überversorgung am Besten minimiert wird, wenn das Therapieziel und seine Erreichbarkeit mindestens in einem Visitensetting, besser noch interdisziplinär im ganzen Behandlungsteam besprochen und reevaluiert wird. Das gilt natürlich auch für die Angehörigenkommunikation, Dokumentation usw. Schneller und “einfacher“ ist es, Diagnostik und Therapien nach den jeweiligen Standards immer weiter zu eskalieren.
Ein Weg dies zu durchbrechen kann sein, existierende Strukturen, wie Übergaben / Teambesprechungen (in vielen OPS-Codes, siehe unten, vorgeschrieben) hierzu zu nutzen.
Ökonomische Aspekte und Überversorgung
Das Gesundheitssystem – so wie es ist – begünstigt neben den erwähnten medizinischen Aspekten das Auftreten von Überversorgung. Ich kann hier nur für die stationäre Krankenversorgung schreiben, da ich von der Abrechnung der ambulanten Medizin viel zu wenig verstehe, aber da wird es ähnliche Mechanismen geben. Überversorgung wurde auch schon vor der Einführung der DRG 2003 durch das damalige Abrechnungssystem der Tagessätze getriggert, aber anders als jetzt. Damals gab es grob gesagt mehr Geld, je länger die Patienten da waren, also waren sie tendenziell zu lange da.
Crashkurs DRG
Diagnosis Related Groups (DRG) gibt es als Grundlage für Verteilung von Versicherungsleistungen schon ganz lange. In Deutschland wurde 2003 jedoch das damals bestehende System so geändert, dass seither jede stationäre Krankenhausbehandlung (mit Ausnahme der Psychiatrie) mit einer Fallpauschale vergütet wird, deren Höhe sich an der Diagnose und verschiedenen Schweregraden und Begleiterkrankungen bemisst. Grob gesagt kann man sich das wie einen Pauschalurlaub mit all inclusive vorstellen.
Jede Diagnose findet sich in einer Fallpauschale wieder, die in einer bestimmten Systematik durchnummeriert sind. Jeder Fallpauschale ist ein Kostengewicht (andere Begriffe sind Bewertungsrelation und Relativgewicht) zugeordnet, ein Zahlenwert, der den Schweregrad und den Behandlungsaufwand der Fallpauschale darstellen soll.
Bestimmte Prozeduren, also Operationen, aber auch Komplexbehandlungen (also interdisziplinäre Behandlungsmodelle, z.B. bei einem Schlaganfall, in der Frührehabilitation auf der Intensivstation usw. mit definierten ärztlichen, pflegerischen aber auch therapeutischen Leistungen) erhöhen die Bewertungsrelation (und damit den Abrechnungsbetrag).
Zwei Beispiele (Link):
- Die Behandlung eines Patienten mit einem Schlaganfall ohne eine Komplexbehandlung auf einer Stroke Unit führt zur DRG B70F mit einem Kostengewicht von 0,795
- Die Behandlung des selben Patienten auf einer Stroke Unit mit einer Dauer der Behandlung von mindestens 72 Stunden führt zur DRG B39C mit einem Kostengewicht von 2,122
Wenn man jetzt wissen will, wie viel Geld das Krankenhaus für den Fall bekommt, so muss man wissen, wieviel so ein Kostengewicht wert ist. 1,0 Kostengewichte sind gleichgesetzt mit dem Landesbasisfallwert. Der betrug z.B. 2021 in Hamburg 3.743,70 EUR (Link). Das bedeutet, dass
- in Beispiel 1 das Krankenhaus eine Summe von 2.976,24 EUR (0,795 x 3.743,70 EUR) abrechnen kann, zuzüglich der Kosten für das Pflegepersonal (die wurden 2021 aus den DRG „rausgerechnet“ und werden gesondert abgerechnet),
- in Beispiel 2 das Krankenhaus 7.944,13 EUR (2,122 x 3.743,70 EUR) abrechnen kann, zuzüglich der Kosten für das Pflegepersonal.
Nebendiagnosen, Prozeduren und Überversorgung
Das führt tendenziell dazu, dass Patienten möglichst hochbewertete Prozeduren (OPS-Codes) erhalten und auch bei der Kodierung des Falls versucht wird, möglichst viele die Fallpauschale erhöhende Begleiterkrankungen zu finden. Das wiederum intendiert, dass mittelfristig nach diesen Nebendiagnosen gesucht wird, was durchaus ein Mehraufwand an Diagnostik und ggfs. Therapie bedeutet, durchaus auch ohne Mehrwert für den Patienten (was dann wieder Überversorgung wäre).
Die Komplexbehandlungen (die ja zu den Prozeduren gehören) sind wiederum fast immer in verschiedene Zeiträume unterteilt, in welchen sie erbracht werden und in welchen sie verschieden viel Erlös generieren. Je länger sie erbracht werden, desto höher ist die Vergütung, was ja auch logisch ist. Das bedeutet aber, dass es „Stufen“ in der Erlösstruktur z.B. der Schlaganfallversorgung gibt, nach 24 Stunden auf der Stroke Unit gibt es mehr Geld, nach 72 Stunden noch deutlich mehr usw. Patienten werden dementsprechend eher 24,5 Stunden auf der Stroke Unit behandelt und möglichst nie 23,5 Stunden usw. Und dann „macht man die 24 Stunden noch voll“ (oder die 72 Stunden usw.), auch wenn die Behandlung auf der Stroke Unit vielleicht nicht mehr notwendig wäre, hier kein spezifisches Therapieziel mehr besteht.
Auch das ist Überversorgung.
