Warum wir unsere Kinder gegen COVID-19 haben impfen lassen

Mir ist die Diskussion um die COVID-19-Impfung von Kindern- und Jugendlichen zwischen 5 und 11 Jahren – gerade bei Twitter – viel zu unsachlich, zu sehr von Vorurteilen und vorgefestigten Meinungen geprägt und in die eine und die andere Richtung zu alarmistisch. Ich habe mir daher überlegt, hier aufzuschreiben, weshalb wir zu der Entscheidung gekommen sind, unsere beiden Töchter im Januar gegen COVID-19 impfen zu lassen und das ganze möglichst systematisch „aufzubereiten“. Ich glaube, nur wenn man die Emotionalität aus dem Thema etwas herausnimmt, kann man darüber konstruktiv – und durchaus auch kritisch – diskutieren. Ich glaube, es bräuchte eine breite, aber nüchterne Aufklärungskampagne, die die Vor- und Nachteile einer COVID-Impfung für diese Altersgruppe (und auch für die anderen Altersgruppen, aber darauf geh ich jetzt nicht ein, sonst wird das zu lang) fair und gut verständlich herausarbeitet. Social Media allein scheint mir keine gute Quelle für eine Entscheidung zu sein, wenn man nicht von den dort präsentierten Informationen aus weiter liest und sich seine eigenen Gedanken macht.

Dringlichkeit besteht nicht immer

Frei nach Tocotronic handelt es sich bei der Entscheidung für oder gegen eine COVID-Impfung der eigenen Kinder wohl in den aller-allermeisten Fällen um keine zeitkritische Entscheidung. Man kann das in Ruhe vorbesprechen, abwägen und sich eine eigene Meinung bilden. Die Zahl der Kinder bei denen tatsächlich eine derartige Risikokonstellation vorgelegen hat, dass eine umgehende Impfung aus medizinischen Gründen zwingend notwendig war und ggfs. auch nicht der Zulassungsprozess für den altersabgestimmten Impfstoff abgewartet werden konnte, dürfte – auch wenn man bei COVID-Twitter einen anderen Eindruck bekommt – sehr gering gewesen sein.

Wir haben das zwischen unserem Herbsturlaub im Oktober und den Weihnachtstagen 2021 vermutlich eher zu lange immer wieder diskutiert. Das mag aber auch in wesentlichen Teilen an meinem Corona-Fimmel gelegen haben.

Gründe für eine Impfentscheidung

Ich habe mir überlegt, welche objektivierbaren Gründe es für oder gegen eine COVID-Impfung der eigenen Kinder geben könnte und bin zu folgenden Kategorien gekommen

  • Die persönliche / familiäre Risikosituation, also die Fragen, wie wahrscheinlich eine COVID-Infektion der Kinder sein dürfte, ob man COVID „aus dem Weg gehen kann“ oder auch nicht, und was das für die Familie (abseits der medizinischen Konsequenzen) bedeuten würde
  • Die „harten Fakten“, also das, worum es eigentlich geht. Was kann der Impfstoff? Wie wahrscheinlich verhindert er Komplikationen einer COVID-Infektion und kann er eine Infektion verhindern?
  • Die „Softskills“, Gründe für eine Impfung, die nicht unmittelbar am medizinisch-naturwisschenschaftlichen Part hängen, wie Quarantäne- oder Zugangsregelungen.
  • Und auf der negativen Seite mögliche Nebenwirkungen durch die Impfung.

Ich dekliniere das am Beispiel unserer Familie mal durch, versuche aber auch Quellen und Weiterlesetips anzugeben, so dass jede und jeder sich ein eigenes Bild machen kann.

Familiäre Situation

Wir haben zwei Töchter, die ältere ist 9,5 Jahre alt, die jüngere ist knapp 6. Die Große geht in die dritte Klasse einer Grundschule, die Kleine in eine Inklusions-Kita. Ich hatte hier ja schon einmal ausgeführt, dass sie eine Wahrnehmungs- und motorische und sprachliche Entwicklungsstörung hat.

Meine Frau arbeitet als pädagogische Leitung in einer Kita, ist auch viel im Gruppendienst, ich – wie ihr wisst – in einem Krankenhaus in der Neurologie. Da wir beide somit in der kritischen Infrastruktur arbeiten kommt Homeoffice für uns (mit Kinderbetreuung und -beschulung) nicht in Frage. Die Kinder waren somit in allen Notbetreuungen die über die Pandemie angeboten wurden (und würden diese im Falle erneuter Einrichtungsschließungen auch wieder besuchen), durchaus mit wechselnden Gruppen / Kohorten. Parallel haben wir ein relativ hohes Eintragungsrisiko über unsere Arbeit, was sowohl im Dezember 2020 ,als drei von uns vier positiv getestet wurden, als auch jetzt (diesmal nur beide Erwachsenen) auch genauso passiert ist.

Wir leben in einem Mehrfamilienhaus in einer 4-Zimmer-Wohnung, es gibt einen Gemeinschaftsgarten in dem auch die Nachbarskinder spielen. Wir haben (noch) kein eigenes Auto, erledigen anstehende Fahrten mit Fahrrad, Bus und Bahn und längere Strecken per Carsharing.

In der Summe heißt das, dass wir weder privat noch beruflich COVID „aus dem Weg gehen“ können, wiederholte COVID-Infektionen in unserer Familie (und das hat sich nun auch schon zwei Mai bewahrheitet) sind relativ realistisch.

Die harten Fakten

Hauptanliegen für uns war (und ist) der Schutz vor schweren COVID-Krankheitsverläufen, worunter wir in erster Linie – wie wohl die meisten – Hospitalisation, Tod durch COVID und bei Kindern PIMS (Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome), im englischen übrigens meistens als MIS-C (Inflammatory Multisystem Syndrome-Children) abgekürzt, verstehen. Der Schutz vor Ansteckung und damit symptomatischer (oder asymptomatischer) Infektion war für uns deutlich weniger wichtig, „nur für einen Schnupfen“ hätten wir unsere Kinder vermutlich nicht impfen lassen.

Schwere COVID-Verläufe bei Kindern

Was weiß man dazu? Für die Situation in Deutschland gibt es zum Thema PIMS und COVID-Hospitalisationen das PIMS-Survey der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI). Dieses arbeitet die Hospitalisationen, aber auch die PIMS-Fälle sehr anschaulich auf. Die Rate der Hospitalisationen folgt im Groben den Inzidenzzahlen, wobei die Dauer der stationären Behandlungen in der Regel recht kurz zu sein scheint. Die Notwendigkeit einer intensivmedizinischen Behandlung ist in Deutschland wie in vielen europäischen Ländern auch bei Kindern und Jugendlichen sehr gering, man nimmt an, dass nur 0,1% aller mit COVID infizierten Kinder eine intensivmedizinische Behandlung benötigen, ca. 1% der infizierten Kinder und Jugendlichen wird im Krankenhaus stationär behandelt. Diese Häufigkeitsangaben sind zudem vermutlich zu hoch angesetzt, da man bei Kindern- und Jugendlichen von vielen übersehenen, da milden bis asymptomatischen Verläufen ausgeht.

PIMS scheint relativ stabil beim Wildtyp, der alpha- und delta-Variante mit einer Häufigkeit um 1:5.000 aufgetreten zu sein, bei Omicron offenbar seltener. COVID-Todesfälle sind auch weiterhin – Gott sei Dank – bei Kindern und Jugendlichen sehr selten, nach dem mir bekannten aktuellsten Stand wurden über die gesamte Pandemie bislang 39 Todesfälle in der Altersgruppe 0-9 Jahre und 41 Todesfälle in der Altersgruppe 10-19 Jahre berichtet. Die case fatality rate (also das jemand an COVID-verstirbt) beträgt für 0-9-Jährige 0,156/10.000 Infektionen (mit diesen aktuellen Infektionszahlen) und 0,12/10.000 Infektionen für 10-19 Jährige (hier ist die Rechnung auf 10.000 Infektionen üblich, bei der sonst z.B. bei der Inzidenz verwendeten Berechnung auf 100.000 Fälle/Personen usw. wären das 1,56/100.000 Infektionen und 1,2/100.000 Infektionen). Ich beziehe mich in meinen „Bauchgefühl-Berechnungen“ gerne auf Hamburg und da sind das dann bei zuletzt 316.485 Kindern und Jugendlichen 4-5 COVID-Todesfälle in Hamburg.

