Kompliziertes, was eigentlich ganz einfach ist: Radikulopathien und Rückenschmerz mit und ohne Ausstrahlung

Spezifische und nicht-spezifische Rückenschmerzen

Hier ging es ja schon einmal um chronische Rückenschmerzen, jetzt – so ohne Schmerz-Prüfung vor Augen – müssen wir uns aber dringend noch mal den akuten Rückenschmerzen zuwenden. Der akute Rückenschmerz ist noch mal deutlich häufiger als der chronische und betrifft – zumindest was den unteren Rücken betrifft – mit einer 85%-Lebenszeitprävalenz nahezu jeden irgendwann einmal. Ganz offiziell werden Rückenschmerzen in spezifische und nicht-spezifische Rückenschmerzen unterteilt, womit man meint, dass es Rückenschmerzen gibt, die auf einer ganz klaren Ursache wie einem Bandscheibenvorfall, einer Spinalkanalstenose, einer Wirbelkörperfaktur, eine Spondylodiszitits usw. beruhen und die mit der Behandlung dieser Grunderkrankung auch wieder verschwinden und dass es Schmerzen gibt, bei denen das eben nicht so ist. Die Genese der nicht-spezifischen Rückenschmerzen ist auch im Jahr 2020 unklar und vermutlich gibt es auch nicht die eine Ursache, sondern viele verschiedene Gründe, die zu nicht-spezifischen Rückenschmerzen führen. Eine Hypothese besagt, dass ein großer Teil der akuten Rückenschmerzen vertebragen bedingt ist, also aus den Wirbelkörpern (und Bandscheiben) stammt und in erster Linie ein Nozizeptor-Schmerz ist (welcher demnach auch gut auf Analgetika ansprechen müsste). In schmerztherapeutischen Kreisen wird in der Regel der paarvertebralen Muskulatur mit dem Konzept der myofaszialen Schmerzen die größte Bedeutung bei der Entstehung und Behandlung der Rückenschmerzen zugeschrieben. Relativ klar – wenn in ihrer genauen pathogenetischen Einordnung nicht gänzlich verstanden – ist auch die Bedeutung psychosozialer Belastungsfaktoren nicht nur für die Chronifizierung von Rückenschmerzen, sondern auch für die Entstehung akuter Rückenschmerzen. Dabei muss man dabei wieder drei Untergruppen unterscheiden und berücksichtigen:

  • psychosoziale Faktoren des Patienten selber, die in der NVL Kreuzschmerz sogar eine eigene Warnflaggen-Farbe bekommen und als yellow flags gelten. Dazu gehören: Vorbestehende depressive Symptome, Distress (also negativer Stress), die Neigung zum Katastrophisieren, Hilf- und Hoffnungslosigkeit, Angst-Vermeidungs-Verhalten mit passivem Schmerzverhalten und übermäßiger Schonhaltung und die Neigung zur Somatisierung; dazu die üblichen Probleme: Rauchen, Alkoholkonsum, Übergewicht und fehlende Kondition
  • arbeitsplatzbezogene Risikofaktoren, welche als blue flags bezeichnet werden (und welche natürlich nur bei berufstätigen Patienten wichtig sind) und die sich teilweise mit den intrinsischen Risikofaktoren von gerade überschneiden: Körperliche schwere Arbeit, monotone Körperhaltung, Vibrationsexposition, geringe berufliche Qualifikation, geringer Einfluss auf die Arbeitsgestaltung, geringe soziale Unterstützung, berufliche Unzufriedenheit und Verlust des Arbeitsplatzes, Kränkungserleben am Arbeitsplatz und Mobbing und eine negative Erwartungshaltung hinsichtlich einer Rückkehr an den Arbeitsplatz mit Angst vor erneuter Akquise von Rückenschmerzen dort
  • und am faszinierendsten: Risikofaktoren, welche durch den Arzt selber generiert werden und die da lauten: Fehlende Akzeptanz der multifaktoriellen Genese von Rückenschmerzen, Überbewertung radiologischer Befunde bei nicht-spezifischen Schmerzen, zu lange Krankschreiben, Förderung passiver Therapiekonzepte (Spritzen, Fango, Massagen) und übertriebener Einsatz von Diagnostik.
Ohne gute Untersuchung geht es nicht

Damit ist aber auch klar, das ganze Thema steht und fällt mit der möglichst richtigen Zuordnung in spezifische und nicht-spezifische Rückenschmerzen. Und wenn wir uns nicht sicher sind und einfach mal Großgerätediagnostik verballern, machen wir den Schmerz unter Umständen einfach nur schlimmer und nicht besser. In der NVL (Nationale Versorgungsleitlinien sind ja sozusagen so Fachgesellschaft-übergreifende Konsensusleitlinien) findet sich daher auch als erste Empfehlung beim Thema Diagnostik folgender Satz:

Finden sich bei Patienten mit Kreuzschmerzen durch Anamnese und körperliche Untersuchung beim Erstkontakt keine Hinweise auf gefährliche Verläufe oder andere ernstzunehmende Pathologie, sollen vorerst keine weiteren diagnostischen Maßnahmen durchgeführt werden.

Dies bezieht sich natürlich einmal auf neurologische Ursachen der Schmerzen, aber auch auf andere Erkrankungen, die mit Rückenschmerzen einhergehen können wie Cholezystitiden, Pankreatitiden, Aortenaneurysmen, gynäkologisch und urologische Erkrankungen. In der NVL werden darüberhinaus red flags formuliert, welche für die Themen Fraktur, Infektion, Radikulopathien, Neuropathien, Tumorleiden und axiale Spondylarthritis jeweils anamnestische und klinische Hinweise formulieren, die es zu erfragen/untersuchen gilt und die sicherlich einmal einen ausgeprägten Blick wert sind:

Fraktur/Osteoporose: schwerwiegendes Trauma z. B. durch Autounfall oder Sturz aus größerer Höhe, Sportunfall; Bagatelltrauma (z. B. Husten, Niesen oder schweres Heben) bei älteren oder potentiellen Osteoporosepatienten; systemische Steroidtherapie.

Infektion: allgemeine Symptome, wie kürzlich aufgetretenes Fieber oder Schüttelfrost, Appetitlosigkeit, rasche Ermüdbarkeit; durchgemachte bakterielle Infektion; i.v.-Drogenabusus; Immunsuppression; konsumierende Grunderkrankungen; kürzlich zurückliegende Infiltrationsbehandlung an der Wirbelsäule; starker nächtlicher Schmerz.

Radikulopathien/Neuropathien: bei jüngerem Lebensalter eher Bandscheibenvorfall als Ursache der Wurzelkompression; im Dermatom in ein oder beide Beine ausstrahlende Schmerzen, ggf. verbunden mit Gefühlsstörungen wie Taubheitsgefühlen oder Kribbelparästhesien im Schmerzausbreitungsgebiet oder Schwächegefühl; Kaudasyndrom: plötzlich einsetzende Blasen-/Mastdarmstörung, z. B. Urinverhalt, vermehrtes Wasserlassen, Inkontinenz; Gefühlsstörung perianal/perineal; ausgeprägtes oder zunehmendes neurologisches Defizit (Lähmung, Sensibilitätsstörung) der unteren Extremität; Nachlassen des Schmerzes und zunehmende Lähmung bis zum kompletten Funktionsverlust des Kennmuskels (Nervenwurzeltod).

Tumor/Metastasen: höheres Alter; Tumorleiden in der Vorgeschichte; allgemeine Symptome: Gewichtsverlust, Appetitlosigkeit, rasche Ermüdbarkeit; Schmerz, der in Rückenlage zunimmt; starker nächtlicher Schmerz.

Axiale Spondyloarthritis: länger anhaltende Kreuzschmerzen (> 12 Wochen) und Beginn vor dem 45. Lebensjahr; schleichender Beginn der Schmerzen; Morgensteifigkeit (≥ 30 Minuten); Verbesserung der Kreuzschmerzen durch Bewegung, nicht in Ruhe; schmerzbedingtes frühmorgendliches/nächtliches Erwachen; alternierender Gesäßschmerz; zunehmende Steifheit der Wirbelsäule; begleitende periphere Arthritis, Enthesitis, Uveitis; bekannte Psoriasis, entzündliche Darmerkrankung.

Für Neurologen bedeutet das, dass man im Zweifel derjenige ist, der sich zum Thema Radikulopathie/Neuropathie verlässlich äußern muss und das geht halt nur, wenn man die Dermatom- und Reflexzuordnung und die jeweiligen Kennmuskeln für die einzelnen Nervenwurzeln kennt. Und das ist etwas, was man wohl oder übel halt auswendig lernen muss.

