Meine Fibro und ich

Ich glaube, es war mein erster oder zweiter Tag in der Schmerztherapie, als eine Patientin von „meiner Fibro“ sprach und ich sofort dachte, „oh Gott ich bin hier falsch“. Das hat dann nicht mal zwei Wochen gedauert, bis ich zu einer anderen Patientin gesagt habe „Ihre Fibro“. Also, man gewöhnt sich dran. Aber was ist das eigentlich, das Fibromyalgie-Syndrom?

Fibromyalgie vs. Fibromyalgie-Syndrom

So Standard-Definitionen des Fibromyalgie-Syndroms lauten „Das Fibromyalgiesyndrom (FMS) ist eine extreme Ausprägung […] im Sinne eines Kontinuums von regionalen zu generalisierten Schmerzen bei zunehmendem Distress.“ Äh ja. Also, als Fibromyalgie oder Fibromyalgie-Syndrom (warum die zweite Formulierung eigentlich besser ist, dazu gleich noch mehr) oder neudeutsch chronic widespread pain (wobei das eigentlich der Oberbegriff und Fibromyalgie-Syndrom dann der Unterbegriff sein müsste) bezeichnet man diffuse, oft aber nicht immer gelenknahe, Schmerzen an verschiedenen – teils wechselnden – Körperregionen, die teilweise so multipel verteilt sind, dass am Ende Ganzkörper-Schmerzen resultieren. Das wäre dann ein chronic widespread pain. Die Schmerzen nehmen oft bei körperlicher Belastung und psychosozialem Stress zu. Dazu kommen aber noch weitere Symptome, typischerweise Schlafstörungen mit fragmentiertem, nicht erholsamen Schlaf, Morgensteifigkeit und eine vermehrte körperliche und geistige Ermüdbarkeit. Und das ist dann das Fibromyalgie-Syndrom.

Da ganz verschiedene Menschen die Fibromyalgie-Symptome entwickeln können – die typische Spanne geht von Menschen mit einer rheumatischen Erkrankung, die diese Symptomatik im Verlauf entwickeln bis hin zu Menschen mit Traumafolgestörungen und Missbrauchserfahrungen, die dann Jahre nach dem Trauma diese Schmerzen bekommen – kann es sich am Ende nicht um eine definierte Krankheit (also die eine Fibromyalgie) handeln, sondern um ein Syndrom (im klassischen neurologischen Sinne), welches die gemeinsame Endstrecke verschiedener Pathomechanismen darstellt.

Wer und wie bekommt man ein Fibromyalgie-Syndrom?

Klischeemäßig bekommen v.a. übergewichtigere mittelalte Frauen mit Kurzhaar-Frisur ein Fibromyalgie-Syndrom. Aber wie ist die Fibromyalgie wirklich verteilt hinsichtlich ihrer Auftretenshäufigkeit? Insgesamt ist die Fibromyalgie eine Erkrankung der westlichen Industrieländer, je nach Diagnosekriterien kann man davon ausgehen, dass zwischen 1-3% der Bevölkerung betroffen ist. Frauen sind häufiger als Männer betroffen, wobei die Angaben zur Verteilung von 6:1 bis 2:1 schwanken (ebenfalls je nach Diagnosekriterien, 2:1 ist das Verhältnis mit den neueren Diagnosekriterien von 2010). Und es ist eine Erkrankung des mittleren Lebensalters mit einem Peak zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr.

An so schwammigen Sätzen wie „Das FMS kann als funktionelles somatisches Syndrom klassifiziert werden“. kann man erkennen, dass die Pathogenese (bzw. unter der Annahme von oben die verschiedenen Wege der Pathogenese) relativ unklar sind, wobei sich so ganz langsam eine allgemein akzeptierte Auffassung herausbildet. Am Ende kann man sich das Fibromyalgie-Syndrom noch a.e. als eine abgeschlossene Schmerzchronifizierung mit (peripherer und) zentraler Sensibilisierung vorstellen, wobei der Auslöser dieser Chronifizierung nicht eindeutig zu benennen ist, bzw. vermutlich verschiedene Auslöser existieren. Aber die generelle Schmerzüberempfindlichkeit mit den Teils neuropathisch empfundenen Schmerzen und den psychischen Begleitsymptomen entspricht diesem Konstrukt recht gut.

