Neurodegenerative Krankheiten: WYSIWYG oder nicht? Die Sache mit den Tauopathien und den Synukleinopathien.

Windows 95 und neurodegenerative Erkrankungen

Den WYSIWYG-Vergleich wollte ich schon ganz lange machen. Gehen soll es heute um neurodegenerative Erkrankungen und die Frage, ob es auch wirklich Parkinson ist, wenn es wie Parkinson ausschaut. WYSIWYG ist ja so ein Begriff, der ungefähr aus der Ära von Karl Klammer und Windows 95 kommt. Ganz kurz gesagt: Word ist WYSIWYG. Da sieht man beim Erstellen das Dokument, so wie es später – aus dem Drucker – herauskommt. Markdown-Editoren (mit so einem schreibe ich das hier) sind eher das Gegenteil.

Die einzelnen neurodegenerativen Erkrankungen sind in der Regel historisch bedingte Syndrome, von deren Pathogenese man bei der Erstbeschreibung und Krankheitsdefinition noch gar keine Idee hatte. Dies war insbesondere bei den atypischen Parkinson-Syndromen so, für die es relativ strenge und dogmatische Diagnosekriterien gab. Da war es dann ein Ding der Unmöglichkeit, dass eine Erkrankung z.B. eine Multisystematrophie sein konnte, da der Patient ja auch eine Demenz hatte und das bei der Multisystematrophie aber definitionsgemäß nicht vorkommt. Exemplarisch findet man das z.B. bei Gilman et al. (s.u.), wo eine Demenz-Symptomatik als explizites Ausschlusskriterium einer MSA aufgeführt wird.

Aber das war ganz lange so, es gab klinische Diagnosekriterien – typischerweise mit der Unterteilung mögliche, wahrscheinliche und gesicherte MSA/PSP/Alzheimer-Demenz/Lewy-Körperchen-Demenz/idiopathisches Parkinson-Syndrom – wobei die gesicherte Variante stets eine post mortem-Autopsiediagnose war. Ganz übersichtlich finden sich diese Diagnosekriterien für die atypischen Parkinson-Syndrome z.B. bei Fuchs et al.:

Wo man weiterlesen kann
  1. Gilman, S. et al. Consensus statement on the diagnosis of multiple system atrophy. J. Neurol. Sci. 163, 94–98 (1999).
  2. Fuchs, P. & Wenning, G. Atypische Parkinsonsyndrome – Neues aus Diagnostik und Therapie. Aktuelle Neurol. 39, 534–545 (2013).

Zusätzlich zu den klinischen Diagnosekriterien bestand meist seit der Erstbeschreibung eine histopathologische Beschreibung der Erkrankung, eben die gesicherte Version. So wurden für einzelne neurodegenerative Erkrankungen morphologische Beschreibungen von Einschlusskörperchen (z.B. Lewy-Körperchen, gliale zytoplasmatische Einschlusskörperchen bei der MSA, senile Plaques, neurofibrilläre Bündel usw.) veröffentlicht, teilweise gelang es auch die jeweiligen Proteine zu identifizieren, über die jeweilige Binnenstruktur in den Proteinablagerungen konnte man jedoch in der Regel nichts sagen.

Synukleinopathien, Tauopathien und ß-Amyloid-Erkrankungen

Aus dieser Zeit stammt die Einteilung der neurodegenerativen Erkrankungen in die Gruppe der Synukleinopathien, Tauopathien und ß-Amyloid-Erkrankungen, wobei die Alzheimer-Demenz interessanterweise relativ lange irgendwie parallel lief und es keine systematische Verknüpfung zu anderen neurodegenerativen Erkrankungen (v.a. denen mit Bewegungsstörungen) gab.

Zu den ⍺-Synukleinopathien in diesem klassischen Sinn gehören das idiopathische Parkinson-Syndrom, die Lewy-Körperchen-Demenz und die verschiedenen Multisystematrophie-Formen, zu den Tauopathien die PSP und die CBD. Die Alzheimer-Demenz war demnach eine ß-Amyloid-Erkrankung. Dem geneigten Leser im Jahr 2021 fällt auch hier recht mühelos die Schwierigkeit dieser – wieder sehr schematischen – Einteilung auf, da natürlich bei der Alzheimer-Erkrankung sowohl Tau-Protein als auch ß-Amyloid-Ablagerung vorkommen, bei der Lewy-Körperchen-Demenz ⍺-Synuclein und ß-Amyloid usw.

Das Problem mit der kortikobasalen Degeneration (CBD)

Bei der CBD kam man in diesem Krankheitskonzept schnell an die Grenzen, da man zwar sehr schön ein kortikobasales Syndrom (CBS) bestehend aus alien limb Phänomen, lateralisierten Apraxien, Neglect-artigen Wahrnehmungsstörungen, stimulus-sensitiven Myoklonien und fokale Dystonien definieren kann, dieses sich aber sehr oft in eine andere neurodegenerative Erkrankung weiterentwickelt, häufig eine PSP oder eine FTD-Variante (v.a. die Varianten mit Aphasie, wie primär progressive Aphasie und semantische Demenz). Insbesondere die fronttemporale Demenzen hatten zu diesem Zeitpunkt noch gar keine richtige Verbindung zu den atypischen Parkinson-Syndromen.

Neuropathologie mit Elektronenmikroskop und Immunhistochemie

Zunehmend war es dann möglich die Binnenstrukturen der für die einzelnen neurodegenerativen Erkrankungen typischen Protein-Ablagerungen aufzudecken und darüber dann die jeweiligen Erkrankungen zu definieren. Wenn man das post mortem macht, kann es aber vorkommen (und das gar nicht so selten), dass ein Patient klinisch z.B. ein idiopathisches Parkinson-Syndrom hatte oder eine reine Demenzerkrankung, neuropathologisch aber eine PSP. Dies führte bei der PSP zur Differenzierung der Erkrankung in verschiedene Subtypen, der schon geschilderten Erkenntnis, dass ein kortikobasales Syndrom nicht unbedingt eine kortikobasale Degeneration sein muss und dem Standardsatz in vielen Publikationen, dass die PSP vermutlich unterdiagnostiziert sei. Durch diesen Schritt gelang es aber erstmals die historisch gewachsene Unterteilung in Bewegungsstörungen und Demenzen zu brechen.