Was kann die Impfung?

Zum Zeitpunkt unserer Entscheidung für die Impfung unserer Kinder gab es im Wesentlichen die Daten aus der Zulassungsstudie, die im wesentlichen eine ca. 90%ige-Risikoreduktion vor symptomatischen Verläufen und PIMS gezeigt hatte, aber unter „Delta-Bedingungen“ entstanden war. Wie zu erwarten hat sich das im längerfristigen Verlauf (und mit Omicron) auf niedrigere Werte eingependelt.

Man kann die Schutzwirkung der Impfung bei Kindern derzeit nicht abschließend einschätzen, da die Studienergebnisse uneinheitlich sind: In dieser Studie betrug die Risikoreduktion von Hospitalisationen bei Omicron über 22 Wochen bei 5-11-jährigen 68% , in diesem Preprint aus New York nahm sie bei unter 12-jährigen recht schnell von 100% auf 48% innerhalb von einem Monat ab. Ganz aktuell gibt es Daten der CDC hinsichtlich Hospitalisationen unter Omicron in den USA:

Aber, und das ist wichtig zur Einschätzung: Diese relativen Risikoreduktionen sind schwierig zu fassen. Besser funktioniert für viele (auch für mich), die number needed to vaccinate (NNV), also die Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die man impfen muss, um ein PIMS, eine Krankenhausaufnahme usw. zu verhindern. Diese beträgt, wenn man die CDC-Daten für die Hospitalisierung nimmt 1:10.000, d.h. 10.000 Kinder und Jugendliche müssen geimpft werden, damit ein Kind nicht stationär behandlungspflichtig wird:

Die Briten haben das sehr schön in Ihrer Impfempfehlung (die relativ zurückhaltend formuliert ist), die ich aber als unglaublich hilfreich empfinde aufgeschlüsselt und unterscheiden zusätzlich „harmlosere“ (wie Omikron) und „schwerer verlaufende“ (wie Delta) zukünftige Virusvarianten:

NNV für PIMSNNV für KHNNV für ITS
schwere Welle17.00010.300340.000
leichte Welle95.00058.0001.900.000
KH: Krankenhausaufnahme, ITS: Aufnahme auf eine Intensivstation, aus JCVI statement on vaccination of children aged 5 to 11 years old, Published 16 February 2022, Link

Die NNV liegt bei Masern abhängig von der Altersgruppe zwischen 135 bei Kindern und knapp 10.000 bei Erwachsenen (Link), bei Keuchhusten bei Schwangeren zur Vermeidung einer Infektion ihrer Neugeborenen zwischen 900 und 1500 (Link) bei der Grippe um 70 (Link), bei Kindern sogar bei 7 (Link), bei Varizellen zwischen 45 und 106 (Link), bei Pneumokokken für ältere Erwachsene zwischen 2.500 (Infektion) und 20.000 (Todesfall) (Link), es kommt immer darauf an, was man verhindern will (symptomatische Infektion, schwere Komplikation, Tod) und über welchen Zeitraum.

Die NNV für Erwachsenen, die gegen COVID geimpft werden, wurde im Frühjahr 2021 noch mit 119 geschätzt (Link), ist aber auch dort extrem altersabhängig.

Es gibt Hinweise darauf, dass die COVID-Impfung die Wahrscheinlichkeit an Long Covid zu erkranken um ca. 50% reduziert, ich hatte hier mal etwas dazu aufgeschrieben. Inwiefern das aber auch für Kinder gilt ist unklar.

Das ist die Habenseite. Dem gegenüber stehen die möglichen Impfkomplikationen. Einen Zwischenpunkt habe ich aber noch, „weiche Gründe“, warum wir uns für die Impfung entschieden haben.

Die Softskills

Für uns waren auch Überlegungen zu Quarantäne- und Zugangsregelungen (2G, 3G) ein Argument für die Impfung. Das kann man sicherlich kontrovers sehen, weil dies ja politisch gemachte Regelungen und keine Naturgesetze sind. Und ja, wir wissen, die STIKO hatte der Politik extra ins Stammbuch geschrieben, dass der Impfstatus von Kindern und Jugendlichen kein Grund für nicht stattfindende soziale Teilhabe sein darf, aber die Situation war ja durchaus eine andere. Und so lustig war es nicht, wenn die Große in den Winterferien für jede Bus- oder U-Bahn-Fahrt einen negativen Schnelltest von einem Testzentrum brauchte oder für Indoor-Ausflugsziele.

Mögliche Impfkomplikationen

Auf der Impfkomplikationsseite stehen die üblichen Impfreaktionen, Fieber, Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit, die unsere Mädels bei beiden Impfungen aber gar nicht hatten und dann die Impfnebenwirkungen. Da gibt es einmal zwei Felder, die „klassischen“ Impfnebenwirkungen, also Autoimmun-Prozesse, die durch die Impfung getriggert werden (die wichtigsten aus dem Bereich der Neurologie hatte ich hier mal vorgestellt), die aber bei den mRNA-Impfstoffen eher selten zu sein scheinen und das große Thema Myokarditis. Dazu gibt es eine aktuelle Studie, die noch mal deutlich macht, dass es auch bei mRNA-Impfstoffen die Myokarditis eine seltene Nebenwirkung ist, seltener als bei anderen Impfungen und seltener als bei der COVID-Infektion, aber eben alters- und geschlechtsabhängig auftritt und dabei Jungen und junge Männer besonders häufig betrifft. Wir hatten hier mal einen ausführlichen Beitrag dazu geschrieben, der inhaltlich auch weiter aktuell ist und auf den ich verweisen möchte.

Mein Fazit

Unsere Kinder wurden am 10. Januar das erste Mal und drei Wochen später am 31. Januar das zweite Mal gegen COVID geimpft, haben die Impfung gut vertragen und haben sich jetzt so 2,5 Monate nach der zweiten Impfung nicht bei uns angesteckt, als zunächst meine Frau und dann ich Omicron-infiziert waren (und sind). Von daher hat es aktuell sogar für einen Schutz vor symptomatischer Infektion gereicht (hard skill) und die Mädels mussten nicht in Quarantäne (soft skill). Ich bin weiterhin froh, dass wir diese Entscheidung getroffen haben, auch wenn der Schutz vor symptomatischer Infektion sicher nicht – wie oben erwähnt – im Vordergrund unserer Entscheidung stand.

Das Fazit des JCVI

Die Zusammenfassung des Joint Committee on Vaccination and Immunisation (JCVI), also der britischen STIKO, finde ich sehr gelungen und möchte dieses einfach hier wiedergeben, ich denke es fasst alle wesentlichen Punkte zusammen:

Vaccination of children aged 5 to 11 who are not in a clinical risk group is anticipated to prevent a small number of hospitalisations and intensive care admissions in this population and would provide short-term protection against non-severe infection (asymptomatic and symptomatic infection that does not require hospital-based care). The extent of these impacts is highly uncertain. They are closely related to future levels of infection in the population in the period following vaccination; these in turn are influenced by the timing, size and severity of any future waves of infection, and the characteristics of any new variants that may dominate future waves of infection. Vaccination is commonly associated with systemic and local reactions (such as headache, fatigue and local arm pain) which typically resolve within 1 to 3 days.

Overall, the committee agreed that the potential health benefits of vaccination are greater than the potential health risks when not including the opportunity costs of a programme to vaccinate all children aged 5 to 11 due to this being part of a pandemic response. The impact of vaccination on school absences was indeterminate; the balance between school absences due to reactions following vaccination versus school absences avoided due to prevention of infection is highly influenced by the uncertain timing of any future wave of infection and of the vaccination programme. In particular, school absences are affected by whether an infection wave falls within the period of good protection against non-severe infection provided by the vaccine, and whether vaccination occurs during school term time or holiday periods.

