Corona-Paper-Bullshit-Bingo: Sex und COVID sells

Eine US-Wissenschaftsjournalistin und Pulitzer-Preisträgerin mit mehr als 200.000 Followern auf Twitter teasert im Mai 2023 eine Pressemitteilung der East Carolina University (Link) mit einer im Juni 2022 veröffentlichten dänischen retrospektiven Kohortenstudie an, nach der nach COVID-Infektionen ein erhöhtes relatives Risiko für Alzheimer-Erkrankungen und Parkinson-Syndrome besteht. Dabei ist in dem Teaser-Beitrag (Link) die Studie nicht mal verlinkt, sondern wird nur angekündigt. Es handelt sich – nach kurzer Recherche in gängigen Suchmaschinen – aber um diese Studie (Zarifkar P, Peinkhofer C, Benros ME, Kondziella D. Frequency of Neurological Diseases After COVID-19, Influenza A/B and Bacterial Pneumonia. Front Neurol. 2022;13:904796. doi:10.3389/fneur.2022.904796, Link pdf), die seinerzeit medial durchaus Wellen geschlagen hat und vielerorts eingeordnet wurde.

Der Impact in den sozialen Medien ist erwartbar, insbesondere wird der Tweet nun von den üblichen COVID-Doomsday-Propheten geteilt, die Heerscharen von Demenzkranken nach durchgemachter COVID-Infektion befürchten (vielleicht aber auch herbeisehnen). Das Ganze ist ärgerlich, sogar sehr ärgerlich und das auf mehreren Ebenen und darum soll es hier gehen:

Die dänische Kohortenstudie

Zarifkar P, Peinkhofer C, Benros ME, Kondziella D. Frequency of Neurological Diseases After COVID-19, Influenza A/B and Bacterial Pneumonia. Front Neurol. 2022;13:904796. doi:10.3389/fneur.2022.904796

Fangen wir mit der Studie an. Ausgewertet wurden elektronische Patientenakte der dänischen Bevölkerung im Zeitraum Februar 2020 bis November 2021, also aus der Frühphase der Pandemie mit dem Wuhan-Wildtyp der alpha- und der delta-Variante, zudem bis Ende 2020 aus der Prä-Impfstoff-Ära. In diesem Zeitraum wurden 43.375 Däninnen und Dänen positiv auf COVID getestet, von diesen 35.362 Erkrankte ambulant und 8.013 stationär behandelt. Es wurde das Risiko berechnet einen Monat, drei, sechs und 12 Monate nach COVID-Infektion eine neurodegenerative (Alzheimer-Demenz, Parkinson-Erkrankung), eine zerebrovaskuläre (ischämische Schlaganfall, Hirnblutung, Subarachnoidalblutung) oder eine autoimmunvermittelte Erkrankung (Multiple Sklerose, Guillain Barré-Syndrom, Myasthenia Gravis, Narkolepsie) zu erleiden, bzw. dass zu diesen Zeitpunkten eine entsprechende ICD-10-Diagnose dokumentiert wurde. Bei dieser Auswertung war das relative Risiko eine Alzheimer-Demenz sechs und 12 Monate nach durchgemachter COVID-Infektion bei ambulant behandelten Patienten um den Faktor 3,6, bzw. 3,5 erhöht, bei stationär behandelten um den Faktor 3,5 und 3,4. Die Autoren berechneten das Risiko noch mal, nachdem Dänen mit in der Vorgeschichte durchgemachten Delirien ausgeschlossen wurden (da ein Delir eine nachhaltige kognitive Verschlechterung bedingen kann, Link): Es blieb erhöht. Etwas ähnliches ließ sich für Parkinson-Erkrankungen berechnen. Hier was das Risiko um den Faktor 2,4, bzw. 2,7 erhöht. Aber: Im Vergleich zu Patienten, die eine Influenza oder bakterielle Pneumonie durchgemacht hatten und stationär behandelt wurden fand sich kein statistisch signifikanter Unterschied sowohl hinsichtlich des Alzheimer-, als auch des Parkinson-Risikos.

Finally, there was no excess risk of Alzheimer’s disease or Parkinson’s disease compared to influenza or bacterial pneumonia inpatients.

Durchgehend erhöht (um den Faktor 2,3 bis 2,7) – kongruent zu anderen Studien – blieb das Schlaganfall-Risiko, besonders kurz nach der COVID-Infektion. Influenza-Patienten hatten dieses erhöhte Schlaganfall-Risiko nicht, wohl aber die Pneumonie-Patienten. Ebenfalls fand sich ein leicht erhöhtes Hirnblutung- (ICB), aber nicht Subarachnoidal-Blutungs-Risiko. Autoimmunerkrankungen traten – anders als zu Anfang der Pandemie vermutet – nicht vermehrt nach durchgemachter COVID-Infektion auf.

Soweit, so normal. Ärgerlich wird aber die Zwei-Sätze-Einleitung der Diskussion, wenn man Titel, Abstract und auch weitergehende Diskussion der Autoren betrachtet:

Key findings from this population-based cohort study covering roughly half of Denmark’s population include an increased frequency of new-onset neurodegenerative and cerebrovascular (but not neuroimmune) disorders in COVID-19 positive compared to COVID-negative individuals. However, when comparing the frequencies of these disorders after COVID-19 with those after influenza and community-acquired pneumonia, we found no significant differences, except for ischemic stroke.

Seriös wäre meines Erachtens gewesen zu schreiben: Nach durchgemachter schwerer Atemwegsinfektion (SARI) ist das Risiko nach 6, bzw. 12 Monaten die Diagnose einer neurodegenerativen Erkrankung zu erhalten erhöht. Nach COVID-Infektion ist zudem das Schlaganfall-Risiko erhöht, vor allem kurz nach der Infektion.

Leider schreiben das die Autoren nicht, leider betonen sie – wo es nur geht – den COVID-Part und erwähnen die anderen Atemwegsinfektionen eher nebenbei.

Kausalität und Korrelation

Was in der öffentlichen Rezeption der Studie – und der Darstellung der Autoren – untergeht: Das Studiendesign erlaubt keine Aussage zu einer etwaigen Kausalität, es kann allenfalls eine Korrelation zeigen (dies tut es, aber so wie oben beschrieben). Was auch untergeht: Die akzeptierte Hypothese der Entstehung neurodegenerativer Erkrankung, das Konzept der Proteinopathien (Link), bei der sich pathogene Eiweiße prionartig von Zelle zu Zelle ausbreiten bedingt einen Jahrzehnte andauernden Krankheitsprozess, bevor überhaupt Symptome auftreten. In keinem Fall ist eine zuvor nicht vorhandene Proteinopathie, die innerhalb von sechs, bzw. 12 Monaten neu auftritt und symptomatisch wird plausibel. Sowenig wie es Turbokrebs nach COVID-Infektion oder -Impfung gibt, gibt es Turbo-Alzheimer.

Es gibt – und darauf zielen die Autoren und auch Frau Garrett ab – Überlegungen aus der Grundlagenforschung, dass COVID-19 neurodegenerative Prozesse beschleunigen/auslösen könnte (SARS-CoV-2 als möglicher Auslöser von Neurodegeneration, SARS-CoV-2 und Neurodegeneration, Qualitäts-COVID-Paper-Offensive Teil 2, SARS-CoV-2 zerstört Hirn und T-Zellen?!?), doch dazu gleich noch mal mehr.

Mediale Rezeption

Entsprechend der Aufmachung und Vorstellung der Studie war die mediale Rezeption für eine einzelne Studie durchaus beachtlich, viele Medien sahen sich aber zu einer Einordnung genötigt. So zitiert DER SPIEGEL den DGN-Generalsekretär Peter Berlit (Link):

Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), sagte der dpa: Man könne aus der Studie nicht ableiten, dass ein Mensch nach einer Coronainfektion ein erhöhtes Risiko habe, zu einem späteren Zeitpunkt Alzheimer zu entwickeln. Es sei lediglich gezeigt worden, dass nach einer Infektion häufiger Symptome diagnostiziert würden. Er verweist darauf, dass auch äußere Faktoren – etwa das Verlieren des gewohnten Umfeldes, weil jemand in eine Klinik muss – dazu führen können, dass eine bereits bestehende Alzheimer-Erkrankung symptomatisch wird.

Auch der Beitrag des RedaktionsNetzwerk Deutschland benutzt die selbe Artikel-Grundlage (Link), ebenso die Rheinische Post (Link). Die DW ergänzt noch (Link):

Gerade weil das Risiko für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson laut der Studie nach einer Coronainfektion nicht höher sei als bei anderen Atemwegserkrankungen, sei es wahrscheinlich eher der Infekt an sich, der das Risiko steigert. „Das ist nicht wirklich neu“, sagt der Neurologe Berlit.

Auch der WDR ordnete die Studie seinerzeit ähnlich ein: Link.

Und so muss man meines Erachtens diese – und andere, ähnliche – Studien einordnen. Ein kausaler Zusammenhang im Sinne eines de novo-Krankheitsprozesses ist nicht plausibel, wohl aber die Demaskierung einer vorbestehenden, bis dahin subklinischen, unter dem Radar verlaufenden, neurodegenerativen Erkrankung. Das ist ein Phänomen, welches man – auch abseits von Infektionserkrankungen – bei vielen älteren Patienten im Krankenhaus beobachten kann und welches regelmäßig Konfliktstoff in der Interaktion mit Angehörigen liefert. Mit Erkrankung, Umgebungswechsel, ggfs. Narkose, Behandlung auf einer Überwachungsstation ohne eindeutigen Tag-Nacht-Rhythmus demaskieren sich vorbestehende Defizite, ohne dass ein (merkbares) Delir vorliegt. Für die Familie der Patienten entsteht oft der Eindruck: „Das“ ist im Krankenhaus gekommen, während die Behandler sich sicher sind: „Das“ war doch vorher schon so.

Der Auslöser von Neurodegeneration

Der zweite Teil des Threads zielt genau wie die Studien-Autoren, die im SPIEGEL/RND/Rheinische Post-Artikel erwähnte Anja Schneider vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) oder Martin Korte vom Helmholtz-Institut für Infektionsforschung in Braunschweig (Link) auf eine grundsätzliche Frage ab: Bei den Proteinopathien ist der Auslöser des Krankheitsprozesses unklar. Eine genetische Komponente wird vermutet, zudem ein oder mehrere Umweltfaktoren, warum Person A nun Alzheimer entwickelt, Person B aber nicht. Als mögliche Auslöser (ggfs. auch ein Auslöser unter vielen) werden seit langem Infektionserkrankungen diskutiert. Dafür gibt es historische Anhaltspunkte (Parkinson-Welle nach der spanischen Grippe), aber auch Hinweise aus der Grundlagenforschung, siehe auch Linksammlung oben. Dabei gibt es immer weniger Hinweise auf ein COVID-exklusives Geschehen, vielmehr scheinen Infektionen durch die Ausschüttung von Entzündungseiweißen, proinflammatorischen Zytokinen, neurotoxisch zu wirken bzw. Neurodegenerations-Kaskaden anzustoßen.

Dies wird in dem Thread von Frau Garrett gar nicht so deutlich, wohl aber in der Pressemitteilung der East Carolina Universität, die sie verlinkt:

It’s going to be five to 10 years before we have any of this epidemiological data to say ‘yes, it does increase risk for neurological disorders or neurodegenerative disorders

Fazit

Foto von a href="https://unsplash.com/@romiyusardi?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditCopyText"Romi Yusardi/a auf a href="https://unsplash.com/de/fotos/iFoo5iFFo6Q?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditCopyText"Unsplash/a

Nach schweren Atemwegsinfektionen (SARI) können sich vorbestehende neurodegenerative Erkrankungen demaskieren, dabei bestand in der hier zitierten retrospektiven Studie kein Unterschied zwischen COVID-, Influenza-Infektion oder bakterieller Pneumonie. Übereinstimmend mit anderen Studien führte COVID-19 in der Akutphase – anders als andere SARI zu mehr Schlaganfällen.

Dass Infektionskrankheiten ein möglicher Auslöser/Verstärker für die Entwicklung neurodegenerativer Erkrankungen sind, wird seit Jahren vermutet, es gibt entsprechende Hinweise aus der Grundlagenforschung – welche durch die SARS-CoV-2-Pandemie einen deutlichen Forschungs- und Erkenntnisschub erfahren hat und derartige Mechanismen aufzeigen konnte – und es wäre extrem unplausibel, wenn das am Ende für COVID nicht gelten würde.

Weiterhin kann man offenbar nicht nur mit Sex, sondern auch mit COVID-Themen im Titel Klick- und Zugriffszahlen erhöhen, auch wenn es eigentlich um grundlegende medizinwissenschaftliche Themen und Zusammenhänge geht. Mich nervt das mittlerweile extrem.

Abbildungen

Die Abbildungen stammen von unsplash. Titelbild: Link, Käfer: Link.

Qualitäts-COVID-Paper-Offensive Teil 4

Weiter geht’s: Widmen wir uns einem Paper zum Thema Long COVID, bzw. Post COVID (die Bezeichnung setzt sich immer mehr durch, diese komische Unterscheidung in Long und Post COVID irgendwie nicht). Hier gibt es ja sehr, sehr, sehr viele Studien, sehr sehr sehr viele davon mit deutlichen methodischen Mängeln von extrem gravierend (keine Kontrollgruppe, kein COVID-Nachweis erforderlich) bis viel weniger schwerwiegend. Dennoch, viele Studien sind retrospektiv, haben Probleme mit einer ausgewogenen Rekrutierung ihrer Probanden oder beschränken sich auf Selbstauskunftsbögen statt klinischen Untersuchungen. Hier gibt es einen Überblick über mehrere Post COVID-Studie aus der Frühphase der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema, in der im letzen Beitrag zu Qualitäts-COVID-Papern vorgestellten Studie hatten die Autoren ja allgemeingültige Qualitätskriterien für COVID-Studien aufgeführt.