Als akzeptierte Risikofaktoren für die Entwicklung eines Fibromyalgie-Syndromes gelten folgende Punkte, welche man noch einmal in drei Gruppen unterteilen kann:

Biologische Faktoren:

  • Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis
  • Genpolymorphismen des 5HT2- Rezeptors
  • Vitamin D Mangel

Lebensstil-Faktoren:

  • Nikotinabhängigkeit
  • Adipositas
  • Mangelnde körperliche Aktivität

Psychische Faktoren:

  • Körperlicher und sexueller Missbrauch in der Kindheit
  • sexuelle Gewalt im Erwachsenenalter
  • Depressive Erkrankungen

Zu den Veränderungen, die ich mit „abgeschlossene Schmerzchronifizierung“ zusammengefasst habe, kommen noch andere Aspekte hinzu. So konnte man bei einem Teil von Fibromyalgie-Patienten in Studien eine autonome Dysfunktion herausarbeiten, wobei sowohl sympathikotone (die meisten Arbeiten), aber auch asympathikotone Dysregulationen (dtl. weniger Arbeiten) beschrieben wurden. Relativ neu ist die Beobachtung, dass ebenfalls bei einem Teil von Fibromyalgie-Patienten eine reduzierte intraepidermale Nervenfaserdichte gefunden wurde. Dieses Phänomen findet sich (mit etwas anderer histologischer Betonung) bei der small fibre Neuropathie, aber auch bei der Zoster-Neuralgie und auch bei Parkinson-Patienten (die ja ebenfalls häufig über Schmerzen klagen). Warum das so ist bei der small fibre Neuropathie (wobei die genaue Pathogenese recht unverstanden erscheint), ist mal einen eigenen Blogeintrag wert. Auch ist mir nicht ganz klar, warum beim Fibromyalgie-Syndrom autonome Störungen als eigner Pathomechanismus neben der small fibre-Pathologie gelten, wo sie bei der small fibre Neuropathie als eine Unterformen beschrieben werden.

Wie diagnostiziert man ein Fibromyalgie-Syndrom?

In unseren Köpfen spuken beim Thema Fibromyalgie und deren Diagnose immer noch die tender points herum, wobei diese in den mittlerweile 30 Jahre alten ACR-Diagnosekriterien von 1990 vorkamen und in den auch schon 10 Jahre alten revidierten Kriterien ersatzlos gestrichen wurden. In den aktuell verwendeten Diagnosekriterien geht es einmal um einen Ausschluss einer anderen, die Symptomatik erklärenden, Diagnose und zum anderen um die Feststellung, dass an mindestens 7 von 19 Lokalisationen (die dann doch wieder den tender points ähneln) Schmerzen bestehen und dass es Zusatzsymptome wie Bauchschmerzen, depressive Störungen, Müdigkeit, nicht-erholsamer Schlaf usw. gibt. Diese Symptome werden in der Regel standardisiert über Fragebögen erfasst. Als Ausschlussdiagnostik empfehlen die Autoren der aktuellen Leitlinie eine vollständige neurologische und orthopädische Untersuchung und eine laborchemische Diagnostik incl. BSG, CRP, BB, CK, Kalzium, TSH und Vitamin D. Gefordert wird dann noch eine „Vollständige medizinische Anamnese inkl. Medikamentenanamnese“ und das wars. Das erscheint mir ingesamt recht überschaubar.

