Meine Fibro und ich

Ich glaube, es war mein erster oder zweiter Tag in der Schmerztherapie, als eine Patientin von „meiner Fibro“ sprach und ich sofort dachte, „oh Gott ich bin hier falsch“. Das hat dann nicht mal zwei Wochen gedauert, bis ich zu einer anderen Patientin gesagt habe „Ihre Fibro“. Also, man gewöhnt sich dran. Aber was ist das eigentlich, das Fibromyalgie-Syndrom?

Fibromyalgie vs. Fibromyalgie-Syndrom

So Standard-Definitionen des Fibromyalgie-Syndroms lauten „Das Fibromyalgiesyndrom (FMS) ist eine extreme Ausprägung […] im Sinne eines Kontinuums von regionalen zu generalisierten Schmerzen bei zunehmendem Distress.“ Äh ja. Also, als Fibromyalgie oder Fibromyalgie-Syndrom (warum die zweite Formulierung eigentlich besser ist, dazu gleich noch mehr) oder neudeutsch chronic widespread pain (wobei das eigentlich der Oberbegriff und Fibromyalgie-Syndrom dann der Unterbegriff sein müsste) bezeichnet man diffuse, oft aber nicht immer gelenknahe, Schmerzen an verschiedenen – teils wechselnden – Körperregionen, die teilweise so multipel verteilt sind, dass am Ende Ganzkörper-Schmerzen resultieren. Das wäre dann ein chronic widespread pain. Die Schmerzen nehmen oft bei körperlicher Belastung und psychosozialem Stress zu. Dazu kommen aber noch weitere Symptome, typischerweise Schlafstörungen mit fragmentiertem, nicht erholsamen Schlaf, Morgensteifigkeit und eine vermehrte körperliche und geistige Ermüdbarkeit. Und das ist dann das Fibromyalgie-Syndrom.

Da ganz verschiedene Menschen die Fibromyalgie-Symptome entwickeln können – die typische Spanne geht von Menschen mit einer rheumatischen Erkrankung, die diese Symptomatik im Verlauf entwickeln bis hin zu Menschen mit Traumafolgestörungen und Missbrauchserfahrungen, die dann Jahre nach dem Trauma diese Schmerzen bekommen – kann es sich am Ende nicht um eine definierte Krankheit (also die eine Fibromyalgie) handeln, sondern um ein Syndrom (im klassischen neurologischen Sinne), welches die gemeinsame Endstrecke verschiedener Pathomechanismen darstellt.

Wer und wie bekommt man ein Fibromyalgie-Syndrom?

Klischeemäßig bekommen v.a. übergewichtigere mittelalte Frauen mit Kurzhaar-Frisur ein Fibromyalgie-Syndrom. Aber wie ist die Fibromyalgie wirklich verteilt hinsichtlich ihrer Auftretenshäufigkeit? Insgesamt ist die Fibromyalgie eine Erkrankung der westlichen Industrieländer, je nach Diagnosekriterien kann man davon ausgehen, dass zwischen 1-3% der Bevölkerung betroffen ist. Frauen sind häufiger als Männer betroffen, wobei die Angaben zur Verteilung von 6:1 bis 2:1 schwanken (ebenfalls je nach Diagnosekriterien, 2:1 ist das Verhältnis mit den neueren Diagnosekriterien von 2010). Und es ist eine Erkrankung des mittleren Lebensalters mit einem Peak zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr.

An so schwammigen Sätzen wie „Das FMS kann als funktionelles somatisches Syndrom klassifiziert werden“. kann man erkennen, dass die Pathogenese (bzw. unter der Annahme von oben die verschiedenen Wege der Pathogenese) relativ unklar sind, wobei sich so ganz langsam eine allgemein akzeptierte Auffassung herausbildet. Am Ende kann man sich das Fibromyalgie-Syndrom noch a.e. als eine abgeschlossene Schmerzchronifizierung mit (peripherer und) zentraler Sensibilisierung vorstellen, wobei der Auslöser dieser Chronifizierung nicht eindeutig zu benennen ist, bzw. vermutlich verschiedene Auslöser existieren. Aber die generelle Schmerzüberempfindlichkeit mit den Teils neuropathisch empfundenen Schmerzen und den psychischen Begleitsymptomen entspricht diesem Konstrukt recht gut.