Vaccination of children aged 5 to 11 who are not in a clinical risk group is not expected to have an impact on the current wave of Omicron infection. The potential benefits from vaccination will apply mainly to a future wave of infection; the more severe a future wave, the greater the likely benefits from vaccination. Conversely, the less severe a future wave, the smaller the likely benefits from vaccination.

JCVI statement on vaccination of children aged 5 to 11 years old, Published 16 February 2022, Link
Wo man weiterlesen kann

Stellungnahme des JCVI: JCVI statement on vaccination of children aged 5 to 11 years old, Published 16 February 2022, Link (Lesetip)

Epidemiologisches Bulletin 1/2022 mit der wissenschaftliche Begründung der STIKO zur Empfehlung der Impfung gegen COVID-19 bei Kindern im Alter von 5 – 11 Jahren Link (Lesetip, aber lang und trocken)

Impfempfehlung der CDC Link (leider wenig belastbare Informationen, eher dogmatische Herangehensweise)

Neurologische Erkrankungen nach Impfungen: Fakt oder Fiktion?

Einleitung

Okay, doch noch ein COVID-Thema, aber nur so ein halbes. Ich halte es mal größtenteils COVID-frei, auch wenn die Tatsache, dass ich was dazu schreibe natürlich durch die Diskussion um Impfnebenwirkungen nach COVID-Schutzimpfungen getriggert ist. Ich werde mich mal auf das Thema neurologische Erkrankungen als Nebenwirkungen nach Impfungen konzentrieren, da ich davon am meisten verstehe, auch wenn bei den COVID-Impfungen sicherlich die kardiologischen Erkrankungen, v.a. die Perikarditis und Myokarditis das große Thema sind. Aber das Prinzip wie man an die Sache herangeht und wie man Impfnebenwirkungen bewertet bleibt sich gleich.

Die Sache mit den Nebenwirkungen

Impfreaktion vs. Impfnebenwirkung

Gemeinhin bezeichnet man als Impfreaktion die Dinge, die man nach einer Impfung als erwünschte Reaktion des Immunsystems auf die Aktivierung durch die Impfung werten kann, also Schmerzen an der Injektionsstelle, Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen. Impfnebenwirkungen sind Krankheitssymptome die erst einmal nicht zwanglos mit der Impfung zu tun haben und eine eigene Krankheit darstellen.

Unsere Toleranz gegenüber Nebenwirkungen divergiert

Die Begriffe Nebenwirkungen, Störwirkungen und auch unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) werden relativ deckungsgleich verwendet. Jede Behandlung – auch eine Placebobehandlung – hat immer UAW, d.h. es werden bei einem Teil der Behandelten Symptome auftreten, die mit der Behandlung assoziiert werden. Hier ist es natürlich so, dass durchaus Beschwerden zeitlich korreliert mit der Behandlung vorhanden sein können, die eigentlich mit der Behandlung gar nichts zu tun haben, das gute alte Korrelation vs. Kausalität-Thema. Wenn ich nach einer Placebo-Schmerzmittel-Behandlung Halsschmerzen bekomme, hat das vermutlich mehr mit den gerade bei meinen Kindern grassierenden Kita- und Schulseuchen zu tun als mit der Behandlung. Wenn ich jetzt aber Bauchschmerzen oder Herzrasen oder einen epileptischen Anfall bekäme, wüssten wir nur über die Tatsache, dass ich ja eine Placebo-Behandlung erhalten habe, dass das nichts mit der Behandlung zu tun hat. Wäre ich jetzt in der Verum-Gruppe, sähe das schon anders aus. Trotzdem könnte es ja immer noch sein, dass ich auf Grund ganz anderer Ursachen Herzrasen, Bauchschmerzen oder den epileptischen Anfall bekommen habe.

Der zweite generelle Punkt ist, dass wir gemeinhin bereit sind, bei einer Akut-Notfallbehandlung ganz andere Nebenwirkungsraten und auch eine ganz andere Schwere von Nebenwirkungen zu tolerieren, als in der Sekundär- oder Primärprävention. Das heißt, wenn es „um Leben oder Tod“ geht (schlimmer Begriff, ich weiß) nehmen wir durchaus Behandlungen mit hopp oder top-Ausgang in Kauf. Bei einer Thrombektomiebehandlung bei einem großen ischämischen Schlaganfall kann alles gut gehen und dem Patienten geht es extrem schnell wieder extrem viel besser, das Gefäß kann aber auch zu bleiben, es kann ein sogar größerer Schlaganfall als der ursprünglich entstandene resultieren oder eine Hirnbasisarterie kann ein- oder abreißen, was bei den Fällen die ich mitbekommen habe, immer zum Tod des Patienten geführt hat. Bei einer i.v.-Thrombolyse bei einem Schlaganfall kann das Gefäß wieder aufgehen, es können aber auch schwere und auch tödliche Blutungskomplikationen an Stellen, an denen wir machtlos sind etwas dagegen zu tun auftreten. Das sind – weil ich die Studie gerade zur Hand habe (Link) – bei eine Thrombolyse in einem erweiterten Zeitfenster nach mehr als 4,5 Stunden z.B. durchaus schwere Blutungskomplikationen bei 5% der Probanden gegenüber 1% in der Placebogruppe oder eine Mortalität von 14% in der Behandlungsgruppe gegenüber 9% in der Placebogruppe, aber eben mit der Chance eines sehr guten Outcomes von 36% in der Behandlungsgruppe gegenüber 29% in der Placebogruppe.

Das sind Größenordnungen und -schwere von Nebenwirkungen die niemand von uns akzeptieren würde, wenn es um die Sekundärprävention ginge. Wenn ich nach einem Herzinfarkt oder bei einer Hypertonie einen Betablocker einnehme und mir schwindelig wird und ich Potenzprobleme bekomme, werde ich den ziemlich sicher nicht mehr nehmen, auch wenn mich beides nicht umbringen wird, im Gegensatz zu einem neuen Herzinfarkt. Und noch strenger – das macht aber auch Sinn – ist unsere Nebenwirkungsbereitschaft in der Primärprävention, also wenn ich ein Medikament nehme, um die Krankheit gar nicht erst zu bekommen. Das ist z.B. beim ASS so, was einen festen Stellenwert in der Sekundärprävention nach Herzinfarkt und Schlaganfall hat, was aber in der Primärprävention nicht empfohlen wird (Link), weil sich die geringe Risikoreduktion von 0,06 % pro Jahr mit dem erhöhten Risiko schwerer Blutungskomplikationen von 0,03% in ein nicht mehr signifikantes Maß verschlechtert, so dass die number needed to treat sich auf 270-330 (Männer/Frauen) verschlechtert, welche über sechs Jahre ASS einnehmen müssten um jeweils einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu verhindern. Impfungen sind Primärprävention par excellence. Das heißt, wir müssen einen viel besseren primärprophylaktischen Effekt als den von ASS bei einem möglichst geringen (aber eben nicht nicht-existenten) Nebenwirkungsprofil haben, damit die Impfung sinnvoll ist.

In der Summe heißt das aber auch, irgendwer wird nach einer Impfung auch UAW bekommen, auch wenn die Rate auf die Grundgesamtheit der Geimpften sehr niedrig ist. Und wenn diese schwer verlaufen ist es für den jeweiligen Betroffenen und seine Angehörigen und Freunde total tragisch, bezogen auf „das große Ganze“ sind es dann aber Einzelfälle oder „Kollateralschäden“.

Last but not least – aber das ist vermutlich allen klar – gibt es natürlich ganz unterschiedliche Schweregrade von UAW, diese können naturgemäß von sehr leicht und klinisch kaum relevant bis sehr schwer und potentiell tödlich reichen. Da eine Impfung wie gesagt Primärprävention in Reinform ist, werden wir als Gesellschaft schwere Nebenwirkungen durch eine Impfung nicht bis nur in ganz geringem Maße tolerieren. Wirkstoffe mit schweren Nebenwirkungen nicht als Impfstoff zu verwenden, ist zum Einen die Aufgabe der Zulassungsbehörden, wenn ein neuer Impfstoff auf den Markt kommen soll, zum Anderen der Institutionen, die sich um das Thema Pharmakovigilanz kümmern.