Uralte Dermatomkarte, aber sehr übersichtlich. Diese D10-Schreibweise ist etwas veraltet, heute würde man Th10 schreiben …

SegmentMuskelnReflexSensibilitätsstörung
C4Zwerchfell

C5M. deltoideus, M. bicepsBSRSchulter
C6M. biceps, M. brachioradialisBSR, RPRSchulter und lateraler Oberarm
C7M. triceps, M. pectoralis majorTSRUnterarmstreckerseite, Handrücken, Finger II-IV
C8Kleine HandmuskelnTrömner, TSRUlnarer Unterarm, Finger IV-V
Th1HyothenarTrömnerOberarm-Unterseite
Kennmuskeln, Reflexe und Sensibilitätsstörung bei Affektion der zervikalen Segmente
SegmentMuskelnReflexSensibilitätsstörung
L1

Leiste oberhalb des Leistenbandes
L2M. iliopsoas, AdduktorenADRUnterhalb des Leistenbandes
L3M. quadriceps femorisADR, PSRStreck- und Innenseite Oberschenkel bis zum Knie
L4M. quadriceps femorisPSRAußenseite Oberschenkel über Patella bis zur Tibiavorderkante
L5M. gluteus medius, FußheberTPRKnie, Außenseite Unterschenkel, Fußrücken, Großzehe
S1M. gastrocnemiusASRAußenseite Oberschenkel, Unterschenkel, Malleolus lateralis, Kleinzehe
Kennmuskeln, Reflexe und Sensibilitätsstörung bei Affektion der lumbalen Segmente

Mit diesem Wissen kann man dann unterscheiden, ob es sich um einen Rückenschmerz mit Ausstrahlung oder eine Radikulopathie handelt.

Fallstricke bei der klinischen Untersuchung

Es sind eigentlich zwei Dinge, worauf man immer wieder reinfällt: Alte Reflexdefizite nach einem stattgehabten Bandscheibenvorfall in der Vorgeschichte mit einem jetzt nicht-radikulären Schmerzsyndrom und die berühmte schmerzbedingte oder algophobe Minderinnervation, welche funktionell relevante Paresen imitieren kann. Beim ersten Punkt hilft nur der Versuch die Schmerzausstrahlung möglichst genau zu erfragen und immer wieder zu schauen, ob das einem radikulären Syndrom entsprechen könnte, beim zweiten Punkt kann man oft ein ruckartiges Nachgeben in der Einzelkraftprüfung beobachten: Erst wird volle Kraft aufgebracht, dann kommt es zu einem einschießenden Schmerz und dadurch zu dem rückartigen Nachlassen der Muskelkraftentwicklung.

Helfen kann manchmal der Schmerzcharakter, wobei das jetzt nicht evidenzbasierte Medizin ist: Nicht-spezifische Rückenschmerzen schmerzen im Bereich des Rückens oft viel mehr, als Radikulopathien, wo nicht selten, der Hauptschmerz im betreffenden Dermatom und weniger im Rücken lokalisiert ist. Nicht-spezifische Rückenschmerzen sind in Ruhe oft besser, verstärken sich typischerweise durch körperliche Belastung und langes Stehen und Sitzen, auf radikulären Rückenschmerzen können viele Betroffene auch kurz nicht gut sitzen oder liegen und sind eher angetrieben, rastlos und versuchen in ständiger leichter Bewegung zu bleiben.

Im Zweifelsfall ein Bild machen?

Ist man sich nicht sicher oder das klinische Bild nicht eindeutig, steht man vor der Zwickmühle: MRT-Bildgebung veranlassen oder nicht? Folgt man der NVL wäre die Antwort: Eher nein, folgt man der Versorgungsrealität lautet die Antwort ja. Dies führt aber zum nächsten Fallstrick: Wie beim Thema chronische Rückenschmerzen erwähnt, ist die Rate an auffälligen radiologischen Befunden ohne klinisches Korrelat gerade beim Thema Rückenschmerz und gerade mit steigendem Lebensalter extrem hoch.

Die Abbildung hatte ich schon beim chronischen Rückenschmerz …
nach: Brinjikji, W. et al. Systematic Literature Review of Imaging Features of Spinal Degeneration in Asymptomatic Populations. Am. J. Neuroradiol. 36, 811–816 (2015).

Und das bedingt dann, dass man eine reale Chance hat, mit einem unpräzisen klinischen Befund und einem MRT eine vermeintlich die Schmerzen bedingende strukturelle Ursache ausmachen zu können, die dann im Zweifelsfall sogar operiert wird und dann zu dem Phänomen failed back surgery beiträgt.

Halt, wird der ein oder andere jetzt sagen: Aber der Rechtsanwalt! Wenn wir kein Bild machen und dann einen Bandscheibenvorfall übersehen, werden wir vielleicht verklagt. Mag sein, ist aber Schwachsinn. Denn die Behandlung von radikulären Schmerzen ohne OP-Indikation und von nicht-spezifischen Rückenschmerzen ist erst einmal gleich, doch dazu gleich mehr. Man verpasst also nichts, wenn man sich sicher ist, dass keine OP-Indikation besteht und man kein MRT veranlasst und das gilt es auch den Patienten zu vermitteln.

Wann muss man denn operieren?

Dazu kann man kurz und knackig sagen: Wenn progrediente oder alltagsrelevante Paresen oder eine Blasen- und Mastdarmstörung durch einen Bandscheibenvorfall bestehen. Alle anderen Gründe sind eine kann-Indikation, also in erster Linie konservativ nicht suffizient behandelbare Schmerzen durch eine Radikulopathie. Ansonsten gilt, dass mit einer OP sich die Schmerzen und auch funktionell nicht-relevante Paresen schneller zurückbilden, als ohne Eingriff, dass aber nach 12 Monaten kein messbarer Unterschied zwischen operierten und nicht-operierten Patienten besteht.

Und wann muss man einem Patienten von einer OP abraten?

Wenn es sich um einen nicht-spezifischen Rückenschmerz handelt, da man dann das Risiko einer failed back surgery vergrößert, aber das hatten wir ja gerade schon im vorletzten Abschnitt.

Bettruhe, Stufenbett und Oxycodon?

Kernaussage der Behandlung nicht-spezifischer Kreuzschmerzen ist: In Bewegung bleiben, Bettruhe und Stufenbett sind also genau das Falsche wie übermäßige Medikation. Dennoch kann in Einzelfällen die Gabe auch stark wirksamer – retardierter – Opioide notwendig erscheinen. Prinzipiell gilt aber: Möglichst einfache, aber wirksame Medikation, nicht-wirksame Präparate auch wieder absetzen (wenn sie vorher ausreichend hoch dosiert versucht wurden), Mischintoxikationen vermeiden, es gibt keine Evidenz, dass frühzeitige Physiotherapie bei nicht-spezifischen Kreuzschmerzen zu einem besseren Outcome führt als entspanntes Zuwarten und Eigenmobilisation des Patienten.

Die Evidenz hinsichtlich der optimalen medikamentösen Behandlung ist generell ziemlich mau. Es gibt aber drei Erkenntnisse: Paracetamol hilft nicht besser als Placebo, Pregabalin scheint bei der akuten Lumboischialgie – auch bei neuropathischen Schmerzen – nicht sicher zu wirken, zumindest wenn keine sichere Radikulopathie oder Myelon-Verletzung vorliegt und Muskelrelaxantien bringen beim nicht-spezifischen Kreuzschmerz kaum einen Effekt (auch wenn sie das eigentlich müssten, wenn man das Konzept der myofaszialen Schmerzen betrachtet). Am Ende landet man bei NSAR, Metamizol und retardierten Opioiden und bei sicheren Radikulopathien mit neuropathischen Schmerzen bei einer Koanalgesie mit Pregabalin oder Gabapentin. Die Dauer der medikamentösen Behandlung soll möglichst kurz sein, d.h. es muss eigentlich immer schon beim Ansetzen auch über das Absetzen des jeweiligen Medikaments nachgedacht werden. Und zum Schluß noch ein kleiner Opiat-Fallstrick: Ich habe hier jetzt ja schon mehrfach retardiert vor Opiat-Nennungen geschrieben und das hat auch einen tieferen – von der NVL gestützten – Sinn. Die übliche 2/3-Retard-, 1/3-Bedarfsmedikation mit Opiaten, welche aus der Tumorschmerztherapie stammt, sollte bei der Behandlung von Rückenschmerzen wenn überhaupt in der Eindosierungsphase angewendet werden, nicht aber bei der eigentlichen Behandlung (auch nicht, wenn sie kurz ist), da gerade beim Thema Rückenschmerz die Gefahr einer Entwicklung einer Opiatabhängigkeit bei der Verwendung nicht-retardierter Opiate doch erheblich ist.