Und wie behandelt man ein Fibromyalgie-Syndrom

Zunächst einmal nicht kausal, da wir den oder die Gründe für die Entwicklung eines Fibromyalgie-Syndromes ja nicht kennen. Medikamentös ist die Studienlage sehr überschaubar, in erster Linie gibt es eine schwache Evidenz für Medikamente, welche die absteigende Schmerzhemmung stärken, also Trizyklika (und Duloxetin), das ganze aber auch nur zeitlich begrenzt. Und dann kann man noch Pregabalin erwägen, das war es dann aber schon. Der Schwerpunkt der Behandlung des Fibromyalgie-Syndromes liegt aber sowieso in den nicht-medikamentösen Verfahren, in ganz viel Edukation, ganz viel Schmerz-Psychologie und -Psychotherapie, um Schmerz-Teufelskreise zu durchbrechen, ein Verständnis für ggfs. vorliegende psychiatrische Komorbiditäten und ihre Behandlung zu schaffen und um erste Ansätze von Selbstwirksamkeit zu vermitteln; das ganze kombiniert mit der regelmäßigen Anwendung von Muskelentspannungsverfahren und einem freundlich aber bestimmten Heranführen an körperliche Betätigung in Form von Ausdauersport. Am besten gelingt dies – insbesondere bei schwereren Krankheitsverläufen – in einem multimodalen schmerztherapeutischen Behandlungssetting, idealerweise in einem tagesklinischen Setting.

Wo man weiterlesen kann

S3-Leitlinie Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Fibromyalgiesyndroms https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/145-004.html

  1. Woolf, C. J. Central sensitization: Implications for the diagnosis and treatment of pain. Pain 152, S2–S15 (2011).
  2. Eich, W. et al. Das Fibromyalgiesyndrom. Der Schmerz 26, 247–258 (2012).
  3. Chinn, S., Caldwell, W. & Gritsenko, K. Fibromyalgia Pathogenesis and Treatment Options Update. Curr. Pain Headache Rep. 20, 25 (2016).
  4. Evdokimov, D. et al. Reduction of skin innervation is associated with a severe fibromyalgia phenotype. Ann. Neurol. 86, 504–516 (2019).

Muskuläre Schmerzen

Myofasziale Schmerzen & Triggerpunkte: Es hätte so schön sein können

Heute geht es um ein Kernthema der Schmerztherapie: Die myofaszialen Schmerzen. Hier hat sich seit den 1970er Jahren eine ganze eigene Welt um die Beobachtung herum entwickelt, dass es bei vielen Menschen mit chronischen Schmerzen zu ausgesprochen druckdolenten, verhärteten und verkürzten Muskeln kommt, die im Laufe einer Schmerzerkrankung irgendwann den Hauptfaktor des Schmerzerlebens darstellen können. Dieses Konstrukt der myofaszialen Schmerzen wurde immer weiter erweitert und zuletzt sogar um Beobachtung zu CGRP ergänzt. 2015 kam dann ein aufwändig recherchiertes Paper von Quinter et al. heraus, welches das Konzept myofaszialer Schmerzen ziemlich rigoros in Frage gestellt hat. Doch Schritt für Schritt, erst einmal zum myofaszialen Schmerzsyndrom, da es auch weiterhin im wahren Leben in der Schmerztherapie und in der Physiotherapie und da besonders in der manuellen Therapie kaum weg zu denken ist.

Die Entstehung der Triggerpunkte

Um Muskelfasern herum, im umgebenden Bindegewebe (den Faszien) und in den Gelenkkapseln liegen relativ viele Nozizeptoren, die über A-𝛿-Fasern und C-Fasern zum Rückenmark projizieren. Normalerweise haben diese Nozizeptoren relativ hohe Reizschwellen, kommt es jedoch zu Gewebsverletzungen und zur Freisetzung proinflammatorischer Zytokine, werden diese Nozizeptoren zunehmend sensibilisiert (wie sonst auch bei der peripheren Sensibilisierung) und reagieren nun auch auf geringere Reize. Die peri-muskulären Schmerzfasern werden insbesondere durch freies ATP und einen sauren pH-Wert aktiviert. Diese Beobachtung entstammt u.a. auch der Pathogenese anderer Erkrankungen mit muskulärer Beteiligung wie den Schmerzen bei pAVK. Durch Muskeltraumata, z.B. im Rahmen einer Mehr- oder Fehlbelastung lässt sich der selbe Effekt erzielen. Durch eine vermehrte Acetylcholin-Ausschüttung kommt es dann zu einer Dauerkontraktion einzelner Muskelfasern, welche wiederum zu einer latenten Hypoxämie mit Entstehung eines noch saueren pH-Wertes führt. Diese Dauerkontrakturen kann man als „Myogelosen“ oder „Triggerpunkte“ tasten, im Englischen findet sich häufig auch der Begriff „taut band“. Diese Triggerpunkte gibt es in schlimmer, dann schmerzen sie schon in Ruhe oder nur bei leichter Belastung und heißen dann aktive Triggerpunkte oder in etwas weniger schlimm, dann schmerzen sie nur bei stärkere Druck und heißen latente Triggerpunkte. Zuletzt gab es dann noch Beobachtungen, dass in Muskeln mit aktiven Triggerpunkte z.B. erhöhte CGRP-Spiegel bestimmbar waren, welches ja zu einer neurogenen Entzündung führt, was dem ganzen Geschehen ja durchaus zu entsprechen scheint, und daher ganz passend erschien.