Überwachung von Impfnebenwirkungen

Das Thema Überwachung von Impfnebenwirkungen und auch die Frage, wer das in welcher Art und Weise machen sollte und was die optimale Form der Kommunikation ist, um bei größtmöglicher Transparenz dennoch auch impfskeptische Menschen von einer Impfung zu überzeugen ist weder neu noch Corona-spezifisch noch „was sehr deutsches“. Das wurde auch in der Prä-COVID-Ära intensiv z.B. in den USA diskutiert (Spencer et al.). In Deutschland ist das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) für das Thema Pharmakovigilanz und damit auch für die Impfstoffsicherheit zuständig. Hier werden regelmäßig die berühmten Rote-Hand-Briefe über wichtige Medikamentennebenwirkungen oder Kontraindikationen veröffentlicht. Man kann sich da interessehalber mal durchklicken: Link. Zum Thema COVID-Impfstoffe gibt es gesonderte Sicherheitsberichte, die man hier findet: Link. Wichtig ist, die Zahlen, die dem PEI gemeldet werden sind Verdachtsfälle, also in der Regel Fälle, welche durch die zeitliche Assoziation einer Erkrankung mit der Impfung gegen COVID-19 entstehen. Der aktuelle Sicherheitsbericht schließt gemeldete Verdachtsfälle bis Ende September ein und findet sich hier: Link. Weiter unten gehen wir da noch einmal auf ein paar Punkte ein.

Klassische neurologische UAW nach Impfungen

Klassischerweise erwartet man drei verschiedene neurologische Impfnebenwirkungen, die alle aber den selben Hintergrund haben: Durch die Impfung kommt es zu einer Aktivierung des Immunsystems mit dann teilweise überschießender Immunantwort, bzw. zu einer Überlappung der gegen die Erkrankung gegen die geimpft wurde gebildeten Antikörper mit körpereigenen Eiweißketten, welche von den Antikörpern fälschlicherweise als körperfremd erkannt werden (molekulares Mimikry, Link Wikipedia). Dementsprechend handelt es sich um autoimmun vermittelte Entzündungen an den drei verschiedenen Stellen des Nervensystems:

  • Die akute demyelinisierende Enzephalomyelitis (ADEM), die ich schon mal im SSPE-Artikel beschrieben hatte
  • Die häufigste postvaccinale Entzündung, die Myelitis, also die Entzündung des Rückenmarks
  • Die Entzündung peripherer Nerven und/oder der Nervenwurzeln, häufig als fulminant und generalisiert verlaufendes Guillain-Barré-Syndrom (Link Wikipedia), durchaus aber auch als Entzündung einzelner Nervenwurzeln (Radikulitis) oder einzelner Hirnnerven (Neuritis cranialis)

Akute demyelinisierende Enzephalomyelitis (ADEM)

Als ADEM versteht man eine monophasisch verlaufende Entzündung des Marklagers des Gehirns, welche spontan, nach einem Infekt oder auch nach einer Impfung auftreten kann (Stüve et al.). Die ADEM verursacht – anders als die Multiple Sklerose – in der Regel großflächige multifokale Entzündungen. Je nach Lokalisation variieren die neurologischen Ausfälle, zudem werden enzephalopathische Symptome wie Bewusstseinsstörungen und epileptische Anfälle beschrieben.

Eine ADEM nach Impfung scheint eher ein Phänomen des jüngeren Lebensalters zu sein (Torisu et al.), allerdings werden natürlich Kinder und Jugendliche auch viel mehr und gegen viel verschiedenere Erreger geimpft als Erwachsene.

Behandelt wird die ADEM – wie andere autoimmun-vermittelte ZNS-Entzündungen auch – zunächst einmal mit Steroiden. Die Letalität der ADEM liegt unbehandelt bei ungefähr 30%, behandelt deutlich niedriger. Die Prognose gilt gemeinhin als gut, wenn auch durchaus neurologische Residualsymptome nach durchgemachter ADEM beschrieben werden. Die MRT-Auffälligkeiten bilden sich meistens innerhalb von drei Monaten zurück.

Allerdings besteht hier ein deutliches Korrelations-Kausalitäts-Problem und in verschiedenen Studien und Metaanalysen konnte keine klare Kausalität hergestellt werden, auch weil die Fallzahlen bei parallel sehr hohen Zahlen geimpfter eingeschlossener Probanden sehr niedrig waren (z.B. Baxter et al., Huynh et al.).

Myelitis

In verschiedenen Papern wird die Rückenmarksentzündung, die Myelitis als „kleine Schwester“ der ADEM verstanden, halt nur im Rückenmark statt im Gehirn. Ganz unplausibel ist es nicht, auch da auch die postvaccinalen Myelitiden in der Regel monophasisch und unter Steroidbehandlung recht gutartig verlaufen. Die Symptomatik ist entsprechend der Lokalisation eine meist inkomplette Querschnittslähmung.

Die Myelitis nach Impfung ist deutlich häufiger als eine ADEM, insbesondere nach Influenza-Impfungen sieht man immer mal wieder eine. Auch in der Zulassungsstudie des AstraZeneca-Impfstoffes gegen COVID-19 trat eine derartige Myelitis auf (Link), die in diesem Zusammenhang immer in den Medien etwas unbeholfen „Transverse Myelitis genannt wurde.

Auch bei der Myelitis gibt es ein Problem mit der Kausalitäts-Attributierung (Agmon-Levin et al.), da die Fallzahl klein ist und es eben ganz verschiedene Gründe für eine Myelitis gibt.

Guillain-Barré-Syndrom / Radikulitis / Neuritis cranialis

Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) bekommt noch einmal einen eigenen Blogbeitrag, so lange behelfe ich mir mit dem oben schon verlinkten Wikipedia-Eintrag (Link Wikipedia). Das GBS ist sicherlich eine schwere und auch lebensbedrohliche Erkrankung, die es – wie die anderen beiden Erkrankungen auch – spontan, nach Infekt oder eben nach Impfung geben kann. Beim GBS wird besonders stark das molekulare Mimikry (siehe oben) vermutet, bei dem es dann zu einer autoimmun vermittelten Entzündung der Nervenwurzeln und des ganz körperfernen Anteils der peripheren Nerven kommt. Radikulitis und Neuritis cranialis muss man als „kleine Geschwister“ verstehen, bei der eben nur eine oder wenige Nervenwurzeln oder Hirnnerven betroffen sind.

Die Behandlung von GBS-Patienten ist aufwändig, häufig werden sie intensivpflichtig, benötigen eine Therapie mit intravenösen Immunglobulinen (IVIG), teilweise auch einen Blutplasma-Austausch (Plasmapherese), die Erholungszeiten lang und häufig nur inkomplett.

Und wen wundert es – untersucht man es explizit – gibt es auch hier ein Problem mit dem Thema Assoziation vs. Korrelation (Principi et al.)

Die Behandlung autoimmunvermittelter Radikulitiden oder Hirnnervenneuritiden ist einfacher, meistens reichen Steroide, die Klinik ist in der Regel weniger schwer, die Erholung rascher und besser. Eine Hirnnervenneuritis wurde nach BionTech-Impfung gegen COVID-19 beschrieben (Narasimhalu et al.). Eine zeitlang galten periphere Fazialisparesen als mögliche Impfnebenwirkung nach mRNA-Impfstoff-Impfung, diese tauchen in den PEI-Sicherheitsberichten aber nicht mehr auf.

Ungewöhnliche Nebenwirkungen

Deutlich schwieriger in der Identifikation als Impfnebenwirkung ist das Auftreten von Erkrankungen, mit denen keiner vorher als Impf-UAW gerechnet hat. Berühmtes Beispiel sind die vermehrten Narkolepsie-Fälle nach der Impfung gegen die Schweinegrippe (Edwards et al.) oder die Sinus- und Hirnvenenthrombosen nach AstraZeneca-Impfung bei jüngeren Impflingen (VITT), der Blogartikel dazu kommt mir mittlerweile schon uralt vor: Link. Weil keiner damit gerechnet hat, dauert die Zeit bis zur Identifikation als Impf-UAW in der Regel länger als bei den „erwartbaren“ UAW.