Endlich eine richtig gut gemachte Post COVID Studie

Heute soll es um eine Studie gehen, die sehr viel richtig macht, was anderen Studien als Mängel ausgelegt wurde:

Sneller MC, Liang CJ, Marques AR, et al. A Longitudinal Study of COVID-19 Sequelae and Immunity: Baseline Findings. Ann Intern Med. Published online May 24, 2022:M21-4905. doi:10.7326/M21-4905

Studiendesign und Rekrutierung

Es handelt sich um eine prospektive Kohortenstudie aus Maryland, in die vom 30.06.2020 bis 01.07.2021 189 Probanden mit einem laborchemischen COVID-Nachweis und eine Kontrollgruppe von 122 Personen ohne COVID-Infektion eingeschlossen wurden. Insgesamt wurden eher leicht betroffene Probanden eingeschlossen, nur 12% der COVID-Gruppe wurden stationär behandelt. Die Studie ist Teil einer größeren – weiter laufenden – Längsschnittstudie, auf Grund des großen Interesse an dem Thema wurden aber die Daten aus dem ersten Studienjahr jetzt schon mal veröffentlicht. Um eine möglichst repräsentative Studie zu erhalten, ohne Bias durch verschiedenen geographischen und sozioökonomischen Hintergrund, wurden nur Probanden in einem Radius von 100 Meilen um Bethesda in Maryland (Link, man beachte die Nachbarsiedlung Chevy Chase) eingeschlossen. Zudem wurde auf eine aktive Rekrutierung, insbesondere in sozialen Medien verzichtet, lediglich bei clinicaltrials.gov und auf einer NIH-Seite wurden Details veröffentlicht. Zudem wurden COVID-positive Probanden in die Studie unabhängig vom Vorhandensein von Post COVID-Symptomen eingeschlossen. Die Kontrollgruppe wurden ebenfalls über die Webseiten und einen Newsletter, in dem Studienfreiwillige gesucht werden, rekrutiert. Als Post COVID-Symptom wurden jede Erkrankung und jedes Symptom gewertet, welches nach der COVID-Infektion begann oder sich verschlechterte, bis zum ersten Screening anhielt und von mindestens 1% der Probanden angegeben wurde. Im Mittel betrug die Dauer zwischen COVID-Infektion und erstem Screening 149 Tage, also ziemlich genau 5 Monate. Um keine akuten COVID-Symptome zu erfassen, wurden alle Teilnehmer bei den Studienvisiten per PCR-Testung untersucht.

Durchgeführte Diagnostik

Einer der Punkte, die die Studie wirklich auszeichnet ist neben der möglichst bias-freien Rekrutierung die umfangreiche körperliche, laborchemische und testpsychologische Diagnostik, die durchgeführt wurde. So wurden neben einer ausführlichen Anamnese, den selbst gemachten Angaben zu Symptomen auch das Vorhandensein von 17 „typischen“ Post COVID-Symptomen abgefragt. Es wurde eine gründliche körperliche Untersuchung durchgeführt. Laborchemisch wurden an Routineparametern Blutbild, CRP, D-Dimere, Troponin, BNP, eine Rheuma- und Vaskulitis-Serologie (Rheumafaktor, ANA, Anti-Cardiolipin-Antikörper), eine Immunfixation und SARS-CoV-2-Antikörper untersucht, zudem verschiedene Forschungsparameter, u.a. Neurofilament Light Chain (NFL) bestimmt. Es erfolgte eine neuropsychologische Testung, ein TTE (Herzultraschall) und eine Lungenfunktionstestung, sowie der 6-Minuten-Gehtest. Die Lebensqualität wurde – wie in sehr vielen Studien – mittels SF-36-Fragebogen ermittelt, zudem wurden ein kurzer Depressions- (PHQ-2) und Angst-Screening-Test (GAD-2) durchgeführt.

Studienergebnisse

Die Antikörperprävalenz gegen das Spike-Protein betrug nach Infektion 73%, 27% der nachweislich (PCR-Test positiv) Infizierten entwickelten keine neutralisierenden SARS-CoV-2 Antikörper. 55% der COVID-Kohorte gaben ein oder mehrere Post COVID-Syndrom Beschwerden an, 13% der Kontrollgruppe. Am häufigsten wurden Müdigkeit, Luftnot/Brustbeschwerden, Konzentrationsstörungen, Kopfschmerzen, Gedächtnisstörungen, Schlaflosigkeit und Angstattacken berichtet und damit typische Post COVID-Symptome.

Die Untersuchungsbefunde in der körperlichen und klinisch-neurologischen Untersuchung korrelierte nicht mit den angegebenen Beschwerden. Ausnahme waren muskuloskelettale Symptome, bei denen auch in der COVID-Gruppe deutlich häufiger pathologische Befunde erhoben wurden (8% vs. 1%), in erster Linie schmerzhafte Schleimbeutel, Muskel- oder Sehnenansätze und aktivierte degenerative Gelenkbeschwerden.

Laborchemisch konnte zwischen den beiden Gruppen kein signifikanter Unterschied gemessen werden, auch nicht hinsichtlich der neueren Neurodegenerations-Marker wie NFL. Auch bei der Rheuma- und Vaskulitis-Serologie gab es kein signifikanten Unterschied zwischen den beiden Gruppen, bei den Probanden aus COVID- und Kontrollgruppe, bei denen ein positiver Autoantikörper-Befund bestand hatte klinische Hinweise auf eine Autoimmunerkrankung.

Die Autoren haben noch eine ganze Menge weiterer experimenteller Marker, welche in der klinischen Routine nicht etabliert sind, wie verschiedene Zytokine – von denen ich teilweise nicht die korrekte deutschsprachige Bezeichnung weiß – bestimmt: Macrophage inflammatory protein-1b, Interferon-gamma, Tumornekrosefaktor-alpha, programmed cell death ligand-1 (PDL-1), interferon g–induced protein 10, Interleukin-2-Rezeptor, Interleukin-1b, Interleukin-6, Interleukin-8, RANTES (regulated on activation, normal T cell expressed and secreted), und CD40 als wichtiger auf B-Zellen, Makrophagen und dendritischen Zellen vorkommender Immunmodulator bestimmt, zudem eine Serinprotease names Granzyme B, welche in der T-Zell-Regulation eine wichtige Rolle spielt. Der Granzyme B-Spiegel war nach COVID-Infektion deutlich höher als in der Kontrollgruppe, unterschied sich aber nicht zwischen Probanden mit durchgemachter COVID-Infektion mit Post COVID-Beschwerden von Probanden mit durchgemachter Infektion ohne Post COVID. Das selbe Ergebnis bestand bei der Durchflusszytometrie (FACS), welche in einer Subgruppe durchgeführt wurde. Auch hier bestand nach COVID-Infektion in einer T-Zell-Gruppe (vermehrte CD25-Expression) ein Unterschied zu nicht COVID-Infizierten, aber kein Unterschied zwischen Probanden mit Post COVID-Beschwerden und ohne.

In mehreren Studien wurde eine SARS-CoV-2-Viruspersistenz als Ursache von Post COVID-Beschwerden diskutiert. Die Autoren nahmen daher COVID-PCR und Bluttests auf das Vorhandensein von viralen Oberflächenproteinen ab. Hier konnte kein Hinweis auf eine Viruspersistenz gefunden werden (zumindest nicht im Nasen-Rachen-Raum und Blut).

Herzultraschall und Lungenfunktionsdiagnostik ergaben ebenfalls keinen signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen.

Übersicht über die Befunde der apparativen und laborchemischen Diagnostik. Aus: Sneller MC, Liang CJ, Marques AR, et al. A Longitudinal Study of COVID-19 Sequelae and Immunity: Baseline Findings. Ann Intern Med. Published online May 24, 2022:M21-4905. doi:10.7326/M21-4905
Übersicht über die Befunde der apparativen und laborchemischen Diagnostik. Aus: Sneller MC, Liang CJ, Marques AR, et al. A Longitudinal Study of COVID-19 Sequelae and Immunity: Baseline Findings. Ann Intern Med. Published online May 24, 2022:M21-4905. doi:10.7326/M21-4905

Was unterschiedlich war, war zum Beispiel der 6-Minuten-Gehtest, in dem sich ein signifikanter Unterschied der zurückgelegten Gehstrecke (560 m vs. 595 m) zeigte. Interessant ist die graphische Darstellung der odds ratio für die einzelnen Risikofaktoren. Eine Assoziation mit Post COVID-Symptomen bestand in erster Linie bei Angststörungen und depressiven Erkrankungen.

Odd ratio im Vergleich der einzelnen Risikofaktoren, Test- und Fragebogenergebnisse.
Odd ratio im Vergleich der einzelnen Risikofaktoren, Test- und Fragebogenergebnisse.

Limitationen der Studie

Die Autoren führen an, dass sie überwiegend Probanden mit leichtem COVID-Verlauf eingeschlossen hätten, was ggfs. zur Einschränkung der Aussagekräftigkeit hinsichtlich des gesamten Spektrums an Post COVID-Beschwerden führe. In meinen Augen ist das sogar eher ein Vorteil, da sich die postinfektiösen Beschwerden je nach Krankheitsschwere durchaus unterscheiden. Die klassischen oder typischen Post COVID-Symptome werden ja eher nach leichten Verläufen berichtet, nach schweren dominieren eher COVID-Enzephalopathie (Link), ausgeprägte kognitive Defizite (Link), CIP/CIM (Link) usw. Zu den Krankheitsfolgen nach schwerer COVID-Erkrankung gibt es überdies gute Arbeiten, die dort auch eigene Pathomechanismen zeigen konnten.

Ein wichtiger Punkt bei den Häufigkeitsangaben von Post COVID-Beschwerden ist die Überlegung der Autoren, dass auch ihr Rekrutierungsmechanismus vermutlich zu einer Überschätzung der Post COVID-Häufigkeit führen dürfte. Zudem wurden alle Post COVID-Beschwerden, welche sich bis zur ersten Studien-Visite verflüchtigt hatten, nicht gewertet, was einer Überbetonung anhaltender Post COVID-Symptome gleichkommen dürfte.

Was kann man aus der Studie lernen?

Meiner Meinung eine ganze Menge:

Erstens, und das ist die wichtigste Botschaft: Man kann auch gute Post COVID-Studien machen, mit einer vernünftigen Rekrutierung, einer Kontrollgruppe und einem prospektiven Studiendesign.

Zweitens: Es gibt jetzt mehrere Studien (sicherlich auch viele mit methodischen Schwächen), bei denen die Suche nach Post COVID-Ursachen mit „Routine-Diagnostik“ (im Sinne von flächendeckend verfügbarer und gut verstandener Labor- und Bildgebungsdiagnostik) zu keinem greifbaren Ergebnis geführt hat. Hier reiht sich die Studie mit ein. Das bedeutet aber auch, dass man es perspektivisch wohl langsam sein lassen kann hier nach einer Antwort zu suchen.

Drittens: Wenn man eine Post COVID- (und CFS-)Ursache finden möchte, muss man vermutlich weiter eher nach neuen Ansätzen Ausschau halten, wie zum Beispiel die Autoren in diesem Preprint (ja, es ist ein Preprint):

oder in dieser Arbeit mit Tiermodellen: Link. Was man sich aber bewusst sein muss. Das Suchen im Bereich experimentieller Laborwerte u.ä. wird immer wieder zu zunächst mehr oder weniger spektakulären Ergebnissen führen, die sich in weiteren Arbeiten nicht belegen lassen. Von daher, hier Bedarfs es einer gewissen Gelassenheit Studien auch einfach mal abzuwarten.

Viertens: Psychosoziale Faktoren und auch bestimmte psychiatrische Vorerkrankungen erhöhen das Erkrankungsrisiko für Post COVID. Aber die die Bedeutung psychosozialer Faktoren illustrieren, bleiben daher weiter spannend: Link. Generell verschwimmt bei Syndromen die Grenze zwischen somatischer und psychosomatischer Erkrankung zunehmend. Ich befürworte das sehr, da ich diese Trennung (die ja aus der Psychosomatik und Tiefenpsychologie kommt) angesichts des zunehmenden Wissens über die Interaktion von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren für immer fragwürdiger halte.

Wo man weiterlesen kann

Sneller MC, Liang CJ, Marques AR, et al. A Longitudinal Study of COVID-19 Sequelae and Immunity: Baseline Findings. Ann Intern Med. Published online May 24, 2022:M21-4905. doi:10.7326/M21-4905

Qualitäts-COVID-Paper-Offensive Teil 2

Beim letzten Mal ging es um die Schutzwirkung der COVID-Impfung vor Folgeerkrankungen (Link), dabei blieb aber die Frage nach einem Vergleich mit anderen Erkrankungen offen.

Neurologische und psychiatrische COVID-Erkrankungsfolgen im Vergleich

Darum soll es heute gehen, auch hierzu gibt es zwei aktuelle, interessante Paper, eins aus Dänemark und eins aus Großbritannien, beide im Mai 2022 in JAMA Psychiatry veröffentlicht. Diese Paper haben wir auf Twitter schon mal ganz kurz diskutiert, es lohnt sich aber meines Erachtens ein genauerer Blick auf die Arbeiten, da es doch einiges daran zu lernen gibt.

Die dänische Studie

Nersesjan V, Fonsmark L, Christensen RHB, et al. Neuropsychiatric and Cognitive Outcomes in Patients 6 Months After COVID-19 Requiring Hospitalization Compared With Matched Control Patients Hospitalized for Non–COVID-19 Illness. JAMA Psychiatry. 2022;79(5):486. doi:10.1001/jamapsychiatry.2022.0284

Zu der Studie hatte ich schon mal einen kleinen Thread geschrieben:

Das Studiendesign

Es handelt sich um eine monozentrische prospektive Fall-Kontroll-Studie aus einem Kopenhagener Krankenhaus, in die zwischen Juli 2020 und Juli 2021 85 COVID-Erkrankte eingeschlossen wurden. Dementsprechend beziehen sich die Studiendaten auf Patienten in der auslaufenden ersten bis beginnenden dritten Erkrankungswelle, vor allem mit dem Wuhan-Typ und mit der alpha-Variante. Verglichen wurden die Fälle mit 61 Nicht-COVID-Patienten aus dem selben Krankenhaus, darunter einem großen Anteil von Herzinfarkt-Patienten, da man akut kritisch kranke Patienten miteinander vergleichen wollte. Die Studiengruppen wurden hinsichtlich Alter, Geschlecht und einer vergleichbaren Behandlungsdauer und -intensität auf der Intensivstation gematcht. Ausgeschlossen wurden Patienten mit vorbestehenden Psychosen, schweren neurologischen Erkrankungen die eine Rehabilitation erforderten, Hirntumoren, Demenzerkrankungen und geistigen Behinderungen. Ausgeschlossen wurden zudem Patienten, die in der Vergangenheit schon mal eine COVID-Infektion und nun eine Reinfektion hatten. Die Nachbeobachtungszeit erstreckte sich über sechs Monate.