Auf Rückenmarksebene kommt es ebenfalls zur Sensibilisierung mit Aktivierung „stiller Synapsen“, welche ursächlich für die Übertragung des Schmerzes in weiter entfernte Körperregionen sein sollen (referred pain).

Durch psychosozialen Stress, schlechten Schlaf, Fehl- und Schonhaltungen, repetitive Bewegungen und Inaktivität kann man dieses Phänomen deutlich verschlimmern.

Wie bekommt man Triggerpunkte wieder weg?

Die Therapie gestaltet sich recht mechanistisch. Zum einen bekommt man Triggerpunkte durch manuelle Therapie wieder weg, zum anderen verhindert man durch die Anwendung von Mukelentspannungstechniken die Wiederentstehung. Danach stehen ein Muskelaufbau und vermehrte körperliche Aktivität zur Vermeidung erneuter fokaler Überlastungen der Muskeln im Vordergrund.

Der ärztliche Part in der Behandlung myofaszialer Schmerzen ist relativ überschaubar, die Wirkevidenz von muskelrelaxierend wirkenden Medikamenten noch überschaubarer, die Injektion von Botulinumtoxin war in kleinen Studien vielversprechend, ist aber off label und wird nicht von den Krankenkassen erstattet, was dazu führt, dass es angesichts des Preises von Botulinumtoxin kaum angewendet wird. Eine interessante Beobachtung bei der Botulinumtoxin-Injektion ist, dass die genaue Stelle der Injektion – also in den Triggerpunkt hinein – gar nicht so entscheidend zu sein scheint. Das macht Sinn, wenn man sich vor Augen hält, dass die Hauptwirkung von Botulinumtoxin auch bei anderen Erkrankungen gar nicht die muskelrelaxierende Wirkung ist, sondern die Blockade u.a von CGRP und Substanz P an Schmerzfasern.

Etwas aus der Mode gekommen ist die Neuraltherapie, also die Injektion von Lokalanästhetika in die Triggerpunkte, ebenfalls das etwas martialische „dry needling“, bei der einfach fächerförmig in einen Triggerpunkt mit einer Nadel reingestochen wird, um eine Hyperämie auszulösen und den Triggerpunkt so zu zerstören.

Das Charmante an der Triggerpunkt-Hypothese

Das Charmante an der Triggerpunkt-Hypothese und dem Syndrom der myofaszialen Schmerzen ist, dass es auch für die Betroffenen, aber auch für die ärztlichen und nicht ärztlichen Behandler ein rundes Bild abgibt. Es lässt logisch erscheinen, warum die Therapie chronischer Schmerzen so ist, wie sie ist, mit Muskelentspannung und parallel regelmäßiger körperlicher Bewegung, es deckt sich mit der unbestreitbaren klinischen Beobachtung der verhärteten, druckdolenten Muskeln, es begründet die medikamentöse Zurückhaltung. Und es lässt sich wirklich gut um die aktuellen Themen der Schmerzmedizin erweitern, wie man in dem Artikel von Gerwin et al. nachlesen kann.

