Qualitäts-COVID-Paper-Offensive Teil 4

Weiter geht’s: Widmen wir uns einem Paper zum Thema Long COVID, bzw. Post COVID (die Bezeichnung setzt sich immer mehr durch, diese komische Unterscheidung in Long und Post COVID irgendwie nicht). Hier gibt es ja sehr, sehr, sehr viele Studien, sehr sehr sehr viele davon mit deutlichen methodischen Mängeln von extrem gravierend (keine Kontrollgruppe, kein COVID-Nachweis erforderlich) bis viel weniger schwerwiegend. Dennoch, viele Studien sind retrospektiv, haben Probleme mit einer ausgewogenen Rekrutierung ihrer Probanden oder beschränken sich auf Selbstauskunftsbögen statt klinischen Untersuchungen. Hier gibt es einen Überblick über mehrere Post COVID-Studie aus der Frühphase der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema, in der im letzen Beitrag zu Qualitäts-COVID-Papern vorgestellten Studie hatten die Autoren ja allgemeingültige Qualitätskriterien für COVID-Studien aufgeführt.

Endlich eine richtig gut gemachte Post COVID Studie

Heute soll es um eine Studie gehen, die sehr viel richtig macht, was anderen Studien als Mängel ausgelegt wurde:

Sneller MC, Liang CJ, Marques AR, et al. A Longitudinal Study of COVID-19 Sequelae and Immunity: Baseline Findings. Ann Intern Med. Published online May 24, 2022:M21-4905. doi:10.7326/M21-4905

Studiendesign und Rekrutierung

Es handelt sich um eine prospektive Kohortenstudie aus Maryland, in die vom 30.06.2020 bis 01.07.2021 189 Probanden mit einem laborchemischen COVID-Nachweis und eine Kontrollgruppe von 122 Personen ohne COVID-Infektion eingeschlossen wurden. Insgesamt wurden eher leicht betroffene Probanden eingeschlossen, nur 12% der COVID-Gruppe wurden stationär behandelt. Die Studie ist Teil einer größeren – weiter laufenden – Längsschnittstudie, auf Grund des großen Interesse an dem Thema wurden aber die Daten aus dem ersten Studienjahr jetzt schon mal veröffentlicht. Um eine möglichst repräsentative Studie zu erhalten, ohne Bias durch verschiedenen geographischen und sozioökonomischen Hintergrund, wurden nur Probanden in einem Radius von 100 Meilen um Bethesda in Maryland (Link, man beachte die Nachbarsiedlung Chevy Chase) eingeschlossen. Zudem wurde auf eine aktive Rekrutierung, insbesondere in sozialen Medien verzichtet, lediglich bei clinicaltrials.gov und auf einer NIH-Seite wurden Details veröffentlicht. Zudem wurden COVID-positive Probanden in die Studie unabhängig vom Vorhandensein von Post COVID-Symptomen eingeschlossen. Die Kontrollgruppe wurden ebenfalls über die Webseiten und einen Newsletter, in dem Studienfreiwillige gesucht werden, rekrutiert. Als Post COVID-Symptom wurden jede Erkrankung und jedes Symptom gewertet, welches nach der COVID-Infektion begann oder sich verschlechterte, bis zum ersten Screening anhielt und von mindestens 1% der Probanden angegeben wurde. Im Mittel betrug die Dauer zwischen COVID-Infektion und erstem Screening 149 Tage, also ziemlich genau 5 Monate. Um keine akuten COVID-Symptome zu erfassen, wurden alle Teilnehmer bei den Studienvisiten per PCR-Testung untersucht.

Durchgeführte Diagnostik

Einer der Punkte, die die Studie wirklich auszeichnet ist neben der möglichst bias-freien Rekrutierung die umfangreiche körperliche, laborchemische und testpsychologische Diagnostik, die durchgeführt wurde. So wurden neben einer ausführlichen Anamnese, den selbst gemachten Angaben zu Symptomen auch das Vorhandensein von 17 „typischen“ Post COVID-Symptomen abgefragt. Es wurde eine gründliche körperliche Untersuchung durchgeführt. Laborchemisch wurden an Routineparametern Blutbild, CRP, D-Dimere, Troponin, BNP, eine Rheuma- und Vaskulitis-Serologie (Rheumafaktor, ANA, Anti-Cardiolipin-Antikörper), eine Immunfixation und SARS-CoV-2-Antikörper untersucht, zudem verschiedene Forschungsparameter, u.a. Neurofilament Light Chain (NFL) bestimmt. Es erfolgte eine neuropsychologische Testung, ein TTE (Herzultraschall) und eine Lungenfunktionstestung, sowie der 6-Minuten-Gehtest. Die Lebensqualität wurde – wie in sehr vielen Studien – mittels SF-36-Fragebogen ermittelt, zudem wurden ein kurzer Depressions- (PHQ-2) und Angst-Screening-Test (GAD-2) durchgeführt.

Studienergebnisse

Die Antikörperprävalenz gegen das Spike-Protein betrug nach Infektion 73%, 27% der nachweislich (PCR-Test positiv) Infizierten entwickelten keine neutralisierenden SARS-CoV-2 Antikörper. 55% der COVID-Kohorte gaben ein oder mehrere Post COVID-Syndrom Beschwerden an, 13% der Kontrollgruppe. Am häufigsten wurden Müdigkeit, Luftnot/Brustbeschwerden, Konzentrationsstörungen, Kopfschmerzen, Gedächtnisstörungen, Schlaflosigkeit und Angstattacken berichtet und damit typische Post COVID-Symptome.

Die Untersuchungsbefunde in der körperlichen und klinisch-neurologischen Untersuchung korrelierte nicht mit den angegebenen Beschwerden. Ausnahme waren muskuloskelettale Symptome, bei denen auch in der COVID-Gruppe deutlich häufiger pathologische Befunde erhoben wurden (8% vs. 1%), in erster Linie schmerzhafte Schleimbeutel, Muskel- oder Sehnenansätze und aktivierte degenerative Gelenkbeschwerden.

Laborchemisch konnte zwischen den beiden Gruppen kein signifikanter Unterschied gemessen werden, auch nicht hinsichtlich der neueren Neurodegenerations-Marker wie NFL. Auch bei der Rheuma- und Vaskulitis-Serologie gab es kein signifikanten Unterschied zwischen den beiden Gruppen, bei den Probanden aus COVID- und Kontrollgruppe, bei denen ein positiver Autoantikörper-Befund bestand hatte klinische Hinweise auf eine Autoimmunerkrankung.