Alle Probanden wurden von dem selben Team ärztlich und psychologisch interviewt und untersucht, um eine möglichst geringe untersucherabhängige Verzerrung zu haben. Durchgeführt wurden ein strukturiertes psychiatrisches Interview, psychiatrische Scores und eine Befragung und elektronische Überprüfung auf psychiatrische Erkrankungen in der Vorgeschichte und Diagnosenstellungen durch andere Behandler als die Studiengruppe (was auf Grund der zentralisierten Gesundheitsdaten in Dänemark lückenlos funktioniert). Die Kognition wurde mit dem Montreal Cognitive Assessment (MoCA) (Link) untersucht, es wurde der neurologische Status erhoben und die modified Rankin Scale (mRS, ein einfacher Score zur Beurteilung der Selbstständigkeit / Behinderung aus der Schlaganfallmedizin Link) bei Entlassung erhoben. Es wurden – und das ist eine der Stärken der Studie – eine Menge klinischer Zusatz-Parameter dokumentiert: Die Frage, ob ein Delir vorgelegen hat, Bildgebung des Gehirns, EEG- und NLG-Untersuchungen, Laborwerte und ggfs. Liquordiagnostik, sowohl in COVID- als auch Kontrollgruppe.

Die Studienergebnisse

Sechs Monate nach COVID-Infektion lag der MoCA-Wert bei 29% der COVID-Patienten unter dem MoCA cut off-Wert von 26 Punkten und bei 17% der Kontrollgruppe. Dieser Unterschied ist statistisch signifikant. Allerdings ist es so ein „sowohl als auch“-Ergebnis, wenn man das ganze näher betrachtet:

  • Nimmt man nur die Probanden mit „richtig auffälligen“ MoCA-Ergebnissen und Werten unter 24 Punkten, so kam das bei 14% der COVID-Patienten und 2% der Kontrollgruppe vor. Dies bestätigt erst mal den Unterschied zwischen den beiden Gruppen und deutet auf mehr kognitive Defizite nach COVID hin als in der Vergleichsgruppe.
  • Aber: Der Mittelwert der erreichten MoCA-Punkte in der Gesamtpopulation war relativ ähnlich, dieser lag in der COVID-Gruppe bei 26,7 (und damit unter dem cut off) und in der Kontrollgruppe bei 27,5 (knapp über dem cut off).
  • Schaut man sich die MoCA-Ergebnisse genauer an (Supplemental, Tabelle 7, Link) so besteht der einzig signifikante Unterschied zwischen den beiden Gruppen in der Unter-Domäne „Aufmerksamkeit“ im MoCA. Aufmerksamkeitsstörungen bei sonst aber nicht auffälligen Gedächtnisleistungen kommen in erster Linie beim Delir vor. Die hohe Rate von Delirien bei COVID wurde schon recht zu Anfang der Pandemie in Papern berichtet (zum Beispiel hier). Allerdings veränderte die Adjustierung der MoCA-Ergebnisse für stattgehabte Delirien den Unterschied zwischen den beiden Studiengruppen nicht (Supplemental, Tabelle 8, Link)

15 COVID-Patienten wurden schon bei Krankenhausentlassung neuropsychologisch mittels MoCA getestet und dann nach 6 Monaten noch mal im Rahmen des Studienprotokolls. Diese Gruppe hatte im Durchschnitt bei Entlassung einen MoCA von 19,2 Punkten – also einen hochpathologischen Wert – erholte sich dann aber bis zur „regulären“ Untersuchung nach sechs Monaten auf einen Durchschnittswert von 26,1.

aus: Nersesjan V, Fonsmark L, Christensen RHB, et al. Neuropsychiatric and Cognitive Outcomes in Patients 6 Months After COVID-19 Requiring Hospitalization Compared With Matched Control Patients Hospitalized for Non–COVID-19 Illness. JAMA Psychiatry. 2022;79(5):486. doi:10.1001/jamapsychiatry.2022.0284
aus: Nersesjan V, Fonsmark L, Christensen RHB, et al. Neuropsychiatric and Cognitive Outcomes in Patients 6 Months After COVID-19 Requiring Hospitalization Compared With Matched Control Patients Hospitalized for Non–COVID-19 Illness. JAMA Psychiatry. 2022;79(5):486. doi:10.1001/jamapsychiatry.2022.0284

Bei der Anzahl der neu aufgetretenen psychiatrischen Diagnosen gab es zwischen COVID- und Kontrollgruppe keinen signifikanten Unterschied, diese lag in beiden Gruppen um 20%, allerdings entwickelte die Kontrollgruppe mehr Angststörungen, die COVID-Gruppe mehr depressive Störungen.

Bei den selbstberichteten „neuen“ Symptomen (also Symptomen, die vor der zur Krankenhausaufnahme noch nicht vorgelegen hatten) ergab sich kein statistisch signifikanter Unterschied, bis auf das – bekannte – Thema Riech- und Geschmacksstörungen, die in der COVID-Gruppe häufiger auftraten. In beiden Gruppen wurde am häufigsten von Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, neuen Schmerzen, emotionaler Labilität, Schlafstörungen, depressiven Symptomen und Angstattacken/Flashbacks berichtet. Addiert man aber die Häufigkeiten der einzelnen selbstgemeldeten Symptome auf und verknüpft sie zu typischen Krankheitsbildern wie depressiven Störungen, Angststörungen, PTBS so war die Häufigkeit abgeleitet aus den selbst berichteten Symptomen deutlich höher als die Häufigkeit, die sich aus den offiziell diagnostizierten psychiatrischen Erkrankungen der selben Kohorte ergab.

aus: Nersesjan V, Fonsmark L, Christensen RHB, et al. Neuropsychiatric and Cognitive Outcomes in Patients 6 Months After COVID-19 Requiring Hospitalization Compared With Matched Control Patients Hospitalized for Non–COVID-19 Illness. JAMA Psychiatry. 2022;79(5):486. doi:10.1001/jamapsychiatry.2022.0284
aus: Nersesjan V, Fonsmark L, Christensen RHB, et al. Neuropsychiatric and Cognitive Outcomes in Patients 6 Months After COVID-19 Requiring Hospitalization Compared With Matched Control Patients Hospitalized for Non–COVID-19 Illness. JAMA Psychiatry. 2022;79(5):486. doi:10.1001/jamapsychiatry.2022.0284

In der neurologischen Untersuchung war nach Adjustierung der Gruppen an die oben genannten Parameter lediglich eine statistisch signifikant häufigere Meralgia paraesthetica (Link) auffällig, welche sich durch die häufigere Bauchlagerung und damit Druckschädigung des N. cutaneus femoris lateralis erklärt.

Lehren aus der Studie

In dieser Studie waren kognitive Defizite nach schwerer Erkrankung in der COVID-Gruppe ausgeprägter als in der Kontrollgruppe, es gab aber in der untersuchten Subgruppe mit MoCA-Testung bei Krankenhausentlassung und nach sechs Monaten im Rahmen des Studienprotokolls eine deutliche Symptomverbesserung über sechs Monate. Auch in anderen Untersuchungen waren in zuvor publizierten – in der Regel retrospektiven Arbeiten – kognitive Defizite nach COVID-Erkrankung beschrieben worden, bekanntestes Beispiel ist die UK Biobank Studie (Link brainpainblog, Link Blog von E. Wyler), bei der allerdings in der öffentlichen Berichterstattung der stark altersabhängige Effekt der kognitiven Defizite in dieser Studie „verloren“ ging. Die Autoren betonen, dass der absolute Unterschied zwischen COVID- und Kontrollgruppe von 0,8 MoCA-Punkten ungefähr den Auswirkungen von 8 Jahre Alterung bei über 60-Jährigen entspricht, was zweifelsohne bevölkerungsweit relevant wäre, bei allerdings in dieser Studie in erster Linie schwer an COVID Erkrankten. Allerdings – und das ist meines Erachtens ziemlich wichtig – zitieren die Autoren drei Studien (siehe unten, leider kein open access), die ähnliche Effekte auch schon Prä-COVID für andere schwere (Atemwegs-)Erkrankungen zeigen konnten.

Einer weiteren – in meinen Augen wichtigen – Erkenntnis widmen die Autoren einen ganzen Abschnitt: Dem Unterschied zwischen selbst berichteten psychiatrischen Symptomen nach schwerer Erkrankung und offiziellen Diagnosen. Die Autoren weisen darauf hin, dass in früheren COVID-Studien diese Unterscheidung oft nicht gemacht wurde und dass sich hierüber die teils stark schwankenden Häufigkeitsangaben zumindest teilweise erklären könnten. Zudem betonen sie die Wichtigkeit einer Kontrollgruppe. So wurden in COVID-Studien PTBS in bis zu 30% der Fälle gefunden, Angststörungen und depressive Störungen ebenfalls in dieser Häufigkeit. In der aktuellen Studien lag dieser Wert um 20%, aber eben sowohl in der COVID-, als auch in der Kontrollgruppe.

Limitationen der Studie

Hauptlimitation ist die relativ kleine Studienpopulation, was allerdings für eine monozentrische, prospektive Studie nicht ungewöhnlich ist. Die Autoren selber reflektieren, dass der MoCA-Test ggfs. nicht sensitiv und spezifisch genug ist, um „kleine“ neuropsychologische Unterschiede zwischen den Gruppen herauszuarbeiten.

Ich selber würde die Studie als „klein aber fein“ einordnen.

Die englische Studie

Eine sehr schöne Ergänzung zu der dänischen Studie ist eine – sehr große – retrospektive Kohortenstudie aus Großbritannien, die ebenfalls im Mai 2022 in JAMA Psychiatry veröffentlicht wurde.

Clift AK, Ranger TA, Patone M, et al. Neuropsychiatric Ramifications of Severe COVID-19 and Other Severe Acute Respiratory Infections. JAMA Psychiatry. Published online May 11, 2022. doi:10.1001/jamapsychiatry.2022.1067

Philipp Grätzel von Grätz hatte die hier schon mal kurz vorgestellt:

Studiendesign

Für die Studie wurden die NHS-Krankenunterlagen von mehr als acht Millionen Engländern hinsichtlich von Neudiagnosen von Angststörungen, Psychosen und Demenzen nach einer COVID-Infektion mit Krankenhausbehandlung untersucht und hinsichtlich ihrer Auftretenshäufigkeit innerhalb von 12 Monaten mit der Häufigkeit nach einem anderen schweren Atemwegsinfekt (SARI) verglichen.

SARI: Unter SARI („severe acute respiratory illness“) versteht man lt. WHO-Definition schwer verlaufende Atemwegsinfekte (Link). SARI ist dabei definiert als ein Atemwegsinfekt mit Fieber > 38,0°C, Husten, Entwicklung innerhalb der letzten 10 Tage, bei dem eine stationäre Krankenhausaufnahme notwendig ist. Typische SARI-Erreger bei Erwachsenen sind Influenza-Viren, bei Kindern auch RS-Virus, aber auch Bakterien wie Pneumokokken, Legionellen usw. (Link).

Es wurden Datensätze von Januar 2020 (dem Beginn der Pandemie) bis Juli 2021 ausgewertet. In diesem Zeitraum erlitten knapp 520.000 Engländer eine COVID-Infektion, es wurden 16.679 Personen wegen COVID stationär aufgenommen und auch wieder lebend entlassen, 32.525 wegen eines anderen schweren Atemwegsinfektes. Verglichen wurden diese beiden Gruppen mit den Daten einer historischen Prä-COVID-Kohorte von 12 Millionen Engländern.

Studienergebnisse

Das Studiendesign führt zu der Möglichkeit, einmal einen Vergleich zwischen COVID- und Nicht-COVID-Krankheitsfolgen zu machen, aber auch einen Aussage zur psychiatrischen Erkrankungshäufigkeit im Vergleich zu einer Prä-COVID-Kontrollgruppe zu machen.

Sowohl stationär behandelte COVID-, als auch SARI-Patienten hatten durchweg ein erhöhtes Risiko für psychiatrisch Erkrankungen im Vergleich zur Normalbevölkerung. Die hazard ratio betrug für Angststörungen 2,36 in der COVID-Gruppe im Vergleich zur Normalbevölkerung, in der SARI-Gruppe 1,86. Demenzerkrankungen waren mit 2,63 in der COVID-Gruppe und 2,55 in der SARI-Gruppe ebenfalls deutlich häufiger als in der Normalbevölkerung. Eine depressive Episode (definiert als Beginn einer antidepressiven Behandlung) erlitten die Erkrankten sowohl nach COVID (hazard ratio 3,24) als auch nach SARI (2,55) häufiger als die nicht-infizierte Kontrollgruppe.

aus: Clift AK, Ranger TA, Patone M, et al. Neuropsychiatric Ramifications of Severe COVID-19 and Other Severe Acute Respiratory Infections. JAMA Psychiatry. Published online May 11, 2022. doi:10.1001/jamapsychiatry.2022.1067
aus: Clift AK, Ranger TA, Patone M, et al. Neuropsychiatric Ramifications of Severe COVID-19 and Other Severe Acute Respiratory Infections. JAMA Psychiatry. Published online May 11, 2022. doi:10.1001/jamapsychiatry.2022.1067

Im Vergleich mit Patienten mit einem akuten Herzinfarkt war das Erkrankungsrisiko für eine neue Angststörung sogar niedriger (hazard ratio 0,66, bzw. 0,62), anders verhielt es sich mit neu diagnostizierten Demenzerkrankungen. Die waren hier mit einer hazard ratio von 2,24 bei SARI-Patienten und 1,92 bei COVID-Patienten deutlich häufiger, ebenso die Verordnung von Antipsychotika (hazard ratio 2,48, bzw. 2,0). Bei den anderen Erkrankungen (Depressionen, Verordnung von Antidepressiva und Verordnung von Sedativa) war das Bild weniger eindeutig, bzw. bestand kein relevanter Unterschied.

aus: Clift AK, Ranger TA, Patone M, et al. Neuropsychiatric Ramifications of Severe COVID-19 and Other Severe Acute Respiratory Infections. JAMA Psychiatry. Published online May 11, 2022. doi:10.1001/jamapsychiatry.2022.1067
aus: Clift AK, Ranger TA, Patone M, et al. Neuropsychiatric Ramifications of Severe COVID-19 and Other Severe Acute Respiratory Infections. JAMA Psychiatry. Published online May 11, 2022. doi:10.1001/jamapsychiatry.2022.1067

Lehren aus der Studie

Diese relativ große retrospektive Arbeit ergänzt die dänische Studie sehr schön. Auf den ersten Blick widersprechen sich die Daten, die erste Studie findet vermehrte kognitive Defizite nach COVID-Infektion im Vergleich zu einer Kontrollgruppe aus ähnlich schwer erkrankten Patienten, die zweite eben nicht, wenn man verschiedene Atemwegsinfekte mit der Notwendigkeit der Krankenhausaufnahme (COVID vs. SARI) miteinander vergleicht. Der Teufel steckt wie immer im Detail. Vergleichbarer mit der dänischen Arbeit ist die Subgruppenanalyse mit dem Vergleich zwischen Herzinfarkt-, COVID- und SARI-Patienten. Hier ist das Ergebnis in beiden Studien sehr ähnlich.