Spätfolgen einer Impfung

Gerade bei dem Thema COVID-Impfstoffe, die es halt einfach noch nicht so lange gibt, kommt immer wieder der Aspekt von Spätfolgen einer COVID-Impfung auf. Gemeint ist damit, dass man jetzt geimpft wird und dann in 20 Jahren oder so vielleicht ein erhöhtes Krebserkrankungsrisiko oder eine gesteigerte kardiovaskuläre Mortalität oder – das höre ich beim Thema Kinderimpfung immer wieder – an Unfruchtbarkeit leiden könnte. Das typische – und m.E. auch richtige – Gegenargument ist, das Impfstoffe sich ja erheblich von anderen Medikamenten, die wir regelmäßig einnehmen unterscheiden, eben weil sie nur ein paar Mal im Leben (oder maximal einmal jährlich) appliziert werden und damit eben nicht mit z.B. Immunsuppressiva – für die derartige Dinge ja beschrieben sind – vergleichbar sind. Immer wieder betont wird, dass die typischen „Langzeitfolgen“ einer Impfung in den ersten Wochen bis Monaten nach Impfung auftreten, auch die gerade erwähnten seltenen Erkrankungen. Ich verlinke hier mal den Thread von Carsten Watzl, der das exemplarisch noch mal erklärt:


(1) Nachdem ich mich heute bei der dpa zu Langzeitfolgen bei Impfungen geäußert habe, fühlen sich viele Menschen dazu berufen, mir per Email die 'Wahrheit' mitzuteilen. Daher hier mal ein 🧵
Spoiler: Vor Langzeitfolgen der COVID-19 Impfung muss man keine Angst haben!

(2) Was sind Langzeitfolgen bei Impfungen? Dazu habe ich schon im Januar in der ersten Watzl Weekly Folge aufgeklärt.
Watzl Weekly 1 [20.01.2021]: Immunologie-Updates für beruflich Pflegende…

(3) Viele Menschen verstehen darunter Nebenwirkungen, die erst viele Monate oder Jahre nach einer Impfung auftreten. Und bei der schnellen Entwicklung der Impfstoffe wäre das natürlich ein Problem. Aber das ist falsch!

(4) Langzeitfolgen bei Impfungen sind seltene Nebenwirkungen, die häufig erst nach längerer Zeit mit der Impfung in Zusammenhang gebracht werden. ABER: Diese Nebenwirkungen treten innerhalb weniger Wochen nach der Impfung auf!

(5) Denn die Impfung erzeugt ein Immunreaktion. Diese ist nach wenigen Wochen abgeschlossen und der Impfstoff ist aus dem Körper verschwunden. Daher passieren Nebenwirkungen immer recht kurz nach der Impfung!

(6) Beispiel Narkolepsie nach Impfung gegen Schweinegrippe.
https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0033536
Auch hier traten die Nebenwirkungen innerhalb weniger Wochen nach der Impfung auf! Es hat aber länger gedauert, bis man das einem der Grippeimpfstoffe zugeordnet hatte.

(7) Beispiel Dengue Impfung. Hier haben sich krankheitsverstärkende Antikörper erst nach 3 Jahren gezeigt? NEIN! Diese sind direkt nach der Impfung aufgetreten, es hat nur 3 Jahre gedauert, bis man den Zusammenhang hergestellt hatte.

(8) Also: Nebenwirkungen treten sehr bald nach der Impfung auf. So auch die Myokarditis, die innerhalb von 5 Tagen nach der zweiten mRNA Impfung auftreten kann. Warum dauert es dann so lange, bis manchmal der Zusammenhang hergestellt ist? Weil es seltene Ereignisse sind!

(9) Beispiel Myokarditis. Diese tritt auch ohne Impfung recht häufig gerade bei männlichen Kindern und Jugendlichen auf. Würden wir bei dieser Gruppe nur 1 Mio COVID-19 Impfungen pro Jahr machen, würde es Jahre brauchen, bis man die Nebenwirkung erkannt hätte.

(10) Aber genau hier ist der Vorteil, dass wir bei den COVID-19 Impfungen >100 Mio Dosen in Deutschland und >6 Mrd. Impfungen weltweit in relativ kurzer Zeit verabreicht haben: Auch die seltensten Nebenwirkungen werden rasch erkannt! Wir kennen die Langzeitfolgen!

(11) Worauf wollen Leute, die Langzeitstudien abwarten wollen, also noch warten? Auf eine noch seltenere Nebenwirkung, die nur bei einer bestimmten Bevölkerungsgruppe bei einem in 1 Mio Geimpften auftritt? So etwas kann man nie ausschließen.

(12) Aber das jetzt noch eine häufige Nebenwirkung auftritt, die erst in 1 Jahr erkannt wird, ist ausgeschlossen! Die Geimpften werden nicht nächstes Jahr alle unfruchtbar und bekommen alle Krebs! Dagegen kennen wir die 'Langzeitfolgen' von COVID-19 recht gut.

(13) Aufgrund eines Fehlers musste ich die erste Version dieses Treads löschen!

Originally tweeted by Carsten Watzl (@CarstenWatzl) on 24. Oktober 2021.


Durch die hohe Zahl an durchgeführten Impfungen haben wir eine sehr große Zahl an geimpften „Personenjahren“ und müssten nach allem medizinischen Sachverstand alle relevanten UAW bereits kennen (oder haben das Muster in den vorliegenden Daten schlimmstenfalls noch nicht erkannt).

Besonderheiten der COVID-Impfungen

Die Grundgesamtheit der Impflinge

Bei der Betrachtung möglicher Impf-UAW nach COVID-19-Impfung muss man eine ganz wichtige Besonderheit beachten: Wir impfen gerade die gesamte Bevölkerung (bzw. bis auf wenige Altersgruppen und Impfgegner) auf einmal. Sonst reden wir bei Impfungen von Kleinkindern, die geimpft werden (das ist im Vergleich zur Gesamtbevölkerung eine überschaubare Kohorte) oder über so Dinge wie Tetanus-Auffrischimpfungen, die man alle 10 Jahre mal bekommt. Selbst bei der jährlichen Grippeimpfung lag die Impfquote unter Gesundheitspersonal in Prä-Corona-Zeiten meist um 30% der zur Impfung aufgerufenen Personen.

Das heißt aber, dass auch alle Erkrankungen, die so in der Normalbevölkerung auftreten bei COVID-Geimpften auftreten. Und nur, wenn sich die Häufigkeit der Erkrankung nach Impfung von der in der Normalbevölkerung unterscheidet oder die Symptomatik sehr eindeutig mit der Impfung zu tun hat, bekommen wir in der derzeitigen Situation eine Ahnung davon, dass es sich um eine Impfnebenwirkung handeln dürfte. Und anders herum können wir noch weniger als sonst jede Erkrankung, die nach einer Impfung auftritt mit dieser assoziieren. Das ist für das Thema kardiovaskuläre Mortalität z.B. wichtig, welches immer wieder durch Corona-Twitter geistert und wo man sagen muss, erst einmal sollten die wahrscheinlicheren Assoziationen abgeklopft werden, z.B. eine Verknüpfung zu Bewegungsmangel, Fehlernährung und vermehrtem psychosozialen Stress durch Lockdown und Homeoffice.