Die Autoren haben noch eine ganze Menge weiterer experimenteller Marker, welche in der klinischen Routine nicht etabliert sind, wie verschiedene Zytokine – von denen ich teilweise nicht die korrekte deutschsprachige Bezeichnung weiß – bestimmt: Macrophage inflammatory protein-1b, Interferon-gamma, Tumornekrosefaktor-alpha, programmed cell death ligand-1 (PDL-1), interferon g–induced protein 10, Interleukin-2-Rezeptor, Interleukin-1b, Interleukin-6, Interleukin-8, RANTES (regulated on activation, normal T cell expressed and secreted), und CD40 als wichtiger auf B-Zellen, Makrophagen und dendritischen Zellen vorkommender Immunmodulator bestimmt, zudem eine Serinprotease names Granzyme B, welche in der T-Zell-Regulation eine wichtige Rolle spielt. Der Granzyme B-Spiegel war nach COVID-Infektion deutlich höher als in der Kontrollgruppe, unterschied sich aber nicht zwischen Probanden mit durchgemachter COVID-Infektion mit Post COVID-Beschwerden von Probanden mit durchgemachter Infektion ohne Post COVID. Das selbe Ergebnis bestand bei der Durchflusszytometrie (FACS), welche in einer Subgruppe durchgeführt wurde. Auch hier bestand nach COVID-Infektion in einer T-Zell-Gruppe (vermehrte CD25-Expression) ein Unterschied zu nicht COVID-Infizierten, aber kein Unterschied zwischen Probanden mit Post COVID-Beschwerden und ohne.

In mehreren Studien wurde eine SARS-CoV-2-Viruspersistenz als Ursache von Post COVID-Beschwerden diskutiert. Die Autoren nahmen daher COVID-PCR und Bluttests auf das Vorhandensein von viralen Oberflächenproteinen ab. Hier konnte kein Hinweis auf eine Viruspersistenz gefunden werden (zumindest nicht im Nasen-Rachen-Raum und Blut).

Herzultraschall und Lungenfunktionsdiagnostik ergaben ebenfalls keinen signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen.

Übersicht über die Befunde der apparativen und laborchemischen Diagnostik. Aus: Sneller MC, Liang CJ, Marques AR, et al. A Longitudinal Study of COVID-19 Sequelae and Immunity: Baseline Findings. Ann Intern Med. Published online May 24, 2022:M21-4905. doi:10.7326/M21-4905
Übersicht über die Befunde der apparativen und laborchemischen Diagnostik. Aus: Sneller MC, Liang CJ, Marques AR, et al. A Longitudinal Study of COVID-19 Sequelae and Immunity: Baseline Findings. Ann Intern Med. Published online May 24, 2022:M21-4905. doi:10.7326/M21-4905

Was unterschiedlich war, war zum Beispiel der 6-Minuten-Gehtest, in dem sich ein signifikanter Unterschied der zurückgelegten Gehstrecke (560 m vs. 595 m) zeigte. Interessant ist die graphische Darstellung der odds ratio für die einzelnen Risikofaktoren. Eine Assoziation mit Post COVID-Symptomen bestand in erster Linie bei Angststörungen und depressiven Erkrankungen.

Odd ratio im Vergleich der einzelnen Risikofaktoren, Test- und Fragebogenergebnisse.
Odd ratio im Vergleich der einzelnen Risikofaktoren, Test- und Fragebogenergebnisse.

Limitationen der Studie

Die Autoren führen an, dass sie überwiegend Probanden mit leichtem COVID-Verlauf eingeschlossen hätten, was ggfs. zur Einschränkung der Aussagekräftigkeit hinsichtlich des gesamten Spektrums an Post COVID-Beschwerden führe. In meinen Augen ist das sogar eher ein Vorteil, da sich die postinfektiösen Beschwerden je nach Krankheitsschwere durchaus unterscheiden. Die klassischen oder typischen Post COVID-Symptome werden ja eher nach leichten Verläufen berichtet, nach schweren dominieren eher COVID-Enzephalopathie (Link), ausgeprägte kognitive Defizite (Link), CIP/CIM (Link) usw. Zu den Krankheitsfolgen nach schwerer COVID-Erkrankung gibt es überdies gute Arbeiten, die dort auch eigene Pathomechanismen zeigen konnten.

Ein wichtiger Punkt bei den Häufigkeitsangaben von Post COVID-Beschwerden ist die Überlegung der Autoren, dass auch ihr Rekrutierungsmechanismus vermutlich zu einer Überschätzung der Post COVID-Häufigkeit führen dürfte. Zudem wurden alle Post COVID-Beschwerden, welche sich bis zur ersten Studien-Visite verflüchtigt hatten, nicht gewertet, was einer Überbetonung anhaltender Post COVID-Symptome gleichkommen dürfte.

Was kann man aus der Studie lernen?

Meiner Meinung eine ganze Menge:

Erstens, und das ist die wichtigste Botschaft: Man kann auch gute Post COVID-Studien machen, mit einer vernünftigen Rekrutierung, einer Kontrollgruppe und einem prospektiven Studiendesign.

Zweitens: Es gibt jetzt mehrere Studien (sicherlich auch viele mit methodischen Schwächen), bei denen die Suche nach Post COVID-Ursachen mit „Routine-Diagnostik“ (im Sinne von flächendeckend verfügbarer und gut verstandener Labor- und Bildgebungsdiagnostik) zu keinem greifbaren Ergebnis geführt hat. Hier reiht sich die Studie mit ein. Das bedeutet aber auch, dass man es perspektivisch wohl langsam sein lassen kann hier nach einer Antwort zu suchen.

Drittens: Wenn man eine Post COVID- (und CFS-)Ursache finden möchte, muss man vermutlich weiter eher nach neuen Ansätzen Ausschau halten, wie zum Beispiel die Autoren in diesem Preprint (ja, es ist ein Preprint):

oder in dieser Arbeit mit Tiermodellen: Link. Was man sich aber bewusst sein muss. Das Suchen im Bereich experimentieller Laborwerte u.ä. wird immer wieder zu zunächst mehr oder weniger spektakulären Ergebnissen führen, die sich in weiteren Arbeiten nicht belegen lassen. Von daher, hier Bedarfs es einer gewissen Gelassenheit Studien auch einfach mal abzuwarten.

