Zwischenruf: Beteiligung Nichtgeimpfter an den Kosten ihrer COVID-19-Behandlung. Gedanken zu dem Beitrag auf gesundheitsrecht.blog

Worum geht es?

Relativ prominent durch Stefan Huster wurde auf Twitter ein Beitrag auf der Webseite gesundheitsrecht.blog verbreitet

In dem Blogbeitrag erörtern die Autorinnen Frauke Brosius-Gersdorf und Nicole Friedlein Möglichkeiten, wie man nicht gegen COVID-19 Geimpfte an den Behandlungskosten einer etwaigen medizinischen Behandlung wegen COVID-19 oder COVID-19-Krankheitsfolgen beteiligen könnte.

Was steht drin?

Erst einmal, der Beitrag ist in einem juristischen Blog erschienen, es geht hierin um Juristerei und nicht um Medizin oder Medizinethik. Zweitens, bevor man den Beitrag wichtig nimmt, er ist auf gesundheitsrecht.blog erschienen, das ist sicherlich kein Leitmedium (dieser Blog übrigens auch nicht). Drittens, er erstreckt sich über zwei Seiten und ist zwar wegen der juristischen Erläuterungen etwas mühsam zu lesen, aber es ist durchaus machbar. Für die, die die Lektüre nicht übers Herz bringen hier ein kurzer Abriss:

Die Autorinnen erläutern zunächst, dass der Gedanke der Solidargemeinschaft, welche einzelne Mitglieder nicht für Risikoverhalten / -konstellationen sanktioniert bei der gesetzlichen Krankenversicherung prinzipiell deutlich höher gehängt wird, als bei anderen (gesetzlichen) Versicherungen und erst recht als bei privaten. Diese Solidargemeinschaft sei aber durch zunehmend steigende Gesundheitsausgaben immer mehr gefordert, die gesetzlichen Krankenversicherungen zunehmend defizitär, was zu höheren Beitragszahlungen und Steuerzuschüssen führe. Die COVID-Pandemie habe dabei noch einmal besonders zu einem Anstieg der Gesundheitsausgaben geführt, intensivmedizinische Behandlungen auf Grund von COVID-19 seien besonders teuer, dennoch seien 22% der deutschen Bevölkerung nicht gegen COVID geimpft. Da die Impfung gut gegen schwere COVID-Verläufe schütze, seien Ungeimpfte besonders prädestiniert, einen schweren (und teuren) COVID-Verlauf zu entwicklen. Im Sozialgesetzbuch sei explizit eine Kostenbeteiligung an Behandlungskosten vorgesehen, wenn

sich Versicherte eine Krankheit vorsätzlich oder bei einem von ihnen begangenen Verbrechen oder vorsätzlichen Vergehen zugezogen haben.

Die Autorinnen führen aus, dass man ihrer Ansicht nach Vorsatz bei Nichtimpfung und einen Kausalzusammenhang zwischen fehlender Impfung und schwerem Krankheitsverlauf annehmen kann, dass es aber einen Ermessensspielraum der Krankenkassen gebe. Prinzipiell sei die rechtliche Auslegung aber nicht so eindeutig, so dass die Autorinnen eine entsprechende gesetzliche Regelung vorschlagen. Im Folgenden wird das Für und Wider einer gesetzlichen Regelung erörtert, bei dem die Autorinnen recht eindeutig mehr für- als widersprechende Argumente aufführen. Mehr zu diesem Teil des Beitrags jedoch gleich.

Zwei Gedankenstränge

Für mich finden sich in der Argumentation der Autorinnen, vor allem in der Diskussion für eine gesetzliche explizite Regelung zwei Gedankenstränge, die man jeweils gesondert betrachten muss:

  • ein COVID-spezifischer und
  • ein genereller zum Thema Eigenbeteiligung an Behandlungskosten in der gesetzlichen Krankenversicherung

Die Tyrannei der Ungeimpften

Der COVID-spezifische Gedankenstrang erscheint mir seltsam aus der Zeit gefallen und eher aus den Unzeiten von 2G+ Ende 2021/Anfang 2022 zu stammen. Vor allem stellt sich hier die Frage nach der Relevanz. Die COVID-Krankheitslast hat seit Anfang 2022 extrem stark abgenommen, in der Bevölkerung existiert eine breite Immunität durch Impfungen und durchgemachte Infektionen und auch bei nicht gegen COVID-19 Geimpften dürfte die Zahl der Immunnaiven mittlerweile durch Vorinfektionen extrem gering sein, was zum allgemein zu beobachtenden Phänomen führt, dass schwere COVID-Verläufe ziemlich selten geworden sind. Der tatsächliche monetäre Wert einer derartigen Regelung für die gesetzlichen Krankenkassen dürfte dementsprechend gering sein.

Dazu kommt, dass der Sachverhalt mittlerweile weniger eindeutig gesehen wird. Zumindest in vielen skandinavischen Ländern wird eine COVID-Impfung für gesunde unter 50-jährige ohne Risikofaktoren und für Kinder und Jugendliche gar nicht mehr empfohlen, in den USA hingegen für alle ab dem Babyalter.

Der unbedingte Wunsch (der in dem Beitrag ja recht unverhohlen formuliert wird) nicht Geimpfte an „ihren“ Behandlungskosten zu beteiligen hat viel von „zur Rechenschaft ziehen“ von Personen mit nonkonformen Verhalten, ist am Ende nur die Fortsetzung der Montgomery’schen „Tyrannei der Ungeimpften“. Manche Menschen brauchen aber offenbar einen Sündenbock. Und was für die einen dann eine kinderbluttrinkende (mehr oder weniger antisemitisch konnotierte) globale Elite ist, sind für die anderen halt „die Ungeimpften“ und für die Dritten reichen schon „die Ausländer, die uns Frauen und Arbeit wegnehmen“. Wer sowas für sich braucht, sei’s drum. Dann wäre es einfach ein sinnloser Artikel, der viel über die Kleingeistigkeit der Autorinnen aussagt, aber mehr auch nicht. Es gibt aber gute Gründe anzunehmen, dass das nicht so ist:

Der generelle Ansatz

Der Grund warum ich überhaupt hier was schreibe und ich den Blogbeitrag für diskussionswürdig halte, ist aber ein anderer: Ich denke, das ganze ist mehr oder weniger ein trojanisches Pferd für die Aufweichung des Solidarprinzips der gesetzlichen Krankenversicherung, bzw. ein „Testballon“, um zu schauen, wie weit man gehen kann und um eine (vermeintlich) eindeutige Stimmungslage (zumindest bei den gängigen dafür empfindsamen Politiker:innen, Parteien und Medien) auszunutzen. Fangen wir mal mit dem Fazit des Artikels an:

Die engen Anwendungsvoraussetzungen des § 52 I Alt. 1 SGB V stellen Hürden für eine Beteiligung nichtgeimpfter Versicherter an den Kosten ihrer Covid-19-Behandlung dar. Im Hinblick auf die zurückhaltende Anwendungspraxis der Krankenkassen ist kaum zu erwarten, dass Nichtgeimpfte auf der Grundlage dieser Vorschrift tatsächlich an ihren Behandlungskosten beteiligt werden.

Die aktuelle Gesetzeslage reicht also nicht für das Ansinnen der Autorinnen.

Die Einführung einer zumutbar und gleichheitskonform gestalteten neuen Vorschrift zur Beteiligung von Versicherten an den Kosten ihrer coronabedingten Krankenbehandlung bei Nichtimpfung gegen Covid-19 ist verfassungsrechtlich machbar. Sie würde sowohl dem Bedürfnis nach einer eigenverantwortlichen Impfentscheidung gerecht als auch schützte sie die Beitrags- und Steuerzahlergemeinschaft vor den teilweise beträchtlichen Ausgaben für die Behandlung von Covid-19-Krankheiten nichtgeimpfter Versicherter.

Der Grundsatz der Ei­gen­ver­ant­wor­tung ist ein elementarer Baustein des verfassungsrechtlichen Solidarprinzips, das es rechtfertigt, Versicherte bei eigenverantwortlicher Krankheitsverursachung an den Kosten ihrer Krankenbehandlung in angemessener Höhe zu beteiligen.

Insbesondere der letzte Satz erscheint mir dabei entscheidend. Und im Abschnitt 3. Neuer Verschuldensmaßstabim Kapitel III. Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) direkt darüber heißt es:

Eine Abkehr vom Merkmal des Vorsatzes in § 52 I SGB V hätte den Vorteil, dass eine Kostenbeteiligung bei gesundheitsgefährdendem Verhalten von Versicherten in der GKV einheitlich neu geregelt würde.

Prinzipiell fällt eine relativ schemenhafte und austauschbare Argumentation in den Begründungen für eine gesetzliche Regelung auf, mit denen man Ungeimpfte an Behandlungskosten beteiligen könnte. Die einzige Abgrenzung, die die Autorinnen gegenüber anderem „gesundheitsgefährdendem Verhalten von Versicherten“ machen findet sich im Kapitel III. Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) im Abschnitt 2. Kostenbeteiligung auch bei anderen Verhaltensweisen. Die Autorinnen schreiben auch eingangs:

Der Gesetzgeber muss zudem sorgfältig prüfen, ob und inwieweit sich eine Nichtimpfung gegen Covid-19 von anderen gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen, für die keine Kostenbeteiligungsregelung gilt, unterscheidet. Liegen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht vor, dass sie eine Differenzierung rechtfertigen, müsste eine Kostenbeteiligung auch für anderes gesundheitsschädliches Verhalten eingeführt werden.

Und weiter:

Relevant ist dies insbesondere für das Unterlassen medizinischer Behandlungs- und Vorsorgemaßnahmen, die das Risiko für die Entstehung von Krankheiten mit entsprechenden (hohen) Behandlungskosten nachweislich senken. In Sonderheit bei einer Nichtimpfung gegen andere Viren wäre daher zu erwägen, im Krankheitsfall ebenfalls eine Kostenbeteiligung vorzusehen. Im Bereich der Zahnbehandlung existiert beispielsweise bereits ein finanzielles (Bonus-)Anreizsystem. Die Krankenkasse zahlt Versicherten einen erhöhten Festzuschuss zum Zahnersatz, wenn sie ihre Zähne zahnärztlich untersuchen lassen (vgl. § 55 I 3, 4, 5 SGB V).

Hier wird schon mal eine Kostenbeteiligung auch bei anderen Viruserkrankungen gefordert. Die Abgrenzung von den „üblichen Verdächtigen“ Alkohol- und Nikotinkonsum, Übergewicht und Risikosportarten, die man auch noch sanktionieren könnte beschränkt sich auf folgende Sätze:

Gegenüber gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen aus dem Bereich der allgemeinen persönlichen Lebens­führung wie einer ungesunden Ernährungsweise, einer hohen UV-Exposition, Bewegungsmangel oder dem Konsum von Alkohol und Nikotin lassen sich dagegen deutliche Unterschiede ausmachen. Sie führen zu Erkrankungen in der Regel erst ab einer gewissen Dauer und Intensität des Verhaltens. Solche Verhaltensweisen pauschal durch Kostenbeteiligungen zu sanktionieren, erscheint daher nicht verhältnismäßig. Zudem sind eine ungesunde Lebensweise und die damit im Zusammenhang stehenden Krankheiten oftmals multifaktoriell bedingt. Sie können dem Einzelnen folglich weniger eindeutig als Folge „eigenverantwortlichen Verhaltens“ zugerechnet werden als die Konsequenzen einer punktuellen Entscheidung über die Inanspruchnahme einer bestimmten medizinischen Behandlung.

Verwirklicht sich ein durch Sport erhöhtes Krankheitsrisiko, lässt sich der Krankheitseintritt zwar objektiv-kausal auf den Sport zurückführen. Allerdings fördern selbst besonders risikoreiche Extremsportarten die allgemeine körperliche Fitness, sodass der gemeinschaftsschädliche Effekt durch eine insgesamt gesundheitsfördernde Wirkung kompensiert wird.