Als akzeptierte Risikofaktoren für die Entwicklung eines Fibromyalgie-Syndromes gelten folgende Punkte, welche man noch einmal in drei Gruppen unterteilen kann:

Biologische Faktoren:

  • Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis
  • Genpolymorphismen des 5HT2- Rezeptors
  • Vitamin D Mangel

Lebensstil-Faktoren:

  • Nikotinabhängigkeit
  • Adipositas
  • Mangelnde körperliche Aktivität

Psychische Faktoren:

  • Körperlicher und sexueller Missbrauch in der Kindheit
  • sexuelle Gewalt im Erwachsenenalter
  • Depressive Erkrankungen

Zu den Veränderungen, die ich mit „abgeschlossene Schmerzchronifizierung“ zusammengefasst habe, kommen noch andere Aspekte hinzu. So konnte man bei einem Teil von Fibromyalgie-Patienten in Studien eine autonome Dysfunktion herausarbeiten, wobei sowohl sympathikotone (die meisten Arbeiten), aber auch asympathikotone Dysregulationen (dtl. weniger Arbeiten) beschrieben wurden. Relativ neu ist die Beobachtung, dass ebenfalls bei einem Teil von Fibromyalgie-Patienten eine reduzierte intraepidermale Nervenfaserdichte gefunden wurde. Dieses Phänomen findet sich (mit etwas anderer histologischer Betonung) bei der small fibre Neuropathie, aber auch bei der Zoster-Neuralgie und auch bei Parkinson-Patienten (die ja ebenfalls häufig über Schmerzen klagen). Warum das so ist bei der small fibre Neuropathie (wobei die genaue Pathogenese recht unverstanden erscheint), ist mal einen eigenen Blogeintrag wert. Auch ist mir nicht ganz klar, warum beim Fibromyalgie-Syndrom autonome Störungen als eigner Pathomechanismus neben der small fibre-Pathologie gelten, wo sie bei der small fibre Neuropathie als eine Unterformen beschrieben werden.

Wie diagnostiziert man ein Fibromyalgie-Syndrom?

In unseren Köpfen spuken beim Thema Fibromyalgie und deren Diagnose immer noch die tender points herum, wobei diese in den mittlerweile 30 Jahre alten ACR-Diagnosekriterien von 1990 vorkamen und in den auch schon 10 Jahre alten revidierten Kriterien ersatzlos gestrichen wurden. In den aktuell verwendeten Diagnosekriterien geht es einmal um einen Ausschluss einer anderen, die Symptomatik erklärenden, Diagnose und zum anderen um die Feststellung, dass an mindestens 7 von 19 Lokalisationen (die dann doch wieder den tender points ähneln) Schmerzen bestehen und dass es Zusatzsymptome wie Bauchschmerzen, depressive Störungen, Müdigkeit, nicht-erholsamer Schlaf usw. gibt. Diese Symptome werden in der Regel standardisiert über Fragebögen erfasst. Als Ausschlussdiagnostik empfehlen die Autoren der aktuellen Leitlinie eine vollständige neurologische und orthopädische Untersuchung und eine laborchemische Diagnostik incl. BSG, CRP, BB, CK, Kalzium, TSH und Vitamin D. Gefordert wird dann noch eine „Vollständige medizinische Anamnese inkl. Medikamentenanamnese“ und das wars. Das erscheint mir ingesamt recht überschaubar.