Die Prion-Hypothese

Richtig in Fahrt kam das neue (jetzt auch schon so gut 15 Jahre alte) Verständnis der neurodegenerativen Erkrankungen dann durch die Erkenntnis, dass die Protein-Ablagerungen in der Regel selber pathogen sind und nicht nur die Folge von Neurodegeneration und dass sie sich von Zelle zu Zelle prion-artig ausbreiten. Besonders bekannt ist das durch die Braak-Stadien beim idiopathischen Parkinson-Syndrom geworden, man kann das aber im Endeffekt für alle neurodegenerativen Erkrankungen und die unterschiedlichen Eiweiße zeigen:

Wo man weiterlesen kann
  1. Braak, H. et al. Staging of brain pathology related to sporadic Parkinson’s disease. Neurobiol. Aging 24, 197–211 (2003).
  2. Braak, H., Rub, U., Jansen Steur, E. N. H., Del Tredici, K. & de Vos, R. A. I. Cognitive status correlates with neuropathologic stage in Parkinson disease. Neurology 64, 1404–1410 (2005).
  3. Braak, H., Ghebremedhin, E., Rüb, U., Bratzke, H. & Del Tredici, K. Stages in the development of Parkinson’s disease-related pathology. Cell Tissue Res. 318, 121–134 (2004).
  4. Braak, H., Feldengut, S. & Del Tredici, K. Pathogenese und Prävention des M. Alzheimer. Nervenarzt 84, 477–482 (2013).
  5. Braak, H., Neumann, M., Ludolph, A. & Del Tredici, K. Breitet sich die sporadisch auftretende amyotrophe Lateralsklerose über axonale Verbindungen aus? Aktuelle Neurol. 44, 409–414 (2017).

Und was heißt das jetzt?

Zusammengefasst kann man folgende grundlegende Eigenschaften neurodegenerativer Erkrankungen definieren:

  • Neurodegenerative Erkrankungen werden in der Regel von sich prion-artig ausbreitenden pathogenen Protein-Konfigurationen von physiologisch vorkommenden neuronalen Proteinen verursacht.
  • Eine spezifische Protein-Pathologie kann zu verschiedenen klinischen Phänotypen führen.
  • Von einem klinischen Syndrom kann man nicht zwanglos auf die zu Grunde liegende Protein-Pathologie schließen.
  • Overlap-Syndrome, welche Symptome verschiedener klassischer neurodegenerativer Erkrankungen aufweisen sind häufig.

Bei mir führt das Einreißen von vorher dogmatisch und stur vorgetragenen Gewissheiten in der Medizin immer zu einer tiefen Befriedigung. Darüber hinaus kann das natürlich zu einer gewissen Beliebigkeit in der Diagnostik neurodegenerativer Erkrankungen führen, da man sich ja gar nicht mehr festlegen muss (und/oder kann). Am Ende wird man das jeweilige Syndrom zunächst einmal deskriptiv beschreiben müssen und darf sich nicht wundern, wenn man eine Diagnose im weiteren Verlauf auch mal revidieren muss. Für die Patienten ist zunächst einmal wichtig, gibt es eine dopamin-sensitive Bewegungsstörung und ist eine kognitive Störung dabei, ggfs. liquordiagnostisch eine, die man zu einer Alzheimer-Demenz zählen kann und welche man zumindest symptomatisch antidementiv behandeln könnte?

Wo man weiterlesen kann
  1. Klucken, J. et al. Parkinson-Syndrom(e) – Neue Konzepte für eine sich ausbreitende Erkrankung? Aktuelle Neurol. 40, 327–332 (2013).
  2. Pan-Montojo, F. & Reichmann, H. Ursache der Parkinson-Krankheit: Braak revisited. Aktuelle Neurol. 41, 573–578 (2015).
  3. Schäffer, E. & Berg, D. Neudefinition der Parkinson-Erkrankung. Aktuelle Neurol. 44, 260–266 (2017).
  4. Becktepe, J., Gövert, F. & Deuschl, G. Übergreifende Konzepte der Neurodegeneration. Aktuelle Neurol. 44, 19–26 (2017).

Senile Chorea und Huntington

Meine spät entdeckte Liebe für die Huntington-Erkrankung

Das mit der Huntington-Erkrankung und mir war eine schwere Geburt. Selbst im Neuro eBook kann man eine gewisse Frustration über CAG-Repeats und die Namensgebung Huntingtin nur schwerlich überlesen und ganz lange habe ich die Huntington-Erkrankung für ein elendiges Thema für Staatsexamen-Prüfungsfragen gehalten. Erst in den letzten Jahren konnte ich für mich unter der Überschrift unterdiagnostizierte neurodegenerative Erkrankung mit Bewegungsstörung ein gewisses Interesse für die Erkrankung entwickeln.

In der letzten Info Neurologie + Psychiatrie bin ich dann zufällig über ein Interview mit Herwig Lange gestolpert, der relativ viel Ahnung von der Huntington-Erkrankung hat. Meistens lese ich diese Interviews nicht, aber das fand ich dann doch interessant. Da ging es dann um verschiedene Antisense-Oligonucleotide (um so was geht’s in diesen Interviews oft, deshalb interessieren sie mich auch nur selten), aber in einer kurzen Frage auch um Spätmanifestationen der Huntington-Erkrankung. Und da sagte dann der Herr Lange, dass man durchaus einige der senilen Choreas doch einer spät und mild verlaufenden Huntington-Erkrankung zuschreiben kann. Und da ich diesen Gedanken interessant finde und den ein oder anderen Blick in verschiedene Paper wert, wollte ich hier mal was dazu schreiben.

Was man über die Huntington-Krankheit wissen könnte

Das, was alle wissen (und nach dem Staatsexamen sofort wieder verdrängen)
Berühmter Huntington-Patient und Linken-Vorzeige-Ikone: Woody Guthrie
Berühmter Huntington-Patient und Linken-Vorzeige-Ikone: Woody Guthrie, Link.