Wo man weiterlesen kann

S2k-Leitlinie Lumbale Radikulopathie https://www.dgn.org/leitlinien/3516-ll-030-058-2018-lumbale-radikulopathie

S2k-Leitlinie Zervikale Radikulopathie https://www.dgn.org/leitlinien/3514-ll-030-082-2017-zervikale-radikulopathie

Nationale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/nvl-007.html

  1. Brinjikji, W. et al. Systematic Literature Review of Imaging Features of Spinal Degeneration in Asymptomatic Populations. Am. J. Neuroradiol. 36, 811–816 (2015).
  2. Friedman, B. W. et al. Naproxen With Cyclobenzaprine, Oxycodone/Acetaminophen, or Placebo for Treating Acute Low Back Pain. JAMA 314, 1572 (2015).
  3. Fritz, J. M. et al. Early Physical Therapy vs Usual Care in Patients With Recent-Onset Low Back Pain. JAMA 314, 1459 (2015).
  4. Machado, G. C. et al. Efficacy and safety of paracetamol for spinal pain and osteoarthritis: Systematic review and meta-analysis of randomised placebo controlled trials. BMJ 350, 1–13 (2015).
  5. Chou, R. et al. Systemic Pharmacologic Therapies for Low Back Pain: A Systematic Review for an American College of Physicians Clinical Practice Guideline. Ann. Intern. Med. 166, 480 (2017).
  6. Chou, R. et al. Nonpharmacologic Therapies for Low Back Pain: A Systematic Review for an American College of Physicians Clinical Practice Guideline. Ann. Intern. Med. 166, 493 (2017).
  7. Mathieson, S. et al. Trial of Pregabalin for Acute and Chronic Sciatica. N. Engl. J. Med. 376, 1111–1120 (2017).

Kompliziertes, was eigentlich ganz einfach ist: CRPS

Beim Thema CRPS befürchte ich, wird das Konzept kompliziertes, was eigentlich ganz einfach ist erstmals richtig scheitern, denn es ist unglaublich schwer, das Thema soweit zu vereinfachen, dass man das große Ganze dahinter erkennen kann, vermutlich in diesem Fall, weil niemand das große Ganze wirklich kennt.

Beim CRPS hat sich in den letzen 2-5 Jahren ganz viel getan, es gibt einen komplett geänderten Behandlungalgorithmus, weil sich auch die Auffassung, was das CRPS ist und wie man es behandeln sollte in weiten Teilen geändert hat. Das führt aber dazu, das auch in aktuellen Lehrbüchern wie dem von Diener et al. zum Thema Schmerzmedizin noch die alte Behandlung des CRPS geschildert wird und man wirklich auf aktuelle Paper und die 2018 aktualisierte Leitlinie angewiesen ist.

Unnötig verkompliziert wird das Thema zudem durch ellenlange Aufzählungen in der Literatur, welche Symptome zum CRPS gehören können (ohne dass man danach schlauer wäre) und eine ganze Menge urban legends und Fehlvorstellungen, die durch unsere Mediziner-Köpfe spuken, wann und warum man ein CRPS bekommt oder auch nicht.

Was das CRPS ist und wie es entsteht

Das CRPS ist eine Schmerzerkrankung, welche sich typischerweise nach einem Trauma einer Extremität entwickelt. Ausnahmen bestätigen die Regel und deshalb gibt es CRPS auch ohne Trauma, nur post-operativ usw., aber das mit dem Trauma ist die Regel. Wie der Name sagt, ist es eine komplexe Schmerzerkrankung, die immer aus sensiblen, motorischen, autonomen und tropischen Störungen besteht, häufig aber zusätzlich auch aus neuropsychologischen Defiziten. Das CRPS wird in 2 Subtypen unterteilt, Typ 1 ist das CRPS ohne Nervenverletzung, CRPS das mit Nervenverletzung. Für die Beschwerdekomplexe und die Behandlung außerhalb einer etwaigen Nervenrekonstruktions-OP ist das aber gar nicht erheblich. Vermutlich viel wichtiger ist die Unterscheidung in Patienten mit einem warmen CRPS

Vorstellen muss man sich das CRPS vermutlich wie eine sehr rasche Schmerzchronifizierung mit all den peripheren und zentralen Sensibilisierungsmechanismen, die ich hier aufgeführt habe. Zu dieser Sensibilisierung kommt eine heftige neurogene Entzündung hinzu, in der nicht nur CGRP und Substanz P (wie sonst immer), sondern auch klassische Entzündungsmediatoren wie TNF-⍺ und IL-6 mitmischen, zudem – zumindest im Tiermodell – Autoantikörper, die man sich so ähnlich wie die beim Guillain-Barré-Syndrom vorstellen muss und ganz viele Mastzellen und aktivierte Osteoklasten.

Welche Beschwerden macht das CRPS?

Das gute des CRPS ist, dass es eine klinische Diagnose mit Diagnosekriterien ist und diese beschreiben wiederum die Kernsymptome. Daher kann man sich im Zweifelsfall an den Diagnosekriterien entlang hangeln. Die Diagnosekriterien gehen so:

1) Anhaltender Schmerz, der durch das Anfangstrauma nicht mehr erklärt wird

2) Die Patienten müssen über jeweils mindestens 1 Symptom aus 3 der 4 folgenden Kategorien in der Anamnese berichten:

a. Hyperalgesie (Überempfindlichkeit für Schmerzreize); „Hyperästhesie“ (Überempfindlichkeit für Berührung, Allodynie)

b. Asymmetrie der Hauttemperatur; Veränderung der Hautfarbe

c. Asymmetrie des lokalen Schwitzens; Ödem

d. Reduzierte Beweglichkeit, Dystonie, Tremor, „Paresen“ (im Sinne von Schwäche); Veränderungen von Haar- oder Nagelwachstum

3) Bei den Patienten müssen jeweils mindestens 1 Symptom aus 2 der 4 folgenden Kategorien zum Zeitpunkt der Untersuchung vorliegen:

a. Hyperalgesie auf spitze Reize (z.B. Zahnstocher); Allodynie; Schmerz bei Druck auf Gelenke/Knochen/Muskeln

b. Asymmetrie der Hauttemperatur; Veränderung der Hautfarbe

c. Asymmetrie des lokalen Schwitzens; Ödem

d. Reduzierte Beweglichkeit, Dystonie, Tremor, „Paresen“ (im Sinne von Schwäche); Veränderungen von Haar- oder Nagelwachstum

4) Eine andere Erkrankung erklärt die Symptomatik nicht hinreichend.

Der Vorteil dieser Diagnosekriterien ist, dass sie sehr sensitiv sind, der Nachteil, dass sie nicht sonderlich spezifisch sind. Wichtig ist dementsprechend die Ausschlussdiagnostik, wobei es bei einem typischen CRPS auf Grund des Symptomkomplexes dann auch nicht mehr so viel auszuschließen gibt.

CRPS der Hand. Quelle: Link

Dröselt man die typischen CRPS-Symptome noch einmal nach ihren vier Symptomgruppen auf, so erscheint das ganze relativ eingängig:

Sensible Symptome: Klar, es bestehen Schmerzen, wobei die Schmerzen beim CRPS an der betroffenen Extremität „distal generalisieren“, sich also nicht mehr an das Innervationsgebiet eines Nerven, einer Nervenwurzel oder eines Plexus halten und dann distal am Arm oder Bein „schellenartige“ Schmerzen hervorrufen. Diese bestehen in der Regel aus einer erheblichen neuropathischen Schmerzkomponente mit mechanischer Allodynie und Hyperalgesie, zudem eine Druckschmerzhaftigkeit der Gelenke, welche sich innerhalb des Schmerzareals befinden (also meistens Handgelenk oder Sprunggelenk).

Motorische Symptome: Durch meinen Kopf schwirren immer als erstes dystone Fehlhaltungen, wobei das in der Regel ein späteres und prognostisch schlechtes Symptom ist. Viel, viel häufiger, weil fast immer, kommt es zu einer ganz ausgeprägten Einschränkung der aktiven und passiven Beweglichkeit distal in der betroffenen Extremität, aber auch zu zentralen motorischen Symptomen wie einer Feinmotorikstörung (und wiederum seltener zu Tremor oder Myoklonien).

Autonome Symptome finden sich nahezu immer in einer Veränderung der Hautdurchblutung mit Veränderung von Hautfarbe und -temperatur, einem Ödem und einer Veränderung der Schweißproduktion.

Trophische Störungen meint eine Veränderung von Nagel- und Hautwachstum, aber auch von Muskeln, Knochen und Bindegewebe. Auch dies trägt vermutlich zu der raschen ausgeprägten Bewegungseinschränkung in den betroffenen Gelenken bei.

Neuropsychologische Defizite: Der Klassiker ist das „Neglekt-artige Symptom“ mit einer Veränderung der sensiblen Somatotopie im sensiblen Kortex.