Problematisch erscheint mir, dass man all die Punkte der Autorinnen, mit denen sie für einen Ausnahmetatbestand Nichtimpfung gegen COVID-19 zuvor argumentiert haben, auch hier anbringen könnte. Eine Aufklärung / Ermahnung / Behandungsangebot hat stattgefunden, ab nun gilt die Selbstbeteiligung („Konsequenzen einer punktuellen Entscheidung über die Inanspruchnahme einer bestimmten medizinischen Behandlung“):

  • Sie haben eine COPD und Rauchen weiter? Dann müssen Sie die Behandlungskosten jetzt selber tragen. Schließlich haben wir Sie bei der Diagnosestellung der COPD auf die Entstehungsmechanismen und die zu Grunde liegenden länderbaren Lebensstilfaktoren aufmerksam gemacht.
  • Sie haben nach ihrem ersten Herzinfarkt nicht abgenommen? Gehen nicht mehr zum Kardiosport?
  • Sie haben die empfohlene Vorsorgeuntersuchung nicht wahrgenommen Ja, dann müssen Sie sich wohl an den Kosten Ihrer Brust-/Ovarial-/Dickdarm-/Prostatakrebsbehandlung selber beteiligen.
  • Sie trinken wieder Alkohol? Gehen nicht mehr regelmäßig zur Selbsthilfegruppe? Dann fällt unser Zuschuss zur nächsten Entgiftungsbehandlung leider geringer aus.
  • Sie haben Ihre regelmäßige Diabetesschulung nicht wahrgenommen? …

Und so weiter und so fort. Und das führt zum letzten Teil:

Ohne Medizinethik geht es nicht

Frei nach Friedrich Dürrenmatt und „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden“, die Umsetzung der Vorschläge der Autorinnen hätte nicht unerhebliche Konsequenzen:

Gehen wir einmal davon aus, dass ich falsch liege und doch eine relevante Anzahl an COVID-Erkrankten ihre Behandlung selbst zahlen, bzw. sich in relevantem Umfang beteiligen müssten: Wäre das wirklich eine „Impfmotivation“, wie von den Autorinnen angenommen oder führte das nicht dazu, dass sich nicht Geimpfte seltener oder später bei einer COVID-Infektion in ärztliche Behandlung begeben würden? Vor allem, wenn man die typischen Risikogruppen für einen fehlenden oder unvollständigen Impfschutz betrachtet: Menschen mit Migrationshintergrund, psychisch Kranke und generell Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status.

Für die nicht-COVID-Variante würde das umso mehr gelten. Am Ende ist der Vorschlag der Autorinnen in erster Linie ein Versuch, die zunehmenden Kosten des Gesundheitswesens auf Grund einer alternden, zunehmend multimorbiden Gesellschaft auf die jeweiligen „Schuldigen“ abzuwälzen, bzw. das Solidarprinzip nur noch anzuwenden, wenn man analog zum Zahnarzt-Bonus-Heft auch das erwünschte Verhalten nachweisen kann.

Es gibt einen guten Grund, warum in der gesetzlichen Krankenversicherung derartige Ansinnen bislang keine Chancen auf eine Realisation hatten. Man nennt ihn Solidarität.

Ich schütze mich: Einige Anmerkungen zur Pressekonferenz

Ich habe die heutige Pressekonferenz zum Beginn der „Ich schütze mich“-Kampagne erst mit Absicht nicht und dann doch komplett auf YouTube geschaut

und hier gibt es in den Aussagen von Karl Lauterbach sehr viele Dinge, die man so meines Erachtens nicht stehen lassen kann, so dass hier einige Anmerkungen kommen.

Vorweg

Den Auftritt von Margarete Stokowski möchte ich hier nicht kommentieren. Der wird in den sozialen Medien gerade v.a. von der Impfgegner-Szene missbraucht. Ich halte Margarete Stokowski generell nicht für eine gute „Markenbotschafterin“ für Post COVID vom CFS-Typ, weil sie mit ihren öffentlichen Statements vor allem in den sozialen Medien teilweise die Klischees von Post COVID und CFS arg strapaziert und meines Erachtens dadurch bei vielen Menschen Vorurteile eher bestärken als widerlegen wird, aber das kann man vermutlich auch anders sehen und führt auch vom Thema weg.

Hier soll es um die Aussagen von Karl Lauterbach gehen.

Risikoreduktion durch vierte Impfung und durch Einnahme von Paxlovid

02:45 min: Karl Lauterbach fasst hier die Wirksamkeit einer vierten COVID-Impfung und der Einnahme von Paxlovid bei symptomatischer Infektion wie folgt zusammen:

  • Sterberisikoreduktion durch vierte Impfung gegenüber „nur drei“ Impfungen von 90%
  • weitere Sterberisikoreduktion durch Einnahme von Paxlovid bei schwerer Infektion von 80-90%

Er endet mit dem potentiellen Fettnäpfchen-Satz

… dann bleibt nur noch ein ganz kleines Restrisiko über, bei welcher anderen Erkrankung haben wir das?

Die Antwort darauf lautet: Bei anderen Infektionserkrankungen haben wir das auch, vor allem bei welchen, die auch schwer verlaufen können, bei Zoster-Infektionen zum Beispiel oder bei Hepatitis B.

Karl Lauterbach benutzt konkrete Prozentangaben. Das machen andere Politiker in derartigen Settings nicht sondern verwenden allgemeinere Aussagen wie „sehr wirksam“ oder „sehr effektiv„, welche im Zweifelsfall weniger gut widerlegbar sind. Mir kamen diese Prozentangaben arg hoch vor und haben meine Skepsis geweckt. Ich musste allerdings recht lange suchen bis ich Studien gefunden habe, die in etwa das widerspiegeln, was Karl Lauterbach in der Pressekonferenz vorgestellt hat (und eine habe ich nicht gefunden, auf diese wurde ich hingewiesen). Beim Thema Paxlovid kommt noch ein weiterer Punkt hinzu, doch dazu weiter unten mehr.

Alle von Karl Lauterbach verwendeten Prozentangaben sind relative Risikoreduktionen. Das nur diese angegeben werden kommt in Studien durchaus so vor, wird aber immer wieder kritisiert (Link), weil die alleinige Darstellung relativer Risiken keinen guten Überblick über die Effektstärke einer Maßnahme / eines Medikamentes geben. Gewöhnlich wird gefordert, dass zusätzlich die absoluten Risiken (Link) oder – oft besser greifbar – eine number needed to treat (NNT) (wieviele Menschen muss ich behandeln, damit einer einen Effekt durch die Behandlung hat) oder bei Impfstoffen die number needed to vaccinate (NNV) angegeben werden.

Die 90% Sterberisikoreduktion durch eine vierte Impfung stammt vermutlich aus den regelmäßig veröffentlichten israelischen Surveillance Daten, hier zum Beispiel zur vierten Impfung (allerdings mit dem Wildtyp-Impfstoff): Link. Allerdings betrug die relative Risikoreduktion in dieser Studie 78% und damit eher knapp 80% statt 90%. Die israelischen Daten sind im Rahmen einer retrospektiven Kohortenstudie erhoben worden, nicht in einer prospektiven kontrollierten klinischen Studie. Eine gewisse mögliche Verzerrung hierdurch sollte nicht außer acht gelassen werden. Wie immer wenn nur relative Risiken kommuniziert werden lohnt ein Blick auf die absoluten Risiken: In der israelischen Studie sind 92 der insgesamt 328.597 vier mal geimpfte Probanden innerhalb der 40-tägigen Beobachtung an COVID verstorben. Das sind 0,028%. Und es sind 232 der insgesamt 234.868 drei mal geimpften Probanden an COVID innerhalb von 40 Tagen verstorben, was 0,099% ausmacht. Die absolute Risikoreduktion beträgt also 0,071%. Bei Betrachtungen ganzer Populationen (nicht nur der Älteren) sind die Ergebnisse naturgemäß weniger eindrücklich, da bei jüngeren Menschen die Erkrankungsrisiken generell niedriger sind. Für die israelitische Kohorte kann man das zum Beispiel hier mal vergleichen: Link. Nur der Vollständigkeit halber: Andere Studien aus anderen Ländern kommen auf niedrigere Risikoreduktionen, zum Beispiel diese hier aus Schweden (ebenfalls eine retrospektive Kohortenstudie, Link), wo die relative Risikoreduktion bei hochaltrigen Probanden beim Sterberisiko maximal 71% betrug. Auch hier sind die absoluten Risiken relativ klein: 0,017% gegen 0,045%.

Aber – und das muss man sich vor Augen halten – wir reden hier nicht über seltene Erkrankungen, sondern über eine Infektionskrankheit, an der ein Großteil der Bevölkerung erkranken wird, viele auch mehrfach und da sind absolute Risikoreduktionen im Promillebereich dann doch auf Grund der großen Grundgesamtheit auf einmal bedeutsam. Was man sich aber auch vor Augen halten muss ist, dass das alles Daten zu den „alten“ Impfstoffen sind. Zu den neuen, bivalenten Omikron-Impfstoffen gibt es diese Daten schlicht nicht. Zur rationalen Betrachtung einer vierten COVID-Impfung hilft übrigens auch die wissenschaftliche Begründung der STIKO weiter (Link) und auch die zur Impfempfehlung mit den angepassten Impfstoffen (Link).

Beim Paxlovid wird es kompliziert. Karl Lauterbach sagt:

Sollte er trotzdem schwer erkranken, kann er durch die Paxlovid Gabe das Risiko erneut um 80-90 Prozent senken.

Nirmatrelvir/Ritonavir (das sind die beiden Wirkstoffe) wird bei Risikopatienten zur Verhinderung schwerer COVID-Verläufe möglichst rasch nach bestätigter Infektion eingesetzt (Link), wobei die Definition, wer zur Gruppe mit Paxlovid-Indikation gehört derzeit zunehmend weiter gefasst wird. Das Medikament muss vor einer etwaigen Sauerstoffpflichtigkeit eingenommen werden, denn diese soll es ja verhindern. Die Aussage von Karl Lauterbach stimmt so also nicht, Paxlovid hilft nicht, wenn schon ein schwerer Verlauf eingetreten ist. Vermutlich ist das auch so gar nicht gemeint gewesen, sondern eher im Sinne „mit zusätzlicher Paxlovid-Einnahme lassen sich schwere Verläufe bei Menschen mit COVID-Infektion über 60 Jahren in 80-90% der Fälle verhindern“. Das ist das, was ich dazu ergänzen kann:

Diese (Link) doppelblinde, kontrollierte prospektive Therapiestudie mit Paxlovid bei ungeimpften Risikopatienten hatte eine relative Risikoreduktionen für den kombinierten Endpunkt Hospitalisation oder Tod von knapp 90% gezeigt, das absolute Risiko sank zwischen 5 und 6% (je nach Beobachtungszeitpunkt), entsprechend einer NNT von 17 bis 20. Das ist aber nicht der von Karl Lauterbach skizzierte Einsatzort bei drei- oder vierfach geimpften Menschen im höheren Lebensalter. Auch hierzu gibt es Studien – allerdings retrospektive Kohortenstudien – zum Beispiel diese hier (Link) oder diese (Link). In der ersten Studie wurden zwar Patienten > 18 Jahre eingeschlossen, das mittlere Patientenalter lag mit 57,5 Jahren aber nah an den > 60 Jahren aus der Pressekonferenz. ´Für den kombinierten Endpunkt Aufsuchen einer Notaufnahme/stationäre Behandlung/Tod durch COVID konnte eine relative Risikoreduktion von 45% gezeigt werden und eine absolute Risikoreduktion von 6,53% (NNT 15). Das ist deutlich weniger als von Karl Lauterbach in der Pressekonferenz dargestellt. In der zweiten ebenfalls retrospektiven Kohortenstudie, die Patienten ab 40 Jahren einschloss lag das mittlere Patientenalter bei 60 Jahren. Diese Studie untersuchte zwei Subgruppen, einmal unter 65 Jahren und einmal ab 65 Jahren. Während für die jüngeren Patienten kein signifikanter Paxlovid-Effekt gezeigt werden konnte, betrug die relative Risikoreduktion für Hospitalisation 68% und für Tod durch COVID 79%. Aber: Die absoluten Risiken waren klein und die absolute Risikoreduktion ebenfalls. So verstarben 0,08% der mit Paxlovid behandelten Patienten und 0,39% der nicht behandelten, entsprechend einer absoluten Risikoreduktion von 0,31% oder einer NNT von 322. 0,73% der mit Paxlovid behandelten über-65-jährigen Patienten mussten stationär aufgenommen werden und 2,51% der unbehandelten Patienten. Daraus resultiert eine absolute Risikoreduktion von 1,78% oder eine NNT von 56 im Beobachtungszeitraum von 35 Tagen.