Und wie behandelt man ein Fibromyalgie-Syndrom

Zunächst einmal nicht kausal, da wir den oder die Gründe für die Entwicklung eines Fibromyalgie-Syndromes ja nicht kennen. Medikamentös ist die Studienlage sehr überschaubar, in erster Linie gibt es eine schwache Evidenz für Medikamente, welche die absteigende Schmerzhemmung stärken, also Trizyklika (und Duloxetin), das ganze aber auch nur zeitlich begrenzt. Und dann kann man noch Pregabalin erwägen, das war es dann aber schon. Der Schwerpunkt der Behandlung des Fibromyalgie-Syndromes liegt aber sowieso in den nicht-medikamentösen Verfahren, in ganz viel Edukation, ganz viel Schmerz-Psychologie und -Psychotherapie, um Schmerz-Teufelskreise zu durchbrechen, ein Verständnis für ggfs. vorliegende psychiatrische Komorbiditäten und ihre Behandlung zu schaffen und um erste Ansätze von Selbstwirksamkeit zu vermitteln; das ganze kombiniert mit der regelmäßigen Anwendung von Muskelentspannungsverfahren und einem freundlich aber bestimmten Heranführen an körperliche Betätigung in Form von Ausdauersport. Am besten gelingt dies – insbesondere bei schwereren Krankheitsverläufen – in einem multimodalen schmerztherapeutischen Behandlungssetting, idealerweise in einem tagesklinischen Setting.

Wo man weiterlesen kann

S3-Leitlinie Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Fibromyalgiesyndroms https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/145-004.html

  1. Woolf, C. J. Central sensitization: Implications for the diagnosis and treatment of pain. Pain 152, S2–S15 (2011).
  2. Eich, W. et al. Das Fibromyalgiesyndrom. Der Schmerz 26, 247–258 (2012).
  3. Chinn, S., Caldwell, W. & Gritsenko, K. Fibromyalgia Pathogenesis and Treatment Options Update. Curr. Pain Headache Rep. 20, 25 (2016).
  4. Evdokimov, D. et al. Reduction of skin innervation is associated with a severe fibromyalgia phenotype. Ann. Neurol. 86, 504–516 (2019).

Kompliziertes, was eigentlich ganz einfach ist: Wie Schmerzen chronifizieren

Update Ich habe den Beitrag noch mal ein wenig gepimpt und um noch einige Aspekte ergänzt, u.a. um die absteigende Schmerzhemmung, aber auch um den Begriff des noziplastischen Schmerzes.
Heute soll es also um ein klassisches Grundlagenthema gehen, nämlich die Frage wie das mit der Chronifizierung von Schmerzen eigentlich funktioniert. Das ganze kann man in drei große Themenblöcke teilen: Das, was im peripheren Nervensystem und im Rückenmark passiert, das was im Gehirn organisch passiert und das, was biopsychosozial passiert. Ganz generell spricht man von chronischen Schmerzen, wenn Schmerzen länger als 6 Monate anhalten. Es gibt aber Ausnahmen, wie primäre Kopfschmerzerkrankungen, wo das Attribut chronisch eine bestimmte Anzahl an Kopfschmerztagen im Monat beschreibt.

Periphere Sensibilisierung

Vor chronisch kommt akut: Periphere Mechanismen der Schmerzwahrnehmung

Bevor man sich Gedanken über die Chronifizierung von Schmerzen im peripheren Nervensystem machen kann, muss man einmal rekapitulieren, wie das mit der Schmerzwahrnehmung im peripheren Nervensystem überhaupt funktioniert. Ganz in der Peripherie, z.B. in der Haut sitzen Schmerzrezeptoren. Diese Nozizeptor-Zellen gehören zu den TRP-Kanälen. TRP steht für transient rezeptor potential und davon gibt es verschiedene Typen. Die verschiedenen Typen reagieren auf verschiedne Reize, Hitze, Kälte, Druck, bestimmte Zytokine usw. Allen gemeinsam ist, dass sie bei Aktivierung Kalziumkanäle öffnen, über die Kalziumionen in die Zelle einströmen können. Dadurch depolarisiert die Zelle und es kann sich ein Aktionspotential bilden. Einer der wichtigsten TRP-Kanäle ist TRPV1. TRPV1 wird durch Temperaturen über 43° Celsius aktiviert, aber auch durch Capsaicin. Das Gegenstück zu TRPV1 ist TRPM8, welcher durch Kälte aktiviert wird. Wichtig ist noch TRPA1, welcher auf verschiedene Chemikalien reagiert (das ist auch der, der Zwiebel-, Meerrettich- und Tränengas-Inhaltsstoffe als Trigger benutzen kann). Am anderen Ende der Nozizeptor-Axone – am Rückenmark – sitzen Synapsen, welche Glutamat als Substrat haben.