Viertens: Psychosoziale Faktoren und auch bestimmte psychiatrische Vorerkrankungen erhöhen das Erkrankungsrisiko für Post COVID. Aber die die Bedeutung psychosozialer Faktoren illustrieren, bleiben daher weiter spannend: Link. Generell verschwimmt bei Syndromen die Grenze zwischen somatischer und psychosomatischer Erkrankung zunehmend. Ich befürworte das sehr, da ich diese Trennung (die ja aus der Psychosomatik und Tiefenpsychologie kommt) angesichts des zunehmenden Wissens über die Interaktion von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren für immer fragwürdiger halte.

Wo man weiterlesen kann

Sneller MC, Liang CJ, Marques AR, et al. A Longitudinal Study of COVID-19 Sequelae and Immunity: Baseline Findings. Ann Intern Med. Published online May 24, 2022:M21-4905. doi:10.7326/M21-4905

Qualitäts-COVID-Paper-Offensive Teil 3

Teil 3 der kleinen Reihe mit schönen, nach meinem Beurteilungsvermögen gut gemachten, Papern zum Thema COIVD-19. Teil 1, in dem es um die Schutzwirkung der Impfung vor COVID-Folgeerkrankungen geht, findet ihr hier, Teil 2 (neuropsychiatrische Folgeerkrankungen von schweren COVID-Verläufen) hier.

Nukular, das Wort heißt nukular

Heute soll es um nuklearmedizinische Bildgebung gehen. Hier haben ja mehrere Paper – teilweise auch als Preprint – hohe Wellen geschlagen. Nun gibt es ein Review-Paper aus der Freiburger Arbeitsgruppe, aus der auch mehrere primäre Arbeiten zu dem Thema veröffentlicht worden sind.

Zunächst ein paar Sätze zu nuklearmedizinischen Untersuchungsverfahren im Allgemeinen, für alle, die hier nicht so sattelfest sind:

Vorab zum Grundverständnis:

Grundidee der Nuklearmedizin ist es mit radioaktiv markierten Substraten Stoffwechselprozesse darzustellen. Es gibt ganz verschiedene nuklearmedizinische Verfahren. Die Skelettszintigraphie kennen viele beim Thema rheumatische Erkrankungen, Osteoporose und Suche nach Knochenmetastasen, die Schilddrüsenszintigraphie ebenfalls viele bei der Frage nach Schilddrüsenerkrankungen (Link Wikipedia). Im Bereich der neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen, vor allem der neurodegenerativen Erkrankungen wird meistens das FDG-PET verwendet (Link Übersichtsartikel), bei dem radioaktiv markierte Glukose vom Gehirn verstoffwechselt wird, entweder mehr als in einer Kontrollgruppe (Hypermetabolismus), wie bei Entzündungen, Tumoren oder weniger (Hypometabolismus), wie in Regionen mit einem verstärkten Nervenzelluntergang, wie bei Demenzerkrankungen. Über das Stoffwechsel-Muster kann man verschiedene – auch seltene – neurodegenerative Erkrankungen oft besser und genauer voneinander abgrenzen, als mit der MRT (obwohl diese die „schöneren“, besser aufgelösten Bilder liefert). Um der Nomenklatur gerecht zu werden, die genaue Bezeichnung der FDG-PET lautet übrigens: [18F]-2-Fluor-2-Desoxy-D-Glukose-Positronen-Emissions-Tomographie.

Das Freiburger Review-Paper

Meyer PT, Hellwig S, Blazhenets G, Hosp JA. Molecular imaging findings on acute and long-term effects of COVID-19 on the brain: A systematic review. J Nucl Med. Published online February 17, 2022:jnumed.121.263085. doi:10.2967/jnumed.121.263085

Die Arbeitsgruppe hat für ihr Paper 25 Veröffentlichungen berücksichtigt, die Mehrzahl davon waren Fallberichte, bzw. Fallserien-Sammlungen. Beim ersten Lesen bin ich aber gar nicht an den berichteten Fallserien hängen geblieben, sondern am letzten Teil des Papers, doch dazu später mehr. Eingeschlossen wurden Arbeiten, in welchen Untersuchungen mittels Positronen-Emissions-Tomographie (PET) oder Single-Photon-Emissionscomputertomographie (SPECT) durchgeführt wurden. Die Autoren sortieren die Arbeiten fünf verschiedenen Themenkomplexen zu:

  • Autoimmunenzephalitiden unmittelbar während/nach einer COVID-Erkrankung
  • Bewegungsstörungen nach COVID
  • Fokale neurologische Defizite / Riechstörungen
  • COVID-Enzephalopathie
  • Post-COVID-Syndrome

Autoimmunenzephalitiden unmittelbar während/nach einer COVID-Erkrankung

Autoimmunenzephalitiden mit direkter Assoziation zu einer COVID-Erkrankung sind selten, aber beschrieben. Für drei Patienten liegen – voneinander unabhängige – Fallberichte vor. Auf Grund der extrem geringen Fallzahl sind keine allgemein gültigen Aussagen zu COVID assoziierten Autoimmunenzephalitiden möglich. Einzige Gemeinsamkeit bei den drei Patienten waren ein erhöhten Stoffwechsel in den Stammganglien und der fehlende COVID-RNA-Nachweis im Liquor. Das was man eigentlich erwarten würde, einen Hypometabolismus gab es nur bei zwei Patienten, und da auch noch in verschiedenen Regionen des Gehirns. Bei den drei Patienten kam es durch eine immunsuppressive Behandlung zu einer klinischen Verbesserung, aber auch zu einer Besserung des PET-Befundes, bei einem Patienten zu einer Normalisierung.