Ist das jetzt viel oder wenig? Die NNT von ASS zur Sekundärprophylaxe nach Herzinfarkt oder Schlaganfall liegt zum Beispiel zwischen 77 und 200 und für Tod bei 300 bei einem Beobachtungszeitraum von 2 Jahren (Link), die eines ACE-Hemmers bzw. eines Sartans bei der Behandlung der Herzinsuffizienz in einem Zeitraum von 5 Jahren bei ca. 14. Je länger der Beobachtungszeitraum wird, desto niedriger wird die NNT. Angesichts des kurzen Beobachtungszeitraums bei Paxlovid in den jeweiligen Studien und der hierfür respektablen NNT sollte bei höheraltrigen Patienten mit COVID-Infektion der Paxlovid-Einsatz meines Erachtens unbedingt erwogen werden.

Mit oder an COVID gestorben

04:50 min: Hier geht es um die Frage wer denn noch an COVID stirbt und dass die Antwort, dass es vor allem hochaltrige Menschen sind von vielen mit

das ist dann sowieso ein Alter, was will man denn da noch verlangen

beantwortet würde, was Karl Lauterbach moralisch nicht in Ordnung findet. Ist es auch nicht, wenn man es derart verkürzt.

So haben wir zu Beginn der Pandemie nicht gesprochen und auch nicht gedacht

Zynisch wäre die Antwort: Wir schon, Karl Lauterbach und große Teile der medialen Öffentlichkeit aber nicht. Wenn man sich allerdings die Mühe macht, das ein wenig differenzierter zu betrachten und weg von so Twitter-Phrasen wie „Menschen sterben halt“ zu kommen, so muss man sich noch einmal folgende Punkte vors Auge führen:

In Deutschland wird vor allem im Krankenhaus gestorben, fast die Hälfte aller Menschen stirbt dort. In den Monaten vor ihrem Tod sind 75% aller Menschen, die in einem Pflegeheim leben in stationärer Behandlung, gut 50% im letzten Lebensmonat (siehe auch hier, wo ich mal etwas zu medizinischer Versorgung am Lebensende aufgeschrieben habe). Und wir haben ein Problem mit Überversorgung (siehe auch dieser Blogbeitrag hier). Relativ häufig sind die Beschwerden der Patienten in der letzten Lebensphase unspezifisch, irgendetwas ist schlechter, die Sprache undeutlicher, die Patienten müder, sie wirken „wesensverändert“. Oft setzt dann eine wenig zielführende „Abarbeitung“ des Falls anhand einer mehr oder weniger stichhaltigen Verdachtsdiagnose ein, oft nach dem Algorithmus wenn es laborchemisch einen Infekt gibt, dann liegt es wohl daran, dann „ist der Patient internistisch“, wenn nicht, dann kann es ja ein kleiner Schlaganfall sein oder eine Verschlechterung der Demenz, dann „wird der Patient neurologisch“ usw. Bei derartigen Aufenthalten kommt oft wenig zielführendes heraus und am allerwenigsten etwas, was den Patienten in ihrem letzten Lebensabschnitt hilft. Wenn es ein Infekt ist, der hinter der Allgemeinzustands-Verschlechterung steckt, dann ist es durchaus auch COVID. Das führt direkt zum nächsten Punkt:

05:40 min: Die Unterscheidung, ob ein Patient mit oder wegen COVID ins Krankenhaus kommt ist oft schwierig und manchmal auch schlicht nicht möglich. Das in der Pressekonferenz verwendete Beispiel ist aber wirr, zum Teil unverständlich (geht es jetzt um eine Herzinsuffizienz mit einer COIVD-Pneumonie oder um eine Stauungspneumonie oder weiß man es am Ende schlicht nicht und das Herz ist schlecht und nun ist auch eine Pneumonie da?).

Wir wissen, dass er noch gelebt hätte, wir haben ihn deshalb behandelt

Ja, Tote behandeln wir nicht. Ansonsten kann dies genau eine Zustandsbeschreibung eines der gerade skizzierten Patienten sein: Multimorbide, alt, herzkrank und jetzt auch noch COVID. Ja, Patienten mit einer derartigen Multimorbidität versterben häufig, aber sie versterben auch ohne COVID und auch an anderen Infektionskrankheiten und oft auch an der Herzerkrankung. Die Schlussfolgerung von Karl Lauterbach, dass das eigentlich ein COVID-Toter sei ist meines Erachtens spekulativ. Und die Frage, die man eigentlich beantworten müsste wäre: Wie ist die Prognose des Patienten mit der Herzinsuffizienz? Und die Antwort wäre vermutlich: Auch ohne COVID-Infektion sehr schlecht, in der Kombination aus Multimorbidität und Herzinsuffizienz sind wenige Monate mediane Überlebenszeit eine realistische Einschätzung.

Das ist aber falsch, so denkt der Laie.

34:50 min: Ab hier wird es noch mal schwieriger. Erstens platziert Karl Lauterbach hier – wenn man es so verstehen will – ein Plädoyer zur Überversorgung (ECMO, Beatmung für hochaltrige Menschen mit schlechtem Outcome), zweitens sind die schweren COVID-Pneumonien unter Omikron und mit höherer Grundimmunität viel viel seltener geworden, die von Karl Lauterbach zitierte „weiße Lunge“ sieht man kaum noch. Drittens wenn wir nicht wissen, ob eine COVID-Infektion zum Tod beigetragen hat, dann wissen wir es nicht. Im Konjunktiv zu reden, „der Patient könnte aber an COVID gestorben sein“ und diesen Tod unbedingt als COVID-Toten zu zählen ist nach meinem Verständnis nicht sonderlich seriös. Vor allem bei Fällen wo es genauso gut anders sein könnte. Genauso wenig seriös ist es, alle Fälle von Menschen, die im ersten Jahr nach COVID einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten haben als COVID-Folgeerkrankungen zählen zu wollen. Wir wissen, dass das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen in dieser Studie (Link) aus den USA im ersten Jahr nach COVID durchaus erheblich erhöht war. Aber wenn dann ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall auftritt, ist das ist eben kein zwingend monokausaler Zusammenhang mit der COVID-Infektion, sondern diese hat eine Erhöhung des Erkrankungsrisikos verursacht. Man kann es auch so zusammenfassen:

01:01:00 min: Der Vergleich einer Tumorbehandlung, die man nicht durchführt mit einer früheren statt späteren COVID-Infektion hinkt so stark, dass man glaube ich nicht viel dazu sagen muss. Aber: Hier schwingen einige problematische Aussagen mit: Wieder das Thema Überversorgung: Dinge, die eine Wirksamkeit nach 5 Jahren oder später entwickeln und daher eine entsprechende Überlebenszeit voraussetzen muss und sollte ich bei Patienten, die diese Prognose nicht haben auch nicht verordnen. Mein liebstes Beispiel aus der Neurologie ist hierzu das Ansetzen eines Statins und die Kontrolle der kardiovaskulären Risikofaktoren bei hochaltrigen, multimorbiden Patienten nach Schlaganfall. Diese Maßnahmen haben aller Voraussicht bei der Patientenpopulation keinen Effekt und sollten daher kritisch hinterfragt werden.

Schutz vor symptomatischer Infektion durch COVID-Impfung

25:15 min: Hier berichtet Karl Lauterbach, dass zum Einen dass das Long COVID-Risiko durch eine Impfung gesenkt wird, zum Anderen COVID-Impfungen auch vor einer symptomatischen Infektion, die dann zu Long oder Post COVID führen schützen und dass zu erwarten ist, dass dies mit den neuen bivalenten Impfstoffen besonders gut gelinge. Diese Aussage ist auf mehreren Ebenen problematisch:

  1. Wissen wir von den bisherigen Impfstoffen, dass der Schutz vor Infektion sehr schnell nachlässt oder – bei Omikron – nie sehr gut oder auch nur gut war (siehe auch hier: Link)
  2. Zu den neuen bivalenten Impfstoffen liegen noch keine entsprechenden Daten vor (siehe wissenschaftliche Begründung der STIKO zur Impfempfehlung der zweiten Auffrischimpfing mit den angepassten Impfstoffen Link)

Das schönste zum Schluss

In der Summe war das nach meinem Dafürhalten über weite Strecken eine vor allem schwer zu ertragende Veranstaltung, beim Paxlovid sicherlich inhaltlich nicht präzise und dann vor allem beim Thema Hospitalisierung und Tod wegen oder mit COVID problematisch, weit weg vom klinischen Alltag und mit der „der Laie sagt“-Attitüde von jemandem, der so merkbar keine klinische Erfahrung hat oft skurril bis haarsträubend. Und damit:


Hinweis:

Den Abschnitt Risikoreduktion durch vierte Impfung und durch Einnahme von Paxlovid habe ich nach den Hinweisen und der Kritik in diesem Twitter-Thread und den zahlreichen Drukos überarbeitet:

Zwischenruf: AHA+L auch bei Nicht-COVID-Erkrankungen?

Ein paar Ergänzungen zu dem Thread bei Twitter von Elvira Rosert (den ich leider nur als Screenshot lesen kann, was sehr nervig ist, wie dieses ganze Geblocke generell):

und dem von Franziska Briest, welcher meines Erachtens diverse wichtige Punkte aufgreift:

Vorab:

Man verzeihe mir den Wechsel auf das Blog-Format, aber ich finde lange Twitter-Threads durchaus anstrengend zu lesen (und zu schreiben) und kommentieren kann man ja trotzdem hier oder bei Twitter. Und ich kann auch weiterhin nur hobby-virologische, infektiologische und epidemiologische Expertise vorweisen, bemühe mich aber nach bestem Wissen und Gewissen. Wenn also etwas inhaltlich falsch ist, kommentiert und korrigiert es gerne. Und noch ein letzter Vorab-Part: Ich sehe es – und das ist kein Geheimnis – genau anders herum als Elvira Rosert, wenn sie schreibt:

Für den zukünftigen Umgang mit respiratorischen Erkrankungen gibt es 2 grobe Optionen:

1) Wir behandeln Covid mehr wie andere Nicht-Covid-Erkrankungen.

2) Wir behandeln andere Nicht-Covid-Erkrankungen mehr wie Covid

Die Tendenz geht zu ersterem. Sinnvoll wäre: zweiteres.

Aber darum soll es in diesem Beitrag gar nicht gehen, dies nur noch mal um Fundamental-Kritik so gut es geht im Vorhinein zu verhindern.

Wir müssen was ändern

Genau wie Elvira Rosert und Franziska Briest möchte ich betonen: Wir müssen Lehren aus der Pandemie ziehen, einfach ein „weiter so wie früher“ ist unter infektiologischen und epidemiologischen Gesichtspunkten sicher nicht sinnvoll. Die Frage ist nur: Welche Lehren ziehen wir und was ändern wir (zuerst)?

Nicht-Covid-Erkrankungen mehr wie Covid behandeln

Dies ist der Kernpunkt des Threads von Elvira Rosert und hierauf möchte ich meine Gegenargumentation fokussieren. Frau Rosert schlägt im Grunde AHA+L + Test Trace Isolate auch für andere respiratorische Viren vor. Und gerade das könnte problematisch sein.

Wiederholte Antigen-Expositionen machen weniger krank

Es ist – nach meinem Verständnis – nicht unplausibel, dass wir aktuell zunehmend „Nebenwirkungen“ der Abstands- und Hygieneregeln sehen. Sei es die schwere RSV-Welle im letzten Herbst,

sei es das Thema Influenza und die Immunitätslücken die sich auftuen und die Schwierigkeiten der Abschätzung der dominanten Viruslinien bei der Impfstoffproduktion, wie es Lars Fischer in seinem wirklich sehr lesenswerten Artikel über die Veränderungen bei der Influenza aufgeschrieben hat,

oder die unklaren Hepatitiden in verschiedenen europäischen Ländern, wenn es sich um Adenoviren handeln sollte (wenn es hingegen SARS-CoV-2 ist, wäre es ein extrem gutes Argument für die Impfung von Kindern und Jungendlichen). Dieses Paper gibt zum aktuellen Wissensstand der Hepatitiden übrigens einen guten Überblick.