Die Huntington-Erkrankung ist eine autosomal dominant vererbte Erkrankung, bei der es zu einer übermäßigen Ansammlung von CAG-Repeats auf dem kurzen Arm von Chromosom 4 kommt. Dadurch wird das Protein Huntingtin in seiner Funktion erheblich gestört. Es gibt das Phänomen der Antizipation, d.h. das von Generation zu Generation immer mehr CAG-Repeats hinzukommen und sich damit die Erkrankung immer früher manifestiert, ganz nach dem Motto je mehr Repeats, desto früher und schwerer die Erkrankung. Und es gibt de-novo Mutationen, bei denen Menschen eine Huntington-Erkrankung bekommen, ohne dass in der Familie andere Mitglieder auch betroffen sind. Was man irgendwann auch mal auswendig gelernt hatte ist, dass sich die Huntington-Erkrankung typischerweise ab mehr als 60 CAG-Repeats manifestiert, physiologisch bis zu 35 Repeats sind. Was man sich meist länger merkt ist, dass die Huntington-Erkrankung meistens eine rasch progrediente Demenz und eine Bewegungsstörung beinhaltet und dass es sich dabei oft um eine Chorea handelt und dass es keine kausale Therapie gibt.

Das, was nur wenige wissen, was aber eigentlich interessant ist: Thema Genetik

So banal 35 CAG-Repeats sind normal und bei 60 bekommt man Huntington, ist es dann doch nicht (aber das war ja auch eigentlich klar). Also, eine vollständige Penetranz (also jede Generation bekommt die Huntington-Erkrankung) findet man wohl schon ab 39 CAG-Repeats, zwischen 36 und 39 Repeats ist die Penetranz unvollständig und zwischen 27 und 35 Repeats besteht ein erhöhtes Erkrankungsrisiko ohne sichere Vorhersagbarkeit, CAG-Repeats unter 27 sind normal. Werden die CAG-Repeats von CAA-Tripletts unterbrochen, so kann man eine insgesamt höhere Anzahl an Repeats haben, ohne zu erkranken.

Evolutionär höher entwickelte Lebewesen haben eine höhere Anzahl an CAG-Repeats als evolutionstechnisch gesehen ältere Arten. Vermutlich korreliert die CAG-Repeat-Anzahl mit der Hirnmasse (in Relation zum Körpergewicht), in einigen Huntington-Studien sind für Kinder und junge Erwachsene mit 40 CAG-Repeats sehr hohe IQ-Werte beschrieben worden. Diese Zahl 40 ist auch deshalb interessant, weil das auch die Größenordnung von CAG-Repeats ist, bei der Spätmanifestationen in Studien beschrieben wurden (was im Englischen dann oft Late Onset Huntington Disease (LoHD) heißt. Die normalen Erkrankungsverläufe scheinen sich eher bei 44 und mehr Repeats zu manifestieren. Die Spätmanifestationen machen in Huntington-Studien oft zwischen 4 und 11% der eingeschlossenen Erkrankungen aus, man nimmt aber eine deutliche Unterdiagnostik in der Bevölkerung an.

Das, was nur wenige wissen, was aber eigentlich interessant ist: Huntingtin

Mit zunehmender Repeat-Anzahl verklumpt das Huntingtin in den Zellen immer mehr, dadurch nimmt die Lebensdauer der Zellen stark ab, weil sich rascher eine Apoptose entwickelt. In Körperzellen, welche eh einer kürzere Lebensdauer haben und dann ersetzt werden, ist das gar nicht so relevant, im zentralen Nervensystem umso mehr. Huntingtin scheint physiologischerweise beim Transport von Vesikeln, aber auch bei Zellreparatur-Vorgängen eine wichtige Rolle zu spielen, vermutlich entscheidender ist aber die toxische Wirkung des kranken Huntingtin mit zu vielen Repeats, welches direkt zytotoxische Effekte zu haben scheint.

Das, was nur wenige wissen, was aber eigentlich interessant ist: Es muss nicht immer Chorea sein

Die Huntington-Erkrankung ist auch vermutlich deshalb unterdiagnostiziert, weil immer alle auf die Chorea warten. Die manifestiert sich aber teilweise gar nicht oder nur sehr diskret. Generell ist eine zweiphasige Bewegungsstörung beschrieben, mit zuerst hyperkinetischen Bewegungen, welche klassischerweise distal beginnen und sich dann nach proximal ausbreiten und dann einer Phase mit einer hypokinetisch, teils rigiden Bewegungsstörung und einer Gangstörung inklusive Störung der posturalen Stabilität. In diesem ersten Teil, der hyperkinetischen – sich von distal nach proximal – ausbreitenden Bewegungsstörung ist auch die ehemals namensgebenden Chorea verortet. Aber es muss nicht immer eine Chorea sein, auch Dystonien, Myoklonien, Tremores sind beschrieben, ebenso aber auch ein vollständiges Ausbleiben der hyperkinetischen Bewegungsstörung. Das bedeutet aber auch, dass eine Huntington-Erkrankung durchaus als atypisch anmutendes Parkinson-Syndrom daherkommen kann oder als eins der schlecht klinisch einzuordnenden neurodegenerativen Erkrankungen mit einer komplexen Bewegungsstörung und einer (schnell fortschreitenden) Demenz, über die man im klinischen Alltag immer mal wieder stolpert.

Ein gewisses Problem: Die Diagnosestellung

Ja klar, man kann eine genetische Untersuchung vornehmen und die CAG-Repeats zählen und dann ist die Diagnose gestellt. Aber so läuft es in der Regel ja nicht. Gerade wenn wir über Spätmanifestationen der Huntington-Erkrankung reden, muss man davon ausgehen, dass eben nicht ein junger Mensch mit einer positiven Familienanamnese mit einer Bewegungsstörung mit zunächst hyperkinetischer Komponente und einer fortschreitenden psychiatrischen Symptomatik incl. Demenz sich vorstellt, sondern eher die schon skizzierten Patienten mit der (vermeintlich) senilen Chorea oder mit den erwähnten unklaren Syndromen mit Bewegungsstörung und Demenz. Und abseits der Genetik wird es dann schnell dünn. Was sind also Punkte, die die Differentialdiagnose Huntington zumindest in den Raum stellen sollten?