Bewegungsstörungen nach COVID

Ebenfalls drei Fallberichte berichteten von Parkinson-Syndromen bei vier Patienten, aber auch komplexeren Bewegungsstörungen, welche in engem zeitlichen Zusammenhang mit der COVID-Infektion aufgetreten waren. Während die Autoren der Original-Paper über eine SARS-CoV-2-Infiltration des Mittelhirns spekulierten, waren bei drei Patienten Befunde zu erheben, wie man sie auch bei beginnenden Parkinson-Syndromen sieht: Es fand sich ein nigrostriatales dopaminerges Defizit. Bei einem Fall war eine ergänzende MIBG-Szintigraphie (wird selten zur ergänzenden Symptomatik bei Parkinson-Syndromen durchgeführt (Link Wikipedia, Link) unauffällig, was gegen eine Parkinson-Erkrankung spricht, es kam zu einer spontanen Besserung der Symptome ohne spezifische Behandlung. Bei den anderen drei Patienten kann – so die nachvollziehbare Schlussfolgerung der Review-Artikel-Autoren – auch einfach eine beginnende „normale“ Parkinson-Erkrankung vorgelegen haben, die nuklearmedizinischen Befund erlauben eigentlich keinen Rückschluss auf einen etwaigen Zusammenhang mit der COVID-Erkrankung. Besonders problematisch ist, dass eine mögliche COVID-Assoziation postuliert wurde, es aber keine bislang veröffentlichten Berichte zu einer Nachuntersuchung der Patienten und zum weiteren Verlauf gibt. Ein ähnliches Problem hat ein Einzelfallbericht zu einer Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJK), welche bei einem jungen Mann zwei Wochen nach COVID-Infektion diagnostiziert wurde. Nuklearmedizinisch zeigte sich ein Befund, wie man ihn auch bei einer „normalen“ CJK erwartet hätte: Ein Hypometabolismus der gesamten linken Hirnhälfte.

Fokale neurologische Defizite / Riechstörungen

Hier geht es ganz überwiegend um Riechstörungen. Zu dem Thema gibt es im Vergleich zu den ersten beiden fast schon eine „große“ Datenbasis: Zwei prospektive Studien mit einmal 12 und einmal 14 Probanden, zudem mehrere Einzelfallberichte. In der ersten Studie wurde – wenn man einen „üblichen“ p-Wert von 0,05 verwendete kein signifikanter Befund erhoben. Bei der Verwendung eines „liberaleren“ Schwellenwertes (wie es in der Studie heißt), bzw. Subgruppenanalysen (bei 12 Probanden (?!)) konnte man sowohl Hypometabolismen, als auch Hypermetabolismen in mit der Symptomatik gar nicht so unplausibel assoziierten Orten (Riechhirn, Kleinhirn, orbitofrontaler und parietaler Kortex) detektieren. Nach all diesen statistischen Verrenkungen kommen die Autoren des Original-Papers zu dem sportlichen Schluss,

that the main pathophysiological hypotheses of COVID-19-related hyposmia (i.e., olfactory cleft obliteration; neuroinvasion of SARS-CoV-2) do not explain dysosmia in all patients, and that the PET findings probably reflect deafferentiation and functional reorganization.

Muss man sich erst mal trauen, ist aber ein Problem vieler COVID-Paper, doch wie gesagt, dazu weiter unten mehr. Die Ergebnisse standen zudem im Widerspruch von relativ frühen Einzelfallberichten, die einen orbitofrontalen Hypometabolismus gezeigt hatten, welchen man als Folge einer Neuroinvasion von SARS-CoV-2 über das Riechirn interpretiert hatte.

In der zweiten Studie wurden Patienten in der COVID-Erholungsphase (4 bis 12 Wochen nach Diagnosestellung) nuklearmedizinisch untersucht. Die Ergebnisse wurden hinsichtlich des verwendeten Scanner-Typs, dem Alter und Geschlecht der Probanden korrigiert und mit einer Kontrollgruppe verglichen. In der Studie fand man Glukose-Hypometabolismen im Parahippocampus und in der linken Inselrinde.

Einzelfallberichte gibt es noch bei einer Fazialisparese unter COVID-Infektion, bei der man fraglich einen Hypometabolismus im Fazialis-Kerngebiet detektiert hat, einen Normalbefund bei einem Patienten mit COVID-assoziierten akut-symptomatischen epileptischen Anfällen und einen anderen Fallbericht, in dem bei einem ähnlichen Patienten ein Hypometabolismus in der Vierhügelplatte festgestellt wurde.

Um es kurz zu machen: Die Ergebnisse sind widersprüchlich, nicht konsistent, die Studien/Fallberichte haben teils erhebliche methodische, bzw. statistische Schwächen und erlauben teilweise eigentlich gar keine Interpretation.

COVID-Enzephalopathie

Hier sehen die Review-Paper-Autoren die beste Datenlage, haben hierzu aber auch selber publiziert (und verwenden diese Arbeiten auch in dem Review). Mit dem Begriff COVID-Enzephalopathie meint man delirartige Symptome (teilweise mit zusätzlicher Fokalneurologie), die vor allem bei schweren COVID-Verläufen beschrieben worden und durchaus über die akute COVID-Erkrankungsphase anhalten können, in der Regel sehr rasch mit Erkrankungsbeginn einsetzen. Durch diese Rahmenbedingungen gehen die Autoren des Papers im Vergleich zu den anderen Krankheitsbildern von einer relativ homogenen Patientengruppe aus, womit sie die im Vergleich zu den anderen Themen deutlich überzeugendere Ergebnisse erklären. Daten gibt es in einer kleinen Arbeit für sieben Patienten, in der Arbeit von Hosp et al. für 29 Patienten, von denen acht in der Veröffentlichung von Blazhenets et al. nachuntersucht wurden. Bei diesen Patienten wurde ein ausgeprägter Hypometabolismus frontoparietal gefunden, welcher im zeitlichen Verlauf – genau wie die Klinik – deutlich regredient war. Innerhalb von sechs Monaten waren aber nicht alle Patienten wieder beschwerdefrei und es fanden sich auch bei einigen zwar rückläufige, aber immer noch nachweisbare Stoffwechselauffälligkeiten im Frontalhirn.