Bevor man nach „mehr“ ruft, wäre es nach meinem Verständnis angesichts dieser Beobachtungen erst an der Zeit, die bisherigen Maßnahmen kritisch zu reevaluieren und zu hinterfragen, ob hier nicht doch mehr „Nebenwirkungen“ und „Langzeitfolgen“ schlummern und hervorgerufen wurden, als man zunächst annehmen konnte.

Frühe Antigen-Expositionen machen weniger krank

Nachdem es in den letzten zwei Jahren ja durchaus auch lautere Stimmen gab, die in Frage gestellt haben, ob es zwingend Antigenkontakte im frühen Kindesalter für eine Ausbildung und Reifung des Immunsystems braucht, geht die Mehrheitsmeinung (in meiner Wahrnehmung) zuletzt wieder in Richtung „Ursprungsmeinung“, dass dies eben notwendig sei. Franziska Briest weist in ihrem Thread zu Recht auf die Themen Hygienehypothese und Mikrobiom hin:

und Marco Binder in diesem tollen Thread darauf, dass es Erstkontakte im Erwachsenenalter (oder späten Jugendalter) sind, die eher schwere Krankheitssymptome verursachen:

Als weitere Illustrationen hierzu erinnern sich die älteren unter euch ggfs. noch an die ersten schweren Norovirus-Wellen in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen und wissen wir seit kurzem, dass insbesondere die EBV-Infektion im Jugendalter (wenn es zur infektiösen Mononukleose kommt) es ist, die mit einem hohen (1:240) Multiple Sklerose-Erkrankungsrisiko einhergeht.

Public Health stärken

Die Vorschläge von zur Erreger-Surveillance hingegen möchte ich unbedingt unterstützen. Dass wir während der ganzen Pandemie (aber auch bei Influenza und Co) auf skandinavische oder britische epidemiologische Daten angewiesen sind kann so nicht bleiben. Auch sehe ich das Thema Hygienepläne und Schutzmaßnahmen, um Ausbruchsgeschehen in Pflegeheimen und Krankenhäusern (die ja nichts neues sind, nur ging es prä-Corona hier in der Regel um Noro- und Rotaviren oder Influenza) als bedeutend an. Auch Nicht-COVID-Ausbrüche gehen in der Regel in diesen Einrichtungen mit einer hohen Krankheitslast bei Patienten/Bewohnern (und Personal) einher, auch Todesfälle sind auf Grund der Multimorbidität der betroffenen Patienten und Bewohner oft die Regel und nicht die Ausnahme.

Genau wie Franziska Briest bekomme ich bei dem Satz „Allgemein geht es um einen Perspektivenwechsel von der individualmedizinischen Betrachtung hin zu einer epidemiologischen / Public-Health-Betrachtung“ aber Bauchschmerzen. Nicht ohne Grund sprechen wir in Deutschland geflissentlich von Public Health und nicht (mehr) von „Volksgesundheit“ und nicht ohne Grund stellen wir immer die individualmedizinische Perspektive in den Vordergrund. Und modernes Public Health versteht sich so auch, eben nicht als Hüter einer „Volksgesundheit“ sondern als Querschnittsfach, in dem es um die Senkung von Krankheitslast in der Bevölkerung durch epidemiologisches Monitoring und in erster Linie Präventionsmaßnahmen geht.

Nur meckern geht auch nicht: Eigene Vorschläge

Die Vorschläge und Gedanken anderer Leute nur kleinzureden ist schlechter Stil. Also möchte ich zwei Vorschläge anbringen, welche Lehren ich aus der Pandemie ziehen würde:

  • Wer krank ist bleibt zu Hause. Das klingt extrem einfach, ist aber extrem schwer umzusetzen. Hierfür bedarf es einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel, selbst aktuell in der auslaufenden Pandemie klappt dies im wahren Leben in meiner Wahrnehmung immer noch nicht. Hier anzusetzen mit viel Aufklärung, mit der Schaffung von Akzeptanz für „ich komm heute nicht“, für „Kind krank“, mit einheitlichen Regeln, wie viel Schnupfnase in Kita und Schule okay und wo die Grenze zu ziehen ist, ist vermutlich eine Mammutaufgabe, aber meines Erachtens extrem wichtig.
  • Impfstoffentwicklung, die Fokussierung bei bestimmten, mittlerweile gut charakterisierten Infektionskrankheiten eine Grundimmunität mittels Impfstoffen zu schaffen, könnte die Krankheitslast der Gesellschaft deutlich senken. Nach meinem Verständnis müssten das Impfstoffe gegen RSV und (aus Sicht des Neurologen) EBV mit der entsprechenden Finanzierung und dem politischen und wissenschaftlichen Anschub für schnelle Resultate sein. Damit würde man einen der Hauptgründe für Hospitalisationen im Kleinkindesalter bekämpfen und könnte die häufigste im jungen Erwachsenenalter zur Behinderung führende Autoimmunerkrankung (nämlich die Multiple Sklerose) ggfs. einfach „abschaffen“.

Zwischenruf: Warum ich keine Angst vor Long Covid habe

Ich lese (vor allem bei Twitter) immer wieder als Begründung für den Wunsch nach Beibehaltung der Corona-Maßnahmen (die ja eigentlich nicht-pharmazeutische Interventionen (NPI) heißen), dass man Angst oder Sorge vor Long Covid auch als geimpfter Mensch habe. Und ich frage mich dann (auch immer wieder), ob das eigentlich eine rationale Angst oder Sorge ist.

Disclaimer: Ich kenne eine geimpfte Person, die sich mit Omikron infiziert hat und nun Beschwerden hat, die ich unter Long Covid subsumieren würde. Von daher, abwegig ist der Gedanke Long Covid zu bekommen nicht.

Disclaimer 2: Ich hantiere hier mit absoluten Risiken, nicht mit relativen.

Ich hatte mir schon vor einiger Zeit überlegt, dass das sinnvollste für mich persönlich wäre, das Erkrankungsrisiko mit den Erkrankungen zu vergleichen, mit denen ich es tagtäglich zu tun habe und bei denen ich sicher bin, dass ich sie nicht haben will, weil sie einen relevanten Impact auf mein tägliches Leben hätten.

Hier ist also meine Recherche, wenn ihr sie lesen wollt nur zu, sonst lest lieber zum Beispiel diesen Beitrag über das Demenz-Risiko von Fußballprofis Link.

Das Long Covid-Risiko

Das Schwierigste war es, sich auf ein Long Covid-Erkrankungsrisiko festzulegen, da hier – bekanntermaßen – ja sehr heterogene Häufigkeitsangaben auftauchen. Auch ist Long Covid nicht gleich Long Covid (hier gibt es eine was die Studien betrifft leicht veraltete, aber in den Grundzügen immer noch aktuelle Beitragsserie dazu (Link)) und ein großer Teil der Betroffenen hat für einen gewissen Zeitraum nach der Infektion noch Beschwerden und ein deutlich kleinerer sehr viel länger bis dauerhaft. Auch weiß ich aus eigener Erfahrung, dass ich nach meiner COVID-Infektion Ende 2020 mehr als vier Wochen nicht richtig riechen und schmecken konnte (was formal Long Covid-Kriterien erfüllt hätte) und noch ewig einen fiesen Reizhusten hatte (den ich aber nach jedem Infekt ewig lang habe und irgendwann mit Cortison-Spray beende).

Was einem zudem auch niemand bislang verlässlich sagen kann ist, wie es sich mit dem Long Covid-Risiko nach den zu erwartenden Reinfektion 2-x verhält, einfach weil es recht wenig Reinfektionen gibt, mit denen man das untersuchen kann. Es gibt aber ein paar Hinweise, die man verwenden kann: Das Long Covid-Risiko scheint stark von der Krankheitsschwere abzuhängen, je schwerer der Verlauf war, umso wahrscheinlicher sind länger anhaltende Beschwerden. Und Reinfektionen verlaufen bei den meisten Betroffenen, gerade wenn sie geimpft sind, deutlich leichter als Primärinfektionen bei Ungeimpften. Prinzipiell kennen wir mittlerweile neben der initialen Krankheitsschwere auch weitere Hauptrisikofaktoren für Long Covid: Weibliches Geschlecht, komorbide psychiatrische Erkrankungen, erhöhter ANA-Titer als Ausdruck eines autoimmunologischen Geschehens, hoher BMI/Diabetes mellitus, EBV/CMV-Reaktivierung (z.B.: Su Y, Yuan D, Chen DG, et al. Multiple early factors anticipate post-acute COVID-19 sequelae. Cell. 2022;185(5):881-895.e20. doi:10.1016/j.cell.2022.01.014 oder Crook, H., Raza, S., Nowell, J., Young, M., & Edison, P. (2021). Long covid—mechanisms, risk factors, and management. iBMJ, n1648. https://doi.org/10.1136/bmj.n1648).

Nach vielem hin-und-her-Überlegen hab ich mich für dieses israelische Preprint entschieden, einfach weil es relativ aktuell ist, weil es relativ „großzügig“ mit der Long Covid-Diagnose umgeht und dementsprechend hohe Prävalenzen bietet (und so ein worst-case-Szenario darstellen könnte) und weil es geimpfte und ungeimpfte Probanden mit COVID-19 mit einer Kontrollgruppe ohne COVID-19 vergleicht:

Kuodi P, Gorelik Y, Zayyad H, et al. Association between Vaccination Status and Reported Incidence of Post-Acute COVID-19 Symptoms in Israel: A Cross-Sectional Study of Patients Tested between March 2020 and November 2021. Epidemiology; 2022. doi:10.1101/2022.01.05.22268800

Von den COVID-Infizierten ohne Impfung gaben 35% in der Studie anhaltende Beschwerden nach der Infektion an. Am häufigsten wurde eine anhaltende Müdigkeit, also Fatigue angegeben (26%), diese wurde aber auch von 18% der Nicht-Infizierten berichtet. 22% der Infizierten und 16% der Nicht-Infizierten berichteten von Kopfschmerzen, 16% (8% Kontrollgruppe) von einem Schwächegefühl der Beine, 11% (4%) von Muskelschmerzen, 12% (6%) von Konzentrationsstörungen, 13% (4%) von Haarausfall, 10% (8%) von Schlafstörungen, 8% (6%) von Husten und 8% (3%) von Kurzatmigkeit.

Das bedeutet, dass das absolute Risiko Long Covid-Beschwerden im Vergleich zu einer nicht-infizierten Kontrollgruppe zu entwickeln, ungefähr 9% mehr nach Infektion auftraten, als in der Normalbevölkerung eh vorhanden. Bei vollständig Geimpften mit einer COVID-Infektion (im Studienzeitraum waren das noch zwei Impfungen) waren die Symptome zwischen 54% und 82% seltener (CAVE, das ist jetzt ein relatives Risiko) als bei Ungeimpften und – merkwürdigerweise – bei allen Symptomen bis auf Muskelschmerzen, anhaltendem Husten und Kurzatmigkeit sogar seltener als bei Nicht-Infizierten.

aus: Kuodi P, Gorelik Y, Zayyad H, et al. Association between Vaccination Status and Reported Incidence of Post-Acute COVID-19 Symptoms in Israel: A Cross-Sectional Study of Patients Tested between March 2020 and November 2021. Epidemiology; 2022. doi:10.1101/2022.01.05.22268800, direkter Link zur Quelle.

Über den Daumen gepeilt muss ich also als geimpfter, übergewichtiger Mann mittleren Alters mit einem Long Covid-Risiko von so 5% nach einer COVID-Infektion rechnen.

Die Vergleichs-Erkrankungen

Wie ich oben schon geschrieben habe, habe ich mal die neurologischen Erkrankungen mit denen ich es am häufigsten zu tun habe herausgesucht, die einen relevanten Impact auf mein tägliches Leben hätten. Ich habe zusätzlich noch den Diabetes mellitus hinzugenommen, da ich als kleiner Dicker da sicherlich ein relevantes Risiko für habe und weil ein Diabetes im Vergleich z.B. zu Bluthochdruck deutlich mehr Lebensstilveränderungen erfordert.