Klinik

Das hab ich jetzt schon erwähnt, eigentlich jede progrediente unklare Bewegungsstörung mit Demenzsymptomatik und psychiatrischen Symptomen. Spätestens hier lohnt sich eine Fremd- und Familienanamnese. Fremdanamnestisch wird nämlich wohl häufig berichtet, dass sich Huntington-Patienten ihrer Bewegungsstörung (und ihrer neuropsychiatrischen Symptomatik) oft gar nicht bewusst sind. Und die Familienanamnese lohnt sich, weil es ja eben dann doch eine autosomal-dominante Erkrankung ist. Eine klinische Stratifizierung des Ausmaßes der Symptomatik kann man mit der UHDRS erreichen, was so ziemlich genau das Gegenstück zur UPDRS beim Parkinson ist.

Bildgebung

Das ist ein etwas frustrierendes Thema. Da kann man Artikel wie solche lesen: Wilson, H., Dervenoulas, G. & Politis, M. Structural Magnetic Resonance Imaging in Huntington’s Disease. in International Review of Neurobiology vol. 142 335–380 (Elsevier Inc., 2018) oder Johnson, E. B. & Gregory, S. Huntington’s disease: Brain imaging in Huntington’s disease. in Progress in Molecular Biology and Translational Science vol. 165 321–369 (Elsevier Inc., 2019) und ist hinterher fast genau so schlau wie vorher. Im normalen MRT werden eine einseitig betonte Atrophie von Ncl. caudatus und Striatum als häufiger Befund beschrieben, zudem Eisenablagerungen in den Stammganglien (das ist aber ein Phänomen bei vielen neurodegenerativen Erkrankungen und eigentlich einen Blogbeitrag wert) und das war’s auch schon. Spezifische Stigmata, wie bei der CJK oder der MSA und PSP gibt es nicht. Dann kann man im diffusion tensor imaging (und wie die eher forschungsbasierten Verfahren so heißen) verminderte Faserdichten feststellen und in der Voxelmetrie eine sowohl die graue, als auch weiße Substanz einschließende generelle Hirnatrophie, aber das ist natürlich auch überhaupt nicht spezifisch. Ebenso ist auch ein verminderter Stoffwechsel im präfrontalen und parietalen Kortex, wie er in der fMRT wohl beobachtet werden kann, spezifisch für eine Huntington-Erkrankung.

Liquor

Im Liquor finden sich wohl häufig recht hohe tau-Protein-Konzentrationen, welche aber auch nur einen generellen Neuronenuntergang anzeigen. Dann taucht auch bei der Huntington-Erkrankung eine Erhöhung von NFL (neurofilament light chain) in diversen Papern auf. Das Charmante hieran ist, dass NFL-Werte im Serum mit denen im Liquor recht gut zu korrelieren scheinen und dementsprechend eine Liquorpunktion überflüssig machen könnten (aber auch hier ist ein eigener Blogbeitrag fällig), das Dumme, dass das auch nicht viel spezifischer als eine tau-Erhöhung zu sein scheint.

Ein großes Problem: Die Behandlung

Auch ein etwas dürftiges Kapitel: Etabliert ist die symptomatische Behandlung der verschiedenen Beschwerden bei der Huntington-Erkrankung. D.h. Tiaprid und Tetrabenazin werden bei Chorea eingesetzt, atypische Neuroleptika bei psychotischer Symptomatik und es gibt gewisse Hinweise, dass Amantadin bei parkinsonoiden Symptomen helfen kann. Und wie immer bei verzweifelten Fällen taucht auch Riluzol auf, für dessen Wirksamkeit es aber keine Evidenz gibt. Pridopidin als Regulator der Dopamin-Freisetzung wurde in einer ersten Studie als nicht wirksam getestet, da es aber große inhaltlich-pathophysiologische Hoffnungen in den Wirkstoff gibt, wurde eine erneute Studie aufgesetzt.

Große Hoffnung legt man in die Antisense-Oligonukleotide, welche nach dem großen Erfolg von Nusinersen bei der spinalen Muskelatrophie jetzt für verschiedene neurodegenerative Erkrankungen erprobt werden. Hier laufen gerade Phase III-Studien, man wird also bald mehr wissen.

Jetzt aber: Senile Chorea und Huntington

Eine neu aufgetretene Chorea im Alter ist ein selteneres Symptom, aber auch nicht so furchtbar selten. Verschiedene Untersuchungen taxieren die Häufigkeit um die 0,2-0,25% aller neurologischen Vorstellungen (was mir subjektiv aber eher zu häufig erscheint, weil dann jeder 400. bis 500. Patient so etwas haben müsste). Der Großteil (ca. 2/3) dieser sich spätmanifestierenden Choreas – v.a. wenn sie einseitig sind – beruht auf Stammganglieninfarkten, ein weiterer relevanter Anteil – dann häufig, aber nicht immer, beidseitig symptomatisch – auf metabolischen Entgleisungen (v.a. Elektrolyte, Niereninsuffizienz, Diabetes). Vaskulitische, toxische (durch Drogenkonsum) und HIV-assoziierte Gründe für choreatiforme Bewegungsstörungen betreffen eher jüngere Patienten, können natürlich aber dennoch auch im Alter auftreten. Übrig bleiben knapp 10% der Patienten, bei denen die Ursache unklar bleibt. Und hierauf bezog sich das Eingangs erwähnte Interview, in einer Untersuchung fanden sich bei der Hälfte dieser unklaren Chorea-Erkrankungen dann vermehrte CAG-Repeats, eben um die 40, in der durchgeführten genetischen Testung, weshalb man diese Fälle dann als Spätmanifestation einer Huntington-Erkrankung eingeordnet hat. Und da schließt sich der Kreis, wenn die schweren Fälle mit einer Prävalenz von 1:10.000 auftreten, müssten die leichteren und späteren Manifestationen noch häufiger sein. Und dann lohnt es sich doch, sich ein bisschen mehr mit der Erkrankung zu beschäftigen …

Wo man weiterlesen kann

S2k-Leitlinie Chorea/Morbus Huntington https://dgn.org/leitlinien/2017-chorea-morbus-huntington/

  1. Ha, A. D. & Fung, V. S. C. Huntingtonʼs disease. Curr. Opin. Neurol. 25, 491–498 (2012).
  2. Lorincz, M. T. Geriatric Chorea. Clin. Geriatr. Med. 22, 879–897 (2006).
  3. Chaganti, S. S., McCusker, E. A. & Loy, C. T. What do we know about Late Onset Huntington’s Disease? J. Huntingtons. Dis. 6, 95–103 (2017).
  4. McColgan, P. & Tabrizi, S. J. Huntington’s disease: a clinical review. Eur. J. Neurol. 25, 24–34 (2018).
  5. Oosterloo, M., Bijlsma, E. K., van Kuijk, S. M., Minkels, F. & de Die-Smulders, C. E. Clinical and genetic characteristics of late-onset Huntington’s disease. Parkinsonism Relat. Disord. 61, 101–105 (2019).