Apparative Diagnostik um ein CRPS festzustellen

Die 3-Phasen-Skelettszintigraphie ist nicht besonders sensitiv, aber sehr spezifisch zur Detektion des CRPS über eine Mehranreicherung im Bereiche der betroffenen Gelenke. Zudem erscheint die Messung der Hauttemperatur und ihrer Unterschiede rechts sinnvoll, um die klinische Diagnose eines CRPS zu stützen.

Urban legends

Durch die Köpfe spuken Dinge wie:

  • Das CRPS entwickelt sich nur nach einem Behandlungsfehler
  • Das CRPS entwickelt sich nur bei vorbestellenden psychiatrischen und/oder psychosomatischen Komorbiditäten
  • Ein CRPS liegt nur vor, wenn im Röntgen eine distale Kalksalzminderung auffällig ist
  • Eine CRPS-Extremität muss man schonen und darf sie nicht anfassen oder bewegen

Wie man ein CRPS behandelt

Das hat sich mittlerweile ja relativ stark geändert und die Devise heißt mittlerweile „hands on“. Dabei ist wichtig, dass besonders am Anfang alles erlaubt ist, was die Schmerzen nicht verstärkt und eine aktive Mitarbeit des Patienten voraussetzt. Daher kann es hier sehr sinnvoll sein auch großzügig Analgetika einzusetzen, damit dieses Therapieziel auch gut und rasch erreicht werden kann. Manöver, welche zu einer Schmerzverstärkung führen haben tatsächlich das große Risiko, zu einer Exazerbation des CRPS zu führen. Je besser die Schmerzen regredient sind, desto intensiver können die rehabilitative Bemühungen erfolgen.

Medikamentöse Behandlung in der Akutphase

Am Anfang des CRPS scheint ja eine autoimmun und neurogen vermittelte Entzündungsreaktion zum stehen, welche u.a. Osteoklasten aktiviert und zu ganz viel Schmerzmediatoren-Ausschüttung führt. Daher kann man in dieser Phase tatsächlich gut mit Steroiden und Bisphosphonaten behandeln.

Da es sich bei den CRPS-Schmerzen um neuropathische Schmerzen handelt, ist die Behandlung wie bei anderen neuropathischen Schmerzsyndromen mit SSNRI, Trizyklika und Gabapentin oder Pregabalin sicher aus pathophysiologischen Erwägungen sinnvoll, eine explizite Testung gibt es aber nur für Gabapentin und tatsächlich für Ketamin i.v. als NMDA-Rezeptor-Antagonist (und für Memantine p.o. mit der selben Intention in Verbindung mit Morphin). Dann bleibt es verrückt, es gibt eine Substanz namens Dimethylsulfoxid (DMSO), welche man topisch auftragen kann und welche normalerweise als Trägersubstanz dient, wenn man irgendwelche Stoffe über die Haut applizieren will (wenn ich das richtig verstanden habe z.B. Polonium, wenn man russischer Geheimdienst-Meuchel-Mörder ist). DMSO ohne Zusatz hat aber in einer Studie aus Holland gute Erfolge beim CRPS gezeigt.

Nicht-medikamentöse Therapien

Physiotherapie hilft, ggfs. – das ist aber etwas umstritten – auch die „Pain Exposure Physical Therapy“, worunter man versteht, dass man mit der Zustimmung des Patienten die physiotherapeutischen Übungen durchführt, egal, ob sie Schmerzen hervorrufen oder auch nicht. Ergotherapie hilft auch, besonders aber die Spiegeltherapie. Ob man Psychotherapie benötigt, hängt sehr vom Einzelfall ab.

Interventionelle Therapie

Wenn es Hinweise auf eine sympathisch unterhaltenen Schmerz gibt bietet es sich an, eine Sympathikusblockade durchzuführen. Dafür benötigt man einen kundigen Anästhesisten und es gilt „Versuch macht klug“, da es keine klinischen sicheren Zeichen gibt, die einen sympathisch unterhaltenen Schmerz anzeigen. Anders herum, wenn sie dann gut hilft, wird es schon so gewesen sein (oder der Placebo-Effekt). Alles andere SCS und so, steht auf sehr wackeligen Füßen, was die Evidenz betrifft.

Prognose

Mit einem CRPS hat man lange zu tun, dennoch gilt heutzutage, dass die Prognose bei weitem nicht mehr so desolat ist, wie vor wenigen Jahren, auch wenn immer noch eine Restitutionszeit von 1 Jahr schon als guter Verlauf gilt.

Wo man weiterlesen kann

S1-Leitlinie Diagnostik und Therapie komplexer regionaler Schmerzsyndrome (CRPS) https://www.dgn.org/leitlinien/3618-ll-030-116-diagnostik-und-therapie-komplexer-regionaler-schmerzsyndrome-crps-2018

  1. Birklein, F., Ajit, S. K., Goebel, A., Perez, R. S. G. M. & Sommer, C. Complex regional pain syndrome — phenotypic characteristics and potential biomarkers. Nat. Rev. Neurol. 14, 272–284 (2018).
  2. David Clark, J., Tawfik, V. L., Tajerian, M. & Kingery, W. S. Autoinflammatory and autoimmune contributions to complex regional pain syndrome. Mol. Pain 14, 174480691879912 (2018).
  3. Maihöfner, C., Handwerker, H. O., Neundörfer, B. & Birklein, F. Cortical reorganization during recovery from complex regional pain syndrome. Neurology 63, 693–701 (2004).
  4. Frettlöh, J., Hüppe, M. & Maier, C. Severity and specificity of neglect-like symptoms in patients with complex regional pain syndrome (CRPS) compared to chronic limb pain of other origins. Pain 124, 184–189 (2006).
  5. Birklein, F. & Schlereth, T. Aktuelles zur Therapie des komplex-regionalen Schmerzsyndroms. Nervenarzt 84, 1436–1444 (2013).
  6. Krumova, E., Maier, C. & Tegenthoff, M. Neues aus der Forschung zum Komplexen Regionalen Schmerzsyndrom (CRPS). Aktuelle Neurol. 40, 478–485 (2013).
  7. Wolter, T., Knöller, S. & Rommel, O. Komplexes regionales Schmerzsyndrom bei Nervenwurzelkompression und nach Wirbelsäulenoperation. Der Schmerz 30, 227–232 (2016).

Kompliziertes, was eigentlich ganz einfach ist: Wie Schmerzen chronifizieren

Update Ich habe den Beitrag noch mal ein wenig gepimpt und um noch einige Aspekte ergänzt, u.a. um die absteigende Schmerzhemmung, aber auch um den Begriff des noziplastischen Schmerzes.
Heute soll es also um ein klassisches Grundlagenthema gehen, nämlich die Frage wie das mit der Chronifizierung von Schmerzen eigentlich funktioniert. Das ganze kann man in drei große Themenblöcke teilen: Das, was im peripheren Nervensystem und im Rückenmark passiert, das was im Gehirn organisch passiert und das, was biopsychosozial passiert. Ganz generell spricht man von chronischen Schmerzen, wenn Schmerzen länger als 6 Monate anhalten. Es gibt aber Ausnahmen, wie primäre Kopfschmerzerkrankungen, wo das Attribut chronisch eine bestimmte Anzahl an Kopfschmerztagen im Monat beschreibt.

Periphere Sensibilisierung

Vor chronisch kommt akut: Periphere Mechanismen der Schmerzwahrnehmung

Bevor man sich Gedanken über die Chronifizierung von Schmerzen im peripheren Nervensystem machen kann, muss man einmal rekapitulieren, wie das mit der Schmerzwahrnehmung im peripheren Nervensystem überhaupt funktioniert. Ganz in der Peripherie, z.B. in der Haut sitzen Schmerzrezeptoren. Diese Nozizeptor-Zellen gehören zu den TRP-Kanälen. TRP steht für transient rezeptor potential und davon gibt es verschiedene Typen. Die verschiedenen Typen reagieren auf verschiedne Reize, Hitze, Kälte, Druck, bestimmte Zytokine usw. Allen gemeinsam ist, dass sie bei Aktivierung Kalziumkanäle öffnen, über die Kalziumionen in die Zelle einströmen können. Dadurch depolarisiert die Zelle und es kann sich ein Aktionspotential bilden. Einer der wichtigsten TRP-Kanäle ist TRPV1. TRPV1 wird durch Temperaturen über 43° Celsius aktiviert, aber auch durch Capsaicin. Das Gegenstück zu TRPV1 ist TRPM8, welcher durch Kälte aktiviert wird. Wichtig ist noch TRPA1, welcher auf verschiedene Chemikalien reagiert (das ist auch der, der Zwiebel-, Meerrettich- und Tränengas-Inhaltsstoffe als Trigger benutzen kann). Am anderen Ende der Nozizeptor-Axone – am Rückenmark – sitzen Synapsen, welche Glutamat als Substrat haben.