Ich habe hier – wenn es ging – nach den Lebenszeitprävalenzen gesucht, also dem Risiko irgendwann im Leben diese Erkrankung zu bekommen. Der Vergleich mit Long Covid haut dann nicht hin, wenn man jetzt mehrfach im Leben Long Covid bekommen sollte. Aber ob das überhaupt ein realistisches Szenario ist, weiß wirklich niemand (siehe oben).

Schlaganfall

Die Lebenszeitprävalenz einen Schlaganfall zu erleiden, liegt ungefähr bei 25%:

The GBD 2016 Lifetime Risk of Stroke Collaborators. Global, Regional, and Country-Specific Lifetime Risks of Stroke, 1990 and 2016. N Engl J Med. 2018;379(25):2429-2437. doi:10.1056/NEJMoa1804492

Diabetes mellitus

Das Risiko an einem Diabetes mellitus zu erkranken hängt extrem von den Lebensumständen, dem Körpergewicht, Geschlecht, Alter und der ethnischen Zugehörigkeit ab, liegt aber zwischen 20% und 40% Lebenszeitprävalenz.

Narayan KMV. Lifetime Risk for Diabetes Mellitus in the United States. JAMA. 2003;290(14):1884. doi:10.1001/jama.290.14.1884

Epilepsie

Die Lebenszeitprävalenz für eine Epilepsie liegt nach einer aktuellen Studie bei 7,6/1.000 Personen:

Fiest KM, Sauro KM, Wiebe S, Patten SB. Prevalence and incidence of epilepsy. Published online 2016:8.

Hirntumore

4-5/1.000 beträgt das Lebenszeit-Erkrankungsrisiko für einen bösartigen hirneigenen Tumor, also ein Gliom oder ein Astrozytom. Für Krebserkrankungen ganz allgemein gibt es Daten zur 10-Jahres-Prävalenz (also, wie viele Menschen innerhalb von 10 Jahren an einem bösartigen Tumor erkranken). Diese liegt bei Männern bei 0,1% und bei Frauen bei 0,04% (Link), insgesamt leben in Deutschland 1,9% der Bevölkerung mit einer Krebsdiagnose (Link).

Rice T, Lachance DH, Molinaro AM, et al. Understanding inherited genetic risk of adult glioma – a review. Neuro-Oncology Practice. 2016;3(1):10-16. doi:10.1093/nop/npv026

Multiple Sklerose

Bei der MS wissen wir ja seit kurzem, dass eine durchgemachte EBV-Infektion kausal mit der Erkrankung zusammenhängt und nach EBV das MS-Erkrankungsrisiko bei ca. 1:900 liegt und nach durchgemachter infektiöser Mononukleose (also dem Pfeiffer’schen Drüsenfieber) bei 1:240. Da die Durchseuchung bei EBV bei 95% liegt, korreliert es mit der Prävalenzangabe aus anderen Studien von 0,1% Lebenszeitrisiko. Das ist natürlich deutlich seltener als Long Covid, ist (für mich) aber der Prototyp für eine lebenslang vorhandene, nicht kausal heilbare Erkrankung.

Bjornevik K, Cortese M, Healy BC, et al. Longitudinal analysis reveals high prevalence of Epstein-Barr virus associated with multiple sclerosis. Science. Published online January 21, 2022:1-10. doi:10.1126/science.abj8222

Wallin MT, Culpepper WJ, Nichols E, et al. Global, regional, and national burden of multiple sclerosis 1990–2016: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2016. The Lancet Neurology. 2019;18(3):269-285. doi:10.1016/S1474-4422(18)30443-5

Neurodegenerative Erkrankungen

Diese laufen für mich ein wenig außer Konkurrenz, da sie ja vor allem im höheren Lebensalter auftreten. Dennoch liegt die Lebenszeitprävalenz für eine Alzheimer-Erkrankung bei US-Bürgern zwischen 11,6% und 21,1% (Link) oder bei älteren Daten aus der Framingham Heart Study ab einem Lebensalter von 65 Jahren zwischen 25,5 % bis 28,1% Rest-Lebenszeitprävalenz.

Seshadri S, Wolf PA, Beiser A, et al. Lifetime risk of dementia and Alzheimer’s disease: The impact of mortality on risk estimates in the Framingham Study. Neurology. 1997;49(6):1498-1504. doi:10.1212/WNL.49.6.1498

Das idiopathische Parkinson-Syndrom ist seltener, hier liegt die Lebenszeitprävalenz zwischen 3,7% bei Frauen und 4,4% bei Männern, zumindest nach den Daten dieser auch schon 20 Jahre alten Studie:

Elbaz A, Bower JH, Maraganore DM, et al. Risk tables for parkinsonism and Parkinson’s disease. Journal of Clinical Epidemiology. 2002;55(1):25-31. doi:10.1016/S0895-4356(01)00425-5

Fazit

In der Welt der neurologischen Erkrankungen lautet das Ergebnis der Recherche für mich also: Es ist wahrscheinlicher, dass ich an einem Schlaganfall, einem Diabetes mellitus oder einer neurodegenerative Erkrankung im Alter erkranke als an Long Covid. Anders herum ist eine MS-Diagnose, eine Epilepsie und ein hirneigener bösartiger Tumor unwahrscheinlicher als Long Covid. Mein ganz persönliches Fazit ist, dass ich keine Sorge und keine Angst vor Long Covid habe, aber auch nicht aus allen Wolken fallen werde, wenn ich daran erkranke. Da ich aber mit den anderen hier zitierten Erkrankungsrisiken auch vor der COVID-19-Ära schon umgegangen bin, werde ich mich wegen des Long Covid-Risikos in meinem Privat- und Sozialleben nicht einschränken. Ganz im Gegenteil.

Das ist aber nur mein Fazit, das muss nicht eures sein. Zudem bin ich auch nicht der Typ, der große Teile seines Monatseinkommens für Versicherungen und Absicherungen zurücklegt, sondern da eher mit einem „Rumpf-Programm“ arbeitet. Außerdem kann es gut sein, dass die Berechnung, die ich für mich aufgemacht habe, am Ende „nicht richtig“ ist, aber am Ende machen für mich persönlich ein paar Prozent mehr oder weniger nicht den den Unterschied.

Ein Beitrag bei publikum.net

Wir haben heute einen Blogbeitrag bei publikum.net veröffentlicht, den ihr hier findet: Link. Für alle, die den brainpainblog per Mail oder WordPress Reader lesen kommt hier eine identische Version:


Mehr Sorgfalt bei der Kommunion von Pandemierisiken

von Franziska Briest, Hasan Alkas, Oliver Beige, Ralph Brinks, Christine Busch, Daniel Haake, Esther März, Christian Schöps, Thomas Wieland

Wissenschaftsverständnis fördern

Im März 2020 skizzierte das Bundesministerium für Inneres (BMI) eine Kommunikationsstrategie für die Corona-Krise. Dort heißt es unter anderem, dass das Worst-Case-Szenario, kommuniziert werden solle, um durch Schockwirkung eine Maßnahmenakzeptanz zu erzeugen. Rückblickend ist, jenseits der fragwürdigen politischen Wirkung unklar, wie es zu einer solchen Einschätzung kam, welche Expert:innen dazu beraten haben und auf welcher Empirie dieses Vorgehen begründet wurde. Die Wirksamkeit von Pandemiebekämpfungsmaßnahmen basiert vor allem darauf, dass Menschen ihre persönlichen Ziele zugunsten eines gemeinsamen Zieles zurückstellen. Dies setzt eine Kommunikation voraus, die von objektiv nachvollziehbaren Gründen geleitet ist, nicht von Gefühlen, Ideologien oder Angst. 

Dennoch haben weite Teile der politischen und wissenschaftlichen Kommunikation in der Pandemie in Deutschland diesen Duktus übernommen und basieren auf der Vermittlung von Worst-Case-Annahmen und -Szenarien ohne entsprechende Alternativszenarien zu skizzieren. Interviews, Zeitungsartikel und Beiträge in sozialen Medien kommunizieren mit Begrifflichkeiten, die Angst erzeugen. Relevante Personen des öffentlichen Lebens aus Politik, Wissenschaft und Medizin transportieren mit verkürzten Informationen wiederholt Botschaften, die in ihrer Zuspitzung durch keine wissenschaftliche Empirie mehr gestützt werden.  

Dass wissenschaftliche Aussagen in der Pandemie oft einer relevanten Unsicherheit unterliegen, vor allem wenn es sich um Projektionen in die Zukunft handelt, wie z.B. bei einer Modellierung zum Verlauf des Pandemiegeschehens, ist eine kommunikative Herausforderung. Dazu kommt, dass eine gewisse Ambiguitätstoleranz notwendig ist, um widersprüchliche wissenschaftlichen Daten in den fachlichen Kontext sowie die aktuelle pandemische Entwicklung einzuordnen und zu gewichten. Diese kann in der nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeit nicht vorausgesetzt werden. Daher sollten Daten und wissenschaftliche Erkenntnisse so einfach wie möglich erläutert werden, aber nicht zu einfach. Unsicherheiten sind zentraler und sogar charakterisierender Bestandteil des wissenschaftlichen iterativen Erkenntnisprozesses. 

In einem aktuellen Positionspapier des deutschen Wissenschaftsrates heißt es auf Seite 37, dass Wissenschaftskommunikation die “Prozesshaftigkeit, Perspektivität und Selektivität” von Wissen transparent machen solle und damit das “Wissenschaftsverständnis von Laien und die Unterscheidung richtiger und falscher Informationen” fördere. “Eine Kommunikation, die Vorbehalte und Einschränkungen transparent macht”, sei “grundsätzlich eher dazu geeignet, Glaubwürdigkeit zu erhöhen und das Vertrauen in wissenschaftliche Integrität zu stärken.” 

Ganz im Gegensatz zu den Empfehlungen guter Wissenschaftskommunikation, erfahren wir jedoch seit 2 Jahren die wiederholte Konfrontation der Öffentlichkeit mit Modellierungen, die eine sehr hohe Gefahr implizieren (z. B. indem sie extrem hohe Inzidenzen oder sehr hohe Todeszahlen vorhersagen) ohne zu vermitteln, dass die tatsächliche Vorhersagekraft dieser Modelle sehr begrenzt ist und sie nur eines der möglichen Szenarien abbilden. Dies kann, insbesondere bei wiederholtem Nicht-Eintreffen, eine Grundlage für politisch-motiviertes, generelles Infragestellen von Pandemie-assoziierten Forschungsergebnissen darstellen und in der Folge zu einem Vertrauensverlust führen. 

Die Nicht-Kommunikation von Vorläufigkeit zeigt sich auch in verfrühten absoluten Aussagen zur Effektivität, Sicherheit oder “Nebenwirkungsfreiheit” von Impfstoffen,  das Ausschließen später doch umgesetzter politischer Maßnahmen und in häufigen und offensichtlich widersprüchlichen Änderungen von Verhaltensregeln. 

Hinzu kommt, dass auch fehlende Information nicht immer transparent kommuniziert wird. Unterschiedlich große Dunkelfelder in verschiedenen Testumgebungen z. B. erzeugen Verzerrungen bei den Fallzahlen. Die Angabe einer Altersgruppeninzidenz ohne die Kommunikation der Testfrequenzen in verschiedenen Altersgruppen, kann zu einer falschen Risikowahrnehmung führen. Ungenaue epidemiologische Daten, wie das Hinzurechnen von Personen mit unbekanntem Impfstatus zu den ungeimpften Personen, erzeugen einen Vertrauensverlust in die veröffentlichten Daten und können ebenfalls zu einer falschen Risikoeinschätzung beitragen. Auch der tatsächliche Hospitalisierungsgrund ist für die Einschätzung der Situation und der Vergleichbarkeit mit vorherigen Pandemiephasen wichtig. Das trifft insbesondere dann zu, wenn durch einen erhöhten Immunisierungsgrad in der Bevölkerung die Wahrscheinlichkeit von asymptomatischen Zufallsfunden eines SARS-CoV-2-Nachweises steigt. Wenn entsprechende Daten aus technischen Gründen nicht erhoben werden, müssen diese Unschärfen klar und nachvollziehbar kommuniziert werden. 

Der Wissenschaftsrat nennt in seiner Betrachtung von Faktoren, die das Vertrauen in die Wissenschaft beeinflussen auch die Politisierung von Wissenschaft (S. 20):

“In der öffentlichen Kommunikation sollte stets besonderer Wert darauf gelegt werden, die Grenzen zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und deren Konsequenzen, normativer Bewertung und politischer Entscheidung zu markieren.”