Themen im aktuellen PEI-Sicherheitsbericht

Wenn man sich die Sicherheitsberichte anschaut, so sieht man, dass ein Großteil der gemeldeten Impfnebenwirkungen nach obiger Definition Impfreaktionen sind. Das was wir alle eigentlich mit dem Thema assoziieren sind die Events of special interest (AESI). Relativ präsent ist das Thema Perikarditis/Myokarditis, sowohl beim Abschnitt Impfung von Jugendlichen ab 12 Jahre (1 Fall auf 12.000-13.000 Zweitimpfungen bei Jungen und 1 Fall auf 210.000-250.000 Zweitimpfungen bei Mädchen, Daten bis 30.09.2021 erfasst), als auch bei der Impfung von Erwachsenen. Folgende dem Sicherheitsbericht entnommene Tabelle, aus der die starke Alters- und Geschlechtsabhängigkeit deutlich wird, finde ich sehr hilfreich:

ComirnatySpikevax
AlterMFMF
12-174,810,4911,41 (nur 2 Fälle)/
18-294,680,9711,712,95
30-391,881,114,671,12
40-491,120,932,130,80
50-590,710,770,990,91
60-690,380,290,31/
70-790,470,250,500,45
> 890,180,130,47/
Gesamt1,570,653,781,09
Inzidenzen beziehen sich auf 100.000 Impfungen, nach: PEI-Sicherheitsbericht vom 26.10.2021, Link

Auch zum Outcome finden sich hilfreiche Angaben, wichtig – auch angesichts der teilweise grassierenden Falschinformationen ist noch dieser Abschnitt:

Es wurden neun Todesfälle im zeitlichen Zusammenhang mit der COVID-19- Impfung und einer Myo-/Perikarditis gemeldet: sechs Männer und drei Frauen im Alter von 35 bis 84 Jahren. Fünf Meldungen bei drei Frauen und zwei Männern mit einem mittleren Alter von 70 Jahren (58 -84 Jahre) bezogen sich auf Comirnaty, davon ein Fall, bei dem histologisch eine Myokarditis verifiziert wurde, die vom meldenden Arzt im Zusammenhang mit der Impfung gesehen wurde. In den vier anderen Meldungen stehen noch weitere Informationen aus, sodass eine abschließende Bewertung derzeit nicht möglich ist. Als nicht todesursächlich wurde die Myokarditis bei zwei Männern nach Spikevax bewertet. In beiden Fällen führten wahrscheinlich andere Erkrankungen, die nicht mit der Impfung assoziiert sind, zum Tode. Jeweils ein Todesfall ist nach Vaxzevria und einer nach COVID- 19 Vaccine Janssen berichtet worden. In beiden Fällen stehen weitere Informationen noch aus.

Zweiter Themenkomplex sind allergische Reaktionen (wen wundert es, die gibt es natürlich immer) und dritter das Thema Guillain-Barré-Syndrom. Hierzu schreibt das PEI:

Insgesamt wurden dem Paul-Ehrlich-Institut 255 Fälle eines GBS/MFS berichtet, davon zwei Fälle nach Vaxzevria, drei Fälle nach Comirnaty und ein Fall nach Moderna mit einem tödlichen Verlauf. 17 Patienten (n=8 Vaxzevria, n=7 Comirnaty, n=1 Spikevax, n=1 Janssen) mussten intensivmedizinisch behandelt und teils invasiv beatmet werden. … Für beide mRNA-Impfstoffe ist die Melderate eines GBS deutlich niedriger und nicht höher als statistisch zufällig zu erwarten wäre.

Der letzte Satz ist wichtig, weil wir ja gerade die gesamte Bevölkerung impfen und das GBS in der Gesamtbevölkerung mit einer Inzidenz von 0,9-1,8/100.000 Einwohner auftritt. Die GBS-Inzidenzen nach mRNA-Impfstoffen lagen jedoch bei 0,11-0,13/100.000 Impfungen und für die Vektor-Impfstoffe bei 0,84-1,1/100.000 Impfungen.

Im letzten Themenkomplex geht es um die embolischen Komplikationen, v.a. in Verbindung mit einem Abfall der Blutplättchen (also der VITT), was ja in erster Linie ein AstraZeneca-Thema (und ein bisschen ein Johnson & Johnson-Thema) ist und wo ich seinerzeit mal was dazu geschrieben hatte (aber seit dem Sommer auch die Artikel nicht mehr aktualisiert habe): Link.

Fazit

Natürlich gibt es durch Impfungen und damit auch durch die COVID-Impfung Nebenwirkungen und wer was anderes behauptet ist und bleibt ein Populist:

Aber, es gibt nur wenig schwere Nebenwirkungen und nur sehr wenige, die wir wirklich unzweifelhaft auf die Impfung beziehen können. Beim Thema mRNA-Impfstoffe sind das vor allem die Peri- und Myokarditiden, beim Thema Vektor-Impfstoffe die VITT. Bei den klassischen neurologischen Impfnebenwirkungen ist eine sichere Kausalität oft nur schwer bis gar nicht herzustellen.

Wo man weiterlesen kann

Agmon-Levin, N., Kivity, S., Szyper-Kravitz, M., & Shoenfeld, Y. (2009). Transverse myelitis and vaccines: a multi-analysis. Lupus, 18(13), 1198–1204. https://doi.org/10.1177/0961203309345730

Baxter, R., Lewis, E., Goddard, K., Fireman, B., Bakshi, N., DeStefano, F., Gee, J., Tseng, H. F., Naleway, A. L., & Klein, N. P. (2016). Acute Demyelinating Events Following Vaccines: A Case-Centered Analysis. Clinical Infectious Diseases, 63(11), 1456–1462. https://doi.org/10.1093/cid/ciw607

Edwards, K., Lambert, P. H., & Black, S. (2019). Narcolepsy and Pandemic Influenza Vaccination: What We Need to Know to be Ready for the Next Pandemic. Pediatric Infectious Disease Journal, 38(8), 873–876. https://doi.org/10.1097/INF.0000000000002398

Huynh, W., Cordato, D. J., Kehdi, E., Masters, L. T., & Dedousis, C. (2008). Post-vaccination encephalomyelitis: Literature review and illustrative case. Journal of Clinical Neuroscience, 15(12), 1315–1322. https://doi.org/10.1016/j.jocn.2008.05.002

Principi, N., & Esposito, S. (2019). Vaccine-preventable diseases, vaccines and Guillain-Barre’ syndrome. Vaccine, 37(37), 5544–5550. https://doi.org/10.1016/j.vaccine.2018.05.119

Spencer, J. P., Trondsen Pawlowski, R. H., & Thomas, S. (2017). Vaccine Adverse Events: Separating Myth from Reality. American Family Physician, 95(12), 786–794. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/28671426

Torisu, H., & Okada, K. (2019). Vaccination-associated acute disseminated encephalomyelitis. Vaccine, 37(8), 1126–1129. https://doi.org/10.1016/j.vaccine.2019.01.021

Literaturangaben (keine Weiterlese-Tips)

Narasimhalu, K., Lee, W. C., Salkade, P. R., & De Silva, D. A. (2021). Trigeminal and cervical radiculitis after tozinameran vaccination against COVID-19. BMJ Case Reports, 14(6), e242344. https://doi.org/10.1136/bcr-2021-242344

Stüve, O., Nessler, S., Hartung, H. P., Hemmer, B., Wiendl, H., & Kieseier, B. C. (2005). Akute disseminierte Enzephalomyelitis. Der Nervenarzt, 76(6), 701–707. https://doi.org/10.1007/s00115-004-1842-0

Subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE)

Vorweg

So langsam möchte ich im Blog wieder von den Corona-Beiträgen wegkommen und perspektivisch zu den eigentlichen brainpainblog-Themen zurückkehren. Den Themenkomplex Masern und die Komplikationen einer Masern-Infektion finde ich allerdings in sofern interessant, da bei der ganzen Corona-Diskussion immer wieder neben Polio der Vergleich zur SSPE als Masern-Spätkomplikation gezogen wird. Nur was ist das eigentlich? Dafür müssen wir zunächst einmal in die Tiefen der Mikrobiologie und Pädiatrie eintauchen:

Die Masern: Kleiner Crashkurs

Das Masern-Virus

Auch bei der Herkunft des Masern-Virus geht man von einem eigentlich Tiere infizierenden Virus aus, welches allerdings schon frühgeschichtlich den Sprung auf den Menschen geschafft hat, vermutlich im Rahmen der Entwicklung von Viehhaltung. Anders als Corona-Viren hat das Masern-Virus keine feste Form, sondern ist relativ variabel. Auch es hat eine Hülle, die vom M-Protein gebildet wird und in dem mehrere andere – für die Infektion wichtige – Proteine stecken: Das Hämagglutinin, was in der Regel mit H abgekürzt wird und das F-Glykoprotein. Im Inneren der Hülle liegt die Virus-RNA. Übertragen wird das Masern-Virus vor allem durch Tröpfchen-Infektionen. Zunächst infiziert es Abwehrzellen, in dem das H-Protein an einen Oberflächenfaktor von Immunzellen (CD150) bindet. In den Zellen der Immunabwehr vermehrt sich das Virus und gelangt über die Blutbahn auch in die Atemwege. Dort dockt sich das Masern-Virus an das PRLV4-Protein an über dass das Masern-Virus die Zellen später auch wieder verlassen kann. Bei der Infektion der Immunzellen wird die Bildung verschiedener Zytokine induziert, unter anderem IL-6 und IL-8, begleitend wird über verschiedene Virus-Proteine eine wirksame rasche Immunantwort verzögert. Damit gewinnt das Virus Zeit, um sich im Körper vermehren zu können (das Virus lässt sich auch bei Gesunden noch bis zu 90 Tage nach Infektion in Lymphozyten nachweisen). Schlussendlich wird das Virus dann aber von der zellulären (also T-Zell-vermittelten) Immunsystem-Komponente bekämpft und eliminiert, Antikörper bilden sich erst mit Entwicklung des Hautausschlages aus.