Periphere Sensibilisierung

Insgesamt drei Mechanismen können zum Komplex periphere Sensibilisierung gezählt werden:
Die Phosphorilierung von TRP-Kanälen: In der Nähe der TRP-Kanäle befinden sich G-Protein-gesteuerte Rezeptoren, die auf inflammatorische Zytokine reagieren. Bei einer Entzündungsreaktion mit Einwanderung von Immunzellen, welche ja eben diese Zytokine freisetzen, werden die Rezeptoren aktiviert und sorgen über Proteinkinasen für eine Phosphorilierung von TRP-Rezeptoren. Durch diese Phosphorilierung werden die TRP-Kanäle empfindlicher. So wird z.B. TRPV1 in seiner phosphorilierten Version schon bei 37° Celsius aktiviert. Das bedeutet aber, dass dann auch schon normale Temperaturen einen Schmerz- und Hitzereiz auslösen. Das selbe gilt für die anderen TRP-Rezeptoren. So erklärt man sich das Auftreten von thermischer Hyperalgesie, Kältealllodynie und mechanischer Allodynie. Diesen Prozess bezeichnet man auch als periphere Sensibilisierung. Der physiologische Sinn dieser peripheren Sensibilisierung ist bei einer akuten Entzündung sicherlich nachvollziehbar. Wenn schon normale Sinnesreize zu Schmerzen führen, wird das entsprechende Körperteil stärker geschont. Der genaue Mechanismus bei chronischen Schmerzen, der zur peripheren Sensibilisierung führt und der tiefere Sinn dahinter ist hingegen nur teilweise verstanden. Ein Aspekt scheint die durch CGRP vermittelte neurogene Entzündung zu sein, mehr dazu aber gleich.
Vermehrte Expression von spannungsabhängigen Natriumkanälen: Die Nervenfasern selber, die die Schmerzreize weiter Richtung Rückenmark leiten, sind ja unmyelinisierte C-Fasern oder nur dünn myelinisierte A-𝛿-Fasern. Diese benutzen wiederum spannungsabhängige Natrium-Kanäle um das Nerven-Aktionspotential fortzureiten. Bei einer Gewebsverletzung geht mit relativ großer Wahrscheinlichkeit auch eine kleine Nervenfaser mit kaputt, auf jeden Fall bei einer schwereren Verletzung. Diese Nervenverletzung führt über die Ausschüttung von TNF-⍺ und IL-6 zu einer vermehrten – und sehr schnellen – Mehrexpression eben dieser Natriumkanäle. Dies führt zu einer vermehrten Erregbarkeit der Schmerzfasern im entzündeten Gewebe. Die analgetische Wirkung von Lidocain kann man vermutlich hierüber erklären, ja klar es betäubt auch einfach und hindert die Axone über die Blockade der Natriumkanäle an der Schmerzweiterleitung, in niedriger Dosierung, z.B. in einem Lidocain-Pflaster wirkt es aber in erster Linie schmerzlindernd. Vermutlich in dem es die über-exprimierten Natriumkanäle blockiert.
Sympathikus-Aktivierung: Das Konzept des sympathisch unterhaltenen Schmerzes ist mit der zunehmenden Neurologisierung der Schmerzmedizin ein wenig in die Ecke komischer Anästhesisten-Kram gedrängt worden und kommt irgendwie immer wenig in den Übersichtsarbeiten vor, ist aber in der Therapie dennoch von Bedeutung. Bei einer Nervenverletzung kommt es nämlich auch zu einer Mehrexpression von ⍺1- und ⍺2-Adrenorezeptoren mit einer vermehrten Empfindlichkeit der Nervenfasern für Katecholamine. Dies passiert physiologischerweise z.B. bei Kältereizen, pathophysiologisch aber auch bei verschiedenen neuropathischen Schmerzsyndromen, u.a. bei der Trigeminus-, Post-Zoster-Neuralgie und beim CRPS. Das Konzept der Sympathikusblockaden – in der Regel mit Opioiden im Rahmen einer GLOA – mag mit seinen langen Nadeln und den Injektionsvorrichtungen tatsächlich wie komischer Anästhesisten-Kram anmuten, hilft – zumindest der Erfahrung nach – relativ gut bei sonst therapierefraktären Schmerzsyndromen, auch wenn die Datenlage insgesamt relativ dünn ist.

Zentrale Sensibilisierung

Sensibilisierung auf Rückenmarksebene: Alles wird schlimmer gemacht, als es eh schon war

Im Rückenmark passieren vier entscheidende, aber verschiedene Mechanismen, die hier zu einer Schmerzverstärkung führen.
Erstens: Wie erwähnt, ist der Neurotransmitter der Schmerzfasern hier Glutamat. Und wie man sich vielleicht noch ganz dunkel an Biochemie erinnern kann, gibt es zwei glutamaterge Rezeptoren. AMPA- und NMDA-Rezeptoren. Die NMDA-Rezeptoren machen bei Aktivierung ja nichts anderes, als die Depolarisation der AMPA-Rezeptoren noch einmal zu verstärken. Schmerzreize verstärken sich also auf Rückenmarkseben selber, parallel kommt es zudem zu einer Hemmung schmerzweiterleitungshindernder GABA-erger und Glycin-erger Neuronen.
Der zweite Aspekt ist die neurogene Entzündung. Es ist nämlich so, dass schon die Aktivierung von TRP-Kanälen zur Freisetzung von inflammatorischen Neuropetiden führt, insbesondere zur Freisetzung von CGRP. CGRP wiederum macht eine Vasidilatation, lockt v.a. T-Zellen an und aktiviert diese über CGRP-Rezeptoren auf den Immunzellen. Dies führt wiederum zur Aktivierung von Mikroglia im Hinterhorn des Rückenmarks, dies wiederum zur Freisetzung von noch mehr Zytokinen, die zu noch mehr lokaler Entzündung und zu noch mehr Aktivierung von nozizeptiven Fasern führen. Und nun schließt sich der Kreis, unter diesen Zytokine sind auch Prostaglandine, welche wiederum die Phosphorilierung der TRP-Kanäle vorantreiben, was – und das hatten wir ja schon – auch noch zu noch mehr peripherer Sensibilisierung führt.
Drittens gibt es auf Rückenmarksebene sogenannte wide-dynamic-range-Neurone, was man mit WDR abkürzen kann und was an den Kölner Tatort erinnert und ein wenig nach besseren Handyfotos vom Sonnenuntergang klingt (aber das ist HDR). Diese lassen sich durch den schon beschriebenen Glutamat-Stoffwechsel aktivieren und haben Afferenzen sowohl aus dem nozizeptiven, aber auch aus dem epikritischen Nervenfaser-System. Dies führt zum Einen mit zur mechanischen Allodynie, zum Anderen, durch die jeweils großen Input-Areale der WDR-Neuronen zu dem Phänomen, dass das allodyne Areal oft deutlich größer ist, als das eigentlich schmerzhafte primär geschädigte Areal.
Viertens gehören die im ersten Punkt erwähnten schmerzweiterleitungshindernde GABA-ergen und Glycin-ergen Neuronen zum absteigenden schmerzhemmenden System, welches vom Hypothalamus aus auf Rückenmarksebene projiziert und ganz entscheidend eine gate-keeper-Funktion einnimmt und im Normalfall die Weiterleitung eines Großteils der eingehenden nozizeptiven Reize über die GABA- und Glycin-vermittelte Hyperpolarisation verhindert. Diese absteigende Schmerzhemmung die in ihren proximalen Abschnitten mit Serotonin und Noradrenalin als Botenstoffen arbeitet, erschöpft sich leider bei vermehrter Inanspruchnahme relativ schnell. Dieses System „wieder aufzufüllen“ ist die Rationale hinter dem Einsatz serotonerg und noradrenerg wirkender Antidepressiva in der Behandlung von Schmerzen.