Meine Fibro und ich

Ich glaube, es war mein erster oder zweiter Tag in der Schmerztherapie, als eine Patientin von „meiner Fibro“ sprach und ich sofort dachte, „oh Gott ich bin hier falsch“. Das hat dann nicht mal zwei Wochen gedauert, bis ich zu einer anderen Patientin gesagt habe „Ihre Fibro“. Also, man gewöhnt sich dran. Aber was ist das eigentlich, das Fibromyalgie-Syndrom?

Fibromyalgie vs. Fibromyalgie-Syndrom

So Standard-Definitionen des Fibromyalgie-Syndroms lauten „Das Fibromyalgiesyndrom (FMS) ist eine extreme Ausprägung […] im Sinne eines Kontinuums von regionalen zu generalisierten Schmerzen bei zunehmendem Distress.“ Äh ja. Also, als Fibromyalgie oder Fibromyalgie-Syndrom (warum die zweite Formulierung eigentlich besser ist, dazu gleich noch mehr) oder neudeutsch chronic widespread pain (wobei das eigentlich der Oberbegriff und Fibromyalgie-Syndrom dann der Unterbegriff sein müsste) bezeichnet man diffuse, oft aber nicht immer gelenknahe, Schmerzen an verschiedenen – teils wechselnden – Körperregionen, die teilweise so multipel verteilt sind, dass am Ende Ganzkörper-Schmerzen resultieren. Das wäre dann ein chronic widespread pain. Die Schmerzen nehmen oft bei körperlicher Belastung und psychosozialem Stress zu. Dazu kommen aber noch weitere Symptome, typischerweise Schlafstörungen mit fragmentiertem, nicht erholsamen Schlaf, Morgensteifigkeit und eine vermehrte körperliche und geistige Ermüdbarkeit. Und das ist dann das Fibromyalgie-Syndrom.

Da ganz verschiedene Menschen die Fibromyalgie-Symptome entwickeln können – die typische Spanne geht von Menschen mit einer rheumatischen Erkrankung, die diese Symptomatik im Verlauf entwickeln bis hin zu Menschen mit Traumafolgestörungen und Missbrauchserfahrungen, die dann Jahre nach dem Trauma diese Schmerzen bekommen – kann es sich am Ende nicht um eine definierte Krankheit (also die eine Fibromyalgie) handeln, sondern um ein Syndrom (im klassischen neurologischen Sinne), welches die gemeinsame Endstrecke verschiedener Pathomechanismen darstellt.

Wer und wie bekommt man ein Fibromyalgie-Syndrom?

Klischeemäßig bekommen v.a. übergewichtigere mittelalte Frauen mit Kurzhaar-Frisur ein Fibromyalgie-Syndrom. Aber wie ist die Fibromyalgie wirklich verteilt hinsichtlich ihrer Auftretenshäufigkeit? Insgesamt ist die Fibromyalgie eine Erkrankung der westlichen Industrieländer, je nach Diagnosekriterien kann man davon ausgehen, dass zwischen 1-3% der Bevölkerung betroffen ist. Frauen sind häufiger als Männer betroffen, wobei die Angaben zur Verteilung von 6:1 bis 2:1 schwanken (ebenfalls je nach Diagnosekriterien, 2:1 ist das Verhältnis mit den neueren Diagnosekriterien von 2010). Und es ist eine Erkrankung des mittleren Lebensalters mit einem Peak zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr.

An so schwammigen Sätzen wie „Das FMS kann als funktionelles somatisches Syndrom klassifiziert werden“. kann man erkennen, dass die Pathogenese (bzw. unter der Annahme von oben die verschiedenen Wege der Pathogenese) relativ unklar sind, wobei sich so ganz langsam eine allgemein akzeptierte Auffassung herausbildet. Am Ende kann man sich das Fibromyalgie-Syndrom noch a.e. als eine abgeschlossene Schmerzchronifizierung mit (peripherer und) zentraler Sensibilisierung vorstellen, wobei der Auslöser dieser Chronifizierung nicht eindeutig zu benennen ist, bzw. vermutlich verschiedene Auslöser existieren. Aber die generelle Schmerzüberempfindlichkeit mit den Teils neuropathisch empfundenen Schmerzen und den psychischen Begleitsymptomen entspricht diesem Konstrukt recht gut.

Als akzeptierte Risikofaktoren für die Entwicklung eines Fibromyalgie-Syndromes gelten folgende Punkte, welche man noch einmal in drei Gruppen unterteilen kann:

Biologische Faktoren:

  • Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis
  • Genpolymorphismen des 5HT2- Rezeptors
  • Vitamin D Mangel

Lebensstil-Faktoren:

  • Nikotinabhängigkeit
  • Adipositas
  • Mangelnde körperliche Aktivität

Psychische Faktoren:

  • Körperlicher und sexueller Missbrauch in der Kindheit
  • sexuelle Gewalt im Erwachsenenalter
  • Depressive Erkrankungen

