Die Frage, ob und in wie fern SARS-CoV-2 neurotrop ist und welche Maßnahmen/Befürchtungen man daraus ableiten muss, ist immer wieder Gegenstand von (Twitter-)Diskussionen zu dem Thema.
Das Problem mit der Fragestellung
Neurotropie ist nicht gleich Neurotropie
Bei der Recherche zu dem Thema ist mir aufgefallen, dass das ganze schon einmal extrem schlecht anfängt und doch einige Begriffe durcheinander gehen, so dass man die Fragestellung gar nicht pauschal beantworten kann. Genau genommen müsste man nämlich folgendes bedenken: Ein neurotroper Erreger ist ja einer, der Nervenzellen infizieren kann. Eigentlich muss man aber differenzieren, ob ein Erreger nur neuroinvasiv ist (also in das Nervensystem eindringen kann) oder auch neurovirulent ist (also im Nervensystem eine Krankheit verursacht). Im klinischen Alltag wird das oft gleichgesetzt, in der wissenschaftlichen Literatur aber eben nicht.
Die Flut der Veröffentlichungen
Die Zahl der Veröffentlichungen zu SARS-CoV-2 ist gigantisch, pauschal nach SARS-CoV-2 gesucht beträgt sie heute (25.09.2021) 111.662 pubmed-Einträge ([Link]), bei den Begriffen neurotropism und SARS-CoV-2 sind es „nur“ noch 218 ([Link]), welche innerhalb von zwei Jahren veröffentlicht wurden. Das macht es sehr schwer den Überblick zu behalten und die richtigen Paper auszuwählen. Daher ergeht schon mal hier die Bitte, wenn jemandem auffällt, dass hier eine entscheidende Arbeit nicht berücksichtig wurde, sagt bitte Bescheid (z.B. über die Kommentarfunktion).
Der Wunsch nach Exklusivität bei COVID-19
Es gibt aber noch ein Problem, nämlich dass das wir alle irgendwie das Gefühl zu haben scheinen, bei der SARS-CoV-2-Pandemie handele es sich um ein derart außergewöhnliches Ereignis, dass das Virus in seinen Eigenschaften und Krankheitsfolgen besonders außergewöhnlich und exklusiv sein müsste. Und das führt dazu, dass SARS-CoV-2 lauter Eigenschaften zugeschrieben werden, die vermutlich ganz und gar nicht exklusiv sind. Ich hatte das im Beitrag zum [Corona-Paper-Bullshit-Bingo] schon mal diskutiert. Aber das führt dann zu Erkenntnissen, wie dass ein Delir das erste Symptom von COVID-19 bei älteren Menschen sein kann. Dass das für jeden Infekt ganz gleich welcher Genese gilt, lernt jede und jeder nach spätestens zwei Wochen Tätigkeit in einer Notaufnahme. Dieses Zuschreiben eigentlich globaler Mechanismen bei (viralen) Infekten als etwas vermeintlich COVID-spezifisches macht es insgesamt verwirrender. Das mag aber zu einem relevanten Teil daran liegen, dass es für keinen einzigen Erreger diesen Fokus bei Forschung und Paper-Veröffentlichung gibt, so dass COVID-19 in Teilen mittlerweile besser verstanden sein dürfte, als viele andere Infektionserkrankungen.
Eine Annäherung in drei Teilen
Ich werde es ein wenig so machen, wie beim Long Covid-Beitrag, ich unterteile das ganze in mehrere (kürzere) Blogbeiträge. Teil 1 beschäftigt sich mit den Mechanismen, die man SARS-CoV-2 zuschreibt beim Thema Neurotropie, Teil 2 mit dem Themenkomplex Neurodegeneration und SARS-CoV-2 und in Teil 3 ziehe ich ein Fazit.
Neurotropie von SARS-CoV-2
Was man über Neurotropie-Mechanismen von SARS-CoV-2 wissen sollte

Hier geht es um die Mechanismen der Neurotropie von SARS-CoV-2 und die Frage wie gelangt SARS-CoV-2 eigentlich ins ZNS und wie kann man es nachweisen.
SARS-CoV-2 als möglicher Auslöser von Neurodegeneration

Führt eine Infektion mit SARS-CoV-2 zu bleibenden kognitiven Störungen und erhöht sie eine spätere Entwicklung einer neurodegenerativen Erkrankung?
Mein Fazit: Wie kann man die Befunde zur Neurotropie von SARS-CoV-2 deuten?

Warum entwickeln einige COVID-Patienten ein Long Covid-Syndrom? Was man zur bislang zur Pathogenese weiß.
The old stuff
Hier findet man der Vollständigkeit halber den etwas älteren Blogbeitrag zum Thema Neurotropie von SARS-CoV-2:
SARS-CoV-2 und Neurodegeneration
Heute soll es relativ kurz und außer der Reihe um das Thema Führt eine COVID-19-Erkrankung zu einer höheren Wahrscheinlichkeit einer späteren neurodegenerativen Erkrankung? gehen. Anlass war diese Replik hier: Das darin verlinkte Paper von Idrees und Kumar kannte ich bislang noch nicht, wohl aber ein ähnlich thematisch positioniertes von Pacheco-Herrero et al. (okay, zugegebenermaßen weil…