Im Gehirn: Mediales und laterales schmerzverarbeitendes System

Im Gehirn wird das ganze weniger one-way, sondern durchaus komplexer. Die entscheidenden Informationen zur Funktionsweise der zerebralen Schmerzverarbeitung beim Menschen stammen v.a. aus fMRT-Untersuchungen. Verschiedene Strukturen des Gehirns scheinen je nach Situation in unterschiedlichem Ausmaß an der Schmerzverarbeitung beteiligt zu sein, so dass man von der Schmerzmatrix spricht. Diese ist auf Grund der weniger anatomisch-physiologischen Erforschung eher diffuser und „funktionaler“ in ihrer Beschreibung in der Literatur. Von unten nach oben sind Hirnstamm, Mittelhirn, Hypothalamus, Thalamus, Kleinhirn, Amygdala, präfrontaler Kortex, insulärer Kortex, anteriorer zingulärer Kortex und natürlich die sensiblen Kortexareale hauptsächlich in die Schmerzverarbeitung involviert. Funktionell unterscheidet man dann zwei „Haupt-Schmerzbahnen“: Das laterale und das mediale schmerzverarbeitende System. Das laterale System ist sozusagen der „objektive“ Schenkel der Schmerzverarbeitung, hier geht es um Schmerzintensität und -lokalisation. Hierzu zählen lateraler Thalamus, sensorischer Kortex , Stammganglien und Kleinhirn. Das **mediale System **dient v.a. der affektiv-emotionalen Interpretation von Schmerzreizen und besteht aus medialem Thalamus, insulärer Kortex, zingulärer Kortex und präfrontaler Kortex gehören.
Das bildgebend darstellbare Hauptphänomen bei der Chronifizierung von Schmerzen auf Gehirn-Ebene scheint eine Verschiebung der Schmerzverarbeitung mit Zunahme der Funktion des medialen Schmerzsystems und parallel geringerer Bedeutung des lateralen Schmerzsystems zu sein. Insbesondere im limbischen System und im präfrontalen Kortex nimmt die Stoffwechselaktivität bei chronischen Schmerzen zu. Dies ist insofern interessant, da diese Strukturen ja auch ganz entscheidend im Lern- und Belohnungssystem involviert sind. Bei bestimmten chronischen Schmerzsyndromen, beschrieben ist es für das CRPS, kommt es sehr rasch zudem zu einer Umorganisation des sensiblen Kortex mit Verschiebung der Somatopie, was z.B. die veränderte Körperwahrnehmung und die Neglekt-artigen Symptome beim CRPS erklären könnte. Und zwar wird die kortikale Repräsentation des schmerzhaften Areals sehr schnell sehr viel kleiner und damit schlechter in ihrer Ortsauflösung. Letztlich kommt es zudem auch – ähnlich wie schon in den anderen Strukturen – zu einer Veränderung der Zytokin- und Neurotransmitter-Situation mit Umorganisation von Zellen mit Opioid-Rezeptoren, aber auch des dopaminergen Systems.

Der ist ja auch voll Psycho und so: Biopsychosoziale Faktoren bei chronischen Schmerzen

Irgendwie ja auch ein zentrales weil zerebrales Thema, aber mehr inhaltlich als strukturell-neuroanatomisch, ist die Bedeutung verschiedener Lebens- und Umwelteinflüsse auf die Schmerzchronifizierung. In der Praxis der Behandlung von Menschen mit chronischen Schmerzen sind diese Faktoren ganz sicher viel entscheidender als alle Kenntnis über die Veränderung in Stoffwechselvorgängen oder (fehlgeleiteter) Neuroplastizität, wie ich sie bisher beschrieben habe. Kernerkenntnis dieses biopsychosozialen Modells chronischer Schmerzen ist es, dass man Schmerzentstehung, -verarbeitung und -chronifizierung eben nicht diametral in körperliche und psychische Faktoren unterscheiden kann, sondern dass sich diese zusammen mit Umwelt- und Gesellschaftseinflüssen beeinflussen. In den meisten Arbeiten werden beim biopsychosozialen Modell chronischer Schmerzen emotionale, kognitive, körperliche Faktoren und Verhaltensmechanismen und ihre Interaktion untereinander genannt. Da ich die Zuordnung der Faktoren zu den einzelnen Unterpunkten teilweise widersprüchlich und redundant empfinde, hier einmal mit Absicht ungeordnet die wichtigsten Punkte:

  • Die erlernte Hilf- und Hoffnungslosigkeit durch lang andauernde Schmerzen
  • Die Neigung zum Katastrophisierung auf Grund des Gefühls, dass die Schmerzen nicht zu kontrollieren sind und die aus diesen beiden Punkten häufig resultierenden (reaktiven) depressiven Symptome und -Erkrankungen
  • Die Fixierung auf den Schmerz und die Schmerzfreiheit als absolutes Ziel, ohne dass ein „normales“ Leben nicht wieder möglich erscheint
  • Die Wahrnehmung sehr hoher Schmerzintensitäten (NRS 8-10) ohne relevante Schwankungen der Schmerzintensität unabhängig von äußeren Faktoren aber auch unabhängig von Medikamenteneinnahme
  • Die Vermeidung körperlicher Betätigung aus der Erfahrung heraus, dass diese zu einer Schmerzzunahme führen kann oder auch das Gegenmodell, ein krankhaftes Durchhalten
  • Die Verstärkung des Schmerzerlebens im lernpsychologischen Sinn durch die dauerhafte und wiederholte Thematisierung und Fokussierung der Schmerzen bei verschiedenen und häufigen Arzt- und Therapeutenkontakten
  • Zielkonflikte (früher mal sekundärer Krankheitsgewinn) durch ein Mehr an Zuwendung von Freunden, Familie, Partnern und sozialem Umfeld auf Grund der Schmerzen, die Vermeidung und Lösung von interaktionellen Konflikten durch die Schmerzen, die Lösung nicht befriedigender Arbeitssituationen, die dazu führen, dass die Schmerzen „gar nicht besser werden dürfen“, da sonst die Konfliktlösung wegfällt.
  • Vereinsamung durch Abbruch sozialer Beziehungen, auch weil Partner/Freunde sich irgendwann von der dauerhaft hilfsbedürftigen Person abwenden
  • Frustrane Behandlungserfahrungen von medizinischen Vorbehandlungen
  • Wirtschaftliche Bedrohung durch Armut durch Wegfall von Lohnfortzahlung, Krankengeld oder durch Arbeitslosigkeit.
  • Diese Punkte zu thematisieren, für sich anzunehmen und Bewältigungsstrategien zu entwickeln, ist – wie schon gesagt – der entscheidende Teil bei der Behandlung chronischer Schmerzen, oft weit mehr als jede medikamentöse und erst recht als jede interventionelle oder operative Behandlung.

Diese Punkte zu thematisieren, für sich anzunehmen und Bewältigungsstrategien zu entwickeln, ist – wie schon gesagt – der entscheidende Teil bei der Behandlung chronischer Schmerzen, oft weit mehr als jede medikamentöse und erst recht als jede interventionelle oder operative Behandlung.

Noziplastischer Schmerz

Die beschriebenen Mechanismen führen an ganz verschiedenen Stellen zu dem Phänomen, dass ab einem gewissen Punkt der Schmerz durch die fehlgeleitete Neuroplastizität sich selbst unterhalten kann und gar keinen nozizeptiven Input mehr braucht. Um dieses Phänomen von den sonst etablierten Schmerzarten nozizeptive und neuropathische Schmerzen abzugrenzen, wurde der Begriff noziplastische Schmerzen eingeführt.

Wo man weiterlesen kann
  1. Borsook, D., Youssef, A. M., Simons, L., Elman, I. & Eccleston, C. When pain gets stuck. Pain 159, 2421–2436 (2018).
  2. Morlion, B. et al. Pain chronification: what should a non-pain medicine specialist know? Curr. Med. Res. Opin. 34, 1169–1178 (2018).
  3. Pak, D. J., Yong, R. J., Kaye, A. D. & Urman, R. D. Chronification of Pain: Mechanisms, Current Understanding, and Clinical Implications. Curr. Pain Headache Rep. 22, 9 (2018).
  4. Trouvin, A.-P. & Perrot, S. New concepts of pain. Best Pract. Res. Clin. Rheumatol. 33, 101415 (2019).

Kompliziertes was eigentlich ganz einfach ist: Migräneaura vs. TIA

Kommt ein Patient in die ZNA

Stellen wir uns folgendes alltägliches Beispiel vor: Wir sehen in der ZNA einen Patienten, der vorübergehend eine Sehstörung und noch etwas anderes hatte, eine Parese oder eine Aphasie vielleicht. Vielleicht hatte er danach auch Kopfschmerzen, vielleicht aber auch nicht. Reflexartig wird die wahrscheinlichste Arbeitshypothese in den allermeisten Neurologien transitorisch ischämische Attacke heißen (und die Kopfschmerzen damit begründet werden, dass auch Ischämien im Posteriorstromgebiet Kopfschmerzen verursachen können), ungeachtet ob die Symptomkombination und ggfs. auch ihre Semiologie sich auf ein Stromgebiet begrenzen lässt. Ggfs. wird – wenn eine gewisse Ausbreitungstendenz der Beschwerden vorlag (irgendetwas hat sich ausgebreitet, Missempfindungen die gewandert sind) – noch die Differentialdiagnose eines fokalen epileptischen Anfalls in den Raum geworfen. Aber was ist mit einer Migräneaura, ggfs. auch ohne anschließenden Migränekopfschmerz, also eine Migraine sans Migraine oder migraine aura without headache (MAWH) oder wie man auch immer das nennen möchte? Und wie will man das abgrenzen, insbesondere wenn die sich – in den meisten Fällen anschließende – Schlaganfallabklärung, ggfs. auch noch mit zusätzlichem EEG, nicht wegweisend bleibt? Besonders, wenn man dann auch noch berücksichtigt, dass die Migraine sans Migraine im Alter eben eher häufiger und nicht seltener wird, dass es durchaus Migräneneumanifestationen im Alter gibt (https://brainpainblog.org/2020/05/10/kopfschmerzen-im-alter-riesenzellarteriitis/) und dass parallel natürlich auch ischämische Hirnerkrankungen im Alter häufiger werden.