Generell scheinen nach dieser Studie schwer verlaufende Atemwegsinfektionen das Risiko bestimmter neuropsychiatrischer Diagnosen (vor allem Demenzerkrankungen und Angststörungen9 deutlich zu erhöhen, auch noch mal mehr, als andere prinzipiell lebensbedrohliche Erkrankungen wie Herzinfarkte.

Limitationen der Studie

Eine prinzipielle Einschränkung der Studie ist das retrospektive Studiendesign, was sich auf elektronisch dokumentierte Diagnosen stützt. Zudem unterschieden sich die Häufigkeiten von psychiatrischen Erkrankungen aus Krankheitsdaten der Normalbevölkerung vor und während der Pandemie, was dazu führen kann, dass die Häufigkeit von psychiatrischen Erkrankungen in der COVID-Gruppe überschätzt wird.

Ob man diese Ergebnisse auch auf leichte COVID-Verläufe übertragen kann, kann die englische Studie (genau wie die dänische) nicht beantworten.

Ein Fazit: Auf die Kontrollgruppe kommt es an

Betrachtet man beide Studien zusammen, so kann man neben dem schon erwähnten Punkt, dass schwere (und hierauf liegt die Betonung bei beiden Studien, es ging um hospitalisierte und intensivpflichtige Patienten) Atemwegsinfektionen das Auftreten kognitiver Defizite zu begünstigen scheinen vor allem feststellen: Die Auswahl der Kontrollgruppe ist bei dieser Fragestellung extrem wichtig. Erst einmal ist es von Bedeutung, dass es angesichts der Häufigkeit der oft unspezifischen oder multikausal verursachten neurologischen und psychiatrischen Symptome und Diagnosen überhaupt eine Kontrollgruppe gibt. Und dann scheint für eine wirkliche Vergleichbarkeit die Zusammensetzung dieser Kontrollgruppe auch noch mal entscheidend zu sein.

Wo man weiterlesen kann

Clift AK, Ranger TA, Patone M, et al. Neuropsychiatric Ramifications of Severe COVID-19 and Other Severe Acute Respiratory Infections. JAMA Psychiatry. Published online May 11, 2022. doi:10.1001/jamapsychiatry.2022.1067

Nersesjan V, Fonsmark L, Christensen RHB, et al. Neuropsychiatric and Cognitive Outcomes in Patients 6 Months After COVID-19 Requiring Hospitalization Compared With Matched Control Patients Hospitalized for Non–COVID-19 Illness. JAMA Psychiatry. 2022;79(5):486. doi:10.1001/jamapsychiatry.2022.0284

Hirnatrophie nach schweren (Atemwegs-)Erkrankungen (leider kein open access)

Hopkins RO, Gale SD, Weaver LK. Brain atrophy and cognitive impairment in survivors of acute respiratory distress syndrome. Brain Injury. 2006;20(3):263-271. doi:10.1080/02699050500488199

Huang M, Gedansky A, Hassett CE, et al. Pathophysiology of Brain Injury and Neurological Outcome in Acute Respiratory Distress Syndrome: A Scoping Review of Preclinical to Clinical Studies. Neurocrit Care. 2021;35(2):518-527. doi:10.1007/s12028-021-01309-x

Sprung J, Warner DO, Knopman DS, et al. Brain MRI after critical care admission: A longitudinal imaging study. Journal of Critical Care. 2021;62:117-123. doi:10.1016/j.jcrc.2020.11.024

Qualitäts-COVID-Paper-Offensive Teil 1

In den letzten Wochen sind – in meiner Wahrnehmung – eine ganze Reihe gut gemachter Studien und Review-Paper zum Thema COVID-19 veröffentlicht worden, die verschiedene – in den letzten 2,5 Jahren diskutierte – Punkte endlich besser einzuordnen helfen. Ich werde mal in den nächsten Tagen einige davon hier vorstellen.

Warum der Slogan „Impfen schützt“ richtig ist

Aus aktuellem Anlass fangen wir mal mit einer „Impfen-schützt“-Studie an

Vorab: Wen in erster Linie Impfnebenwirkungen interessieren (ja, die gibt es auch), kann gerne hier (Link) oder hier (Link) weiterlesen, dort gibt es auch die Verlinkungen auf die PEI-Sicherheitsberichte. Ich gehe hier auf die Wirkung der COVID-Impfung hinsichtlich COVID-Erkrankungsfolgen ein, die in dieser Beobachtungsstudie noch mal eindrucksvoll gezeigt wurde:

Zisis SN, Durieux JC, Mouchati C, Perez JA, McComsey GA. The protective effect of covid-19 vaccination on post-acute sequelae of covid-19 (pasc): a multicenter study from a large national health research network. Open Forum Infectious Diseases. Published online May 7, 2022:ofac228. doi:10.1093/ofid/ofac228

In der Studie wurden Gesundheitsdaten aus dem TriNetX-Gesundheitsforschungs-Netzwerk (Link) verwendet. Eingeschlossen wurden gut 1,5 Millionen volljährige COVID-Erkrankte im Zeitraum vom September 2020 bis Dezember 2021 (dieser Zeitraum umfasst also COVID-Infektionen mit dem Wuhan-Typ, und vor allem der alpha- und delta-Variante) aus Ohio in den USA. Vergleichen wurden die Verläufe von einer Kohorte von gut 25.000 vollständig geimpften (in der Studie war das in der Regel eine zweimalige mRNA-Impfung, siehe supplementary data, Link) mit einer im Hinblick auf Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit und Vorerkrankungen (Bluthochdruck, Arteriosklerose, BMI, Diabetes mellitus, Asthma, COPD, chronische Niereninsuffizienz, Organtransplantationen, Tumorerkrankungen, HIV-Infektionen) bei Studieneinschluss gematchten Kontrollgruppe ohne COVID-Impfung.

“Gematcht“? Gematcht bedeutet, dass die Probanden der Kohorte mit Impfung und die ohne Impfung bei Studieneinschluss hinsichtlich der genannten Parameter so ausgewählt wurden, dass keine Unterschiede zwischen den beiden Gruppen bestanden. So ist es wahrscheinlicher, dass bei sonst gleich bleibenden äußeren Einflussfaktoren die erfassten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen tatsächlich mit dem Impfstatus zusammenhängen.

Fokus der Studie war nicht die primäre Krankheitsschwere der COVID-Erkrankung (die Studien, die hier eine sehr gute Wirkung der Impfung auf die Krankheitsschwere zeigen kennen wir alle), sondern Folgen einer COVID-Erkrankung. Die Gesundheitsdaten der beiden Gruppen wurden über einen Verlauf von drei Monaten verglichen und zwar jeweils an Tag 28 nach Infektion und Tag 90.

Erkrankungsfolgen

Mortalität

An Tag 28 betrug die Mortalität in der geimpften Gruppe 6,78/1.000 Erkrankte, in der ungeimpften Kohorte 20,69/1.000 Erkrankte, die Impfung drittelte also das Mortalitätsrisiko. An Tag 90 lag die Mortalität in der geimpften Gruppe bei 2,38/1.000, in der ungeimpften Gruppe bei 11,62/1.000 Erkrankungen und damit knapp 5 mal höher.

Bluthochdruck

Eine Bluthochdruck-Diagnose bestand bei 13,52/1.000 der Geimpften und 29,9/1.000 der Ungeimpften nach 28 Tagen und bei 6,42/1.000 der Geimpften und 19,59/1.000 der Ungeimpften nach 90 Tagen, war also 2 bis 3 mal höher bei der ungeimpften Kohorte.

Diabetes mellitus

Ein ähnliches Bild zeigte sich beim Thema Diabetes. Hier lagen die Erkrankungsraten an Tag 28 bei 5,98 vs. 13,88/1.000 und an Tag 90 bei 2,69 vs. 9,69/1.000 Infizierte. Auch hier war die Diabetes-Diagnose bei geimpften Probanden 2 bis 5 mal seltener.

Koronare Herzkrankheit

Eine KHK bestand an Tag 28 bei 15,41/1.000 der Geimpften und 31,17/1.000 der ungeimpften Probanden, an Tag 90 bei 7,19/1.000 der Geimpften und 20,26 der Ungeimpften, was einen Unterschied um den Faktor 2-3 ausmacht.

Beinvenenthrombosen

Beinvenenthrombosen traten bei Geimpften an Tag 28 nach Infektion bei 6,36/1.000 auf und bei Ungeimpften bei 15,14/1.000, an Tag 90 lag das Verhältnis bei 2,89/1.000 zu 10,67/1.000, was ebenfalls ein 2-3 mal höheres Erkrankungsrisiko in der ungeimpften Kohorte bedeutet.

Psychiatrische Diagnosen

Bei 14,77/1.000 der geimpften Erkrankten und bei 36,23/1.000 der ungeimpften Probanden wurde an Tag 28 eine psychiatrische Diagnose erhoben, an Tag 90 bei 6,45/1.000 der Geimpften und 25,53/1.000 der Ungeimpften. Das macht einen gut 2-fachen Unterschied nach 28 und einen fast 4-fachen Unterschied nach 90 Tagen aus.

Weitere Diagnosen

Das selbe Phänomen der deutlich häufigeren Diagnosen in der ungeimpften Kohorte bestand für Schilddrüsenerkrankungen, Tumorerkrankungen und für die Diagnose einer Rheumatoiden Arthritis.

Neue Symptome nach COVID-Infektion

Bei den „neuen“ Symptomen nach COVID-Infektion orientierten sich die Autoren an den häufigsten als Post COVID-Symptome angegebenen Beschwerden. Atemwegsbeschwerden, insbesondere Husten bestanden bei 89,71/1.000 der Geimpften an Tag 28 und bei 127,61/1.000 der Ungeimpften; an Tag 90 bei 49,59/1.000 der Geimpften und 92,92/1.000 der Ungeimpften. Bei Kopfschmerzen betrugen die Inzidenzen/1.000 Erkrankungen an Tag 28 17,84/1.000 vs. 31,87/1.000 und an Tag 90 9,79/1.000 vs. 25,17/1.000. Körperschmerzen hatten 9,32/1.000 der Geimpften an Tag 28 und 19,03/1.000 der Ungeimpften, an Tag 90 4,92/1.000 der Geimpften und 14,31/1.000 der Ungeimpften. Fatigue – also die vorschnelle Ermüdbarkeit – bestand bei 45,14/1.000 der Geimpften nach 28 Tagen und bei 69,38/1.000 der Ungeimpften und bei 23,98/1.000 der Geimpften und 50,27/1.000 der Ungeimpften nach 90 Tagen. Durchfälle oder Verstopfung bei 33,97/1.000 der Geimpften und 56,45/1.000 der Ungeimpften an Tag 28 und an Tag 90 bei 19,03/1.000 der Geimpften und 42,93/1.000 der Ungeimpften.

Es gab kein einziges Symptom und keine Diagnose die in der geimpften Kohorte häufiger als in der ungeimpften Gruppe auftrat.

Limitationen

Als Limitationen der Studie benennen die Autoren die Tatsache, dass nur elektronisch gemeldete Diagnosen und Symptome zur Verfügung standen und keine „echten“ Studienvisiten stattfanden. Leichter betroffene Erkrankte ohne Arztkontakt (und damit Diagnoseerhebung) wurden so sehr wahrscheinlich deutlich untererfasst, erst recht Erkrankte mit einem asymptomatischen oder kaum symptomatischen Verlauf. Eine weitere Schwäche ist, dass das „Grundrauschen“, die Häufigkeit der Post COVID-Symptome in der Bevölkerung nicht sicher bekannt ist. Außerdem handelt es sich um eine retrospektive Beobachtungsstudie und um keine prospektive Arbeit.

Fazit

Studien die einen Impfeffekt gegenüber immunnaiven Personen untersuchen werden mit immer größerer Grundimmunität in der Bevölkerung (durch eine hohe Impfquote aber auch durch die vielen Reinfektionen) zunehmend schwieriger durchzuführen sein (wer ist denn auch überhaupt noch immunnaiv?). Dementsprechend werden aller Wahrscheinlichkeit nach auch weitere Studien eher retrospektive Erhebungen sein (müssen), so wie diese Arbeit.

Der Charme dieser Studie ist der Vergleich mit einer „Placebogruppe“, nämlich der Gruppe der ungeimpften Probanden. So lässt sich – auf dem Boden einer relativ großen und gut gematchten Datenbasis – ein valider Vergleich zwischen den beiden Gruppen herausarbeiten. Zusammenfassend senkt eine COVID-Impfung das Risiko verschiedener Folgeerkrankungen nach COVID-Infektion, aber auch das Risiko der typischen Long COVID-, bzw. Post COVID-Beschwerden um den Faktor 2-3. Umgekehrt ist es so, dass eine COVID-Erkrankung offenbar zu einer relevanten Erhöhung des Risikos von Folgeerkrankungen (wie Herz- und Nierenerkrankungen, aber auch Diabetes mellitus) führt. Dies kennen wir z.B. aus der prospektiven Hamburg City Health Studie (Petersen et al.), in der Probanden mit milden COVID-Verläufen eingeschlossen wurden. Was beide Studien auf Grund ihres Designs nicht beantworten können ist, ob es derartige Phänomene in diesem Ausmaß auch bei anderen Infektionskrankheiten gibt. Darum soll es – für einen Teilbereich – beim nächsten Mal gehen. Was man auch nicht ableiten kann ist, ob eine durchgemachte Infektion mit vorheriger Impfung zu einem jeweiligen Erkrankungsrisiko auf dem Niveau der „Hintergrund-Inzidenz“ führt, also das Mehr an Erkrankungsrisiko wieder wett macht oder ob nicht auch mit einer COVID-Impfung die Wahrscheinlichkeit einer KHK, einer Hypertonie usw. höher ist, als wenn man nie eine COVID-Infektion erlitten hätte.

Wo man weiterlesen kann:

Zisis SN, Durieux JC, Mouchati C, Perez JA, McComsey GA. The protective effect of covid-19 vaccination on post-acute sequelae of covid-19 (pasc): a multicenter study from a large national health research network. Open Forum Infectious Diseases. Published online May 7, 2022:ofac228. doi:10.1093/ofid/ofac228

Petersen EL, Goßling A, Adam G, Aepfelbacher M, Behrendt CA, Cavus E, Cheng B, Fischer N, Gallinat J, Kühn S, Gerloff C, Koch-Gromus U, Härter M, Hanning U, Huber TB, Kluge S, Knobloch JK, Kuta P, Schmidt-Lauber C, Lütgehetmann M, Magnussen C, Mayer C, Muellerleile K, Münch J, Nägele FL, Petersen M, Renné T, Riedl KA, Rimmele DL, Schäfer I, Schulz H, Tahir E, Waschki B, Wenzel JP, Zeller T, Ziegler A, Thomalla G, Twerenbold R, Blankenberg S. Multi-organ assessment in mainly non-hospitalized individuals after SARS-CoV-2 infection: The Hamburg City Health Study COVID programme. Eur Heart J. 2022 Mar 14;43(11):1124-1137. doi: 10.1093/eurheartj/ehab914.