Deshalb ist essentiell, dass Wissenschaftler:innen sowie Behörden, die auch in einer wissenschaftlichen Funktion auftreten, z. B. das RKI, ihre jeweiligen Aufgabenbereiche einhalten. Informationsvermittlung und politisches Handeln müssen erkennbar voneinander abgegrenzt werden. Das zeitliche Ausrichten der Veröffentlichung wissenschaftlicher Berichte am Tagungsplan politischer Gremien wie der Ministerpräsidentenkonferenz oder der Konferenz der Kultusminister, stellt eine unnötige Politisierung dar, die nicht allein mit einem Aktualitätsgebot erklärt werden kann.

Angstkommunikation vermeiden

Das Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnisse kann einen großen Einfluss auf das Verhalten von Individuen und seinen Umgang mit Pandemiemaßnahmen haben. Studien weisen darauf hin, dass gerade ein erhöhtes Level an Angst mit einer verminderten Toleranz von Unsicherheit verbunden ist und dieses mit einem höheren Risiko einhergeht, Pandemie Fatigue zu entwickeln. Diese wiederum steht in engem Zusammenhang mit verminderter Maßnahmen-Adhärenz. Bereits Ende 2020 erläuterte Cornelia Betsch, Heisenberg-Professorin für Gesundheitskommunikation der Universität Erfurt, im Rahmen einer WHO Veranstaltung, dass durch Angst motivierte Verhaltensänderungen mit einer zunehmenden Anpassung an die Bedrohung nachlässt. Eine dauerhafte Konfrontation mehrerer Millionen Menschen mit bewusst zugespitzten und  beängstigenden Aussagen hat demnach keinen nachhaltigen Effekt, sondern führt im Kontext von Pandemie Fatigue sogar zu einem Toleranzeffekt, der diesem entgegensteht.

Gleichzeitig erzeugt und verstärkt Angst eine Reihe psychischer Erkrankungen, die zu einer hohen Krankheitslast bei den Betroffenen, aber auch gesamtgesellschaftlich zu hohen sozioökonomischen Schäden führen können. Der wissentliche oder unwissentliche Einsatz von Angst – sei es durch undifferenzierte, übersteigerte oder einseitige Kommunikation von Risiken – nimmt daher bewusst oder unbewusst gesundheitliche Folgen in Kauf (z.B. Verstärkung psychologischer Folgen wie depressiver Störungen, Schlafstörungen oder Suchterkrankungen, eine reduzierte Annahme von Präventionsangeboten bei Kindern und Erwachsenen sowie gesundheitlicher Folgen, die sich aus gemiedenen Bildungsangeboten ergeben).

Der ärztliche Grundsatz primum non nocere (erstens nicht schaden) muss demnach auch umfassen, dass die Inkaufnahme vermeidbarer psychischer Schäden zur Verhinderung von COVID-Schäden keineswegs unkritisch hinzunehmen ist. Daher muss die eigene Kommunikation der in der Pandemie sich öffentlich äußernden Wissenschaftler:innen, Mediziner:innen und Politiker:innen sorgfältig abgewogen sein.

Kommunikation reflektieren

Da also die Kommunikation pandemierelevanter wissenschaftlicher Daten nennenswerten Einfluss auf das Vertrauen in Wissenschaft und ihre Institutionen, auf die Maßnahmenadhärenz und direkt oder indirekt auch auf die öffentliche Gesundheit hat, müssen wir als Wissenschafler:innen auch mit Blick auf die Empfehlungen des Wissenschaftsrates die Frage stellen, ob wir in den vergangenen zwei Jahren angemessen kommuniziert haben.

  • Ist es zutreffend, dass die wissenschaftliche und politische Pandemie-Kommunikation dahingehend hinterfragt wurde, dass nicht nur Bagatellisierung, sondern auch unpräzise, unnötig verängstigende und intransparente Kommunikation massive negative Folgen für die Pandemiebekämpfung haben könnten?
  • Wurde bei der Entwicklung von Modellierungen stets die gesamte Bandbreite an Entwicklungsmöglichkeiten über einen realistisch definierten Zeitrahmen abgebildet und kontextualisiert? Umfasste dies die verwendeten Daten und Algorithmen, wie auch die getroffenen Annahmen, die den Modellierungen zu Grunde liegen und einen sehr großen Einfluss auf das Endergebnis haben?
  • Wurden Daten immer transparent veröffentlicht? Dazu gehört vor allem die Quantifizierung von Unsicherheiten und nicht erhobenen Daten (z.B. beim Impfstatus oder Hospitalisierungsgrund). Wurden Faktoren, die zu einer fehlenden unmittelbaren Vergleichbarkeit verschiedener Gruppen oder Zeitfenster führen – bspw. unterschiedliche Teststrategie – offen kommuniziert? Wurden wissenschaftliche und/oder politische Unsicherheiten stets als solche dargelegt und Verallgemeinerungen, Ausschlüsse oder absolute Feststellungen zu mit Unsicherheit belegten Sachverhalten oder Maßnahmen und Maßnahmenfolgen vermieden um bewußte oder unbewußte Fehlinterpretationen zu verhindern?
  • Wurden die Grenzen der verschiedenen Stadien wissenschaftlicher Arbeit aufgezeigt, z. B. die Evidenzstärke von Fallberichten und Modellen oder die Vorläufigkeit von Vorabveröffentlichungen (Preprints)? Erfolgte eine präzise Prüfung dessen, was eine Studie aufgrund ihres Designs hergibt? Staatliche Glaubwürdigkeit braucht Evidenz. Ist diese ausreichend gegeben?
  • Gab es umfassende wissenschaftliche (und politische) Ehrlichkeit in der Kommunikation bezüglich Koinzidenz und Kausalität bei der Bewertung von COVID-Erkrankungsfolgen und Pandemie-Maßnahmen?
  • Wurden bei geforderten Maßnahmen der Nutzen aber auch mögliche negative Folgen auch in anderen Bereichen berücksichtigt, gegeneinander abgewogen und  offen kommuniziert?

Wir Wissenschaftler:innen, Ärzt:innen und Datenanalyst:innen tragen in der Pandemie nicht nur eine große Verantwortung für den Erkenntnisgewinn. Wir tragen auch die Verantwortung für eine korrekte und verständliche Kommunikation und die Verhinderung von Missbrauch dieser Erkenntnisse. Aus unserer Sicht sind in der Vergangenheit nicht alle Punkt jederzeit ausreichend berücksichtigt worden. Reibungsverluste in der Zusammenarbeit mit Medien und Politik mögen zwar einen Teil der Versäumnisse erklären, dennoch ist es essentiell, dass wir, in einer Phase der Pandemie in der gesellschaftliche Polarisierung und Politisierung von Wissenschaft immer größere Ausmaße annehmen, gemeinsam durch eine sorgfältige Kommunikation diesen Entwicklungen aktiv entgegenwirken, anstatt sie zu verstärken.   

Dr. rer. nat. Franziska Briest, Molekularmedizinerin, Berlin
Daniel Haake, Senior Data Scientist, Potsdam
Dr. Esther März, Pädagogische Psychologie, München
Dr. med. Christian Schöps, Facharzt für Neurologie, Hamburg
Prof. Dr. rer. nat. Ralph Brinks, Epidemiologe & Mathematiker, Witten
Dr. rer. nat. Thomas Wieland, Geograph, Freiburg
Dr. med. Christine Busch, Ärztin, Berlin
Oliver Beige, Ph.D., Ökonom, Karlsruhe
Prof. Hasan Alkas, Wirtschaftsprofessor, Kleve

Corona, Familien, Querdenker und die GBD

Mein Versuch einer Standortbestimmung

Was zuvor geschah:

Mit dem Blogger und Journalisten Ostprog, der unter diesem Namen sowohl einen Twitter-Account (Link) als auch einen Blog betreibt (Link) bin ich schon öfters bei Twitter aneinander gerasselt. Heute hat sich – das erste Mal zwischen uns ohne Eskalation – eine ganz interessante Diskussion in mehreren Threads entspannt

So ging es los:

Dann schrieb ich das:

Daraufhin Ostprog das hier:

Meine Antwort:

Und again Ostprog:

Und nun?

Am Ende sind jetzt so viele Bälle in der Luft, Eisen im Feuer und was weiß ich, dass ich das nicht mehr schaffe, mit weiteren Threads zu beantworten und einzuordnen. Zudem läuft es auf eine Grundsatzdiskussion zur Positionierung in der COVID-Pandemie hinaus, die mich jetzt doch zu sehr reizt, um sie nicht zu führen.

Meine Antwort an Ostprog

Vorweg:

Inhaltlich werden wir vermutlich am Ende nicht zusammenkommen, denn es geht uns beiden offenbar jeweils um etwas ganz anderes: Sie – so verstehe ich Sie zumindest – um die klare Abgrenzung zum Querdenker-Mileu und ihren „Ausläufern“, um das Aufdecken dieser Ausläufer „bis in die Mitte der Gesellschaft“. Mir geht es viel viel weniger um eine politische Standortbestimmung als um Medizin, Wissenschaft (weil ich das Thema unglaublich interessant finde) und um den Umgang mit Kindern und Jugendlichen in der Pandemie. Das alles aus recht egoistischen Gründen, eben weil es mein Leben an verschiedenen Stellen berührt. Wenn wir diese unterschiedlichen Herangehensweise tolerieren können, schaffen wir es vielleicht zukünftig weniger aggressiv miteinander umzugehen.

Vielleicht triggern mich Ihre Beiträge teilweise so sehr an, weil wir aus einer – vermutlich – sehr ähnlichen politischen Ecke und Sozialisation kommen und die Pandemie bei mir zu einer zunehmenden Entfremdung mit „der“ politischen Linke (was auch immer das dann am Ende ist) geführt hat, dies aber eher als Eskalation eines vorher schon begonnenen Prozesses.

Wie dem auch sei, ich schreibe mal meine Sicht der Dinge und bewerte nicht die Ihrige, wie Sie es machen ist Ihnen selbst überlassen. Was ich an dem Thema SARS-CoV-2-Pandemie mag, ist das es so viele verschiedene Lebensbereiche berührt und man sich überall überlegen muss, wie man sich positioniert. Ich picke mal einige hinaus und fang ganz privat an.

Kinder und Jugendliche in der Pandemie

Wir haben zwei Töchter, eine 9-jährige, die in die dritte Klasse einer Grundschule hier in Hamburg geht und eine 5-jährige. K2 (wie es in der Twitter-Sprache so schön heißt) hat eine Wahrnehmungs- und motorische und sprachliche Entwicklungsstörung. Inhaltlich pendelt das irgendwo zwischen einer Entwicklungsverzögerung und einer geistigen Behinderung. Was genaues weiß man nicht, trotz viel Beratungen, Diagnostik usw. K1 ist somit ein „Schattenkind“ wie ich jetzt (auch dank Twitter) gelernt habe. Im Alltag ist es so, dass eigentlich immer einer von uns Erwachsenen in einer 1 zu 1-Betreuung mit K2 ist, der oder die andere kümmert sich um alles weitere, K1, Haushalt usw. Damit leben wir und der Prozess damit leben zu können ist für alle manchmal holperig und manchmal schmerzhaft und manchmal auch sehr schön. In den letzten 1,5 Jahren haben wir sehr viel Zeit, Mühe und Kraft investiert, damit K2 vom Schulbesuch ein Jahr zurückgestellt wird, sie wäre sonst jetzt im Sommer eingeschult worden. Das ist – seit letzten Mittwoch – geglückt, wir haben den entsprechenden Bescheid. K1 hat dafür ganz schön einstecken müssen und ist ganz viel mitgelaufen, hat somit ein typisches Schattenkind-Dasein geführt.

Wir als Familie brauchen – in dieser Konstellation – an ganz vielen Stellen möglichst viel Normalität. Für K1, damit sie trotz ihrer kleinen Schwester ein möglichst normales und unbeschwertes Leben führen kann und vielleicht an der ein oder anderen Stelle mehr darf und bekommt als andere 9-jährige (kein Pony, aber Schwimmkurse, überteuerte Kindergeburtstage im Jump House und was weiß ich) und für K2, weil ihr die Inklusions-Kita, die therapeutischen Einheiten und auch der Kontakt mit anderen Kindern sehr gut tun und ihre oft extremen Launen und Verhaltensweisen viel ausgeglichener sind, wenn ein geregelter Alltag stattfindet.