Das gute ist, es gibt validierte Krankheitsdefinitionen. Im ganz großen Stil validiert und allgemein akzeptiert für die Migräne mit Aura und in kleinerem Stil und immerhin in einer Studie validiert für die TIA.

Migräne mit Aura in der internationalen Kopfschmerzklassifikation

Die International Headache Society definiert ja extrem penibel alle Kopfschmerzerkrankungen, so auch die Migräne mit Aura (https://ichd-3.org/de/1-migrane/1-2-migraene-mit-aura/):

Beschreibung:

Wiederkehrende, für Minuten anhaltende Attacken mit einseitigen, komplett reversiblen visuellen, sensorischen oder sonstigen Symptomen des Zentralnervensystems, die sich in der Regel allmählich entwickeln und denen in der Regel Kopfschmerzen und damit verbundene Migränesymptome folgen.

Diagnostische Kriterien:

A. Mindestens zwei Attacken, die das Kriterium B und C erfüllen

B. Ein oder mehrere der folgenden vollständig reversiblen

  • visuell
  • sensorisch
  • Sprechen und/oder Sprache
  • motorisch
  • Hirnstamm
  • retinal

C. Mindestens drei der folgenden sechs Merkmale sind erfüllt:

  • wenigstens ein Aurasymptom entwickelt sich allmählich über ≥5 Minuten hinweg
  • zwei oder mehr Aurasymptome treten nacheinander auf
  • jedes Aurasymptom hält 5 bis 60 Minuten an (1)
  • mindestens ein Aurasymptom ist einseitig (2)
  • mindestens ein Aurasymptom ist positiv (3)
  • die Aura wird von Kopfschmerz begleitet, oder dieser folgt ihr innerhalb von 60 Minuten
Anmerkungen:

(1) Treten während einer Aura zum Beispiel drei Symptome auf, so beträgt die maximal akzeptable Dauer 3 x 60 Minuten. Motorische Symptome können bis zu 72 Stunden anhalten.

(2) Eine Aphasie gilt immer als einseitiges Symptom; bei einer Dysarthrie kann, aber muss es nicht so sein.

(3) Flimmerwahrnehmungen sowie nadelstichartige Parästhesien sind Positivsymptome einer Aura.

Und für die Migraine sans Migraine steht dann noch folgendes (https://ichd-3.org/de/1-migrane/1-2-migraene-mit-aura/1-2-1-migraene-mit-typischer-aura/1-2-1-2-typische-aura-ohne-kopfschmerz/):

Diagnostische Kriterien:

A. Die Attacken erfüllen die Kriterien für eine 1.2.1 Migräne mit typischer Aura und Kriterium B unten

B. Die Aura tritt nicht in Begleitung von Kopfschmerz auf und es folgt ihr auch innerhalb von 60 Minuten kein solcher.

Was irgendwie auch keine Überraschung ist, was aber bedeutet, dass man dann auch noch einmal verinnerlichen muss, dass es Migräne mit Aura und mit typischer Aura gibt. Und die typische Aura ist dann Folgendes (https://ichd-3.org/de/1-migrane/1-2-migraene-mit-aura/1-2-1-migraene-mit-typischer-aura/):

Diagnostische Kriterien:

A. Die Attacken erfüllen die Kriterien für eine 1.2 Migräne mit Aura und Kriterium B unten

B. Aura mit den beiden folgenden Merkmalen:

  • vollständig reversible visuelle Symptome, Sensibilitätsstörungen und/oder Symptome rund um Sprechen/Sprache
  • keine motorischen, Hirnstamm- oder retinalen Symptome.
Zwischenfazit

Der Patient aus dem Eingangsbeispiel hatte also – wenn es denn eine Migräne war – bei der Kombination Sehstörung und Aphasie eine typische Aura und bei Sehstörung und Parese keine typische Aura.

Was um Himmels Willen ist ein Positivsymptom?

Kurz gesagt: Eine Hemianopsie ist kein Positivsymptom, wenn es flackert und blitzt, ist es eins. Für alle Nicht-Migräniker, die das hier lesen seien folgende beiden schön gemachten Videos der Schmerzklinik Kiel empfohlen, welche sehr schön eine visuelle Aura mit Positivsymptomen simulieren:

TIA-Klassifikationskriterien

Wie gesagt, es gibt mittlerweile einen zumindest im kleinen Stil validierten Versuch, auch die TIA zu operationalisieren (Lebedeva, E. R., Gurary, N. M., Gilev, D. V., Christensen, A. F. & Olesen, J. Explicit diagnostic criteria for transient ischemic attacks to differentiate it from migraine with aura. Cephalalgia 38, 1463–1470 (2018)) und (wie man am Namen des veröffentlichenden Journals sehen kann) von der Migräneaura abzugrenzen. Eine akzeptierte deutsche Übersetzung habe ich nicht gefunden, daher hier zunächst das Original und dann meine deutsche Version:

A. Sudden onset of fully reversible neurological or retinal symptoms (typically hemiparesis, hemihypesthesia, aphasia, neglect, amaurosis fugax, hemianopsia or hemiataxia)

B. Duration less than 24 hours

C. At least two of the following:

  1. At least one symptom is maximal in < 1 minute ( no gradual spread)
  2. Two or more symptoms occur simultaneously
  3. Symptoms in the form of deficits ( no irritative symptoms such as photopsias, pins and needles etc)
  4. No headache accompanies or follows the neurological symptoms within one hour

D. None of the following isolated symptoms (can occur together with more typical symptoms): shaking spells, diplopia, dizziness, vertigo, syncope, decreased level of consciousness, confusion, hyperventilation associated paresthesias, unexplained falls, amnesia

E. No evidence of acute infarction in the relevant area on neuroimaging

Übersetzt würde ich sagen:

A. Plötzliches Auftreten vollständig reversibler neurologischer oder retinaler Symptome (typischerweise Hemiparese, Hemihypästhesie, Aphasie, Neglekt, Amaurosis fugax, Hemianopsie oder Hemiataxie)

B. Dauer der Beschwerden kürzer als 24 Stunden

C. Zwei der folgenden vier Merkmale sind erfüllt:

  1. Mindestens ein Symptom erreicht in weniger als 1 Minute seine vollständige Intensität (keine allmähliche Ausbreitung)
  2. Zwei oder mehr Symptome treten simultan zusammen auf
  3. Symptome treten in Form von Defiziten (Minussymptomen) auf (keine Missempfindungen / Fehlwahrnehmungen wie Nadelstiche, Fortifikationen)
  4. Die Symptome treten nicht in Begleitung von Kopfschmerzen auf und es folgt ihr auch innerhalb von 60 Minuten kein solcher

D. Keines der folgenden Einzelsymptome (können aber zusammen mit typischeren Symptomen auftreten): Motorische Entäußerungen, Diplopie, Schwindel, Synkope, Bewusstseinsverlust, Verwirrtheit, mit Hyperventilation verbundene Parästhesien, ungeklärte Stürze, Amnesie

E. Keine Hinweise auf einen akuten Infarkt im symptomatischen zerebralen Areal in der Bildgebung

Das ist mir viel zu lang, was lernen wir daraus?

Also, wenn man die Klassifikationssysteme gegeneinander hält, kann man zu folgenden Schlüssen kommen:

  • Immer wenn eine typische visuelle Aura dabei ist oder sich nadelstichartige Missempfindungen ausbreiten, spricht es sehr für eine Migräneaura.
  • Verschiedene Symptome, welche nacheinander und über 5 Minuten progredient auftreten, sprechen für eine Migräneaura.
  • Eine Sprach- oder Sprechstörung in Verbindung mit einer Sehstörung ist wahrscheinlicher eine Aura als eine Parese in Verbindung mit einer Sehstörung (klar, es gibt die seltenste Version der hemiplegischen Migräne und die etwas häufigere, aber immer noch selten Version der non-familial migraine with unilateral motor symptoms (MUMS) (super Akronym nebenbei und ich und alle anderen postpubertären Knallköppe denken sofort an MILF).
  • Immer wenn kein Positivsymptom dabei ist und die Beschwerden schlagartig da waren, wird es schwierig mit der Migränediagnose.
  • Für die Bauschmerz-Diagnose der „klassischen“ vertebrobasilären TIA mit nicht weiter einzugrenzenden Doppelbildern und einem Schwindelgefühl gibt es auch in Studien keine gute Evidenz (das ist ehrlich gesagt die beste Erkenntnis des Abends).