Impfungen und Long Covid: Was die Briten wissen

Manchmal geschehen komische Dinge und man findet im BILD-Live Ticker plötzlich interessante Literatur. Zum Beispiel diese hier The effectiveness of vaccination against long COVID. A rapid evidence briefing (Link pdf, Link Begleittext) der UK Health Security Agency (UKHSA), was die Public Health-Institution des Vereinigten Königreichs ist. Es handelt sich um eine Zusammenstellung von 15 Studien (davon überwiegend Preprints) zum Thema Auswirkungen von COVID-Impfungen auf Long Covid-Beschwerden, die kurz vorgestellt werden.

Das verrückte ist, dass diese Zusammenstellung viel besser ist, als viele peer reviewed COVID-Paper der letzten Zeit. Die Studien werden in ihrer Qualität beurteilt, es werden Confounder identifiziert und angesprochen, was will man mehr.

Die Twitter-Zusammenfassung

Kurz gesagt steht in dem Bericht inhaltlich das selbe, was Martin Korte letzte Woche bei Holsteins Abendspaziergang berichtet hat: COVID-Impfungen verringern das Risiko bei einer (Durchbruchs-)Infektion mit COVID-19 Long Covid zu entwickeln. Und sie scheinen Long Covid-Symptome abzumildern und zu verkürzen, wenn schon welche bestehen und nach durchgemachter Infektion eine Impfung erfolgt.

Die Blog-Zusammenfassung

Ein bisschen ausführlicher sieht es so aus: Eingeschlossen wurden 15 Studien (vier aus Großbritannien, vier aus den USA, eine aus Frankreich, zwei aus Indien, weine aus Indonesien, eine aus Israel und zwei internationale „Online-Studien“). Bei acht Studien ging es um den Schutz von COVID-Impfungen vor Long Covid, sie betrachteten also Durchbruchsinfektionen. Mit diesen Studien fangen wir an. Sieben Studien beschäftigten sich mit Menschen mit Long Covid, die nach der Infektion mit SARS-CoV-2 und schon bestehenden Long Covid-Symptomen noch eine COVID-Impfung erhielten.

Einschränkungen der Studien

Auch ein schönes Twitter-Thema ist ja das Folgende: Methodische Einschränkungen von Long Covid-Studien. Dies thematisieren auch die MHRA-Autoren. Eine erste Problematik ist die unterschiedliche Definition von Long Covid in den verschiedenen Studien. Eine Zweite die schwierige Objektivierbarkeit der Long Covid-Symptome, die Dritte, dass sich in einigen Studien die Long Covid-Symptome rasch zurückbildeten (das wissen wir ja aus anderen Studien zu dem Thema, dass nur ein Teil der Betroffenen länger als 4-6 Wochen relevante Symptome hat) und die Vierte, dass vermutlich erhebliche Placebo-, aber auch Nocebo-Effekte eine Rolle bei der Bewertung von Long Covid-Symptomen mit und ohne Impfung gespielt haben dürften. Darüber hinaus waren alle Studien Beobachtungsstudien, die andere Confounder nicht ausschließen konnten, auch wurden Online-Befragungen mit den bekannten Problemen (overreporting von Symptomen) und Studien, die ihre Probanden ausschließlich aus der Gruppe hospitalisierter Patienten rekrutierten (mehr Long Covid nach schweren Verläufen) eingeschlossen.

Schutz vor Long Covid durch COVID-Impfung

Im ersten Abschnitt des Berichts geht es um „Vaccination before infection“. Auch hier wird den Studienergebnissen eine Limitierung vorrausgestellt, in diesem Fall eine anzunehmende Unterschätzung der Verhinderung von Long Covid durch Impfungen, da ja nur Menschen mit Durchbruchsinfektionen eingeschlossen wurden und keine repräsentative Gesamtpopulation. In drei von vier Studien konnte gezeigt werden, dass sich das Long Covid-Risiko mit einer vollständigen Impfung (zu den Studienzeitpunkten überwiegend noch zwei Impfungen) in den meisten Fällen ungefähr halbierte (im Vergleich zu einer ungeimpften Kontrollgruppe), bei jüngeren Erwachsenen (18-59 Jahre) in einer Studie sogar auf ein Fünftel des Ausgangsrisikos sank. Das Thema jüngere Erwachsene ist aber so eine Sache, da sich diese in anderen Studien schnell von Long Covid erholten und dementsprechend der Benefit der Impfung dann geringer war.

Bei nur einer Impfdosis bis zur Infektion war das Ergebnis uneinheitlicher, teilweise zeigte sich eine leichte Reduktion des Long Covid-Risikos, teilweise nicht.

Eine indische Studie ergab genau das gegenteilige Bild. Hier waren geimpfte Menschen häufiger von Long Covid betroffen, dies ließ sich aber in den anderen Studien nicht beobachten, wohl aber in einer amerikanischen Studie kein objektivierbarer Effekt auf Long Covid durch eine COVID-Impfung.

Veränderung von Long Covid-Symptomen durch COVID-Impfungen

In meinen Augen spannender, weil immunologisch interessant, ist der zweite Part des Berichts. Hier geht es um „Vaccination after infection“.

Von den sieben Studien hierzu verglichen vier Arbeiten Long Covid-Symptome vor und nach der Impfung. In drei dieser Studien konnte man eine Verbesserung von Long Covid-Symptomen nach einer Impfung feststellen, bzw. mehr Verbesserungen von Symptomen als Verschlechterungen. Dabei geht es aber um so Größenordnungen von jeweils 10% der Probanden (23,2% der Geimpften verspürten eine Verbesserung der Long Covid-Symptome gegenüber 15,4% der ungeimpft bleibenden Kontrollgruppe, 25,6% der Kontrollgruppe berichteten von einer Symptomverschlechterung im Verlauf, jedoch nur 14,3% der geimpften Long Covid-Betroffenen), in einer der Studien auch um gute 50%, die von einer Impfung profitierten. Teilweise wurde auch nur – insbesondere nach der ersten Impfung – von einer passageren Beschwerdebesserung berichtet. Teilweise gab es sehr rasch nach der Impfung eine Symptombesserung.

In einer französischen Arbeit zeigte sich ein konträrer Eindruck, hier führte eine Impfung bei einem großen Teil der Probanden zu einer Symptomverschlechterung.

Was auch zu beobachten war, war dass eine „schnelle“ Impfung bis vier Wochen nach der Infektion eher zu einer Symptomlinderung führte, als wenn der „offizielle“ Abstand von bis zu sechs Monaten eingehalten wurde.

Ein kleines Fazit

Meines Erachtens ein super Bericht mit einer super Aussage. Die Impfung hilft aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur gegen schwere COVID-Verläufe, sondern verringert auch das Risiko Long Covid zu entwickeln, es ist also eine klassische win-win-Situation. Ob und in welchem Ausmaß hier Placebo-Effekte eine Rolle spielen ist aus klinischen Erwägungen ziemlich egal. Wenn es den Menschen hilft, ist es doch gut. Und die Impfung ist auf Grund der Verringerung schwerer Krankheitsverläufe eh indiziert. Außerdem wissen wir aus der Placebo-Forschung (wäre auch noch mal ein gutes Blog-Thema), dass auch Placebo-Effekte deutliche Veränderungen in der Immunantwort von Menschen hervorrufen können.

Die RKI-Begründung zur Verkürzung des Genesenenstatus

Die Verkürzung des Genesenenstatus von sechs auf drei Monate, bzw. eigentlich auf den Zeitraum 28. bis 90. Tag nach positivem PCR-Befund schlägt in den klassischen und den sozialen Medien große Wellen. Vielen erscheint sie unverständlich und ungerecht, vielen auch willkürlich. Die offizielle Argumentationslinie ist, die Kommunikation sei „unglücklich“ gelaufen, aber inhaltlich entspreche es dem Stand der Wissenschaft. Zuletzt hatte Karl Lauterbach ja sogar angekündigt, sich auf EU-Ebene ebenfalls für die Verkürzung des Genesenenstatus einzusetzen.

Problematisch ist, dass die Argumentation, die man seitens des Robert Koch-Instituts (RKI) auf der entsprechenden Webseite vorbringt sehr kurz und – ohne Einarbeitung in die Materie – kaum nachvollziehbar ist: Link

Etwas hilfreicher sind die Ausführungen, die Tim Röhn bei Twitter veröffentlicht hat, die er vom RKI erhalten hat:

Zusätzlich wurde dort ein weiteres Preprint als Begründung angeführt, welches auf der RKI-Seite nicht erwähnt wird, auf das wir später noch einmal zurückkommen.

Die RKI-Argumentation

Die RKI-Prämissen

Das RKI argumentiert in seiner Antwort an Tim Röhn ein wenig komplexer, als man zunächst vermuten kann. Die Wissenschaftler sagen nämlich, dass es ihnen in erster Linie um den Schutz vor Virusweitergabe, also der Virustransmission geht und zwar sowohl als asymptomatisch Infizierter als auch als symptomatisch Infizierter. Was man über die Omikron-Variante weiß sind der stärkere Immunescape, also die Chance sich trotz vorhandener Grundimmunisierung anzustecken, da das Virus die vorhandene Immunantwort besser umgehen kann und die erhöhte Ansteckungs- und Weitergabefähigkeit (secondary attack rate) der Omikron-Variante – auch unter Geimpften und Genesenen – im Vergleich zu den vorherigen Varianten. Das ist ja das, was wir an den schnell steigenden Infektionszahlen auch ganz praktisch derzeit jeden Tag um uns herum bemerken.

Die RKI-Wissenschaftler beziehen sich explizit nicht auf die Dinge, die man vielleicht mit dem Schutz durch eine Impfung assoziieren würde, aber auch durch den durch eine durchgemachte Infektion: Nämlich der Schutz vor schweren Verläufen im Sinne von stationärer Behandlungsbedürftigkeit, Intensivpflichtigkeit oder Tod.

Vom RKI verwendete Literatur

Die auf der Internetseite zum Genesenenstatus angegebene Literatur besteht aus drei Quellen:

  • (1) Einem Survey des Imperial College in London, bei denen die Zahl der Hospitalisationsraten verschiedener Virusvarianten überwacht wird: Link
  • (2) Daten aus der SIREN-Study zum Thema Virusvarianten: Link
  • (3) Der STIKO-Begründung zur Verkürzung des Abstandes der Booster-Impfung auf drei von zuvor sechs Monaten: Link

Zusätzlich gibt es noch das im Nachgang bei der Antwort an Tim Röhn erwähnte Preprint:

  • (4) Altarawneh H, Chemaitelly H, Tang P, et al. Protection afforded by prior infection against SARS-CoV-2 reinfection with the Omicron variant. medRxiv. Published online January 1, 2022:2022.01.05.22268782. doi:10.1101/2022.01.05.22268782

Das Survey des Imperial College

Ferguson N. Report 50: Hospitalisation Risk for Omicron Cases in England. Imperial College London; 2021. doi:10.25561/93035

Das ist die erste der beiden zitierten britischen Gesundheits-Überwachungs-Erhebungen, die im Vergleich zu dem, was wir hier in Deutschland veranstalten unglaublich umfassend und aktuell ist. Der oben angeführte Link führt zur Studienzusammenfassung, hier kommt man zum pdf: Link.

Eine Kernaussage ist die reduzierte Hospitalisationsrate bei Omikron im Vergleich zu Delta. Betrachtet man die Häufigkeit von ZNA-Kontakten, so liegt die Rate 20-25% unter der von Delta und 40-45% unter Delta, wenn es um Patienten geht, die auch stationär aufgenommen werden müssen. Eine durchgemachte frühere Infektion reduziert das Risiko eines ZNA-Kontaktes um ungefähr 50% und das einer stationären Aufnahme um 69%.

Etwas weiter unten in dem Bericht geht es um eine andere Kernaussage, nämlich dass zwei Mal geimpfte (insbesondere wenn eine oder beide Impfungen mit einem Vektor-Impfstoff, wie dem von AstraZeneca erfolgt sind) auch unter Omikron vor schweren Verläufen geschützt sind, aber nicht mehr vor symptomatischen Infektionen.

Für die RKI-Argumentation ist in erster Linie Tabelle 3 auf Seite 8 des pdfs entscheidend. Dort werden Reinfektionsraten nach Impfstatus aufgeschlüsselt, auch wenn es hier um Hospitalisierungsraten geht und dem RKI um „any infection“ bezieht man sich beim RKI offenbar auf diese Tabelle:

Impfung oder ReinfektionFälleHospitalisierungen% Reinfektionen an Fällen% Reinfektionen an HospitalisierungenHR relativ zu primär Delta-Infizierten bei Ungeimpften
Gesamt ohne Reinfektion306.1943.238
Gesamt mit Reinfektionen13.962534,61,60,53
Ungeimpfte9.5855618,68,90,59
AstraZeneca 1. Dosis < 21 Tage00
AstraZeneca 1. Dosis > 21 Tage257< 523,30,00,29
AstraZeneca 2. Dosis < 14 Tage2903,4
AstraZeneca 2. Dosis > 14 Tage11.4404614,04,30,31
AstraZeneca 3. Dosis < 14 Tage2.877< 59,00,07
AstraZeneca 3. Dosis > 14 Tage2.38487,00,00,2
mRNA 1. Dosis < 21 Tage293014,3
mRNA 1. Dosis > 21 Tage2.5261012,920,00,57
mRNA 2. Dosis < 14 Tage249< 520,50,00,44
mRNA 2. Dosis > 14 Tage22.2496011,96,70,22
mRNA 3. Dosis < 14 Tage780< 59,725,00,55
mRNA 3. Dosis > 14 Tage2.467118,09,10,34
nach: Altarawneh H, Chemaitelly H, Tang P, et al. Protection afforded by prior infection against SARS-CoV-2 reinfection with the Omicron variant. medRxiv. Published online January 1, 2022:2022.01.05.22268782. doi:10.1101/2022.01.05.22268782

Diese Tabelle benötigt etwas Erklärung: Angegeben sind in der ersten Spalte der Immunisierungsstatus, wobei bei den Impfstoffen nach Anzahl der Impfdosen unterschieden wird und nach dem Zeitraum der Infektion nach der letzten Impfdosis, weniger oder mehr als 14 oder 21 Tage. Dann findet sich die Zahl der Omikron-Reinfektions-Fälle, dann die Zahl der Hospitalisierungen und dann die hazard ratio. Die Berechnung der Prozentangaben erschließt sich mir teilweise nicht. Ich gebe sie hier an, wie in der Originalquelle.