Das Dumme an der Triggerpunkt-Hypothese

Dumm ist nur, dass es für all das keine oder nur eine ganz schlechte Evidenz gibt. Und hier setzt die Arbeit von Quinter et al. an. Die Autoren führen gleich eine ganze Armada von Gegenargumenten gegen das Konstrukt myofaszialer Schmerzen in die Schlacht, von der unglaublich schlechten Interrater-Reliabilität bei der Identifikation von aktiven und latenten Triggerpunkten, der schwierigen Abgrenzung gegenüber normalen chronischen Schmerzen, der Tatsache, dass die erhöhte CGRP-Konzentration z.B. auch in nicht betroffenen Muskeln gemessen werden konnte, der Ungenauigkeit bei der angeblichen Beobachtung von Spontanaktivität im EMG in den Triggerpunkten und der Tatsache, dass es bis heute nicht reproduzierbar gelungen ist, Triggerpunkte im MRT oder auch sonographisch als strukturell verändertes Muskelgewebe darzustellen, was sie aber angesichts der Hypothese sein müssten.

Auch die Behandlungsmethoden kommen nicht besonders gut weg. Quintessenz ist zusammenfassend, dass zum Einen der Placeboeffekt wahnsinnig hoch ist, dass unklar ist, ob die manuelle Therapie oder die detonisierenden Eigenübungen eigentlich die Schmerzen lindern und dass die meisten Behandlungsverfahren einfach nur schmerzhaft sind, was wiederum durch eine Verschiebung der Aufmerksamkeit auch zu einer Linderung des zuerst bestehenden Schmerzes führt.

Evidenz sehen die Autoren bei Überlegungen, dass eine fokale Neuritis Ursache der lokal druckdolenten Muskeln sein könnte – was wiederum CGRP mit ins Spiel bringen würde.

Die Antwort auf diese Kritik ist übrigens ziemlich müde. Sie besteht v.a. darin, zu betonen, dass es Triggerpunkte aber gibt und dass man – nur weil es überwiegend schlechte Studien ohne Evidenz gibt – nicht auf die Falschheit der Hypothese schließen könne.

Das eigentlich überraschende ist aber, dass sich in den 5 Jahren seit diesem Paper an der Behandlungsrealität in der Behandlung muskulärer Schmerzsyndrome gar nichts relevantes geändert hat. Muss es vielleicht auch nicht, da das Konstrukt ja in seiner Gänze auch weiterhin funktioniert und sich als durchaus alltagstauglich bewiesen hat und auch Quinter et al. zumindest zugestehen mussten, dass es das Phänomen der myofaszialen Schmerzen (wenn man sie denn so nennen möchte) schlicht und einfach gibt.

Wo man weiterlesen kann
  1. Gerwin, R. D., Dommerholt, J. & Shah, J. P. An expansion of Simons’ integrated hypothesis of trigger point formation. Curr. Pain Headache Rep. 8, 468–475 (2004).
  2. Quintner, J. L., Bove, G. M. & Cohen, M. L. A critical evaluation of the trigger point phenomenon. Rheumatology 54, 392–399 (2015).
  3. Dommerholt, J. & Gerwin, R. D. A critical evaluation of Quintner et al: Missing the point. J. Bodyw. Mov. Ther. 19, 193–204 (2015).

Chronischer Rückenschmerz

Wenden wir uns dem Brot- und Butter-Geschäft der Schmerztherapie zu, was für den Krankenhaus-Neurologen der Schlaganfall ist, ist in der Schmerztherapie der chronische Rückenschmerz.

Alles ein alter Hut?

Die Bedeutung chronischer Rückenschmerzen durch die pure Masse der Betroffenen ist glaube ich allen bewusst, dennoch sind die – vielleicht auch mittlerweile zu oft zitierten – Kennzahlen schon beeindruckend: Die Lebenszeitprävalenz von lumbalen Rückenschmerzen beträgt mindestens 85%, mindestens 23% die von chronischen Rückenschmerzen, ca. 12% der erwachsenen Bevölkerung ist in ihrer Arbeitsfähigkeit durch Rückenschmerzen eingeschränkt, die Behandlungskosten allein für Rückenschmerzen liegen jährlich in Deutschland bei ca. 50 Milliarden Euro, was gut 2% des Bruttosozialprodukts entspricht.