Post-COVID-Syndrome

Beim Post-COVID-Syndrom zeigt sich das gegenteilige Phänomen, die Kohorte ist in erster Linie durch den zeitlichen Parameter „anhaltende COVID-assoziierte Beschwerden“ definiert und damit was Krankheitsschwere usw. betrifft sehr inhomogen, es resultieren dann auch widersprüchliche nuklearmedizinische Befunde. Eine Studie mit 35 Erwachsenen und eine mit sieben Kindern mit selbst berichteten Post COVID-Symptomen zeigte sehr ausgeprägte PET-Hypometabolismen (bei Kindern war der Befund aber statistisch nicht signifikant, wenn man „reguläre“ Maßstäbe anlegte). Ein ähnliches Ergebnis fand eine Arbeit mit 13 COVID-Infizierten. Verglichen wurden die Studienteilnehmer mit einer Kontrollgruppe v.a. von Hautkrebs-Patienten, bei dem aus einem Ganzkörper-PET die Gehirnregion „herausgeschnitten“ wurde. In einer Studie mit 31 Probanden aus der Freiburger Arbeitsgruppe (Dressing et al.), von denen 14 eine nuklearmedizinische Untersuchung mittels FDG-PET erhielten, konnten diese Befunde nicht reproduziert werden. Neuropsychologisch fanden sich bei dieser Kohorte auf Gruppenebene keine objektivierbaren Defizite, wohl aber auf Einzelpatienten-Ebene im Bereich des visuellen Gedächtnisses bei sieben Patienten. Neun der 31 Patienten erreichten im MoCA (Link) einen pathologischen Wert von unter 26 Punkten. Das FDG-PET konnte bei keinem Patienten einen signifikante Auffälligkeit im Glukosestoffwechsel zeigen.

Anleitung zur Methodenkritik

Und das ist der Abschnitt, der mich schon beim ersten Lesen begeistert hat und warum ich das Paper unbedingt vorstellen wollte. Die Autoren geben nicht nur einen Überblick über die aktuelle Studienlage zum Thema nuklearmedizinische Bildgebung bei COVID-Folgeerkrankungen, sondern stellen detailliert auf mehreren Seiten Kriterien und Maßstäbe für gute (nuklearmedizinische) Paper vor und besprechen ausführlich typische Confounder. Super Sache!

Über den Einstieg der viel erwähnten und auch häufig kritisierten Flut der COVID-Paper in pubmed in den letzten beiden Jahren (und da sind die ganzen Preprints ja noch nicht mal berücksichtigt) kommen die Autoren zum wichtigen Aspekt der häufig unterdurchschnittlichen und unter präpandemischen Maßstäben teilweise auch indiskutablen Qualität der oft hochrangig veröffentlichten Arbeiten und stellen die Frage nach Gültigkeit, Verallgemeinerbarkeit und Reproduzierbarkeit der Studienergebnisse. Schritt für Schritt stellen sie noch mal Anforderungen an gute Paper vor, nicht nur für gute nuklearmedizinische.

Los geht es mit dem Thema Studiendesign und Studienpopulation. Die Autoren betonen, dass es gerade bei einer so häufigen Krankheit wie COVID-19 keinen Grund für weitere retrospektive Arbeiten, Einzelfallberichte oder Fallserien gibt:

Given the still high incidence of COVID-19, there is no necessity to rely on retrospective analysis of convenient samples. They pose an inherent risk of bias and, due to the lack or inconsistency of data, do not allow for in-depth analyses of clinicoimaging correlations (see below). Likewise, case reports or series are hardly justified except for very rare conditions, for which they may constitute an interesting starting point (see above). In addition, it is evident, that currently available longitudinal studies provided the deepest insight into underlying mechanisms and their course.

Sie betonen gerade bei Erkrankungen wie dem Post-COVID-Syndrom, bei dem der Faktor Zeit entscheidend ist, Zeitfenster und Zeitpunkte für den Patienteneinschluss klar zu definieren und besser die verschiedenen Erkrankungsschweren bei COVID zu trennen, da es gerade bei den schweren Verläufen klar umrissene und auch verstandene COVID-Folgeerkrankungen gibt, u.a. die oben erwähnte COVID-Enzephalopathie.

Besonders interessant fand ich die Ausführungen zum Thema Kontrollgruppe. Nuklearmedizinische Untersuchungen sind relativ aufwändig, langsam und teuer. Daher haben nuklearmedizinische Studien in der Regel auch eine kleinere Fallzahl, als wir sie von anderen Studien kennen. Umso wichtiger ist die Auswahl der Kontrollgruppe, an der die Frage Hyper- oder Hypometabolismus bemessen wird. Hier weisen die Autoren darauf hin, dass es oft schlicht nicht möglich ist, aus der Studie und auch den Ergänzungsmaterialen Rückschlüsse auf die Vergleichbarkeit von Studien-Population und Kontrollgruppe zu ziehen. Beim Thema Nuklearmedizin ist z.B. auch ein identischer Scanner mit gleichen Aufnahmeparametern wichtig, da sonst kaum vergleichbare Ergebnisse entstehen, insbesondere wenn die erwarteten Veränderungen eher diffizil sind. Das dürfte beim Thema Post COVID-Syndrom eines der entscheidenden Probleme sein, so schreiben die Autoren. Sie führen auch Beispiele auf, bei denen die Wahl der Kontrollgruppe auf so eklatante Weise das Ergebnis verfälscht, dass eine sinnvolle Studienaussage nahezu ausgeschlossen scheint: Die erwähnte Kontrollgruppe der einen Post COVID-Studie, bei der Hautkrebs-Patienten als Kontrollgruppe gewählt wurden, bei denen man die Gehirn-Scans aus dem Gesamtdatensatz einfach „ausgeschnitten“ hat. Dazu muss man wissen, dass die Aufnahmemodalitäten bei onkologischen Ganzkörper-PET ganz andere sind, als bei reinen Gehirn-PET. So dürfen die onkologischen Patienten während der Aufnahme Lesen, Sprechen oder ihr Smartphone benutzen (weil man Metastasen sucht und der Gehirnstoffwechsel in bestimmten Gehirnregionen schlicht uninteressant ist), während Gehirn-PET unter Ruhebedingungen aufgenommen werden.

Schlussendlich scheint die Freiburger Post COVID-Arbeit von Dressing et al. eine der ganz wenigen Arbeiten zu sein, bei denen eine Kontrollgruppe gesunder Probanden verwendet wurde (was bei einem nuklearmedizinischen Verfahren auch eine intensive Diskussion mit der Ethikommission und dem Bundesamt für Strahlenschutz erfordert hatte) und keine Gruppe mit „anderen“ nicht verstandenen neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen, die deshalb ein PET bekommen hatten.

Dann gibt es viele methodenspezifische Fallstricke bei der Auswertung von PET-Rohdaten, die die Autoren ausführlich darstellen, die ich hier aber überspringen würde.