Ich kann mir vorstellen, dass es in anderen Familien mit Kindern mit chronischer Krankheit oder Behinderungen, gerade wenn z.B. eine Lungenkrankheit, eine Immunschwäche oder auch eine onkologische Erkrankung bestehen, ganz andere – gegenteilige – Prioritäten und Bedürfnisse gibt, die natürlich genauso berechtigt sind, wie unsere.

Was machen wir als Eltern? Wir versuchen zum Thema COVID ein möglichst rationales Verhältnis aufzubauen, informieren uns, sind geimpft, die Kinder – wenn keine 2 Striche mehr beim Schnelltest dazwischen kommen – Montag das zweite Mal. Große Angst vor schweren COVID-Komplikationen haben wir aber nicht, ich habe durchaus größere Sorgen, dass K1 auf dem Schulweg im Hamburger Berufsverkehr was passieren könnte.

Das sind unsere familiären Bedürfnisse und Beweggründe. Und ähnliche – je nach Lebenssituation spektakulärer oder unspektakulärer – wird es in ganz vielen Familien geben. Wer sind wir denn, das beurteilen und verurteilen zu wollen?

Die Sache mit den Querdenkern

Das zweite Thema an dem wir uns regelmäßig reiben ist der Umgang mit Querdenkern, wie man diese definiert und wo man die Grenzen zieht. Sie ziehen diese sehr rigoros und bei Menschen, bei denen ich das auf Grund ihrer Äußerungen und Haltungen nicht behaupten würde. Bei mir geht die Hutschnur erst bei Herrn Wodarg, Herrn Homburg und irgendwelchen Pathologenkonferenzen hoch, bei Ihnen halt deutlich früher.

Der Punkt, den ich sehe ist, dass wir als Gesellschaft und vor allem als meinungsbildende – da in den großen Medien überwiegend vertretende – „linksliberale“ Akademiker diese Bewegung erst so groß gemacht haben, eben durch die kategorische Abgrenzung und das Verdammen bestimmter Personen und Meinungen. Das hat gesellschaftlich bei uns eine sehr schlechte Tradition, aber es funktioniert immer wieder. In der jüngsten Geschichte ist uns das mit der AFD und PEGIDA beim Thema „Flüchtlingskrise“ gelungen, nun bei COVID-19 und es bestehen gute Chancen, das beim großen Thema Klimaschutz wieder hinzubekommen. Einer der Punkte die das befeuern, ist die Delegitimation von Maßnahmenkritik. Wenn alles Querdenken ist, was Lockdowns, Kontaktbeschränkungen usw. kritisiert, wenn es 1,5 Jahre unsagbar war, dass SARS-CoV-2 einer starken Saisonalität unterliegt oder knapp 2 Jahre, dass eine Eradikation von SARS-CoV-2 unrealistisch ist, insbesondere wenn es tierische Erregerreservoirs und eine weltweite Ausbreitung des Virus gibt, dann teilt man die Welt (oder die Gesellschaft) in zwei Hälften. Und die undefinierbare Mitte wird man damit an den einen oder anderen Rand drängen.

Wir wissen, dass ungefähr 20% der Deutschen mindestens latent ausländerfeindlich sind, wir wissen um ungefähr die selbe Größenordnung von latentem Antisemitismus, Queerfeindlichkeit usw. Wir wissen eigentlich auch, dass gerade in Süd- und Ostdeutschland auch ungefähr diese Größenordnung extrem impfskeptisch ist, eher zu „alternativer“ Medizin tendiert usw. Ja, man kann das Paradoxon der Toleranz bemühen und sagen: Alles Querdenker, alles Nazis usw. Nur macht man diese Gruppe dann ganz schön groß und dann marschieren am Ende 5.000 Leute durch Halle. Ich behaupte, man hat die dann – auch aus Bequemlichkeit und eigener Überheblichkeit – erst so groß gemacht.

Ich bin mir sicher, dass man mit dem jeweils harten Kern nicht inhaltlich diskutieren kann, siehe Impfdiskussionen auf Twitter. Aber ich bin mir auch recht sicher, dass man versuchen muss, die die mitlaufen, weil ihnen die andere Marschrichtung irgendwie unbehaglich ist, einzusammeln und mitzunehmen. Das ist ohne Frage mühselig und oft unerfreulich, aber es hilft am Ende nichts. Es wird auch eine Impfpflicht bei denen, die sich standhaft weigern, weil sie es unbedingt wollen und sich verrannt haben, nicht zu einer freiwilligen Impfung führen. Aber wenn man sich noch mal richtig Mühe gibt, wird man schon noch einige weniger glaubensfeste „Impfskeptiker“ überzeugt bekommen.

Und ich bin fest überzeugt, wenn wir das beim Thema Klimaschutz nicht besser hinbekommen, dann wird auch das in die Hose gehen. Es reicht eben nicht aus Hamburg Eimsbüttel oder Berlin Prenzlauer Berg vom Sofa zu posten, dass Autos Kacke sind und man sich gefälligst ein Lastenrad zulegen sollte, dass Benzin und Strom viel zu billig sind, wenn man die Bedürfnisse von Menschen die auf dem Land leben oder für die teueres Benzin oder Strom eine Katastrophe sind komplett außer acht lässt.

Es hat doch einen Grund, warum Twitter-Accounts wie der von Pädagoge Malte (Link) so erfolgreich sind, eben weil „unsere“ politische Ecke zu einer Karikatur ihrer selbst verkommen ist.

Great Barrington Declaration

In meinen Augen ist der Umgang mit der und die Verteufelung der Great Barrington Declaration (Link Wikipedia) (GBD) exakt Ausdruck des eben beschriebenen. Eigentlich – wenn man sie mal unvoreingenommen liest – ist die Great Barrington Declaration relativ unspektakulär. Am Ende steht drin, man solle Risikobereiche und Risikogruppen schützen und junge Leute ihr Leben leben lassen. Und – no shit sherlock – wenn man sich den aktuellen Umgang mit COVID-19 anguckt, dann entspricht der in immer mehr Ländern (seit heute hat Dänemark die Aufhebung der NPI verkündet) ziemlich genau diesem Modell. Inhaltlich kann man in erste Linie kritisieren, dass die Erklärung zu einem Zeitpunkt kam, an der die Zulassung der mRNA-Impfstoffe schon absehbar war und somit die „rein natürliche“ Immunisierung durch Infektion – damals noch mit dem Wildtyp von SARS-CoV-2 – mit all ihren medizinischen Problemen sogar kurzfristig gar nicht mehr notwendig war. Aber alles andere ist in erster Linie Framing: Die Titulierung der Unterzeichner als Pseudoexperten, in Deutschland maßgeblich durch Christian Drosten, das Verdammen von Wissenschaftlern, welche mit der Erklärung in Verbindung gebracht wurden, wie John Ioannidis (dessen wissenschaftliche Reputation auf dem Feld der evidenzbasierten Medizin Great Barrington Declaration hin oder her keiner abstreiten kann). Die eine Ironie der Geschichte ist, dass wenn man sich den letzten Podcast (Link) mit Christian Drosten und seinen Auftritt in der Bundespressekonferenz (Link) anhört, er am Ende jetzt das selbe Lied wie die Great Barrington Declaration singt, eben nur mit vorheriger Grundimmunisierung (was meines Erachtens auch total vernünftig ist, das Virus erst „laufen zu lassen“, wenn eine möglichst große Grundimmunität besteht). Die andere Ironie der Geschichte ist, dass die Reaktion, bzw. das Gegenmodell der Great Barrington Declaration nämlich No Covid und Zero Covid am Ende genauso von Pseudoexperten vorangetrieben wurde, wenn man die Maßstäbe anlegt, die an die Unterzeichner der Great Barrington Declaration gelegt wurden.

Die COVID-Pandemie als Pandemie der sozial Schwächeren

Ganz egal wo man medizinisch guckt, ob in der Sozialmedizin, der Sozialpsychiatrie, dem Thema Impfstatus, der Frage, wer eigentlich mit schweren COVID-Verläufen auf der Intensivstation landet, beim Thema „Verlierer der Pandemie“ sind es – wie immer – die sozial Schwächeren. Weltweit sowieso, siehe globale Impfstoffverteilung und Impfquoten, aber auch in Deutschland.

Ich finde das unerträglich. Und das triggert mich an, wenn wieder geschlossene Schulen, Aufhebung der Präsenzpflicht und Homeschooling gefordert werden, weil das nur ein gewisser Teil der Gesellschaft überhaupt in ausreichender Qualität hinbekommt. Und es triggert mich genauso an, wenn über Impfpflichten, Impfverweigerer usw. gesprochen wird, während ich sehe, dass wir diese Woche eine unserer letzten COVID-Patientinnen, die einen schweren Verlauf hatten von der Frührehabilitation in die Phase C-Reha verlegen konnten. Und wenn man weiß, dass das eine ungeimpfte, alkoholkranke, insgesamt schwer psychisch kranke Frau ist, bei der diese ganze Diskussion sowas am Thema vorbeigeht, ebenso wie bei den allermeisten Patienten und Patientinnen zuvor.

Die Überhöhung von SARS-CoV-2

Der Test ist schon viel zu lang, aber der Punkt muss noch sein. Mich interessieren SARS-CoV-2 und COVID-19 sehr, weil ich das Thema Autoimmunität nach Viruserkrankungen, Triggerung von späteren neurodegenerativen Prozessen und schlussendlich auch das chronische Erschöpfungssyndrom medizinisch-wissenschaftlich total spannend finde. Was wir aber gerade auch in der Wissenschaftskommunikation sehen ist, dass immer wieder Erkenntnisse zu SARS-CoV-2 und COVID-19 als total spektakulär, einzigartig, hochbedenklich und gefährlich dargestellt werden, sie das aber bei genauerer Betrachtung oft nicht sind. Sehr schön hat das der von uns beiden sehr geschätzte Lars Fischer (Link) hier zusammengefasst:

Von daher – und darum geht es mir ganz oft in meinen Blogbeiträgen – würde auch hier eine große Portion kommunikative Deeskalation helfen. Aber, weil ich da schon so viel zu geschrieben habe, halte ich das jetzt kurz.

Ein Fazit

So, ich hab mich jetzt hier – besonders was unsere familiäre Situation betrifft – emotional recht nackig gemacht. Das sind meine Beweggründe für meine Positionierung zu verschiedenen Aspekten der Pandemie. Vielleicht hilft es Ihnen zu verstehen, warum ich das eine so schreibe, wie ich es tue, vielleicht finden Sie es auch nur total bescheuert, ich kann damit um.

Zwischenruf: Mein Problem mit No Covid

Marc Hanefeld, Allgemeinmediziner aus Bremervörde, der bei Twitter unter dem Namen @Flying__Doc auftritt, hat heute folgenden Thread zum Thema No Covid verfasst:

Habe Bekannte im Gastronomie-Sektor. #2GPlus bedeutet für die, dass Einnahmeverluste drohen, ohne Kompensation.

#NoCovid damals (von Vielen unverstanden!) beinhaltete auch zeitlich begrenzten Lockdown: Recht auf finanzielle Kompensation, frühere Normalisierung.

Es wird deutlich, dass die #NoCovid-Hasser, die immer sagten „Aber die Wirtschaft!“ nun vor einer Situation stehen, in der die Kleinunternehmer in gewissen Branchen in die Knie gehen.

Das zeigt auch ganz deutlich die Moral dieser Bubble. Die ist auf Großwirtschaft zentriert.

Nicht falsch verstehen: #NoCovid (besser: #LowCovid) ist jetzt aktuell total unrealistisch, gerade angesichts der medialen und politischen Kommunikation. Ich fordere das zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Aber ich darf schon mal sagen: Wie dumm kann eigentlich eine Gesellschaft sein?

Ob aus dem FDP- oder aus dem einfachen Rechtsrad.-Umfeld: Die Leute, die ein aktives Pandemie-Management ablehnen und bekämpfen, verursachen genau damit weit mehr Schaden. Wirtschaftlich und medizinisch. Auch Tote. Wer dem das Wort redet, verhält sich gesellschaftsschädigend.