Virus-Varianten-Überwachung aus der SIREN-Study

Die SIREN-Studie ist ein Survey, bei dem es um eine Immunitäts- und Reinfektionsüberwachung unter Beschäftigten im Gesundheitssystem geht, eingeschlossen sind 44.000 Mitarbeiter des NHS: Link, welche zu Beginn des Surveys schon eine hohe Antikörper-Prävalenz hatten (um 30%) und nun zu über 95% vollständig geimpft sind. Das RKI zitiert SIREN-Studien-Daten, welche wiederum in einem Virusvarianten-Survey (was die Briten alles haben … ist aber extrem super) vorgestellt werden. Bei diesen Links zu den technical briefings muss man aufpassen., teilweise werden Links verwendet, die immer zur aktuellen Version (die alle zwei Wochen erscheint) oder zu einer Übersichtsseite führen, das RKI bezieht sich aber auf folgende Veröffentlichung, die man sonst auch hier findet:

UK Health Security Agency: SARS-CoV-2 variants of concern and variants under investigation in England. Technical briefing 34

Bei den britischen Beschäftigen im Gesundheitssystem kommt es seit Mitte Dezember zu stark steigenden Infektionszahlen, so dass zwischenzeitlich über 200 der 44.000 Probanden infiziert waren.

In diesem Abschnitt des technical briefing findet sich auch die von Eric Topol vorgestellte Tabelle, die später noch mal interessant wird:

In dieser Tabelle kann man sehen, dass der Schutz vor einer symptomatischen Reinfektion bei Omikron für Ungeimpfte bei nur 44% lag.

Aus dem allgemeinen Teil des technical briefing ohne SIREN-Studie ist noch der Abschnitt 2.5 Vaccine effectiveness bedeutsam. Dort wird dargestellt, wie nach einer zweimaligen AstraZeneca-Impfung der Immunschutz mit der Zeit nachlässt, für Delta gegen eine symptomatische Infektion von gut 80% auf gut 40% nach einem halben Jahr, für Omikron von gut 40% auf 0 nach einem halben Jahr. Booster-Impfungen mit einem mRNA-Impfstoff führen (über den kürzeren bislang verfügbaren Beobachtungszeitraum von > 10, bzw. 9 Wochen) zu einem relativ stabilen Immunantwort mit einem Schutz vor einer symptomatischen Delta-Infektion irgendwo zwischen 90 und 100% und gegen Omikron um 60% mit – bei beiden Impfstoffen – einer Tendenz zu einem deutlichen Nachlassen der Schutzwirkung im Verlauf, für den BionTech-Impfstoff auf knapp 50% und für Moderna auf 60% vor einer symptomatischen Infektion, was – soviel Analogie muss sein – ungefähr der Schutzwirkung eines Influenza-Impfstoffs entspricht (auch dort vor einem symptomatischen Verlauf).

Mit mRNA-Impfstoff-Erstimpfungen sieht es etwas besser aus, da fällt der Omikron-Schutz mit zwei Impfungen „nur“ auf 15-20% nach einem halben Jahr, der Booster-Effekt bleibt ungefähr gleich.

Der Schutz vor schweren Verläufen, definiert durch die Notwendigkeit einer Krankenhausaufnahme, ließ gegen Omikron auch recht schnell nach, blieb aber auch nach einem halben Jahr bei 44%, war aber initial auch nur 58% mit zwei Impfungen, mit einem Booster konnte man das (über 10 Wochen Nachbeobachtungszeit) auf 83% steigern. Die Autoren schreiben daher auch:

These estimates suggest that vaccine effectiveness against symptomatic disease with the Omicron variant is significantly lower than compared to the Delta variant and wane rapidly. Nevertheless, protection against hospitalisation is much greater, in particular after a booster dose, where vaccine effectiveness against hospitalisation is around 85 to 90%.

Interessant ist zudem Abschnitt 2.7 Reinfections. Denn hier tauchen auch tatsächlich 90 Tage auf, aber etwas anders als vielleicht erwartet:

Reinfections were defined as new PCR positive infections 90 days after a previous PCR positive date or 28 days after antibody positivity consistent with prior infection.

Das ist zunächst mal eine technische Definition, in der es nur darum geht, ab wann man von einer Reinfektion nach durchgemachter Erstinfektion ausgeht und nicht nur von „Virusresten“, die die PCR positiv erscheinen lassen. Der nächste Absatz ist dann aber wichtig:

Reinfection rates are usually generated using the population of previous infections eligible to become a reinfection (that is with a previous positive test result at least 13 weeks (>90 days) earlier). Using this as a measure of current reinfection rates in the population there is now a marked increase in overall reinfection rates, this is disproportionate to the increase in first infections.

Das heißt, Omikron reinfiziert deutlich mehr Genesene als bei einer 1:1-„Nachinfektion“ (ich schreib mal mit Absicht nicht „Durchseuchung“) zu erwarten wären. Für Schüler weiterführender Schulen ließen sich statistisch sogar frühere Reinfektionsraten (60-89 Tage) errechnen.

STIKO-Begründung zur Verkürzung des Abstandes der Booster-Impfung

Dritte, vom RKI angegebene Quelle ist die STIKO-Begründung zur Verkürzung des Abstandes der Booster-Impfung, die sich im epidemiologischen Bulletin vom 13.01.2022 auf den Seiten 16-18 findet (Link).

Für unsere Fragestellung finden sich in dieser wissenschaftlichen Begründung Argumentationen, die wir nun schon aus den anderen Quellen kennen, weil sie sich auf diese (bzw. auf frühere Versionen des technical briefing beziehen. Ansonsten geht es um Sicherheit, Verträglichkeit usw. Daher halte ich das hier kurz.

Das Preprint aus Katar

Die vierte Quelle ist das nachgeschobene Preprint aus Katar.

Altarawneh H, Chemaitelly H, Tang P, et al. Protection afforded by prior infection against SARS-CoV-2 reinfection with the Omicron variant. medRxiv. Published online January 1, 2022:2022.01.05.22268782. doi:10.1101/2022.01.05.22268782

Einige Kernaussagen dieser Studie hatte ich ja schon bei Twitter vorgestellt, aber hier noch einmal systematisch: Es handelt sich um eine Fall-Kontroll-Studie, in der alle SARS-CoV-2 positiven Befunde der Bevölkerung in Katar eingeflossen sind und welche mit einer Kontrollgruppe ohne SARS-CoV-2-Reinfektion verglichen wurde. Untersucht wurden alle – bislang gängigen – Virusvarianten. Eingeschlossen wurden Reinfektions-Fälle von 336 alpha-Varianten-Infektionen, 1.336 mit der beta-Variante, 2.176 mit Delta und 5.696 mit Omikron. Die mittlere Zeitspanne zwischen erst und Reinfektion war mit 250-314 Tage bei allen Virusvarianten relativ ähnlich, eher so im „ein knappes Jahr“-Zeitraum, was ja in der britischen Erhebung für Omikron anders war. Die Rate an schweren COVID-Verläufen war sehr niedrig, kein Reinfizierter ist verstorben, was aber mit der in Katar sehr sehr jungen Bevölkerung zusammenhängen kann, was auch die Hauptlimitation der Studie ist. Die Risikoreduktion durch Genesung vor einem schweren COVID-Verlauf mit stationärer Behandlungsbedürftigkeit lag bei 69,4% bei Alpha, 88% bei Beta, 100% bei Delta und 87,8% bei Omikron. Das, was für die RKI-Argumentation entscheidend ist, der Schutz vor „symptomatischer Reinfektion“ lag bei 90,2% für Alpha, 84,8% für Beta, 92% für Delta und 56% für Omikron.

Hauptlimitation der Studie, bzw. ihrer Übertragbarkeit auf Deutschland, ist die Bevölkerungsstruktur Katars, mit nur 9% über-50-Jähriger, alle anderen sind jünger als 50. Es konnten bevölkerungsweit nur knapp 20.000 Einwohner mit relevanten Risikofaktoren für schwere COVID-Verläufe identifiziert werden.

Wie das RKI argumentiert

Wenn man das alles zusammen hat, ist die RKI-Argumentation recht logisch, wenn man der Grundannahme folgt (damit tue ich mich aber weiter schwer, doch das ist der letzte Punkt). Aus der britischen Hospitalisierungs-Überwachung kennt man eine recht hohe Rate von Reinfektionen bei Genesenen (9.585 Fälle von insgesamt 42.309 beobachteten Reinfektionen), was sich mit den Erkenntnissen aus der SIREN-Studie deckt (Schutz vor Reinfektion mit Omikron bei UIngeimpften 44%) und eben auch mit dem Preprint aus Katar (56% Schutz vor Reinfektion mit Omikron nach durchgemachter Erstinfektion). In der britischen Virusvarianten-Überwachung konnte man zudem sehen, dass die Zeit zwischen Erst- und Reinfektion (erst Delta, dann Omikron) teilweise recht kurz ist, bei Schülerinnen und Schülern weiterführender Schulen sogar statistisch unter 90 Tagen.

Soweit, so logisch. Meiner Meinung nach. Was ich aber nicht verstehe ist folgendes:

Und was ist mit dem Omikron-Transmissions-Schutz bei Geimpften?

Das erste, was ich nicht verstehen kann, ist warum auf einmal der Fokus weg von einem Schutz vor einem schweren Krankheitsverlauf hin zur Verhinderung von jeglicher symptomatischer Infektion geht. Vor allem, weil das – bei Omikron, aber auch bei Delta (wenn auch weniger ausgeprägt), bei Geimpften nicht groß anders ist.

Und das ist das zweite, was ich nicht verstehen kann. Alle zitierten Surveys zeigen doch genau das selbe Phänomen für die COVID-Impfstoffe. Man muss nicht mal eine andere Arbeit lesen, man kann sogar in exakt die selben Tabellen schauen: Geimpfte haben einen zunächst eher mittelmäßigen Schutz vor einer symptomatischen Omikron-Infektion (besser ist es bei Geboosterten) mit dann raschem Abfall der Schutzwirkung (vom Trend her sieht man das auch bei Geboosterten). Und die Paper zeigen auch das, was wir derzeit tagtäglich um uns herum beobachten können: Auch Geimpfte infizieren sich leicht mit Omikron und geben das Virus weiter (z.B. in der SIREN-Studie mit 95% komplett geimpften Probanden).

Parallel gibt es – bei allen bisherigen Virusvarianten, auch bei Omikron – sowohl nach Genesung einen guten Schutz vor einem schweren COVID-Krankheitsverlauf.

Wenn ihr versteht, warum das RKI entschieden hat wie es entschieden hat, schreibt es gerne in die Kommentare (ich wollte diesen YouTube-Satz unbedingt mal schreiben).

SARS-CoV-2-Reinfektionen nach durchgemachter Erkrankung und nach COVID-Impfung

Thematisch perfekt zum aktuellen Thema der Verkürzung des Genesenenstatus nach durchgemachter SARS-CoV-2-Infektion ist gestern folgendes Paper veröffentlicht wurden:

Mensah AA, Lacy J, Stowe J, et al. Evaluation of disease severity during SARS-COV-2 reinfection, January 2020 to April 2021, England: an observational study. Journal of Infection. Published online January 2022:S016344532200010X. doi:10.1016/j.jinf.2022.01.012

Zeitliche Einordnung

Die – retrospektive – Arbeit beruht auf NHS-Daten von 3,8 Millionen Briten, welche sich zwischen Januar 2020 und Mai 2021 mit SARS-CoV-2 infiziert hatten. In dieser Gruppe wurden knapp 14.000 Reinfektionen registriert, davon die erste im Juni 2020. Ab April 2021 kam es mit der dritten Krankheitswelle und ca. 1 Jahr nach einem Großteil der Primärinfektionen zu einem starken Anstieg der Reinfektionen.

Was man bedenken muss: Der untersuchte Zeitraum fällt in die Zeit des SARS-CoV-2-Wildtyps und der alpha-Variante, die damals noch „britische Variante“ hieß. Vollständige Impfungen gab es zu der Zeit (der anlaufenden Massenimpfungen) noch nicht in allzu großer Zahl.

Das Risiko schwerer Verläufe nach Genesung

Während es für Erstinfektionen ja bekannt ist, das Männer schwerer (und häufiger) an SARS-CoV-2 erkranken als Frauen, war das bei den Reinfektionen anders herum: Hier waren Frauen deutlich häufiger von Reinfektionen betroffen, zudem spielte das Alter eine große Rolle: Ab einem Alter von 70 Jahren stieg das Reinfektionsrisiko stark an (odds Ration 1,73), ab einem Alter von mehr als 80 Jahren war das Risiko sogar um das Dreifache erhöht.

Diese Häufungen führten dazu, dass nur nach Adjustierung für Geschlecht und vor allem Alter sich zeigte, dass das Versterberisiko nach durchgemachter SARS-CoV-2 um 61% reduziert war, für die Notwendigkeit der Aufnahme auf eine Intensivstation um 76%. Das Risiko stationär behandelt werden zu müssen war hingegen in der Gesamtpopulation nur leicht bis gar nicht erniedrigt, in der Hochrisikogruppe für schwere COVID-Verläufe jedoch um 34% niedriger.

Das Risiko schwerer Verläufe nach Impfung

Hier ist die Datenlage durch den Untersuchungszeitraum etwas dünner, dennoch konnte gezeigt werden, dass auch schon die Erstimpfung (von damals noch zwei Impfungen) das Risiko von Krankenhauseinweisungen um 58% reduzierte, wobei die zum derzeitigen Zeitpunkt auch im Vereinigten Königreich bestehende Impfstoffpriorisierung zu so starken statistischen Verzerrungen durch das meist höhere Lebensalter führte, dass sich keine sicheren Unterschiede bei Intensivstationsaufnahmen zwischen ungeimpften und geimpften Erkrankten zeigte. Besser wurde es nur, wenn man die Subgruppe der health care worker untersuchte (das sind aber naturgemäß eher jüngere Menschen mit einem höheren Anteil von Frauen gegenüber Männern), die einen 70% Schutz von symptomatischen Infektionen nach Erst- und 85% nach Zweitimpfung mit dem BionTech-Impfstoff hatten.

Anmerkungen der Autoren

Die Autoren zitieren eine Arbeit zu den anderen humanpathogenen Coronaviren – die übereinstimmend mit ihren Ergebnissen – eine nachlassende Immunantwort und vermehrte Reinfektionen ein Jahr nach Primärinfektion gezeigt hätten (vgl. Edridge et al.), so dass sie hier ein allgemeines Muster bei Coronaviren vermuten.