Periphere Sensibilisierung

Insgesamt drei Mechanismen können zum Komplex periphere Sensibilisierung gezählt werden:
Die Phosphorilierung von TRP-Kanälen: In der Nähe der TRP-Kanäle befinden sich G-Protein-gesteuerte Rezeptoren, die auf inflammatorische Zytokine reagieren. Bei einer Entzündungsreaktion mit Einwanderung von Immunzellen, welche ja eben diese Zytokine freisetzen, werden die Rezeptoren aktiviert und sorgen über Proteinkinasen für eine Phosphorilierung von TRP-Rezeptoren. Durch diese Phosphorilierung werden die TRP-Kanäle empfindlicher. So wird z.B. TRPV1 in seiner phosphorilierten Version schon bei 37° Celsius aktiviert. Das bedeutet aber, dass dann auch schon normale Temperaturen einen Schmerz- und Hitzereiz auslösen. Das selbe gilt für die anderen TRP-Rezeptoren. So erklärt man sich das Auftreten von thermischer Hyperalgesie, Kältealllodynie und mechanischer Allodynie. Diesen Prozess bezeichnet man auch als periphere Sensibilisierung. Der physiologische Sinn dieser peripheren Sensibilisierung ist bei einer akuten Entzündung sicherlich nachvollziehbar. Wenn schon normale Sinnesreize zu Schmerzen führen, wird das entsprechende Körperteil stärker geschont. Der genaue Mechanismus bei chronischen Schmerzen, der zur peripheren Sensibilisierung führt und der tiefere Sinn dahinter ist hingegen nur teilweise verstanden. Ein Aspekt scheint die durch CGRP vermittelte neurogene Entzündung zu sein, mehr dazu aber gleich.
Vermehrte Expression von spannungsabhängigen Natriumkanälen: Die Nervenfasern selber, die die Schmerzreize weiter Richtung Rückenmark leiten, sind ja unmyelinisierte C-Fasern oder nur dünn myelinisierte A-𝛿-Fasern. Diese benutzen wiederum spannungsabhängige Natrium-Kanäle um das Nerven-Aktionspotential fortzureiten. Bei einer Gewebsverletzung geht mit relativ großer Wahrscheinlichkeit auch eine kleine Nervenfaser mit kaputt, auf jeden Fall bei einer schwereren Verletzung. Diese Nervenverletzung führt über die Ausschüttung von TNF-⍺ und IL-6 zu einer vermehrten – und sehr schnellen – Mehrexpression eben dieser Natriumkanäle. Dies führt zu einer vermehrten Erregbarkeit der Schmerzfasern im entzündeten Gewebe. Die analgetische Wirkung von Lidocain kann man vermutlich hierüber erklären, ja klar es betäubt auch einfach und hindert die Axone über die Blockade der Natriumkanäle an der Schmerzweiterleitung, in niedriger Dosierung, z.B. in einem Lidocain-Pflaster wirkt es aber in erster Linie schmerzlindernd. Vermutlich in dem es die über-exprimierten Natriumkanäle blockiert.
Sympathikus-Aktivierung: Das Konzept des sympathisch unterhaltenen Schmerzes ist mit der zunehmenden Neurologisierung der Schmerzmedizin ein wenig in die Ecke komischer Anästhesisten-Kram gedrängt worden und kommt irgendwie immer wenig in den Übersichtsarbeiten vor, ist aber in der Therapie dennoch von Bedeutung. Bei einer Nervenverletzung kommt es nämlich auch zu einer Mehrexpression von ⍺1- und ⍺2-Adrenorezeptoren mit einer vermehrten Empfindlichkeit der Nervenfasern für Katecholamine. Dies passiert physiologischerweise z.B. bei Kältereizen, pathophysiologisch aber auch bei verschiedenen neuropathischen Schmerzsyndromen, u.a. bei der Trigeminus-, Post-Zoster-Neuralgie und beim CRPS. Das Konzept der Sympathikusblockaden – in der Regel mit Opioiden im Rahmen einer GLOA – mag mit seinen langen Nadeln und den Injektionsvorrichtungen tatsächlich wie komischer Anästhesisten-Kram anmuten, hilft – zumindest der Erfahrung nach – relativ gut bei sonst therapierefraktären Schmerzsyndromen, auch wenn die Datenlage insgesamt relativ dünn ist.