Zu den Veränderungen, die ich mit „abgeschlossene Schmerzchronifizierung“ zusammengefasst habe, kommen noch andere Aspekte hinzu. So konnte man bei einem Teil von Fibromyalgie-Patienten in Studien eine autonome Dysfunktion herausarbeiten, wobei sowohl sympathikotone (die meisten Arbeiten), aber auch asympathikotone Dysregulationen (dtl. weniger Arbeiten) beschrieben wurden. Relativ neu ist die Beobachtung, dass ebenfalls bei einem Teil von Fibromyalgie-Patienten eine reduzierte intraepidermale Nervenfaserdichte gefunden wurde. Dieses Phänomen findet sich (mit etwas anderer histologischer Betonung) bei der small fibre Neuropathie, aber auch bei der Zoster-Neuralgie und auch bei Parkinson-Patienten (die ja ebenfalls häufig über Schmerzen klagen). Warum das so ist bei der small fibre Neuropathie (wobei die genaue Pathogenese recht unverstanden erscheint), ist mal einen eigenen Blogeintrag wert. Auch ist mir nicht ganz klar, warum beim Fibromyalgie-Syndrom autonome Störungen als eigner Pathomechanismus neben der small fibre-Pathologie gelten, wo sie bei der small fibre Neuropathie als eine Unterformen beschrieben werden.

Wie diagnostiziert man ein Fibromyalgie-Syndrom?

In unseren Köpfen spuken beim Thema Fibromyalgie und deren Diagnose immer noch die tender points herum, wobei diese in den mittlerweile 30 Jahre alten ACR-Diagnosekriterien von 1990 vorkamen und in den auch schon 10 Jahre alten revidierten Kriterien ersatzlos gestrichen wurden. In den aktuell verwendeten Diagnosekriterien geht es einmal um einen Ausschluss einer anderen, die Symptomatik erklärenden, Diagnose und zum anderen um die Feststellung, dass an mindestens 7 von 19 Lokalisationen (die dann doch wieder den tender points ähneln) Schmerzen bestehen und dass es Zusatzsymptome wie Bauchschmerzen, depressive Störungen, Müdigkeit, nicht-erholsamer Schlaf usw. gibt. Diese Symptome werden in der Regel standardisiert über Fragebögen erfasst. Als Ausschlussdiagnostik empfehlen die Autoren der aktuellen Leitlinie eine vollständige neurologische und orthopädische Untersuchung und eine laborchemische Diagnostik incl. BSG, CRP, BB, CK, Kalzium, TSH und Vitamin D. Gefordert wird dann noch eine „Vollständige medizinische Anamnese inkl. Medikamentenanamnese“ und das wars. Das erscheint mir ingesamt recht überschaubar.

Und wie behandelt man ein Fibromyalgie-Syndrom

Zunächst einmal nicht kausal, da wir den oder die Gründe für die Entwicklung eines Fibromyalgie-Syndromes ja nicht kennen. Medikamentös ist die Studienlage sehr überschaubar, in erster Linie gibt es eine schwache Evidenz für Medikamente, welche die absteigende Schmerzhemmung stärken, also Trizyklika (und Duloxetin), das ganze aber auch nur zeitlich begrenzt. Und dann kann man noch Pregabalin erwägen, das war es dann aber schon. Der Schwerpunkt der Behandlung des Fibromyalgie-Syndromes liegt aber sowieso in den nicht-medikamentösen Verfahren, in ganz viel Edukation, ganz viel Schmerz-Psychologie und -Psychotherapie, um Schmerz-Teufelskreise zu durchbrechen, ein Verständnis für ggfs. vorliegende psychiatrische Komorbiditäten und ihre Behandlung zu schaffen und um erste Ansätze von Selbstwirksamkeit zu vermitteln; das ganze kombiniert mit der regelmäßigen Anwendung von Muskelentspannungsverfahren und einem freundlich aber bestimmten Heranführen an körperliche Betätigung in Form von Ausdauersport. Am besten gelingt dies – insbesondere bei schwereren Krankheitsverläufen – in einem multimodalen schmerztherapeutischen Behandlungssetting, idealerweise in einem tagesklinischen Setting.

Wo man weiterlesen kann

S3-Leitlinie Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Fibromyalgiesyndroms https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/145-004.html

  1. Woolf, C. J. Central sensitization: Implications for the diagnosis and treatment of pain. Pain 152, S2–S15 (2011).
  2. Eich, W. et al. Das Fibromyalgiesyndrom. Der Schmerz 26, 247–258 (2012).
  3. Chinn, S., Caldwell, W. & Gritsenko, K. Fibromyalgia Pathogenesis and Treatment Options Update. Curr. Pain Headache Rep. 20, 25 (2016).
  4. Evdokimov, D. et al. Reduction of skin innervation is associated with a severe fibromyalgia phenotype. Ann. Neurol. 86, 504–516 (2019).

Delir

Was ist das eigentlich und woher kommt das?

Das Phänomen Delir ist seit Hippocrates, also seit über 2500 Jahren, bekannt. Gemeint ist dabei eine sich über wenige Stunden bis einige Tage entwickelnde Bewusstseins-, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörung, welche typischerweise bei einer schweren Erkrankung, nach einem operativen Eingriff oder bei älteren und dementen Patienten nach einem Umgebungswechsel auftritt. Schwankungen der Klinik im Tagesverlauf sind eher die Regel als die Ausnahme, oft mit einer Zunahme in den Abend- und Nachtstunden. Dadurch bedingt kommt es häufig zu einer Umkehr des Tag-Nacht-Rhythmus. Definitionsgemäß liegt eine systemische oder hirnorganische Erkrankung zu Grunde, Hauptunterscheidungsmerkmale zur Demenz sind die rasche Entwicklung der Symptomatik und die Schwankungen der Schwere der Symptome. Zudem kommt es in schweren Verlaufsformen zu vegetativen Entgleisungen, die eine IMC- oder Intensivpflichtigkeit bedingen können. Visuelle szenische Halluzinationen sind häufig, aber anders als die Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsstörung kein obligates Syndrom. Die meisten Delirien erstrecken sich über wenige Tage, ein Delir kann aber auch prolongiert über Wochen, teils auch über Monate anhalten. Für postoperative Delirien gibt es überzeugende Studiendaten, die kognitive Defizite nach einem durchgemachten Delir noch nach 12 Monaten nachweisen konnten. Während nahezu jedem klinisch tätigen Menschen hyperaktive oder produktive Delirien in guter Erinnerung sind, wird häufig übersehen, dass mindestens die Hälfte der Delirien als hypoaktives Delir oder gemischtes Delir verläuft. Gerade das hypoaktive Delir gilt als massiv unterdiagnostiziert und wird häufig nur zufällig, z.B. im Rahmen einer verzögerten Aufwachreaktion im Weaning richtig gedeutet.