Okay, alles ganz einfach oder doch nicht?

Leider ist es nicht ganz so einfach, eben weil passagere fokalneurologische Defizite nicht immer in dieses Raster passen und weil es ja auch noch folgende Erkenntnisse gibt: Migräne erhöht das statistische Schlaganfallrisiko um den Faktor 2, Migräne geht überdurchschnittlich oft mit einem PFO einher (vielleicht erhöht Migräne auch deshalb das Schlaganfallrisiko), es gibt das Phänomen migränoser Infarkte (also MRT-Diffusionsstörungen mit anschließender Narbenbildung i.S. von FLAIR-Hyperintensitäten), welche im Rahmen von Migräneattacken mit Aura auftreten können und dann aber typischerweise ein Aurasymptom (oft auch ein „neues“ Aurasymptom) für länger als 60 Minuten besteht.

Dazu kommt, dass die Diagnose einer TIA im wahren Leben ja eher recht schnell und unkritisch vergeben wird, oft aus einer Mischung aus nicht-besser-wissen, (vermeintlichen) medikolegalen Gründen und wirtschaftlichen Erwägungen, so dass das Geschriebene hier mehr meinen Gedankengängen als den tatsächlichen Abläufen im Behandlungsalltag entsprechen dürfte.

Wo man weiterlesen kann
  1. Fogang, Y., Naeije, G. & Ligot, N. Transient Neurologic Deficits: Can Transient Ischemic Attacks Be Discrimated from Migraine Aura without Headache? J. Stroke Cerebrovasc. Dis. 24, 1047–1051 (2015).
  2. Lebedeva, E. R., Gurary, N. M., Gilev, D. V., Christensen, A. F. & Olesen, J. Explicit diagnostic criteria for transient ischemic attacks to differentiate it from migraine with aura. Cephalalgia 38, 1463–1470 (2018).
  3. Otlivanchik, O. & Liberman, A. L. Migraine as a Stroke Mimic and as a Stroke Chameleon. Curr. Pain Headache Rep. 23, 63 (2019).

Kompliziertes was eigentlich ganz einfach ist: Lagerungsschwindel

Die graue Theorie vorweg

Beim Lagerungsschwindel handelt es sich um die häufigste Schwindelform mit einer Lebenszeitprävalenz von 3-5%. Der Lagerungsschwindel tritt gehäuft bei älteren Menschen auf, kann aber schlussendlich jede Altersgruppe betreffen. Die meisten Lagerungsschwindelmanifestationen sind idiopathischer Genese, nur ca. 5% treten als symptomatischer Lagerungsschwindel z.B. nach Schädel-Hirn-Trauma oder nach längerer Immobilisation auf. In dem ganz überwiegenden Teil der Fälle ist der hintere Bogengang betroffen (was sich mit der Anatomie erklärt), doppelt so oft die rechte Seite (was vermutlich daran liegt, dass die meisten Menschen auf der rechten Körperseite schlafen), in ca. 10% der Fälle der horizontale Bogengang und ob es einen Lagerungsschwindel – den man übrigens oft auch mit BPPV entsprechend seinem englischen Namen abkürzt – des anterioren Bogenganges überhaupt gibt, ist umstritten.

Anatomie des Innenohres. Quelle: Link.

Wenig entscheidend und sehr theoretisch erscheint die Diskussion darum, ob es sich bei einem Lagerungsschwindel eigentlich um eine Canalolithiasis oder eine Cupolithiasis handelt. Die Antwort ist zusammengefasst: Beim Lagerungsschwindel des hinteren Bogenganges ist in der Regel eine Canalolithiasis ursächlich; kleine ausgefallene Kristalle, die den schönen Namen Otokonien haben, rutschen bei Lageränderungen im Bogengang hin und her und führen so indirekt über eine Sogwirkung zu einer vermerhten Auslenkung der kleinen Härchen im Bogengang und somit zu einer überschießenden Antwort des Vestibularsystems. Dies hat eine Latenz von 1 bis 5 Sekunden. Die Steinchen fallen entsprechend der Schwerkraft zum dann tiefsten Punkt des Bogenganges und setzen sich dort ab. Dies dauert bis zu 10 Sekunden. Durch die Krümmung des Bogenganges kommt es erst zu einer Beschleunigung, dann zu einem Abbremsen des Fallprozesses, was genau dem typischen Crescendo-Decrescendo-Charakter des Lagerungsschwindel entspricht. Die Otokonien hängen zunächst meist als Konglomerat zusammen, bröseln aber im Verlauf auseinander. Die einzelnen kleinen Partikel haben jedoch zu wenig Masse, um die Cupula auszulenken, so dass es beim BPPV zu einer Ermüdbarkeit der Schwindelattacken bei wiederholten Lagewechseln kommt. Die Cupolithiasis – also das verhaken der Kristalle in der Cupula – spielt allenfalls beim Lagerungsschwindel des horizontalen Bogenganges eine Rolle.

Was haben die Patienten und was sehe ich?

… zumindest beim BPPV des posterirren Bogenganges einen attackenartigen Drehschwindel bei Lageänderungen mit Crescendo-Decrescendo-Charakter und weitestgehender Beschwerdefreiheit in Ruhe (erstaunlich häufig wird allerdings ein leichter unsystematischer Dauerschwindel angegeben). Klinisch-neurologisch findet man in Ruhe einen unauffälligen Befund, im Rahmen der Lagerungsproben einen zum nach unten liegenden Ohr schlagenden Nystagmus, der sich ebenfalls an den Crescendo-Decrescendo-Charakter hält. Und in einem erheblichen Anteil der Fälle kommt es sekundär zu einem phobischen Schwindel.

Diese ganzen Lagerungsmanöver sind so kompliziert und ich kann mir die eh nicht merken …

… stimmt nicht. Ist ganz einfach, weil man für den hinteren Bogengang sowohl Diagnostik als auch Therapie mit dem Befreiungsmanöver nach Semont abdeckt und das Manöver für den horizontalen Bogengang fast noch einfacher ist. Doch dazu gleich mehr.

Diagnostik

Man lagert den Patienten entsprechend dem Semont-Manöver einmal nach rechts und einmal nach links (jeweils ohne „großen Wurf“, Video rechter Bogengang bis 0:55 min, Video linker Bogengang bis 0:50 min) und schaut unter der Frenzelbrille, ob ein Nystagmus auftritt, der auf der stärker betroffenen Seite auch nach unten schlägt. Und damit hat man die Diagnose und den betroffenen Bogengang schon rausgefunden.

Therapie

Super simpel, den meisten Patienten kann man sogar einfach nur das entsprechende Video empfehlen:

Semont-Manöver für den rechten hinteren Bogengang
Semont-Manöver für den linken hinteren Bogengang

Auch ohne Therapie ist der BPPV in 70% der Fälle regredient, mit Therapie in über 95% der Fälle. Die Patienten müssen nur die jeweilige Übung einige Tage am besten mehrfach täglich (und gerne auch mehrfach hintereinander, wird von mal zu mal eh besser) durchführen.

Sonderfall horizontaler Bogengang

Der BPPV des horizontalen Bogenganges ist seltener, aber eigentlich genauso einfach zu diagnostizieren und therapieren. Hier gibt es halt sowohl eine Canalolithiasis als auch eine Cupolithiasis, was zu verschiedenen Nystagmus-Richtungen führen kann, aber das ist am Ende alles egal: Es kommt bei maximaler Kopfwendung in flacher Rückenlage zu einem länger anhaltenden Drehschwindel, der oft kaum eine Latenz hat und oft auch ohne Crescendo-Decrescendo-Charakter auftritt. Der Nystagmus erscheint weniger ausgeprägt und schlägt horizontal zum oben liegenden Ohr (hat also je nach Kopflage eine Richtungsumkehr). Das betroffene Ohr ist schlicht das, bei dem bei Lagerung der intensivere Schwindel auftritt. Auch hier kann man es sich einfach machen und sich ein Befreiungs-Manöver merken, mit dem man sowohl Canalolithiasis als auch Cupolithiasis behandeln kann und was es ebenfalls in zwei Versionen gibt:

Befreiungsmanöver für den rechten horizontalen Bogengang
Befreiungsmanöver für den linken horizontalen Bogengang

Selbst die genaue Seitenlokalisation ist hier am Ende sogar egal, aus sitzender Position wird der Patient einfach auf die Seite gelegt, auf der der Nystagmus am geringsten ist. Im Zweifelsfall funktioniert das Manöver aber auch in beide Richtungen.

Wo man weiterlesen kann
  1. Strupp, M. & Brandt, T. Benigner peripherer paroxysmaler Lagerungsschwindel. Nervenheilkunde 28, 18–20 (2009).
  2. Schmäl, F. & Stoll, W. Diagnostik und Therapie des benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels. Laryngo-Rhino-Otologie 81, 368–380 (2002).