Als Schwächen ihrer Arbeit identifizieren die Autoren den Studienzeitraum, der die Ergebnisse ggfs. nur eingeschränkt auf die aktuellen Virusvarianten übertragbar macht, m.E. vor allem auf Omikron und weniger auf Delta. Dies gilt insbesondere, wenn man sich die Studienergebnisse anderer Autorengruppen anschaut, die einen guten Schutz vor Reinfektion mit der Deltavariante nach durchgemachter Primärinfektion mit der Alpha-Variante oder dem Wildtyp zeigten (vgl. Kim et al.). Auch schreiben die Autoren, dass durch die zu Beginn der Pandemie eingeschränkten Testmöglichkeiten mit Priorisierung und im Verlauf dann bei hochaltrigen Pflegheimbewohnern und Beschäftigten im Gesundheitssystem vermehrten Testungen diese Bevölkerungsgruppen in der Studie überrepräsentiert sein könnten.

Wo man weiterlesen kann

Edridge AWD, Kaczorowska J, Hoste ACR, et al. Seasonal coronavirus protective immunity is short-lasting. Nat Med. 2020;26(11):1691-1693. doi:10.1038/s41591-020-1083-1

Kim P, Gordon SM, Sheehan MM, Rothberg MB. Duration of Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2 Natural Immunity and Protection Against the Delta Variant: A Retrospective Cohort Study. Clinical Infectious Diseases. Published online December 3, 2021:ciab999. doi:10.1093/cid/ciab999

Mensah AA, Lacy J, Stowe J, et al. Evaluation of disease severity during SARS-COV-2 reinfection, January 2020 to April 2021, England: an observational study. Journal of Infection. Published online January 2022:S016344532200010X. doi:10.1016/j.jinf.2022.01.012

COVID-19 bei Menschen mit ADHS

Kurze Paper-Vorstellung, nachdem ich auf dieses COVID-Paper angesprochen wurde:

Ich stelle das Paper kurz vor und dann noch ein späteres der selben Autorengruppe, welches die Ergebnisse der ersten Arbeit noch etwas besser einordnet.

Das Paper aus dem Tweet

Um dieses Paper aus dem April 2021 geht es in dem Tweet:

Merzon, E., Weiss, M. D., Cortese, S., Rotem, A., Schneider, T., Craig, S. G., Vinker, S., Golan Cohen, A., Green, I., Ashkenazi, S., Weizman, A., & Manor, I. (2021). The Association between ADHD and the Severity of COVID-19 Infection. Journal of Attention Disorders, 108705472110036. https://doi.org/10.1177/10870547211003659

Für die Arbeit wurden Daten einer der vier israelischen Krankenkassen, die des Leumit Health Care Services (Link Wikipedia) aus der ersten COVID-Welle zwischen Februar und Juni 2020 analysiert. Von 1.870 positiven COVID-Versicherten litten auch 231 an ADHS und waren zwischen 5 und 60 Jahren alt (was ein Einschlusskriterium für die Studie war). Der durchschnittliche Studienpatient war 29 Jahre alt, 18% litten an Übergewicht, 4% n einem Diabetes mellitus, 5% an einem Bluthochdruck, 6,5% an Asthma, 4,7% rauchten. 12,4% der Studienteilnehmer litten an ADHS (erwartbar in der israelischen Bevölkerung in der Altersgruppe wären 5 bis 7,5%), 2% an einer depressiven Studie (depressive Menschen waren damit unterrepräsentiert) und 1% an einer Schizophrenie.

Asymptomatische Verläufe traten eher bei jüngeren, weiblichen und schlanken Versicherten auf, symptomatische bei männlichen, älteren und übergewichtigen Versicherten. Auch ein niedriger sozioökonomischen Status (festgemacht an der Meldeadresse) war ein Risikofaktor. Die Studienautoren konnten somit auch in dieser Arbeit die üblichen Risikofaktoren Alter, männliches Geschlecht, niedriger sozioökonomischen Status und Übergewicht als Risikofaktoren für einen schwereren COVID-Verlauf herausarbeiten.

Wichtigste Komorbiditäten, die das Risiko für einen symptomatischen Verlauf erhöhten, waren ein Diabetes und ein Bluthochdruck, aber eben auch ein ADHS. Das Risiko für Versicherte mit ADHS für einen symptomatischen Krankheitsverlauf war fast doppelt so hoch wie für Menschen ohne ADHS (OR 1,81), ebenso das für die Notwendigkeit einer stationären Behandlung (OR 1,93). Hier war es aber so, dass auch Menschen mit den anderen beiden erfassten psychischen Erkrankungen (depressive Störungen und Schizophrenien) ein erhöhtes Risiko für eine Krankenhausbehandlung hatten.

Die Autoren schlussfolgern, dass ein ADHS ein unabhängiger Risikofaktor für einen symptomatischen Krankheitsverlauf und auch für eine stationäre Behandlungsbedürftigkeit ist. Sie schreiben, dass in anderen Studien eine verminderte Selbstfürsorge und ein ausgeprägteres Risikoverhalten bei Menschen mit ADHS gezeigt werden konnte. Sie vermuten, dass dies ein Grund für die erhöhte Rate an symptomatischen und stationär behandlungsbedürftigen COVID-Fällen bei Versicherten mit ADHS in der eigentlich sehr jungen Studienpopulation sein könnte.

Das Folge-Paper

Merzon, E., Manor, I., Rotem, A., Schneider, T., Vinker, S., Golan Cohen, A., Lauden, A., Weizman, A., & Green, I. (2021). ADHD as a Risk Factor for Infection With Covid-19. Journal of Attention Disorders, 25(13), 1783–1790. https://doi.org/10.1177/1087054720943271

In einer Folgearbeit aus November 2021 erweiterte die Autorengruppe den Studieninhalt und unterschied zwischen nicht-behandelten und behandelten ADHS-Versicherten mit COVID-19. Das Auswertungsschema anhand der Versichertendaten blieb gleich, zur Unterscheidung zwischen nicht-behandelten und behandelten ADHS-Versicherten verwendeten die Autoren die Verordnung von ADHS-Medikamenten.

Während in der Gruppe der unbehandelten ADHS-Patienten die Infektionsraten höher waren als bei Nicht-ADHS-Patienten, war das in der Gruppe der behandelten ADHS-Versicherten genau umgekehrt. Hier war das Risiko eine Infektion und vor allem einer symptomatischen COVID-Infektion niedriger als in der Normalbevölkerung.

Die Autoren vermuten auch hier einen Zusammenhang vor allem hinsichtlich des Verhaltens der ADHS-Patienten, was mit Medikation deutlich weniger risikoreich sei.

Ganz kurzes Fazit

Dass sich Menschen mit ADHS öfter mit SARS-CoV-2 infizieren, vor allem wenn sie unbehandelt sind, als Menschen ohne ADHS kann nach meinem Verständnis durchaus mit den Verhaltensmustern bei ADHS erklärt werden, vor allem wenn man berücksichtigt, dass bei Menschen mit depressiven Störungen und Schizophrenien keine erhöhte Infektionsgefahr messbar war. Was bei allen drei psychischen Erkrankungen gleich war – und was sich ja auch mit den klinischen Erfahrungen deckt – dass psychische Krankheit ganz generell (nämlich über alle drei Entitäten gleichsam erhöht) mit schwereren COVID-Verläufen (festgemacht an der Notwendigkeit einer Krankenhausbehandlung) assoziiert ist.

Wo man weiterlesen kann

Merzon, E., Weiss, M. D., Cortese, S., Rotem, A., Schneider, T., Craig, S. G., Vinker, S., Golan Cohen, A., Green, I., Ashkenazi, S., Weizman, A., & Manor, I. (2021). The Association between ADHD and the Severity of COVID-19 Infection. Journal of Attention Disorders, 108705472110036. https://doi.org/10.1177/10870547211003659

Merzon, E., Manor, I., Rotem, A., Schneider, T., Vinker, S., Golan Cohen, A., Lauden, A., Weizman, A., & Green, I. (2021). ADHD as a Risk Factor for Infection With Covid-19. Journal of Attention Disorders, 25(13), 1783–1790. https://doi.org/10.1177/1087054720943271

Schwere COVID-19-Verläufe bei Kindern

Vorweg: Twitter mal wieder

An folgendem Tweet bin ich bei Twitter hängen geblieben:

Vor allem die Formulierung „brain spongiosis“ machte mich hellhörig, weil das etwas ist, was ich mit Prionen-Erkrankung, wie Creutzfeldt-Jakob (Link Wikipedia) oder BSE (Link Wikipedia) verbinde. In deutschsprachigen Accounts wurde das ganze dann auch wie folgt kommentiert:

oder

Ganz kurzer Exkurs: Bei der in den Drukos von Frau Dr. Werner per Screenshot einer NDR-Seite erwähnten Arbeit aus Lübeck handelt es sich um die hier besprochene: Link.

Auf jeden Fall hat mich das angetriggert. Also habe ich das Paper mal gelesen. Und dann noch gleich ein anderes, welches die Autoren als Quelle angeführt haben und was eigentlich noch interessanter klang. Worum geht es also?

Ein Fallbericht aus Brasilien

Gomes, I., Karmirian, K., Oliveira, J. T., Pedrosa, C. da S. G., Mendes, M. A., Rosman, F. C., Chimelli, L., & Rehen, S. (2021). SARS-CoV-2 infection of the central nervous system in a 14-month-old child: A case report of a complete autopsy. The Lancet Regional Health – Americas, 2, 100046. https://doi.org/10.1016/j.lana.2021.100046

Diese Arbeit ist in einem „Regional-Ableger“ von Lancet erschienen, eingereicht wurde sie im Juni 2021, veröffentlicht im August 2021. Es handelt sich um einen Fallbericht, die Autoren sind alle in Rio de Janeiro tätig, stammen überwiegend aus der Pathologie und Neuropathologie. Das Paper arbeitet den tragischen Verlauf eines 14 Monate alten Mädchens auf, welches in einem brasilianischen Krankenhaus an einer COVID-Infektion verstorben ist.

Der klinische Fall

Das Mädchen habe sich nach der Geburt bis zu einem Alter von 10 Monaten normal entwickelt. Dann sei eine Gedeihstörung aufgetreten, es kam zu Erbrechen, einer (Muskel-)Hypotonie (also keinem niedrigen Blutdruck) und zum Auftreten von epileptischen Anfällen. Eine erste stationäre Behandlung erfolgte unter der Verdachtsdiagnose eine viralen Meningitis, wobei zu diesem Zeitpunkt keine weiterführende diesbezügliche Diagnostik erfolgt sei. In den Monaten darauf, sei es zu drei weiteren stationären Aufnahmen auf Grund sehr ähnlicher Symptome gekommen. Bei der insgesamt vierten stationären Aufnahme fiel ein pathologisch verlangsamtes EEG auf, erst dann wurde eine Liquoruntersuchung durchgeführt, welche aber unauffällig verblieb. Das Mädchen wurde mit einem (aus der Sicht eines westeuropäischen Erwachsenen-Neurologen sehr veraltet anmutenden) Antiepileptikum (Phenobarbital) entlassen. Einen Monat später wurde das Mädchen wieder (nun zum fünften Mal) stationär aufgenommen. Wieder war Erbrechen das Hauptsymptom, zudem wurden unwillkürliche repetitive Bewegungen der linken Körperseite beobachtet, zudem eine Parese der Nacken- und Schultermuskulatur mit der Unfähigkeit den Kopf zu halten, einer ausgeprägten Haltungsinstabilität auf Grund der muskulären Hypotonie und dem klinischen Bild einer Pneumonie mit leicht erniedrigter Sauerstoffsättigung bei aber noch unauffälligen Entzündungsparametern. Acht Tage nach Aufnahme wurde eine Computertomographie durchgeführt, welche abnorm weite Seitenventrikel und einen erweiterten dritten Ventrikel zeigte. Die erste Verdachtsdiagnose war nun Hirndruck bei einer angenommenen Liquorabflussstörung. Zudem fand sich eine kaum abgrenzbare Mark-Rinden-Differenzierung (Link CT-Aufnahmen aus dem Paper), wie man sie bei Hypoxien sieht. Zu diesem Zeitpunkt war das Kind wach und unter Sauerstoffgabe stabil. Zwei Wochen nach stationärer Aufnahme kam es zu einer raschen Verschlechterung des Zustandes, es wurde per PCR eine SARS-CoV-2-Infektion nachgewiesen, nach anfänglich weiter stabilem Verlauf kam es dann zu einer raschen klinischen Verschlechterung mit Multiorganversagen und Sepsis, an welcher das Mädchen schlussendlich verstarb.

Die Autoren führen eine Tabelle an, in denen sie erhobene Laborparameter zu verschiedenen Zeitpunkten darstellen. Eine Synopsis der wichtigsten Parameter habe ich hier noch einmal zusammengestellt:

Normalwerte // Tage nach Aufnahme41014172325
Hb11,1-14,1 g/dl16,612,312,39,910,110,6
Thrombozyten200-550 x 103/µl304343295383393
Leukozyten6-16 x 103/µl15,720,232,717,524,635,8
Kreatinin0,3-08 mg/dl0,40,40,30,30,30,3
Harnstoff 10-50 mg/dl251427221317
CRP0-5 mg/l20,86,126,7108,1
nach: Gomes, I., Karmirian, K., Oliveira, J. T., Pedrosa, C. da S. G., Mendes, M. A., Rosman, F. C., Chimelli, L., & Rehen, S. (2021). SARS-CoV-2 infection of the central nervous system in a 14-month-old child: A case report of a complete autopsy. The Lancet Regional Health – Americas, 2, 100046. https://doi.org/10.1016/j.lana.2021.100046

Betrachtet man die Laborwerte, so scheint die systemische Entzündungsreaktion an Tag 10 nach stationärer Aufnahme begonnen zu haben, eine erste relevante CRP-Erhöhung ist erst eine Woche später messbar. LDH oder Ferritin als typische bei COVID-19 erhöhte Parameter wurden nicht bestimmt oder nicht berichtet.

Anderthalb Tage nach dem Versterben erfolgte eine Autopsie. Die Ergebnisse der Autopsie machen den Hauptteil des Papers aus.