Die Masern-Erkrankung

Masern gelten als eine der klassischen Kinderkrankheiten. Masern sind extrem ansteckend, sogar die ansteckendste derzeit bekannte Infektionskrankheit mit einem R0-Wert von 12-18 (Link Wikipedia, der R0 von COVID-19 beträgt 1,4 bis 5,7). Die Inkubationszeit liegt – auch durch die Fähigkeiten des Virus die Immunantwort zu unterdrücken – bei 10-14 Tagen. Dann entwickeln sich zunächst unspezifische Erkältungssymptome (durch die Infektion der oberen Atemwege), wie Husten, Schnupfen, Bindehautentzündungen und Fieber. Als nächstes Treten an der Mundschleimhaut kleine weiße Papeln auf, die berühmten Koplik-Flecken, die alle Mediziner mal in irgendwelchen Staatsexamens-Prüfungen per Multiple Choice ankreuzen durften. Erst 1-2 Tage später entwickelt sich das Masern-Exanthem, was typischerweise hinter den Ohren beginnt und sich von dort über den Körper ausbreitet. Dieses ist – wie es oft heißt – kirschrot mit kleinen Papeln drin, kann stippchenartig einbluten und verblasst nach ungefähr drei Tagen. Die meisten Infizierten erholen sich innerhalb von sieben Tagen. Als Hauptkomplikation in der akuten Masern-Infektion gilt die Masern-Pneumonie mit einer Häufigkeit von ca. 5%, diese ist auch die häufigste Todesursache. Generell nimmt man eine Letalität von 0,2% an, also 2 von 1.000 Infizierten versterben. Seltenere Komplikationen der akuten Erkrankung sind Durchfälle und Mittelohrentzündungen.

Neurologische Komplikationen durch Masern-Infektionen

Es gibt insgesamt drei neurologische Erkrankungen, die nach einer Masern-Infektion kausal auftreten können und welche die Hauptmotivation für die Impfstoffentwicklung waren: Die ADEM, die Masern-Einschlusskörperchen-Enzephalitis und die SSPE.

Akute demyelinisierende Enzephalomyelitis (ADEM)

Die ADEM ist neben der Masern-Einschlusskörperchen-Enzephalitis die häufigste neurologische Komplikation nach einer Masern-Infektion mit einer Häufigkeit von 0,1% aller Infizierten. Bei der ADEM handelt es sich um einen autoimmun vermittelten Prozess, der wenige Tage bis maximal vier Wochen nach der Infektion auftreten kann und den man in der Neurologie auch nach anderen Erkrankungen und auch nach Impfungen kennt. Eine ADEM nach Masern-Impfung gibt es demnach genauso, allerdings deutlich seltener, man nimmt eine Häufigkeit von 0,25/1.000.000 Impfungen an. Bei der ADEM kommt es – ähnlich zur Multiplen Sklerose – zu einer Entzündung des Marklagers im Gehirn, allerdings deutlich großflächiger und eben monophasisch und nicht wie bei der MS wiederkehrend. Abhängig von den Orten der Infektion kommt es zu neurologischen Ausfällen, zudem werden enzephalopathische Symptome wie Bewusstseinsstörungen und epileptische Anfälle beschrieben.

Bei der ADEM lässt sich kein Masern-Virus im Hirngewebe bei Hirnbiopsien oder im Liquor nachweisen, sie ist als überschießende Immunreaktion zu verstehen. Behandelt wird die ADEM wie andere autoimmun-vermittelte ZNS-Entzündungen auch in erster Linie mit Steroiden. Die Letalität der ADEM liegt unbehandelt bei ungefähr 30%, behandelt deutlich niedriger. Die Prognose gilt gemeinhin als gut, wenn auch durchaus neurologische Residualsymptome nach durchgemachter ADEM beschrieben werden. Die MRT-Auffälligkeiten bilden sich meistens innerhalb von drei Monaten zurück.

Masern-Einschlusskörperchen-Enzephalitis (MIBE)

Hier beginnen die gruseligen Erkrankungen. Die MIBE ist neben der ADEM die zweithäufigste neurologische Masern-Komplikation mit einer Häufigkeit von 0,1-0,3% aller Infizierten. Bei der MIBE kommt es zu einer Viruspersistenz in Nerven- und Gliazellen, und zwar in den namensgebenden Einschlusskörperchen. Aus Biopsien weiß man, dass hier das Virus aus der Primärinfektion einfach im Gehirn zu persistieren scheint. Die MIBE tritt zwischen vier Wochen und neun Monaten nach Infektion auf und ist extrem stark mit Immunschwächen, wie durch Leukämien oder HIV-Infektionen assoziiert. Die Symptomatik ist oft eher unspezifisch, beginnt mit Verhaltensauffälligkeiten, Unruhezuständen, vermehrter Reizbarkeit und im Verlauf dann auch Bewusstseinsstörungen. Für die MIBE sind Letalitätsraten bis 50% der Betroffenen beschrieben. Eine kausale Therapie existiert nicht, es gibt (verzweifelte) Therapieversuche mit hochdosiertem Vitamin A, die – so scheint es zumindest – wenn aber als Post-Expositions-Prophylaxe bei nicht geimpften Kontaktpersonen (Kinder unter 12 Monaten) eines Masern-Ausbruchs wirksam sind. Zudem gibt es es einzelne Fallberichte, die eine erfolgreiche Behandlung mit Ribavirin beschreiben.

Subakute sklerosierende Panenzephalitis

Kommen wir zum eigentlichen Aufhänger des Beitrags. Die SSPE ist die seltenste Komplikation, man geht heutzutage von 3-11 Fällen/100.000 Infizierten aus. Die Häufigkeit hat mit steigender Impfquote stark nachgelassen, so finden sich aus den späten 1980er und frühen 1990er Jahren auch Häufigkeitsangaben von 1:1.367 bei unter 5-Jährigen und für Kleinkinder unter einem Jahr sogar von 1:6.09, nach einer anderen Arbeit aus Deutschland bei unter 5-Jährigen zwischen 1:1.700 bis 1:3.300. Man nimmt an, dass dies daran liegt, dass bei hohen Impfquoten um 95% Kleinkinder – die sonst die höchste Inzidenz haben (im Mittleren Osten zum Beispiel weiterhin 360/100.000 Infizierte) – durch die zumindest einigermaßen funktionierende Herdenimmunität geschützt sind. Auch nach Masern-Impfungen kann vermutlich eine SSPE auftreten, allerdings deutlich seltener. Aktuell wird bei einer Impfung mit Dreifachimpfstoffen (Masern, Mumps, Röteln) oder Vierfachimpfstoffen (Masern, Mumps, Röteln, Windpocken) eine Rate von 1,4 Fällen auf 1.000.000 Impfungen angenommen (es gibt aber auch Arbeiten, die dies auf Impfversager zurückführen). Die SSPE wurde erstmals 1934 beschrieben, Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen. Es sind mehrere Krankheitsstadien beschrieben, die SSPE tritt in der Regel frühestens 2 Jahre nach der Masern-Infektion auf, es sind aber auch Fälle beschrieben, bei der die SSPE mehr als 20 Jahre nach Primärinfektion begann. Die SSPE führt in ungefähr 95% der Fälle zum Tod der Betroffenen.