Dem geneigten Neurologen ist zudem klar, dass es eine riesige Diskrepanz zwischen bildgebenden pathologischen Befunden und der Klinik der Betroffenen gibt und dass eindrückliche bildgebende Befunde mit dem Alter stark zunehmen, ohne dass sie überhaupt Symptome machen müssen. Anschaulich wird dies z.B. hier aufgearbeitet:

nach: Brinjikji, W. et al. Systematic Literature Review of Imaging Features of Spinal Degeneration in Asymptomatic Populations. Am. J. Neuroradiol. 36, 811–816 (2015).

Aus diesem Grund ist die Behandlung von Rückenschmerzen auch eigentlich extrem gut standardisiert und mit allen Arten von Leitlinien ausgestattet, die man sich nur vorstellen kann (s.u.). Und trotzdem tummeln sich auf eben diesem Gebiet extrem viel semiseriöse Behandlungsangebote, finden viel zu viele interventionelle und operative Eingriffe statt und werden Medikamente in astronomischen Ausmaß verordnet.

Was wir wissen

Bei chronischen Rückenschmerzen – und um diese, nicht um die akuten, soll es hier gehen, finden sich überhaupt nur in gerade mal 10% der Fälle überhaupt radiologische Befunde, welche sich auch bei kritischer Reevaluation mit der jeweiligen Klinik in Übereinstimmung bringen lassen. Im Umkehrschluss heißt das, das 90% der Patienten eine „unsichtbare“ Schmerzursachehaben müssen. Gute 10-15 Jahre – seit der Etablierung der multimodalen Schmerztherapie – war man sich beim Großteil der Behandler sicher, dass es sich überwiegend um funktionelle und myofasziale Schmerzen handeln muss. An dem Konzept muss man allerdings gewichtige Zweifel anmelden, doch dazu in einem eigenen Blogbeitrag mehr. Mittlerweile wird man das Phänomen des noziplastischen Schmerzes sicher mitanführen müssen, um die 90% zu erklären. Dazu kommt, dass sich diese 10-90% Unterteilung meist in neurologischen Übersichtsarbeiten findet, dass der kundige Orthopäde aber einwenden wird:

Halt, was ist mit der Stufendiagnostik?

Mit Stufendiagnostik meint man das sequenzielle Anspritzen verschiedener Strukturen an der Wirbelsäule und in ihrer Nähe mit Lokalanästhetika, um sich systematisch an den bildgebenden Auffälligkeiten entlang vorzuarbeiten, um herauszufinden, was nun schmerzt. Man arbeitet sich also von in Frage kommenden Nervenwurzeln (PRT) zu den Facettengelenken vor, dann zum ISG und ggfs. auch noch zum Hüftgelenk. Es gibt durchaus Studien, die diesem Vorgehen eine relativ hohe Spezifität zuschreiben, insbesondere bei wiederholtem und placebokontrollierten Vorgehen. Macht man eine ordentliche Stufendiagnostik, wird sich die 10-90%-Unterteilung sicherlich noch eimal deutlich verschieben.

Doppelt-Halt: Was ist denn mit der Anamnese?

Ja, irgendwie ist die Reihenfolge hier falsch. Normale Reihenfolge ist ja eigentlich immer: Anamnese, Untersuchung, Auffassung bilden, ggfs. Zusatzdiagnostik veranlassen. Und das gilt natürlich auch – und insbesondere – für chronische Rückenschmerzen. Der große Mist ist nur, dass die aktuelle Anamnese – insbesondere bei den 90% der Patienten – oft relativ gleich ist, interessant sind eher die Vorgeschichte, die bisherigen Behandlungen, die Dynamik der Schmerzen und die biographische Anamnese und die Sozialanamnese. Denn im überwiegenden Teil der Fälle berichten die Patienten, dass die aktuellen Schmerzen immer vorhanden seien, bei körperlicher Belastung – insbesondere Heben und Stehen – stark zunehmen würden, ebenfalls bei Lagewechseln, dass morgens eine gewisse Morgensteifigkeit bestehe, dass der Schlaf fragmentiert und unerholsam sei und das Wärme und leichte körperliche Bewegung schmerzlindernd seien. Typisch ist zudem eine Schmerzausstrahlung von lumbal ins Gesäß, die Leiste oder in den lateralen Oberschenkel.