Die Autopsie-Ergebnisse

Hier fasse ich die wesentlichen Ergebnisse möglichst kurz zusammen. An dem verstorbenen Kleinkind wurde eine komplette Autopsie inclusive neuropathologischer Untersuchung durchgeführt. In den Lungen zeigte sich das Vollbild einer COVID-Pneumonie mit interstitiellen Infiltraten, aber auch kleinen Lungenembolien und Einblutungen in das Lungengewebe. Es fanden sich eine Speiseröhren- und Magenschleimhautentzündung, eine Fettleber (mit 14 Monaten !?) und hier auch Lymphozyteninfiltraten, eine schwere Nekrose der gesamten Bauchspeicheldrüse und eine diffuse Nierenschädigung (auch hier mit kleinen Thromben). Das Gehirn war um ein Drittel leichter als das Normgewicht in dem Alter, die Erweiterung der Liquorräume – welche in der CT aufgefallen war- stellte sich als e vacuo-Erweiterung (also durch eine Hirnatrophie und nicht durch einen Hydrozephalus) heraus. Es fiel eine kortikale Atrophie auf, zudem ausgedehnte Nekrosen in den Temporallappen, bei denen das Hirngewebe als „extremely soft“ beschrieben wurde. Während das Kleinhirn normal erschien, imponierte die Pons atrophiert. Riechhirn und Riechnerven konnten auf Grund der Nekrosen nicht entnommen werden.

Mikroskopisch fiel neuropathologisch in vielen Regionen der Großhirnrinde eine laminare kortikale Nekrose (Link Radiopedia) auf, wie sie bei Hypoxien gesehen wird, allerdings auch ein diffuses Hirnödem und ubiquitäre Einsprossungen kleinster Gefäße mit perivaskulären Lymphozytenansammlungen. Nekrosen von Nervenzellen wurden auch in den Stammganglien und dem Thalamus beobachtet, dort teilweise schon mit einer reaktiven Gliose und mit der Eingangs erwähnten „spongiosis“, auf die aber nicht weiter eingegangen wird. Darüber hinaus fanden sich eine Entzündung der weichen Hirnhäute und eine diffuse Mikroglia-Aktivierung.

SARS-CoV-2-RNA konnte erwartungsgemäß in der Lunge nachgewiesen werden, im Gehirn im Epithel des Plexus choroideus (Link Wikipedia) und weniger in den Ventrikeln. Spike-Protein ließ sich in einzelnen Kortexzellen nachweisen, darüber hinaus aber nicht, was sich – ebenso wie die neuropathologischen Befunde der Mikrogliaaktivierung und die der lymphozytären Infiltrationen – mit den Ergebnissen anderer neuropathologischer Arbeiten, wie der aus Hamburg deckt (ich hatte das mal in dem Blogbeitrag zur Frage der Neurotropie von SARS-CoV-2 erläutert, Link). Generell ließen sich bei der Autopsie in anderen Organen deutlich weniger Viruskopien nachweisen, als in Lunge und Großhirn, dort allerdings vor allem in den Gefäßwänden des Plexus choroideus und mittleren bis kleinen Arterien:

We found that SARS-CoV-2 infection was restricted at the lumina of ChP capillaries and medium-sized blood vessels.

Die Zusammenfassung

Und hier wird es meines Erachtens wichtig für die Einordnung. Die Autoren schreiben nämlich:

The child’s brain presented severe cortical neuronal loss, macrophage activation, and reactive gliosis, which are expected in encephalopathies. The encephalopathy reported here might have been related to hypoxia, secondary to both prolonged seizures and severe pneumonitis. A putative pre-existing condition (not diagnosed in life) contributing to this clinical status cannot be ruled out. Although we cannot determine the relative contribution of SARS-CoV-2 infection to our patient’s encephalopathy, a recent study reported similar neurological complications of COVID-19 in previously healthy children, with or without co-infections.

Auf das erwähnte Paper geh ich gleich noch ein, das ist nämlich sehr interessant. Weiter schreiben die Autoren:

Therefore, it is possible that our patient’s SARS-CoV-2 infection substantially exacerbated a previously undiagnosed encephalopathy caused by a pre-existing condition

In den „Conclusions“ heißt es dann noch einmal:

The severe encephalopathy reported here could have resulted from recurrent seizures due to an undiagnosed aetiology. Despite the putative prior encephalopathy, we cannot ignore its possible exacerbation due to SARS-CoV-2 infection.

Zusammenfassend handelt es sich um einen tragischen Fall eines – so verstehe ich die klinische Schilderung zumindest – schwer kranken Kindes, welches an einer zu Lebzeiten nicht diagnostizierten Enzephalopathie unklarer Genese gelitten hat. Diese scheint sich mit dem 10. Lebensmonat manifestiert zu haben und zu den epileptischen Anfällen, der Hirnatrophie und der Bewegungsstörung beim fünften stationären Aufenthalt geführt zu haben. Dieses sehr kranke Kind ist dann an einer fulminant verlaufenden COVID-19-Erkrankung verstorben. So ist das in den Tweets und den Drukos darunter aber nicht kommuniziert worden.

Eine Kinder-Bildgebungs-Studie

Lindan, C. E., Mankad, K., Ram, D., Kociolek, L. K., Silvera, V. M., Boddaert, N., Stivaros, S. M., Palasis, S., Akhtar, S., Alden, D., Amonkar, S., Aouad, P., Aubart, M., Bacalla, J. A., Barbosa, A. A., Basmaci, R., Berteloot, L., Blauwblomme, T., Brun, G., … Vézina, G. (2021). Neuroimaging manifestations in children with SARS-CoV-2 infection: a multinational, multicentre collaborative study. The Lancet Child & Adolescent Health, 5(3), 167–177. https://doi.org/10.1016/S2352-4642(20)30362-X

Auf diesen Artikel verweisen die Autoren des Fallberichts mehrfach und ich fand ihn ernsthaft interessant und vorstellenswert.

Die Eckdaten

In dieser kleinen Studie wurden neuroradiologische Bilddaten von insgesamt 38 Kindern mit COVID-19-Erkrankungen und neurologischen Komplikationen systematisch ausgewertet. Die Autoren konnten mehrere Erkrankung-Kategorien herausarbeiten. So beschreiben sie

  • ADEM-ähnliche Erkrankungen in 16 Fällen
  • eine Myelitis in 8 Fällen
  • eine Radikulitis oder Hirnnervenneuritis bei 13 Patienten
  • Balkenläsionen in 7 Fällen, vor allem im Splenium (dem hinteren Anteil des Balkens, Link Wikipedia)
  • und Myositiden bei 4 Kindern
  • 34 Fälle hatten ein gutes Outcome, 4 Kinder sind jedoch an den ZNS-Komplikationen, bzw. Infektionen des ZNS verstorben

Klinische Verläufe

ADEM-ähnliche Verläufe

Das Thema ADEM (akute demyelinisierende Enzephalomyelitis) hatten wir zuletzt mehrfach, einmal als Folge der Masern-Infektion (Link) und einmal als „klassische“ Impfnebenwirkung (Link). Die in dieser Studie betrachteten ADEM-ähnlichen Erkrankungsbilder waren oft bilateral und reichten von sehr ausgedehnt bis sehr klein und dezent. Die umfangreiche Antikörpertestung im Liquor der Kinder mit ADEM-artigen Veränderungen im Gehirn blieb bei 10 Kindern unauffällig, ein Kind hatte Antikörper gegen NMDA-Rezeptoren und ein Kind Antikörper gegen MOG. Schwer verlief der Fall des Kindes mit der NMDA-Rezeptor-Enzephalitis zusätzlich zur COVID-Erkrankung. Von anderen Virusinfektionen ist die Triggerung von Autoimmunenzephalitiden bekannt, der Klassiker in der Neurologie ist die NMDA-Rezeptor-Enzephalitis nach einer Herpes-Enzephalitis (siehe z.B. Hacohen et al.).

Myelitiden

Aufmerksamen Bloglesern wird auffallen, dass die Myelitiden als zweite häufige „klassische“ Impfkomplikation gelten, nun aber auch hier als häufige Komplikation auftauchen. Die Myelitiden verliefen – wie die ADEM-Fälle – ebenfalls durchaus unterschiedlich. In einem Fall wurde eine langstreckige, schwere Myelitis berichtet, die mich eher an eine spinale Ischämie (Link Wikipedia) oder eine NMO-Spektrumerkrankung (Link Wikipedia) erinnert und die – passend zu einer spinalen Ischämie – defekthaft mit schwerem Querschnittssyndom und deutlicher Rückenmarks-Atrophie im weiteren Verlauf ablief. Ein Kind mit einer tödlich verlaufenden TBC a.e. als Sekundärinfektion (siehe unten) entwickelte eine schwere Myelitis. In den anderen Fällen handelte es sich eher um „typische“ para- und postinfektiöse Myelitiden mit eher gutartigem Verlauf.

Radikulitiden und Hirnnervenneuritiden

Und das ist dann die dritte „typische“ Impfnebenwirkung (zur Einordnung, warum das so ist, kommen wir gleich). Die Entzündung der Nervenwurzeln und der Hrinnerven verliefen mild.

Balkenläsionen

Die Balkenläsionen im Splenium scheinen von der MR-Morphologie zum Teil entzündlich vermittelt und zum Teil ischämischer Genese zu sein. Die Prognose war ingesamt günstig, die Kinder, die sich nicht komplett erholten, hatten melde Restsymptome.

Die tödlich verlaufenden Fälle

Zwei zuvor gesunde Kinder sind an einer ZNS-Tuberkulose verstorben. Dies ist sehr ungewöhnlich, die Autoren spekulieren daher darüber, dass die Infektion von Plexus choroideus und Gefäßen, die zu den Ventrikeln ziehen, eine sekundäre Einwanderung von Tuberkulose-Bakterien in das ZNS ermöglicht haben. Bei den anderen beiden Kindern führte einmal eine Varizella-Zoster-Infektion mit Enzephalopathie zur stationären Aufnahme, die Diagnose einer SARS-CoV2-Infektion wurde erst im Verlauf gestellt, es kam zu einer zusätzlichen MRSA-Sepsis (Link Wikipedia). Bei dem vierten Kind kam es zu einer bakteriellen Meningitis mit Begleitvaskulitis.

Was haben ADEM, Myelitis und Radikulitis hier zu suchen?

Es scheint, dass diese Erkrankungen besonders typische neurologische Manifestationsorte einer überschießenden Autoimmunreaktion sind. Daher sieht man sie sowohl post- und paarinfektiös, als auch nach Impfungen und daher bei Kindern mehr als bei Erwachsenen mit dem „trägeren“ und „langsameren“ Immunsystem.

Ein Fazit, bzw. drei

Die erste Botschaft muss (mal wieder) lauten: Vereinfachen und verkürzen, auch diese Artikel taugen hierfür nicht. Es ist und bleibt ein typisches Twitter-Problem, dass sowohl Zeichenbegrenzung als auch Lager-, bzw. Bubble-Bildung das Vereinfachen begünstigen.

Das zweite Fazit lautet: Artikel lesen (und nicht nur die Überschrift oder das Abstract) lohnt sich. Hier kann ich allen vor allem den zweiten Artikel empfehlen, der auch sehr schöne, einprägsame radiologische Aufnahmen enthält. Und es ist – wie eigentlich alle COIVD-Paper – ein open access-Artikel.

Und zu guter letzt: Ja, gemessen an der Zahl der vielen, vielen Infektionen verläuft COVID-19 bei vielen, vielen Kindern recht mild und harmlos (soweit wir wissen). Aber eben nicht bei allen und alleine in diesen beiden Artikeln werden Fälle von fünf Kindern geschildert, die an COVID-19, bzw. Komplikationen der COVID-Erkrankung verstorben sind. Und es wurden 34 weitere Fälle geschildert, bei denen ernsthafte – wenn auch oft gut ausheilende – neurologische Komplikationen aufgetreten sind. Das führt zu Hospitalisierung, Angst und Anspannung sowohl bei den Kindern als auch bei ihren Eltern. Berücksichtigt das bei eurer Impfentscheidung. Auch hier gilt m.E. Wut und Bockigkeit sind am Ende schlechte Ratgeber.

PS: Was es nun mit der brain spongiosis auf sich hatte, bleibt weiterhin unklar.

Wo man weiterlesen kann

Hacohen, Y., Deiva, K., Pettingill, P., Waters, P., Siddiqui, A., Chretien, P., Menson, E., Lin, J.-P., Tardieu, M., Vincent, A., & Lim, M. J. (2014). N -methyl- D -aspartate receptor antibodies in post-herpes simplex virus encephalitis neurological relapse. Movement Disorders, 29(1), 90–96. https://doi.org/10.1002/mds.25626

Gomes, I., Karmirian, K., Oliveira, J. T., Pedrosa, C. da S. G., Mendes, M. A., Rosman, F. C., Chimelli, L., & Rehen, S. (2021). SARS-CoV-2 infection of the central nervous system in a 14-month-old child: A case report of a complete autopsy. The Lancet Regional Health – Americas, 2, 100046. https://doi.org/10.1016/j.lana.2021.100046

Lindan, C. E., Mankad, K., Ram, D., Kociolek, L. K., Silvera, V. M., Boddaert, N., Stivaros, S. M., Palasis, S., Akhtar, S., Alden, D., Amonkar, S., Aouad, P., Aubart, M., Bacalla, J. A., Barbosa, A. A., Basmaci, R., Berteloot, L., Blauwblomme, T., Brun, G., … Vézina, G. (2021). Neuroimaging manifestations in children with SARS-CoV-2 infection: a multinational, multicentre collaborative study. The Lancet Child & Adolescent Health, 5(3), 167–177. https://doi.org/10.1016/S2352-4642(20)30362-X

Zwischenruf: Wenn der Gesundheitsminister (der Herzen) über wissenschaftliche Literatur twittert

Vielleicht ist es auch nur Psychohygiene, weil ich eigentlich diese Faktenchecker, Faktenfüchse, Volksverpetzer usw. ganz furchtbar finde, weil da meistens mehr Agenda als Faktencheck hintersteckt. Aber wenn wer Freude dran hat:


22.03.2021

Blog-Beitrag zu dem Thema (Link), bis zu „Oft zitiert und oft kritisiert: Die Studie mit dem Internetfragebogen“ scrollen.


08.05.2021

Blog-Beitrag zu dem Thema, das Thema VITT bei jungen mit AstraZeneca-Geimpften war da schon längst bekannt: Link.


12.05.2021


30.06.2021


18.07.2021

und ausführlicher hier: Link.


19.07.2021

und das hier:


13.08.2021


14.08.2021


16.08.2021


17.08.2021


20.08.2021


30.08.2021


30.08.2021


07.09.2021


08.09.2021


12.09.2021


26.09.2021


06.10.2021


06.10.2021


07.10.2021


14.10.2021


17.10.2021


19.10.2021


20.10.2021


21.10.2021


22.10.2021


28.10.2021


31.10.2021


03.11.2021

Das Paper hatten wir ähnlich unglücklich kommuniziert weiter oben schon mal:


11.11.2021


29.11.2021


01.12.2021