Pathophysiologie und Liquorbefunde

Aus Autopsie-Studien an SSPE Verstorbener weiß man mittlerweile, dass es bei der SSPE offenbar zu einer Viruspersistenz und -mutation im ZNS kommt mit einer schleichende Infektion des ganzen Gehirns mit dem mutierten Virus. Die Invasion von Nervenzellen scheint über das F-Protein des Masernvirus und CD46 als Oberflächenprotein auf den Nervenzellen zu geschehen. Um die infizierten Zellen herum kommt es zu einer starken und destruierenden Entzündungsreaktion. Offenbar führt diese Entzündungsreaktion dazu, dass das Virus nicht mehr alle Proteine ausbildet und sich in der Folge verändert. Hauptrisikofaktor für dieses Geschehen scheint ein nicht ausgereiftes Immunsystem zu sein, vor allem was die zelluläre Immunantwort betrifft, was die starke Altersabhängigkeit der Erkrankung erklären würde.

Im Liquor lässt sich bei der SSPE in der Regel ein entzündliches Liquorsyndrom und eine extrem hohe intrathekale (vergleiche den Beitrag hier) Antikörper-Produktion von Masern-IgG nachweisen (AK-Titer zwischen 1:40 und 1:1280, Antikörper-Spezifitäts-Index zwischen 5:1 bis 40:1), was man sich durch die jahrelange Virus-Persistenz im Nervensystem mit entsprechender Triggerung des Immunsystems erklärt. In neueren Arbeiten werden auch eine hohe Viruslast in PCR-Tests aus Liquores von SSPE-Betroffenen beschrieben, dieses Verfahren gibt es halt noch nicht so lang, so dass viele ältere Arbeiten vor allem die Antikörper-Titer (und die heute völlig verlassenen Viruskulturen) thematisieren.

EEG und MRT

In bis zu gut 80% der Fälle lassen sich im EEG bilaterale periodische Muster aus delta-Wellen und scharfen Wellen nachweisen, welche alle 2 bis 20 Sekunden auftreten, zunächst vor allem im Schlaf und triggerbar durch Außenreize. Man nimmt an, dass die periodischen Entladungen einer neuronale Übererregbarkeit anzeigen und auch für die häufig auftretenden Myoklonien verantwortlich sind.

In der MRT zeigen sich zunächst kortikale und juxtakortikale T2-hyperintense Läsionen, bevor im Krankheitsverlauf flächige „Sklerosen“ vor allem im hinteren periventrikulären Marklager entstehen und im Verlauf auch den Balken und den Thalamus, sowie das Corpus callosum betreffen.

Krankheitsstadien

Man nimmt gemeinhin sechs Krankheitsstadien an, wobei diese von ungefähr 80% der SSPE-Erkrankten durchlaufen werden:

  1. Die Krankheit beginnt mit diskreten neuropsychologischen Defiziten, wie Hyperaktivität, relativ subtilen Sprachentwicklungsstörungen oder schlechteren schulischen Leistungen. Sehr selten kommt es frühzeitig zu epileptischen Anfällen.
  2. Als zweites Krankheitsstadium gilt die Exazerbation der geschilderten Beschwerden, so dass meistens hier die Diagnosestellung erfolgt.
  3. Im dritten Krankheitsstadium kommt es zu Bewegungsstörungen mit stereotypen Bewegungsabläufen, Tremor, aber auch zu Koordinationsstörungen mit einer deutlichen Ataxie.
  4. Es treten zunehmend Bewusstseinsstörungen auf, bis hin zum Koma.
  5. In gut der Hälfte der Fälle kommt es zu einer Besserung der Beschwerden, diese Phase kann mehrere Jahre anhalten.
  6. Es kommt zu einem Wiederaufflammen der Beschwerden, im Durchschnitt versterben die Patienten drei Jahre nach Symptombeginn.

Bei ca. 20% der Betroffenen kommt es eher zu vier Erkrankungsstadien mit deutlich rascherem Tod nach ungefähr einem Jahr nach Symptombeginn.

Therapeutische Ansätze

Es gibt auch weiterhin keine etablierte, evidenzbasierte und wirksame Therapie der SSPE. Mit verschiedenen – experimentellen – Therapieverfahren lässt sich der SSPE-Verlauf bei bis zu einem Drittel der Betroffenen verlangsamen. Die meisten „guten“ Therapieergebnisse wurden aus einer Kombination mit einmal wöchentlich intrathekal injiziertem Interferon-alpha und der Gabe von Isoprinosin erzielt. Isoprinosin soll die Virusreplikation verlangsamen. Weniger überzeugende Ergebnisse soll es für Ribavirin geben, was als Nukleotidanalogon ebenfalls die Virusreplikation stört.

Masern und COVID-19

Ich halte das kurz, da der Vergleich irgendwie Käse ist, wie man hoffentlich nach der Lektüre bis hier gemerkt hat. Trotzdem versuche ich mal die häufigsten Fragen oder Vermutungen zu beantworten.

Sind Long Covid und SSPE das selbe oder etwas ähnliches?

Nein, nach allem, was wir wissen, entsteht ein großer Teil der postinfektiösen Erschöpfungssyndrome durch verschiedene autoimmun vermittelte Prozesse, wie man auch hier im Long Covid-Pathogenese-Beitrag nachlesen kann. Bei besonders lang anhaltenden Long Covid-Beschwerden scheinen zudem biopsychosoziale Gründe eine wichtige Rolle zu spielen. Die SSPE ist eine Gehirninfektion durch ein im ZNS persistierendes und mutiertes Masern-Virus. Es gibt nur ganz wenige Einzelfallberichte, die bei Menschen mit Long Covid SARS-CoV-2-RNA im Liquor und damit im ZNS nachweisen konnten, zum Beispiel die Veröffentlichung von Viszlayová et al., über die man sicherlich trefflich streiten kann.

Kann man eine SSPE-ähnliche Erkrankung bei SARS-CoV-2 ausschließen?

Nein, in der Medizin kann man nie irgendetwas ausschließen. Wir kennen aber Coronaviren sowohl beim Menschen, als auch bei Tieren seit Jahren. Beim Menschen sind – auch und insbesondere bei der SARS-1- und MERS-Epidemie derartige Erkrankungen nicht beschrieben worden, diese Epidemien liegen nun knapp 20, bzw. knapp 10 Jahre zurück, so dass man analog zur SSPE „so langsam“ Fälle erwarten würde. Bei Tieren hatte Christian Drosten in der Coronavirus-Podcast-Folge 99 (Link Podcast, Link Transkript) von der felinen infektiösen Peritonitis, bei der bestimmte mutierte Katzen-Coronaviren häufig tödlich verlaufende Bauchfellentzündungen verursachen gesprochen. Hier ein tiermedizinischer Artikel hierzu: Link. Dies mag etwas an die SSPE erinnern, allerdings gibt es bei der felinen infektiösen Peritonitis keine so langen Latenzen zwischen Infektion und Erkrankungsausbruch, wie bei der SSPE.

Wo man weiterlesen kann

Gutierrez, J., Issacson, R. S., & Koppel, B. S. (2010). Subacute sclerosing panencephalitis: an update. Developmental Medicine & Child Neurology, 52(10), 901–907. https://doi.org/10.1111/j.1469-8749.2010.03717.x

Weber, T. (2018). Masern – Warum ist die Impfung notwendig und wie gehe ich mit Impfgegnern um? Aktuelle Neurologie, 45(09), 672–689. https://doi.org/10.1055/a-0681-9696

Literaturangaben (keine Weiterlese-Tips)

Viszlayová, D., Sojka, M., Dobrodenková, S., Szabó, S., Bilec, O., Turzová, M., Ďurina, J., Baloghová, B., Borbély, Z., & Kršák, M. (2021). SARS-CoV-2 RNA in the Cerebrospinal Fluid of a Patient with Long COVID. Therapeutic Advances in Infectious Disease, 8, 204993612110485. https://doi.org/10.1177/20499361211048572

Kremendahl, J. (2014). Feline infektiöse Peritonitis – ein aktueller Überblick. Kleintier Konkret, 17(02), 10–14. https://doi.org/10.1055/s-0033-1361536