Das führt dann wieder zum Thema myofasziale oder noziplastische Schmerzen, irgendwie ist es ja schon wahrscheinlich, dass die klinische Endstrecke chronischer Rückenschmerzen unabhängig ihres genauen Auslösers relativ gleich zu sein scheint.

Failed back-surgery

Eine weitere Gemeinsamkeit vieler Patienten mit chronischen Rückenschmerzen sind eine oder mehrere operative Vorbehandlungen, die zu keiner Schmerzlinderung, sondern zu gleichbleibenden oder sogar schlimmer werdenden Schmerzen geführt haben. Dies nennt man auf Neudeutsch failed back-surgery. Dieses Syndrom hat wiederum verschiedene Ursachen:

  • Zum Einen beheben viele Operationen die Schmerzen nicht, weil sie von vornherein Strukturen behandelt haben, die mit dem Schmerzen wenig bis nichts zu tun hatten und somit eigentlich gar nicht indiziert waren.
  • Verletzungen und Traumata durch die Operation, also z.B. an den die Wirbelsäule stabilisierenden tiefen Rückenmuskeln
  • Iatrogene Komplikationen durch den Eingriff
Psychopathologie: Schon wieder der ist voll Psycho

Psychopathologische und psychosoziale Gründe spielen bei vielen chronischen Schmerzsyndromen eine große Rolle, was sich über das biopsychosoziale Modell chronischer Schmerzen erklärt. Insbesondere bei chronischen Rückenschmerzen scheinen sie jedoch ganz erheblich zu sein. Das wiederum hat Gründe, welche im Wesen des Rückenschmerzes mit seinen Einschränkungen für Alltag und Berufsleben liegen, anders herum scheinen gewisse psychopathologische und psychodynamische Prozesse, die Chronifizierung von Rückenschmerzen zu begünstigen. Diese unheilvolle Kombination führt oft zu sehr ähnlichen maladaptiven Verhaltensweisen:

  • objektivierbar nicht nachvollziehbares Vermeidungsverhalten bei inadäquat erscheinend hohen wahrgenommenen Schmerzintensitäten
  • vermehrtes Rückzugsbedürfnis, lange Ruhezeiten, Fokussierung auf Schmerzmanagement
  • depressiv getönte Verhaltensweisen oder manifeste Depressionen
movement control deficit

Die Beobachtung einer sich verändernden Körperwahrnehmung mit z.B. immer schlechter werdender 2-Punkt-Diskrimination und Propriozeption bei chronischen Rückenschmerzen ist schon recht alt und stammt aus den frühen 2000er Jahren. Lange Jahre wurde dieses Phänomen unter dem Begriff movement control deficit subsumiert, mittlerweile könnte man es vermutlich beim noziplastischen Schmerz und den Folgen der Schmerzchronifizierung einsortieren.

Was man tun kann

Noch mal richtig nachgucken?

Nein! Die aller-allermeisten Patienten mit chronischen Rückenschmerzen sind schon völlig überdiagnostiziert, es existieren oft nicht 1, sondern gleich mehrere MRT der LWS, dann noch 1-2 x der HWS, dann noch eine BWS, ein Becken usw. Aufgabe bei der Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen ist es eher, diese ganzen Befunde zusammen mit dem Patienten in den entsprechenden klinischen Kontext zu rücken, hier viel Edukation zu betreiben und die Bedeutung vermeintlicher „schlimmer“ Befunde entsprechend ihrer wahren Bedeutung zu relativieren. Dies bedeutet aber auch, dass wichtiger als noch ein MRT, weil das letzte „ja schon 1 Jahr alt ist“, eine gründliche neurologische und neuro-orthopädische Untersuchung ist, damit man nicht etwaige red flags dann doch beim ganzen Relativieren übersieht.