Noch vor knapp 10 Jahren war der Begriff Delir für Delirien im Alkohol- oder Benzodiazepinentzug reserviert. Diese stoffgebundenen Delirien unterscheiden sich in ihrer Pathogenese erheblich von den „anderen“, nicht stoffgebundenen Delirien. Diese hießen früher oft hirnorganisches Psychosyndrom (HOPS), akuter Verwirrtheitszustand oder insbesondere im operativen Bereich Durchgangssyndrom.

Grundlage des stoffgebundenen Delirs ist, dass Alkohol, aber auch Benzodiazepine zum Einen GABA-erg wirken zum Anderen die Wirkung von NMDA-Rezeptoren hemmen. Dies führt kompensatorisch zu einer verminderten Synthese von GABA im Gehirn und einer Up-Regulation von NMDA-Rezeptoren. Beim raschen und plötzlichen Absetzen von Alkohol oder Benzodiazepinen resultiert dann ein relativer Mangel von GABA als Neurotransmitter im Gehirn, während den in vermehrter Anzahl vorhandenen NMDA-Rezeptoren recht plötzlich die Inhibition fehlt. Die Therapie der Wahl beim stoffgebundenen Delir ist dann auch die Substitution (eben mit Benzodiazepinen) und schrittweise Reduktion, um dem plötzlichen Absetzeffekt entgegen zu wirken und dem Gehirn zu ermöglichen, die hemmenden Neurotransmitter in entsprechender Menge wieder selbst zu synthetisieren.

Komplexer ist die Situation beim nicht-stoffgebundenen Delir, also dem Delir welches wir am häufigsten und insbesondere bei älteren Patienten sehen. In den meisten Publikationen zum Delir beschränkt sich die Erklärung zur Genese auf „ein Delir entsteht, wenn eine Noxe auf ein vorgeschädigtes Gehirn trifft“, was sicherlich prinzipiell stimmt, das Ganze aber schwammig und wenig greifbar macht. Vermutlich ist es so, dass es nicht den einen Weg ins Delir gibt, was ja auch mit der klinischen Beobachtung ganz unterschiedlicher „Noxen“ (Infekte, Medikamente, Operationen, Veränderung von Umgebung, Tag-Nacht-Rhythmus, soziale, optische und akustische Deprivation), die auf unsere Patienten einwirken und die ja oft erst in der Summe zu einem Delir führen, konform geht. Und natürlich ist die Art der Vorschädigung auch von Person zu Person verschieden, mal ist es eine Demenz, mal eine bleibende strukturelle Läsion wie ein Schlaganfall oder eine transiente wie ein epileptischer Anfall. In der Summe resultieren aber offenbar auf verschiedenen Wegen ein cholinerges Defizit und ein Überwiegen dopaminerger Neurone. Die Bedeutung der anderen, ansonsten im Gehirn bedeutsamen Neurotransmitter wie Serotonin, GABA oder Glutamat ist hingegen hier weiterhin unklar. Diese Erklärung ist zum Einen charmant, weil sie ganz gut mit der Beobachtung von potentiell delirogen wirkenden Medikamenten, aber auch der medikamentösen Delirbehandlung vereinbar scheint, zum Anderen aber auch recht plausibel die verschiedenen „Noxen“ erklärbar macht. Direkte prodelirogene Effekte werden durch anticholinerg und dopaminerg wirkende Substanzen erklärt. Metabolische Störungen wie (lokale) Hypoxien oder Hypoglykämien (z.B. im Rahmen einer Minderversorgung bei einem Schlaganfall oder einem Mehrverbrauch bei einem epileptischen Anfall) führen zu einer direkten neuronalen Funktionsstörung mit gestörter Synthese, bzw. vermehrter oder verminderter Freisetzung von Neurotransmittern. Infekte, Verletzungen oder Operationen betreffen meist nicht primär das ZNS führen aber zu einer systemischen und dann oft auch sekundär neurogenen Entzündung, was wiederum zum Einen neurotoxisch wirkt, zum Anderen die Neurotransmitter-Freisetzung verändert. Vermehrte Freisetzung von Stresshormonen wie Noradrenalin oder Steroide bewirkt eine Aktivierung von Gliazellen und hierüber eine neuronale Schädigung.

Wie erkennt man ein Delir?

Kurz gesagt über die beschriebene Klinik mit ihrer typischerweise ausgeprägten Fluktuation, der immer vorliegenden Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsstörung (mindestens als Orientierungsstörung) und über die Triggerfaktoren. Hilfreich können gerade auf Intensivstationen und in neurologisch oder psychiatrisch nicht allzu bewanderten Stationen und Fachabteilungen auch Screenings-Tests wie der CAM oder der CAM-ICU sein, welcher zusammen mit der RASS oft auf Intensivstationen routinemäßig eingesetzt wird (z.B. https://www.divi.de/empfehlungen/publikationen/bewusstseinsstoerungen-und-koma/967-cam-icu-ras-und-bps-a4/file).

Haldol tut wohl und fertig?