Ein wieder allgemeingültigerer Punkt ist die Notwendigkeit, bildgebende Auffälligkeiten auch mit klinischen Befunden zu korrelieren und umgekehrt. Für die COVID-Enzephalopathie ist dies recht gut gelungen, für das Post COVID-Syndrom so gar nicht. So wurden in einzelnen Arbeiten Stoffwechselauffälligkeiten in großen Teilen des limbischen Systems berichtet. bei denen deutliche kognitive Störungen zu erwarten wären. Es wurden aber keine kognitiven Testungen durchgeführt, aber über Folgen für die Kognition in der Zusammenfassung spekuliert.

Im letzten Abschnitt berichten die Autoren von der Notwendigkeit des Abgleiches von Studienergebnissen mit denen aus „Nachbardisziplinen“ und sehen hier großen Verbesserungsbedarf. So wurde intensiv über die Neuropathogenität und Neuroinvasion des ZNS durch SARS-CoV-2 in Studien spekuliert, auch als schon klar war, dass man SARS-CoV-2 maximal in bis zu 50% der Fälle im Gehirn überhaupt nachweisen kann, und wenn vor allem im Hirnstamm und den Hirnnerven. Auch wurden die neuropathologischen Erkenntnisse über die Mikroglia-Aktivierung als Ausdruck von Neuroinflammation – und wo sie vor allem stattfindet (Hirnstamm und Kleinhirn und Marklager) – wiederholt nicht beachtet. Die Autoren rekapitulieren auch noch mal die Schwierigkeit beim Post COVID-Syndrom auf Grund der hohen Prävalenz von Beschwerden wie Fatigue zu eindeutigen, greifbaren Ergebnissen zu gelangen. Sie schreiben:

As far as permissible and based on the rather disappointing experience with 18F-FDG PET in psychiatric and somatoform disorders, one may expect that the contribution of 18F-FDG PET to understand and diagnose a Post-COVID-19 syndrome dominated by fatigue is actually limited.

Der letzte Satz des Papers fasst die skizzierten Einschränkungen und die Aussagekraft des FDG-PET bei Post-COVID-Symptomen wie folgt zusammen:

A diagnostic benefit from 18F-FDG PET may only be expected if a cognitive impairment is verified and persisting (>3-6 months) or progressive.

Diese Empfehlung ist aus zwei Gründen total sinnvoll: Erstens gilt die 6-Monats-Regel auch beim „klassischen“ Delir, wenn es um die Abgrenzung zu einer Demenz geht. Dort strebt man eine neuropsychologische Testung erst dann an, weil man weiß, das delirbedingte kognitive Defizite bis 6 Monate (in manchen Untersuchungen auch 12 Monate) anhalten können (Link). Zweitens liegt die Stärke der FDG-PET in der Differentialdiagnostik neurodegenerativer Erkrankungen (und damit auch von Demenzen) und kann helfen eine COVID-Folgeerkrankung von einer sich z.B. koinzidentiell entwickelnden Alzheimer-Demenz abzugrenzen.

Nachtrag: Das 2 Patienten-Preprint

Irgendwie (oder auch nicht) zum Thema passend hat Karl Lauterbach heute folgendes zu diesem Preprint (Link) gepostet:

Zu dem Preprint muss man ein paar Dinge anmerken: Zu allererst: Es ist ein Preprint. Die Autoren verwenden in ihrer Arbeit nicht das – gut etablierte – FDG-PET (wo es ja um Glukose-Stoffwechsel geht), sondern eine neue Methode, das [18F] DPA-714-PET. Dabei wird nicht Glukose radioaktiv markiert, sondern ein Protein aus der Mitochondrienmembran namens TSPO (Link Wikipedia). TSPO wird mit Neuroinflammation in Verbindung gebracht, so dass es mehrere experimentielle Ansätze gibt, damit funktionelle Neuroinflammations-Bildgebung zu machen, wie hier beim Thema Schlaganfall: Link. Die Review-Paper-Autoren schreiben interessanterweise:

In addition, PET imaging of activated microglia might represent a promising imaging technique in COVID-19, but to the best of our knowledge has not been explored yet.

Dann ist nach meinem Verständnis – und unter oben angeführten Qualitätskriterien – die Auswahl der einen Patientin schwierig, da sie komorbide an einem Fibromyalgie-Syndrom leidet (Link). Bei der Fibromyalgie handelt es sich um eine nicht verstandene Krankheit, bei der immer wieder psychosomatische und psychiatrische Kofaktoren diskutiert werden, genau wie beim Post COVID-Syndrom. Der zweite Patient war relativ schwer betroffen, über 60 Jahre alt und hatte neuropsychologisch eine im Vordergrund stehende Aufmerksamkeitsstörung und alltagsrelevante visio-konstruktive Defizite, so dass sich hier die Frage nach einer COVID-Enzephalopathie als Differentialdiagnose stellt. Die historische Kontrollgruppe ist kaum größer (3 Patienten mit einer chronisch-progredienten Multiplen Sklerose) und stammt aus dieser Arbeit der selben Arbeitsgruppe: Link. Auch hier stellt sich ganz stark die Frage nach Vergleichbarkeit: Eine Gruppe mit einer chronischen ZNS-Entzündung im Stadium einer im Vordergrund stehenden Neurodegeneration mit einer Gruppe mit fraglicher ZNS-Entzündung zu vergleichen ist schon schwierig, selbst wenn die technische Vergleichbarkeit bei der selben Arbeitsgruppe hoffentlich gegeben sein sollte. Insbesondere, da die Kontrollgruppe immer wieder als „healthy control subjects“ bezeichnet wird.

Die Ergebnisse sind so „eindeutig“ und so sehr das ganze Gehirn betreffend, dass man hier unbedingt den Review-Prozess abwarten muss. Bei beiden Patienten war die gesamte graue Substanz (CAVE histopathologisch Neuroinflammation in allen Studien nur oder vorwiegend in der weißen Substanz) betroffen. Die Diskussion ist im Ausmaß des sich in jeder Studie findenden cherry picking sagen wir mal „interessant“. Hauptbestätigung der eigenen Ergebnisse ist die UK Biobank Studie, bei der aber die Hauptlimitation, der altersabhängige Effekt der Abnahme der Dicke der grauen Substanz nicht erwähnt wird. Die Autoren schreiben, dass sie eine Studie mit Long Covid-Patienten durchführen und auf Grund der spektakulären Ergebnisse die Daten der ersten beiden Probanden mit der Veröffentlichung vorab berichten. Hier wird die „richtige“ Studie sicherlich interessant und (hoffentlich) in ihrer Patientenselektion weniger problematisch.