Zentrale Sensibilisierung

Sensibilisierung auf Rückenmarksebene: Alles wird schlimmer gemacht, als es eh schon war

Im Rückenmark passieren vier entscheidende, aber verschiedene Mechanismen, die hier zu einer Schmerzverstärkung führen.
Erstens: Wie erwähnt, ist der Neurotransmitter der Schmerzfasern hier Glutamat. Und wie man sich vielleicht noch ganz dunkel an Biochemie erinnern kann, gibt es zwei glutamaterge Rezeptoren. AMPA- und NMDA-Rezeptoren. Die NMDA-Rezeptoren machen bei Aktivierung ja nichts anderes, als die Depolarisation der AMPA-Rezeptoren noch einmal zu verstärken. Schmerzreize verstärken sich also auf Rückenmarkseben selber, parallel kommt es zudem zu einer Hemmung schmerzweiterleitungshindernder GABA-erger und Glycin-erger Neuronen.
Der zweite Aspekt ist die neurogene Entzündung. Es ist nämlich so, dass schon die Aktivierung von TRP-Kanälen zur Freisetzung von inflammatorischen Neuropetiden führt, insbesondere zur Freisetzung von CGRP. CGRP wiederum macht eine Vasidilatation, lockt v.a. T-Zellen an und aktiviert diese über CGRP-Rezeptoren auf den Immunzellen. Dies führt wiederum zur Aktivierung von Mikroglia im Hinterhorn des Rückenmarks, dies wiederum zur Freisetzung von noch mehr Zytokinen, die zu noch mehr lokaler Entzündung und zu noch mehr Aktivierung von nozizeptiven Fasern führen. Und nun schließt sich der Kreis, unter diesen Zytokine sind auch Prostaglandine, welche wiederum die Phosphorilierung der TRP-Kanäle vorantreiben, was – und das hatten wir ja schon – auch noch zu noch mehr peripherer Sensibilisierung führt.
Drittens gibt es auf Rückenmarksebene sogenannte wide-dynamic-range-Neurone, was man mit WDR abkürzen kann und was an den Kölner Tatort erinnert und ein wenig nach besseren Handyfotos vom Sonnenuntergang klingt (aber das ist HDR). Diese lassen sich durch den schon beschriebenen Glutamat-Stoffwechsel aktivieren und haben Afferenzen sowohl aus dem nozizeptiven, aber auch aus dem epikritischen Nervenfaser-System. Dies führt zum Einen mit zur mechanischen Allodynie, zum Anderen, durch die jeweils großen Input-Areale der WDR-Neuronen zu dem Phänomen, dass das allodyne Areal oft deutlich größer ist, als das eigentlich schmerzhafte primär geschädigte Areal.
Viertens gehören die im ersten Punkt erwähnten schmerzweiterleitungshindernde GABA-ergen und Glycin-ergen Neuronen zum absteigenden schmerzhemmenden System, welches vom Hypothalamus aus auf Rückenmarksebene projiziert und ganz entscheidend eine gate-keeper-Funktion einnimmt und im Normalfall die Weiterleitung eines Großteils der eingehenden nozizeptiven Reize über die GABA- und Glycin-vermittelte Hyperpolarisation verhindert. Diese absteigende Schmerzhemmung die in ihren proximalen Abschnitten mit Serotonin und Noradrenalin als Botenstoffen arbeitet, erschöpft sich leider bei vermehrter Inanspruchnahme relativ schnell. Dieses System „wieder aufzufüllen“ ist die Rationale hinter dem Einsatz serotonerg und noradrenerg wirkender Antidepressiva in der Behandlung von Schmerzen.