Sicherheitshalber: Wer das hier nutzt für hirnloses NoCovid-Bashing, der wird ohne Vorwarnung geblockt. Ich halte meine Timeline sauber.

Originally tweeted by Marc Hanefeld (@Flying__Doc) on 8. Januar 2022.

Ich versuche mich mal an einer persönlichen Erwiderung und ich hoffe wir bekommen das höflich und ohne gegenseitiges beschimpfen und geblocke hin. Ich gehöre zu denen, die das No Covid-Konzept ablehnen und nicht, weil ich Großkonzernen oder einem Raubtierkapitalismus den Mund rede, sondern weil ich es für ein was Freiheitsrechte betrifft höchst bedenkliches und gefährliches Konzept halte. Und damit für „gesellschaftsschädigend“.

Und ja, wir können das ganze abkürzen, mein Freiheitsverständnis ist offenbar primitiv und nur die FDP und Lars Weisbrod teilen das, usw. Wenn man es schafft, sich nicht an die ins lächerliche gehende Dichotomie zwischen Querschwurblern und Rotknödel zu verlieren, könnte man aber sogar ins Gespräch kommen.

Also, No Covid kann man ja unter 2 Gesichtspunkten vertreten:

  1. Als Übergangsstrategie bis wirksame Impfstoffe zur Verfügung stehen
  2. Als dauerhaftes Pandemie-Eindämmungs-Konzept

Viele Menschen, die ich kenne, auch und insbesondere Mediziner, haben No Covid entsprechend Punkt 1 vertreten. Deutlich weniger verstehen es (außerhalb von Corona-Twitter) entsprechend Punkt 2.

SARS-CoV-2 is here to stay

Ich denke, NoCovid ist nicht auf Grund der „medialen und politischen Kommunikation“ unrealistisch, sondern in erster Linie dadurch, dass SARS-CoV-2 unter allgemein wissenschaftlich akzeptierten Annahmen als weltweit pandemisch gewordenes Virus nicht mehr zu eliminieren / eradizieren ist. Bis zu welchem Zeitpunkt dies realistisch gewesen ist, darüber scheiden sich die Geister, ich persönlich halte die Einschätzung von Francois Balloux für recht überzeugend:

Auch von Anfang an wäre die SARS-CoV-2-Elimination ein ambitioniertes Ziel gewesen, insbesondere wenn SARS-CoV-2 einem tierischen Wirt entsprungen ist und die Laborhypothese nicht stimmt und es so ein dauerhaftes „Nachschub-Reservoir“ gibt. Seit überzeugende Hinweise bestehend, dass SARS-CoV-2 bei Omikron vom Menschen auf einen tierischen Zwischenwirt und zurück zum Menschen gesprungen ist (vgl. Wei, C., Shan, K.-J., Wang, W., Zhang, S., Huan, Q., & Qian, W. (2021). Evidence for a mouse origin of the SARS-CoV-2 Omicron variant. Journal of Genetics and Genomics, xxxx. https://doi.org/10.1016/j.jgg.2021.12.003) ist die Elimination des Virus wohl kaum mehr zu schaffen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass SARS-CoV-2 auch in den Ländern heimisch geworden sind, wo es weder politisch, wirtschaftlich und medizinisch die Strukturen gibt, das Virus aktiv und effektiv zu bekämpfen.

Das No Covid-Konzept

Das Konzept von No Covid (Link) beruht im Wesentlichen auf dem Gedanken, relativ kleinräumig die Zahl der Neuinfektionen mit SARS-CoV-2 nahezu komplett auf null zu senken, bzw. keine nicht nachvollziehbaren Infektionsketten mehr zu haben und dann diese COVID-freien Zonen nach und nach zu größeren zusammenzufügen. Bei neuen Infektionen unklaren Ursprungs erfolgen dann umgehend harte Eindämmungsmaßnahmen um die Infektionsketten wieder zu durchbrechen. Man verspricht sich dadurch eine insgesamt kürzere Zeit mit Einschränkungen, zwischen den Lockdowns ein weitestgehend normales Leben und sowohl was die Zahl an COVID-Toten, als auch was die wirtschaftlichen Auswirkungen betrifft ein besseres Outcome, als wenn man die Infektionen „einfach laufen lässt“. Um das zu erreichen, gibt es zwei Hauptstrategien (Link):

  • Grüne und rote Zonen und
  • Test Trace and Isolate (TTI)
Grüne und rote Zonen

Die kleinräumigen Gebiete, in denen durch nicht-pharmazeutische Interventionen (NPI) (Lockdown, Abstandsgebot, Masken, Kontaktbeschränkungen usw.) eine Null-Inzidenz erreicht wurde, werden grüne Zonen genannt. Diese werden gegenüber Vireneintragungen von außen relativ hermetisch abgeriegelt, d.h. bis auf unbedingt notwendigen Transit-, Liefer- und Pendelverkehr (der mit Test- und ggfs. Quarantänemaßnahmen belegt wird) wird die Mobilität in rote Zonen, wo eben höhere Inzidenzen vorherrschen unterbunden. Sie ist im wesentlichen nur zwischen grünen Zonen gestattet.

Als Vorbild werden in der Regel Australien und Neuseeland genannt und z.B. hier der Maßnahmenplan von Melbourne als Vorbild für einen effektiven Lockdown genannt, der bis zu einer 7-Tageinzidenz von weniger als 10/100.000 das Verlassen des eigenen Hauses nur aus triftigem Grund gestattet und Besuche nur bei Alleinlebenden (1 Person), geschlossene Schulen usw. Erst bei einer 7-Tageinzidenz von null über vier Wochen wird „schrittweise“ auch das Arbeitsleben als letzter Schritt normalisiert.

Test Trace and Isolate

Damit ist die Kontaktnachverfolgung mit Quarantänisierung von Kontaktpersonen und Isolation von Infizierten gemeint. Damit eine Nullinzidenz aufrechterhalten werden kann, muss diese sehr effektiv und auch sehr proaktiv stattfinden, im Zweifelsfall werden eher zu viel als zu wenig Quarantänemaßnahmen verhängt. Das No Covid-Testkonzept findet man hier.

No Covid und Freiheitsrechte

Um das No Covid-Konzept aufrechtzuerhalten, müssen Grundrechte eingeschränkt werden, insbesondere die Freizügigkeit. Das fängt bei der Mobilität an, geht weiter bei Dingen wie Ausgangssperren und endet bei Kontaktbeschränkungen. Dazu kommt eine umfassende staatliche Kontrollmöglichkeit darüber, mit wem ich mich wann getroffen habe (denn die brauche ich für TTI). Und jetzt kommen wir zurück auf die Szenarien 1 und 2 von weiter oben.

  • Szenario 1, dass der zeitlich begrenzten Umsetzung bis zur Verfügbarkeit und Grundimmunisierung weiter Teile der Bevölkerung und
  • Szenario 2, dass der dauerhaften Pandemie-Kontrolle durch No Covid.

Schon bei Szenario 1 muss sich für mich sagen, empfinden ich den staatlichen Eingriff als übergriffig und totalitär. Jetzt komme ich aus einer politischen Ecke, in der die Einrichtung der Gefahrengebiete auf St. Pauli und im Schanzenviertel Anfang 2014 als Reaktion auf mehrere Rote-Flora- und Lampedusa-Flüchtlings-Demonstrationen (und ich meine auch Esso-Häuser-Anti-Gentrifizierungs-Sachen waren auch dabei) als unzumutbarer staatlicher Übergriff wahrgenommen wurde, ebenso die Polizeimaßnahmen um den G20-Gipfel drei Jahre später. Und selbst wenn man – wie ich – mit vielen kapitalismuskritischen (oder noch schlimmer antiimperialistischen) Demonstrationen nichts anfangen konnte, war klar, dass es ein Unding ist eine Stadt in einen Ausnahmezustand zu versetzen und Transferrouten für das who is who der Despoten, Populisten und Egomanen dieser Welt freizuprügeln.

Die staatlichen Eingriffe für die No Covid-Strategie betreffen aber nicht nur Hamburg oder Teile davon, sondern das ganze Land, ggfs. die ganze EU. Und sie betreffen nicht nur ein paar Zecken und Journalisten, sondern alle Menschen.

Ich kann – sehr widerstrebend – nachvollziehen, dass der Eingriff in Freiheitsrechte in einer sonst unkontrollierbaren Pandemie von Nöten ist, bis bessere Containment-Strategien zur Verfügung stehen. Von daher kann ich Szenario 1 noch irgendwie akzeptieren, auch wenn ich es persönlich nicht für richtig halte.

Szenario 2 hingegen nicht. Wir haben jetzt hochwirksame Impfstoffe, die insbesondere vulnerable Bevölkerungsgruppen vor schweren COVID-Verläufen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit schützen können. Ja, wir haben eine – im Vergleich zu anderen Ländern mit ähnlicher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit – sehr hohe Rate an ungeimpften Menschen. Trotzdem, lehne ich es ab, meine Freizügigkeit auf Dauer aufzugeben, weil Leute sich – aus aus meiner Sicht irrationalen Gründen – gegen eine Impfung gegen COVID-19 entscheiden. Weil das das Problem dieser Leute ist. Und wenn – nach der aktuellen Welle – es nicht mehr zu befürchten steht, dass das Gesundheitssystem angesichts der Anzahl an kritisch kranken Menschen mit COVID-19 kapituliert, akzeptiere ich diese Freiheitseinschränkungen nicht weiter. Einfach weil es Freiheitseinschränkungen sind und nicht weil ich ein „aktives Pandemie-Management“ ablehne oder ähnliches. Szenario 2 hat aus den genannten Gründen kein absehbares Ende, da SARS-CoV-2 nicht verschwinden wird und es so immer wieder Krankheitswellen und Eintragungen des Virus geben wird. No Covid wäre damit der Eintritt in einen Überwachungsstaat (wenn auch aus „noblen“ Gründen, wie unser jetziger Gesundheitsminister mal bei Twitter geschrieben hat).

Off Topic: Einfluss der No Covid-Protagonisten auf Pandemie-Politik in Deutschland

Es lohnt sich durchaus hier nachzuschauen, welche Wissenschaftler zum No Covid-Kernteam gehören und wer davon vor allem zum Beraterstab der Regierung Merkel gehörte. Aber auch im aktuellen Expertenrat der Bundesregierung (Link) finden sich einige Mitglieder wieder. Es lohnt sich durchaus auch nachzuschauen, welche Test- und Eindämmungskonzepte bei No Covid beschrieben wurden und welche wir aus der Vergangenheit aus praktischer Anwendung kennen. Wenn es heißt, Deutschland habe mit die strengsten und rigidesten Pandemie-Eindämmungsmaßnahmen, gibt es so durchaus eine Idee, warum das so sein könnte.

Zwischenruf: Wenn der Gesundheitsminister (der Herzen) über wissenschaftliche Literatur twittert

Vielleicht ist es auch nur Psychohygiene, weil ich eigentlich diese Faktenchecker, Faktenfüchse, Volksverpetzer usw. ganz furchtbar finde, weil da meistens mehr Agenda als Faktencheck hintersteckt. Aber wenn wer Freude dran hat:


22.03.2021

Blog-Beitrag zu dem Thema (Link), bis zu „Oft zitiert und oft kritisiert: Die Studie mit dem Internetfragebogen“ scrollen.


08.05.2021

Blog-Beitrag zu dem Thema, das Thema VITT bei jungen mit AstraZeneca-Geimpften war da schon längst bekannt: Link.


12.05.2021


30.06.2021


18.07.2021

und ausführlicher hier: Link.


19.07.2021

und das hier:


13.08.2021


14.08.2021


16.08.2021


17.08.2021


20.08.2021


30.08.2021


30.08.2021


07.09.2021


08.09.2021


12.09.2021


26.09.2021


06.10.2021


06.10.2021


07.10.2021


14.10.2021


17.10.2021


19.10.2021


20.10.2021


21.10.2021


22.10.2021


28.10.2021


31.10.2021


03.11.2021

Das Paper hatten wir ähnlich unglücklich kommuniziert weiter oben schon mal:


11.11.2021


29.11.2021


01.12.2021