Wo man weiterlesen kann

Blazhenets, G., Schröter, N., Bormann, T., Thurow, J., Wagner, D., Frings, L., Weiller, C., Meyer, P. T., Dressing, A., & Hosp, J. A. (2021). Slow but evident recovery from neocortical dysfunction and cognitive impairment in a series of chronic COVID-19 patients. Journal of Nuclear Medicine, jnumed.121.262128. https://doi.org/10.2967/jnumed.121.262128

Dressing A, Bormann T, Blazhenets G, et al. Neuropsychological profiles and cerebral glucose metabolism in neurocognitive Long COVID-syndrome. J Nucl Med. Published online October 14, 2021:jnumed.121.262677. doi:10.2967/jnumed.121.262677

Hosp, J. A., Dressing, A., Blazhenets, G., Bormann, T., Rau, A., Schwabenland, M., Thurow, J., Wagner, D., Waller, C., Niesen, W. D., Frings, L., Urbach, H., Prinz, M., Weiller, C., Schroeter, N., & Meyer, P. T. (2021). Cognitive impairment and altered cerebral glucose metabolism in the subacute stage of COVID-19. Brain, 1–14. https://doi.org/10.1093/brain/awab009

Meyer PT, Hellwig S, Blazhenets G, Hosp JA. Molecular imaging findings on acute and long-term effects of COVID-19 on the brain: A systematic review. J Nucl Med. Published online February 17, 2022:jnumed.121.263085. doi:10.2967/jnumed.121.263085

Zwischenruf: Warum ich keine Angst vor Long Covid habe

Ich lese (vor allem bei Twitter) immer wieder als Begründung für den Wunsch nach Beibehaltung der Corona-Maßnahmen (die ja eigentlich nicht-pharmazeutische Interventionen (NPI) heißen), dass man Angst oder Sorge vor Long Covid auch als geimpfter Mensch habe. Und ich frage mich dann (auch immer wieder), ob das eigentlich eine rationale Angst oder Sorge ist.

Disclaimer: Ich kenne eine geimpfte Person, die sich mit Omikron infiziert hat und nun Beschwerden hat, die ich unter Long Covid subsumieren würde. Von daher, abwegig ist der Gedanke Long Covid zu bekommen nicht.

Disclaimer 2: Ich hantiere hier mit absoluten Risiken, nicht mit relativen.

Ich hatte mir schon vor einiger Zeit überlegt, dass das sinnvollste für mich persönlich wäre, das Erkrankungsrisiko mit den Erkrankungen zu vergleichen, mit denen ich es tagtäglich zu tun habe und bei denen ich sicher bin, dass ich sie nicht haben will, weil sie einen relevanten Impact auf mein tägliches Leben hätten.

Hier ist also meine Recherche, wenn ihr sie lesen wollt nur zu, sonst lest lieber zum Beispiel diesen Beitrag über das Demenz-Risiko von Fußballprofis Link.

Das Long Covid-Risiko

Das Schwierigste war es, sich auf ein Long Covid-Erkrankungsrisiko festzulegen, da hier – bekanntermaßen – ja sehr heterogene Häufigkeitsangaben auftauchen. Auch ist Long Covid nicht gleich Long Covid (hier gibt es eine was die Studien betrifft leicht veraltete, aber in den Grundzügen immer noch aktuelle Beitragsserie dazu (Link)) und ein großer Teil der Betroffenen hat für einen gewissen Zeitraum nach der Infektion noch Beschwerden und ein deutlich kleinerer sehr viel länger bis dauerhaft. Auch weiß ich aus eigener Erfahrung, dass ich nach meiner COVID-Infektion Ende 2020 mehr als vier Wochen nicht richtig riechen und schmecken konnte (was formal Long Covid-Kriterien erfüllt hätte) und noch ewig einen fiesen Reizhusten hatte (den ich aber nach jedem Infekt ewig lang habe und irgendwann mit Cortison-Spray beende).

Was einem zudem auch niemand bislang verlässlich sagen kann ist, wie es sich mit dem Long Covid-Risiko nach den zu erwartenden Reinfektion 2-x verhält, einfach weil es recht wenig Reinfektionen gibt, mit denen man das untersuchen kann. Es gibt aber ein paar Hinweise, die man verwenden kann: Das Long Covid-Risiko scheint stark von der Krankheitsschwere abzuhängen, je schwerer der Verlauf war, umso wahrscheinlicher sind länger anhaltende Beschwerden. Und Reinfektionen verlaufen bei den meisten Betroffenen, gerade wenn sie geimpft sind, deutlich leichter als Primärinfektionen bei Ungeimpften. Prinzipiell kennen wir mittlerweile neben der initialen Krankheitsschwere auch weitere Hauptrisikofaktoren für Long Covid: Weibliches Geschlecht, komorbide psychiatrische Erkrankungen, erhöhter ANA-Titer als Ausdruck eines autoimmunologischen Geschehens, hoher BMI/Diabetes mellitus, EBV/CMV-Reaktivierung (z.B.: Su Y, Yuan D, Chen DG, et al. Multiple early factors anticipate post-acute COVID-19 sequelae. Cell. 2022;185(5):881-895.e20. doi:10.1016/j.cell.2022.01.014 oder Crook, H., Raza, S., Nowell, J., Young, M., & Edison, P. (2021). Long covid—mechanisms, risk factors, and management. iBMJ, n1648. https://doi.org/10.1136/bmj.n1648).