Etwas offensichtlicher ist es, wenn eine Behandlung offenkundig unnötig ist und dennoch durchgeführt wird. Aber auch hier gibt es Graubereiche, wie diesen:
Versorgungsprobleme
Zum Abschluss noch ein aktuelles (wie immer leicht verfremdetes) Beispiel von Station: Es wird ein 92-jähriger Mann aufgenommen, bei dem Patienten besteht seit längerem eine Demenzerkrankung. Bislang wurde dies von der Ehefrau kompensiert, allerdings ist die Ehefrau vor einem Monat recht plötzlich verstorben. Seither kümmerte sich der ebenfalls hochaltrige Bruder des Patienten, dieser musste aber nun selber auf Grund eines kardiologischen Problems stationär aufgenommen werden. Übrig blieb der alte Herr, der nun nicht mehr versorgt war. Um einen Pflegedienst u.ä. hatte sich die Familie – in erster Linie die berufstätige Tochter und Nichte – bislang noch nicht bemüht. Nun kommt der alte Herr in die Notaufnahme, weil es „zu Hause einfach nicht mehr geht“.
Was machen wir? Nach Hause schicken und sagen: „Liebe Familie, euer Problem, kümmert euch!“? Das wäre die offiziell richtige Lösung, aber fast nie die realistische und auch fast nie die menschlich vertretbare. Also wird der Patient aufgenommen mit folgendem Konzept:
- Plan A: Wir organisieren einen Pflegedienst, der den Patienten zu Hause betreut.
- Plan B: Wir organisieren einen Kurzzeitpflegeplatz.
Akut-medizinisch ist eigentlich gar nichts zu tun. Die Demenz ist mindestens mittelgradig, klinisch eher Alzheimer-typisch, bildmorphologisch a.e. eine gemischte Demenz mit erheblicher vaskulärer Komponente. Das ganze ist demnach ein klassisches Versorgungsproblem.
Das dumme an Versorgungsproblemen ist, dass es sie offiziell nicht gibt. Denn für die rein pflegerische Versorgung eines Menschen benötigt es nicht „die besonderen Mittel eines Krankenhauses“. Ergo ist der Aufenthalt nicht indiziert, ergo gibt es kein Geld, ergo zahlen wir Kost und Logis. Tun wir? Nein, die Lösung lautet Überversorgung. Wir machen einfach eine Demenzabklärung. Die bringt dem Patienten zwar nichts, aber wir haben den Aufenthalt gerechtfertigt. Vielleicht nicht alle Tage, die der Patienten schlussendlich da ist, aber zumindest gibt es eine Gegenfinanzierung eines gewissen Teils des Aufenthalts.
Ist das verwerflich? Ich weiß nicht, eher schlecht vom Gesetzgeber her konzipiert. Von der Größenordnung her kann man sich das wie folgt vorstellen: Von den 30 neurologischen Betten bei uns auf Normalstation sind in der Regel immer 2-3 von Patienten mit derartigen Versorgungsproblemen und der dadurch intendierten Überversorgung belegt.
Ein Fazit
Überversorgung ist häufig, wir alle haben schon Überversorgung betrieben und werden es – aus verschiedenen Gründen – auch weiter tun. Überversorgung ist trotzdem ein relevantes Problem, monetär, aber insbesondere da sie zur Personalabwanderung im Gesundheitswesen beiträgt. Wenigstens deshalb sollte es uns ein Anliegen sein Überversorgung zu vermeiden.
Einfach ist es nicht, manchmal auch nicht vermeidbar. Aber ohne Problembewusstsein hierfür wird sich nicht tun.
Wo man weiterlesen kann
Michalsen, A., Neitzke, G., Dutzmann, J., Rogge, A., Seidlein, A.-H., Jöbges, S., Burchardi, H., Hartog, C., Nauck, F., Salomon, F., Duttge, G., Michels, G., Knochel, K., Meier, S., Gretenkort, P., & Janssens, U. (2021). Überversorgung in der Intensivmedizin: erkennen, benennen, vermeiden. Medizinische Klinik – Intensivmedizin Und Notfallmedizin, 116(4), 281–294. https://doi.org/10.1007/s00063-021-00794-4
Neitzke, G., Burchardi, H., Duttge, G., Hartog, C., Erchinger, R., Gretenkort, P., Michalsen, A., Mohr, M., Nauck, F., Salomon, F., Stopfkuchen, H., Weiler, N., & Janssens, U. (2016). Grenzen der Sinnhaftigkeit von Intensivmedizin. Medizinische Klinik – Intensivmedizin Und Notfallmedizin, 111(6), 486–492. https://doi.org/10.1007/s00063-016-0202-8
Literaturangaben (explizit keine Weiterlese-Tips)
Hartog, C. S., Hoffmann, F., Mikolajetz, A., Schröder, S., Michalsen, A., Dey, K., Riessen, R., Jaschinski, U., Weiss, M., Ragaller, M., Bercker, S., Briegel, J., Spies, C., & Schwarzkopf, D. (2018). Übertherapie und emotionale Erschöpfung in der „end-of-life care“. Der Anaesthesist, 67(11), 850–858. https://doi.org/10.1007/s00101-018-0485-7
Schwarz, S., & Kühner, C. (2012). Prognose und Lebensqualität nach Entlastungstrepanation. Der Nervenarzt, 83(6), 731–740. https://doi.org/10.1007/s00115-011-3402-8
Seidel, G., Eggers, L., Kücken, D., Zukunft, E., Töpper, R., Majewski, A., Klose, K., Terborg, C., Klass, I., Wohlmuth, P., & Debacher, U. (2016). Prognosefaktoren in der Frührehabilitation nach schwerem Schlaganfall. Aktuelle Neurologie, 43(09), 541–547. https://doi.org/10.1055/s-0042-118957