Die Behandlung des nicht-stoffgebundenen Delirs setzt sich zusammen aus den (vermutlich weitaus wichtigeren) nicht-medikamentösen Maßnahmen und ggfs. einer Medikamentengabe. Die nicht-medikamentösen Maßnahmen zielen allesamt auf eine Re-Strukturierung des Alltages mit physiologischem Tag-Nacht-Rhythmus, Verhinderung von Deprivation durch Einsetzen von Hörgeräten, Tragen von Brillen, Anbringen von Uhren/Kalendern in Sichtweite und – und das geschieht regelhaft auf Intensiv- und Überwachungsstationen nicht – Ermöglichen einer entsprechenden Tagesstruktur, in denen die Patienten eben nicht um 4 Uhr morgens gewaschen werden, um 5 Uhr das Blut abgenommen wird und immer wieder nachts bei Kontrollgängen die Neonbeleuchtung im Raum eingeschaltet wird. Die zweite Säule der Delirbehandlung ist die Behandlung der Grunderkrankung, also z.B. des das Delir triggernden Infektes. Drittens gibt es (eine bescheidene) Evidenz für die Behandlung des hyperaktiven (und nicht des hypoaktiven) Delirs mit Dopaminantagonisten, also Neuroleptika bezüglich der Schwere und der Dauer des Delirs. Ein besseres Outcome, eine niedrigere Mortalität usw. lässt sich hingegen beim Einsatz von Neuroleptika nicht belegen. Im Gegenteil erhöhen gerade die typischen Neuroleptika ganz erheblich das kardiovaskuläre Risiko, insbesondere wenn sie (wie es im Alltag häufig geschieht) über einen längeren Zeitraum gegeben werden. In Studien wurde am häufigsten Haloperidol (1-5 mg/Tag) untersucht, weshalb es hierfür auch die beste Datenlage gibt. Allerdings ist Haloperidol hinsichtlich der Nebenwirkungen nun ganz und gar nicht unproblematisch, die i.v.-Gabe nur unter Monitorüberwachung auf Grund der Gefahr des Auftretens relevanter Herzrhythmusstörung, insbesondere ventrikulärer Tachykardien und eines LongQT-Syndroms zugelassen, die i.m.-Gabe insbesondere bei antikoagulierten Patienten nicht ohne weiteres möglich. Zudem wird das Risiko relevanter extrapyramidal-motorischer Nebenwirkungen auch nach kurzfristiger Haloperidol-Einnahme eher unterschätzt.

Risperidon löst Haloperidol gerade in der Neurologie zunehmend ab und wird typischerweise in Dosen zwischen 0,5 und 3 mg/Tag gegeben. Ob Quetiapin in der Behandlung des Delirs außerhalb der Behandlung von Parkinson-Patienten überhaupt einen Stellenwert hat oder nur ein besonders teures Schlafmittel ist, ist umstritten. Wenn es nur um die schlafanstoßende Wirkung geht, eignet sich ein niedrig potentes Neuroleptikum wie Melperon (auf die lange Wirklatenz achten, 3-6 Stunden vor der erwünschten Wirkung geben) in der Regel genauso gut. Wilde Mischintoxikationen insbesondere mit zusätzlich gegebenen Benzodiazepinen sollte man – wenn möglich – so gut es geht vermeiden. Zur Behandlung vegetativer Entgleisung eignen sich Alpha 2-Adrenorezeptor-Agonisten wie Clonidin oder intensivmedizinischen Setting Dexmedetomidin, welche als Nebeneffekt auch sedierend wirken.

Wenn das alles so kompliziert ist, warum geb ich dann nicht einfach Benzos?

Weil Benzodiazepine – wie erwähnt – GABA-erg wirken und damit einfach gar nichts an der Pathopyhsiologie des Delirs ändern, wenn es ein nicht-stoffgebundenes ist. Das heißt, der Patient ist nur sediert, das Delir aber weiter unbehandelt und wird spätestens beim Abklingen der Benzodiazepinwirkung wieder symptomatisch. Zudem können Benzodiazepine paradox und damit sogar prodelirogen wirken.

Delir behandelt, Patient trotzdem tot?

Delirien sind häufig und treten (je nach Untersuchung etwas schwankend) bei ca. einem Drittel aller auf peripheren Bettenstationen liegender Patienten und bei bis zu 80% aller Patienten auf Intensivstationen auf. Es besteht eine starke Korrelation der Auftretenshäufigkeit zum Alter des Patienten und zu einer komorbid vorhandenen Demenz. Das Vorhandensein eines Delirs ist per se ein schlechter prognostischer Faktor und mit einer erhöhten Sterblichkeit assoziiert. Diese ist mit 10% relativ erhöhter Mortalität pro Delirtag erschreckend hoch und hat vermutlich verschiedene, krankheitsbedingte, aber auch iatrogene – durch die Delirbehandlung bedingte – Gründe. Auch das Outcome bei Überleben des Delirs ist signifikant schlechter, so sind 40% aller Patienten mit einem Delir nicht in die Häuslichkeit entlassbar und benötigen eine Unterbringung in einem Pflegeheim, Delirien verschlechtern regelhaft das Outcome rehabilitative Behandlungen. Der Einsatz von typischen Neuroleptika erhöht die kardiovaskuläre Sterblichkeit innerhalb von 12 Monaten um den Faktor 1,5 gegenüber einer Behandlung mit Atypika. Diese wiederum sind mit einer bis zu 2,5 fach erhöhten Sterblichkeit gegenüber einem Nichtgebrauch assoziiert. Alle in der Delirbehandlung eingesetzten Medikamente wirken sedierend, hierüber kommt es zu vermehrten Stürzen mit Traumafolgen und zu einer vermehrten Immobilität mit entsprechend höherem Risiko von Pneumonien. Interessanterweise wurde im letzten Jahr eine Metaanalyse veröffentlicht, die auf den ersten Blick praktisch das Gegenteil zu zeigen scheint (Wu et al.), wobei die Nachbeobachtungszeit der eingeschlossenen Studien unklar bleibt.

Wo man weiterlesen kann
  1. Weintraub, D. et al. Association of Antipsychotic Use With Mortality Risk in Patients With Parkinson Disease. JAMA Neurol. 73, 535 (2016).
  2. Hüfner, K. & Sperner-Unterweger, B. Delir in der Neurologie. Nervenarzt 85, 427–436 (2014).
  3. Hübscher, A. & Isenmann, S. Delir: Konzepte, Ätiologie und klinisches Management. Aktuelle Neurol. 43, 452–463 (2016).
  4. Müllges, W. Ätiologie und Therapie des Delirs. Aktuelle Neurol. 41, 586–596 (2015).
  5. Mann, K. Das Delir — Klinik, Pathogenese, Therapie und Prävention. InFo Neurol. Psychiatr. 20, 38–46 (2018).
  6. Wu, Y.-C. et al. Association of Delirium Response and Safety of Pharmacological Interventions for the Management and Prevention of Delirium. JAMA Psychiatry 76, 526 (2019).