Im Gehirn: Mediales und laterales schmerzverarbeitendes System

Im Gehirn wird das ganze weniger one-way, sondern durchaus komplexer. Die entscheidenden Informationen zur Funktionsweise der zerebralen Schmerzverarbeitung beim Menschen stammen v.a. aus fMRT-Untersuchungen. Verschiedene Strukturen des Gehirns scheinen je nach Situation in unterschiedlichem Ausmaß an der Schmerzverarbeitung beteiligt zu sein, so dass man von der Schmerzmatrix spricht. Diese ist auf Grund der weniger anatomisch-physiologischen Erforschung eher diffuser und „funktionaler“ in ihrer Beschreibung in der Literatur. Von unten nach oben sind Hirnstamm, Mittelhirn, Hypothalamus, Thalamus, Kleinhirn, Amygdala, präfrontaler Kortex, insulärer Kortex, anteriorer zingulärer Kortex und natürlich die sensiblen Kortexareale hauptsächlich in die Schmerzverarbeitung involviert. Funktionell unterscheidet man dann zwei „Haupt-Schmerzbahnen“: Das laterale und das mediale schmerzverarbeitende System. Das laterale System ist sozusagen der „objektive“ Schenkel der Schmerzverarbeitung, hier geht es um Schmerzintensität und -lokalisation. Hierzu zählen lateraler Thalamus, sensorischer Kortex , Stammganglien und Kleinhirn. Das **mediale System **dient v.a. der affektiv-emotionalen Interpretation von Schmerzreizen und besteht aus medialem Thalamus, insulärer Kortex, zingulärer Kortex und präfrontaler Kortex gehören.
Das bildgebend darstellbare Hauptphänomen bei der Chronifizierung von Schmerzen auf Gehirn-Ebene scheint eine Verschiebung der Schmerzverarbeitung mit Zunahme der Funktion des medialen Schmerzsystems und parallel geringerer Bedeutung des lateralen Schmerzsystems zu sein. Insbesondere im limbischen System und im präfrontalen Kortex nimmt die Stoffwechselaktivität bei chronischen Schmerzen zu. Dies ist insofern interessant, da diese Strukturen ja auch ganz entscheidend im Lern- und Belohnungssystem involviert sind. Bei bestimmten chronischen Schmerzsyndromen, beschrieben ist es für das CRPS, kommt es sehr rasch zudem zu einer Umorganisation des sensiblen Kortex mit Verschiebung der Somatopie, was z.B. die veränderte Körperwahrnehmung und die Neglekt-artigen Symptome beim CRPS erklären könnte. Und zwar wird die kortikale Repräsentation des schmerzhaften Areals sehr schnell sehr viel kleiner und damit schlechter in ihrer Ortsauflösung. Letztlich kommt es zudem auch – ähnlich wie schon in den anderen Strukturen – zu einer Veränderung der Zytokin- und Neurotransmitter-Situation mit Umorganisation von Zellen mit Opioid-Rezeptoren, aber auch des dopaminergen Systems.

Der ist ja auch voll Psycho und so: Biopsychosoziale Faktoren bei chronischen Schmerzen

Irgendwie ja auch ein zentrales weil zerebrales Thema, aber mehr inhaltlich als strukturell-neuroanatomisch, ist die Bedeutung verschiedener Lebens- und Umwelteinflüsse auf die Schmerzchronifizierung. In der Praxis der Behandlung von Menschen mit chronischen Schmerzen sind diese Faktoren ganz sicher viel entscheidender als alle Kenntnis über die Veränderung in Stoffwechselvorgängen oder (fehlgeleiteter) Neuroplastizität, wie ich sie bisher beschrieben habe. Kernerkenntnis dieses biopsychosozialen Modells chronischer Schmerzen ist es, dass man Schmerzentstehung, -verarbeitung und -chronifizierung eben nicht diametral in körperliche und psychische Faktoren unterscheiden kann, sondern dass sich diese zusammen mit Umwelt- und Gesellschaftseinflüssen beeinflussen. In den meisten Arbeiten werden beim biopsychosozialen Modell chronischer Schmerzen emotionale, kognitive, körperliche Faktoren und Verhaltensmechanismen und ihre Interaktion untereinander genannt. Da ich die Zuordnung der Faktoren zu den einzelnen Unterpunkten teilweise widersprüchlich und redundant empfinde, hier einmal mit Absicht ungeordnet die wichtigsten Punkte:

  • Die erlernte Hilf- und Hoffnungslosigkeit durch lang andauernde Schmerzen
  • Die Neigung zum Katastrophisierung auf Grund des Gefühls, dass die Schmerzen nicht zu kontrollieren sind und die aus diesen beiden Punkten häufig resultierenden (reaktiven) depressiven Symptome und -Erkrankungen
  • Die Fixierung auf den Schmerz und die Schmerzfreiheit als absolutes Ziel, ohne dass ein „normales“ Leben nicht wieder möglich erscheint
  • Die Wahrnehmung sehr hoher Schmerzintensitäten (NRS 8-10) ohne relevante Schwankungen der Schmerzintensität unabhängig von äußeren Faktoren aber auch unabhängig von Medikamenteneinnahme
  • Die Vermeidung körperlicher Betätigung aus der Erfahrung heraus, dass diese zu einer Schmerzzunahme führen kann oder auch das Gegenmodell, ein krankhaftes Durchhalten
  • Die Verstärkung des Schmerzerlebens im lernpsychologischen Sinn durch die dauerhafte und wiederholte Thematisierung und Fokussierung der Schmerzen bei verschiedenen und häufigen Arzt- und Therapeutenkontakten
  • Zielkonflikte (früher mal sekundärer Krankheitsgewinn) durch ein Mehr an Zuwendung von Freunden, Familie, Partnern und sozialem Umfeld auf Grund der Schmerzen, die Vermeidung und Lösung von interaktionellen Konflikten durch die Schmerzen, die Lösung nicht befriedigender Arbeitssituationen, die dazu führen, dass die Schmerzen „gar nicht besser werden dürfen“, da sonst die Konfliktlösung wegfällt.
  • Vereinsamung durch Abbruch sozialer Beziehungen, auch weil Partner/Freunde sich irgendwann von der dauerhaft hilfsbedürftigen Person abwenden
  • Frustrane Behandlungserfahrungen von medizinischen Vorbehandlungen
  • Wirtschaftliche Bedrohung durch Armut durch Wegfall von Lohnfortzahlung, Krankengeld oder durch Arbeitslosigkeit.
  • Diese Punkte zu thematisieren, für sich anzunehmen und Bewältigungsstrategien zu entwickeln, ist – wie schon gesagt – der entscheidende Teil bei der Behandlung chronischer Schmerzen, oft weit mehr als jede medikamentöse und erst recht als jede interventionelle oder operative Behandlung.

Diese Punkte zu thematisieren, für sich anzunehmen und Bewältigungsstrategien zu entwickeln, ist – wie schon gesagt – der entscheidende Teil bei der Behandlung chronischer Schmerzen, oft weit mehr als jede medikamentöse und erst recht als jede interventionelle oder operative Behandlung.

Noziplastischer Schmerz

Die beschriebenen Mechanismen führen an ganz verschiedenen Stellen zu dem Phänomen, dass ab einem gewissen Punkt der Schmerz durch die fehlgeleitete Neuroplastizität sich selbst unterhalten kann und gar keinen nozizeptiven Input mehr braucht. Um dieses Phänomen von den sonst etablierten Schmerzarten nozizeptive und neuropathische Schmerzen abzugrenzen, wurde der Begriff noziplastische Schmerzen eingeführt.

Wo man weiterlesen kann
  1. Borsook, D., Youssef, A. M., Simons, L., Elman, I. & Eccleston, C. When pain gets stuck. Pain 159, 2421–2436 (2018).
  2. Morlion, B. et al. Pain chronification: what should a non-pain medicine specialist know? Curr. Med. Res. Opin. 34, 1169–1178 (2018).
  3. Pak, D. J., Yong, R. J., Kaye, A. D. & Urman, R. D. Chronification of Pain: Mechanisms, Current Understanding, and Clinical Implications. Curr. Pain Headache Rep. 22, 9 (2018).
  4. Trouvin, A.-P. & Perrot, S. New concepts of pain. Best Pract. Res. Clin. Rheumatol. 33, 101415 (2019).