Keine One-Man-Show

Gerade chronische Rückenschmerzen sind die Domäne der multimodalen Schmerztherapie, die ja nicht immer im stationären oder tagesklinischen Setting stattfinden muss, sondern natürlich auch ambulant erfolgen kann. Aber ein interdisziplinäres Behandlungsteam, in der es eben auch physiotherapeutische und schmerzpsychologische Expertise gibt, ist schon extrem wichtig. Denn:

Medikamente sind allgemein überbewertet

Die medikamentöse Behandlung chronischer Rückenschmerzen ist eher supportiv. In den meisten Fällen muss man erst mal ganze Cocktails nicht-wirksamer Medikamente absetzen (übrigens ein fächerübergreifendes Medizin-Phänomen, dass wenn ein Medikament nicht wirkt, dieses nicht abgesetzt wird, sondern in der Regel die Dosis erhöht und eine Kombinationstherapie begonnen wird unter Beibehaltung des unwirksamen Präparates). Dann sind viele Patienten mit chronischen Rückenschmerzen mit Opiaten vorbehandelt, ebenfalls meistens mit mäßiger Wirksamkeit. Hier stellt sich dann die Frage, ob die Schmerzen überhaupt Opiat-sensibel sind oder ob ein Wirkverlust vorliegt und es Gründe für eine Opiatrotation gibt. Als Faustregel kann gelten, dass je älter ein Patient mit chronischen Rückenschmerzen ist, desto wahrscheinlicher zumindest Teile des Rückenschmerzes Opiat-sensibel sind, da sie durch degenerative Prozesse mit entsprechender Nozizeptor-Aktivierung bedingt sind. Bei jüngeren Patienten liegen meist v.a. noziplastische Schmerzen vor, hier wirken Opiate entsprechend schlechter. Indiziert bei chronischen Schmerzen sind v.a. Medikamente zur Aktivierung des absteigenden schmerzhemmenden Systems, also trizyklische Antidepressiva oder SSNRI.

Und was macht man nun nicht-medikamentös?

Typische Therapieziele der nicht-medikamentösen Behandlung chronischer Rückenschmerzen sind:

  • Erhöhung des Aktivitätsniveaus mit Abbau inadäquaten Krankheitsverhaltens
  • Steigerung des Kontrollerlebens durch Verbesserung der Koordination und Körperwahrnehmung und Steigerung der allgemeinen Fitness
  • und hierdurch Abbau von Angst und Depressivität

Dafür braucht man zum Einen Einzel-Physiotherapie, bei der relativ schnell die Anleitung zu Eigenübungen im Fokus stehen sollte, zum Anderen so etwas wie medizinische Trainingstherapie oder Reha-Sport und ganz viel Edukation im Bereich der biopsychosozialen Schmerzfaktoren um hier den Betroffenen Handwerkszeug mitgeben zu können, Teufelskreise zu durchbrechen.

Wo man weiterlesen kann

S2k-Leitlinie Lumbale Radikulopathie https://www.dgn.org/leitlinien/3516-ll-030-058-2018-lumbale-radikulopathie

S2k-Leitlinie Zervikale Radikulopathie https://www.dgn.org/leitlinien/3514-ll-030-082-2017-zervikale-radikulopathie

Nationale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/nvl-007.html

  1. Brinjikji, W. et al. Systematic Literature Review of Imaging Features of Spinal Degeneration in Asymptomatic Populations. Am. J. Neuroradiol. 36, 811–816 (2015).
  2. Chou, R. et al. Systemic Pharmacologic Therapies for Low Back Pain: A Systematic Review for an American College of Physicians Clinical Practice Guideline. Ann. Intern. Med. 166, 480 (2017).
  3. Maschke, M. & Überall, M. Leitliniengerechte medikamentöse Therapie des chronischen Rückenschmerzes. Aktuelle Neurol. 40, 90–95 (2013).
  4. Mertens, P., Blond, S., David, R. & Rigoard, P. Anatomy, physiology and neurobiology of the nociception: A focus on low back pain (part A). Neurochirurgie 61, S22–S34 (2015).
  5. Rommel, O. Operative Eingriffe ohne interdisziplinäre Abklärung vermeiden. Nervenarzt 90, 194–196 (2019).
  6. Zhuk, A., Schiltenwolf, M. & Neubauer, E. Langfristige Wirksamkeit einer multimodalen Schmerztherapie bei chronischen Rückenschmerzen. Nervenarzt 89, 546–551 (2018).