Nach vielem hin-und-her-Überlegen hab ich mich für dieses israelische Preprint entschieden, einfach weil es relativ aktuell ist, weil es relativ „großzügig“ mit der Long Covid-Diagnose umgeht und dementsprechend hohe Prävalenzen bietet (und so ein worst-case-Szenario darstellen könnte) und weil es geimpfte und ungeimpfte Probanden mit COVID-19 mit einer Kontrollgruppe ohne COVID-19 vergleicht:

Kuodi P, Gorelik Y, Zayyad H, et al. Association between Vaccination Status and Reported Incidence of Post-Acute COVID-19 Symptoms in Israel: A Cross-Sectional Study of Patients Tested between March 2020 and November 2021. Epidemiology; 2022. doi:10.1101/2022.01.05.22268800

Von den COVID-Infizierten ohne Impfung gaben 35% in der Studie anhaltende Beschwerden nach der Infektion an. Am häufigsten wurde eine anhaltende Müdigkeit, also Fatigue angegeben (26%), diese wurde aber auch von 18% der Nicht-Infizierten berichtet. 22% der Infizierten und 16% der Nicht-Infizierten berichteten von Kopfschmerzen, 16% (8% Kontrollgruppe) von einem Schwächegefühl der Beine, 11% (4%) von Muskelschmerzen, 12% (6%) von Konzentrationsstörungen, 13% (4%) von Haarausfall, 10% (8%) von Schlafstörungen, 8% (6%) von Husten und 8% (3%) von Kurzatmigkeit.

Das bedeutet, dass das absolute Risiko Long Covid-Beschwerden im Vergleich zu einer nicht-infizierten Kontrollgruppe zu entwickeln, ungefähr 9% mehr nach Infektion auftraten, als in der Normalbevölkerung eh vorhanden. Bei vollständig Geimpften mit einer COVID-Infektion (im Studienzeitraum waren das noch zwei Impfungen) waren die Symptome zwischen 54% und 82% seltener (CAVE, das ist jetzt ein relatives Risiko) als bei Ungeimpften und – merkwürdigerweise – bei allen Symptomen bis auf Muskelschmerzen, anhaltendem Husten und Kurzatmigkeit sogar seltener als bei Nicht-Infizierten.

aus: Kuodi P, Gorelik Y, Zayyad H, et al. Association between Vaccination Status and Reported Incidence of Post-Acute COVID-19 Symptoms in Israel: A Cross-Sectional Study of Patients Tested between March 2020 and November 2021. Epidemiology; 2022. doi:10.1101/2022.01.05.22268800, direkter Link zur Quelle.

Über den Daumen gepeilt muss ich also als geimpfter, übergewichtiger Mann mittleren Alters mit einem Long Covid-Risiko von so 5% nach einer COVID-Infektion rechnen.

Die Vergleichs-Erkrankungen

Wie ich oben schon geschrieben habe, habe ich mal die neurologischen Erkrankungen mit denen ich es am häufigsten zu tun habe herausgesucht, die einen relevanten Impact auf mein tägliches Leben hätten. Ich habe zusätzlich noch den Diabetes mellitus hinzugenommen, da ich als kleiner Dicker da sicherlich ein relevantes Risiko für habe und weil ein Diabetes im Vergleich z.B. zu Bluthochdruck deutlich mehr Lebensstilveränderungen erfordert.

Ich habe hier – wenn es ging – nach den Lebenszeitprävalenzen gesucht, also dem Risiko irgendwann im Leben diese Erkrankung zu bekommen. Der Vergleich mit Long Covid haut dann nicht hin, wenn man jetzt mehrfach im Leben Long Covid bekommen sollte. Aber ob das überhaupt ein realistisches Szenario ist, weiß wirklich niemand (siehe oben).

Schlaganfall

Die Lebenszeitprävalenz einen Schlaganfall zu erleiden, liegt ungefähr bei 25%:

The GBD 2016 Lifetime Risk of Stroke Collaborators. Global, Regional, and Country-Specific Lifetime Risks of Stroke, 1990 and 2016. N Engl J Med. 2018;379(25):2429-2437. doi:10.1056/NEJMoa1804492

Diabetes mellitus

Das Risiko an einem Diabetes mellitus zu erkranken hängt extrem von den Lebensumständen, dem Körpergewicht, Geschlecht, Alter und der ethnischen Zugehörigkeit ab, liegt aber zwischen 20% und 40% Lebenszeitprävalenz.

Narayan KMV. Lifetime Risk for Diabetes Mellitus in the United States. JAMA. 2003;290(14):1884. doi:10.1001/jama.290.14.1884

Epilepsie

Die Lebenszeitprävalenz für eine Epilepsie liegt nach einer aktuellen Studie bei 7,6/1.000 Personen:

Fiest KM, Sauro KM, Wiebe S, Patten SB. Prevalence and incidence of epilepsy. Published online 2016:8.

Hirntumore

4-5/1.000 beträgt das Lebenszeit-Erkrankungsrisiko für einen bösartigen hirneigenen Tumor, also ein Gliom oder ein Astrozytom. Für Krebserkrankungen ganz allgemein gibt es Daten zur 10-Jahres-Prävalenz (also, wie viele Menschen innerhalb von 10 Jahren an einem bösartigen Tumor erkranken). Diese liegt bei Männern bei 0,1% und bei Frauen bei 0,04% (Link), insgesamt leben in Deutschland 1,9% der Bevölkerung mit einer Krebsdiagnose (Link).

Rice T, Lachance DH, Molinaro AM, et al. Understanding inherited genetic risk of adult glioma – a review. Neuro-Oncology Practice. 2016;3(1):10-16. doi:10.1093/nop/npv026

Multiple Sklerose

Bei der MS wissen wir ja seit kurzem, dass eine durchgemachte EBV-Infektion kausal mit der Erkrankung zusammenhängt und nach EBV das MS-Erkrankungsrisiko bei ca. 1:900 liegt und nach durchgemachter infektiöser Mononukleose (also dem Pfeiffer’schen Drüsenfieber) bei 1:240. Da die Durchseuchung bei EBV bei 95% liegt, korreliert es mit der Prävalenzangabe aus anderen Studien von 0,1% Lebenszeitrisiko. Das ist natürlich deutlich seltener als Long Covid, ist (für mich) aber der Prototyp für eine lebenslang vorhandene, nicht kausal heilbare Erkrankung.

Bjornevik K, Cortese M, Healy BC, et al. Longitudinal analysis reveals high prevalence of Epstein-Barr virus associated with multiple sclerosis. Science. Published online January 21, 2022:1-10. doi:10.1126/science.abj8222

Wallin MT, Culpepper WJ, Nichols E, et al. Global, regional, and national burden of multiple sclerosis 1990–2016: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2016. The Lancet Neurology. 2019;18(3):269-285. doi:10.1016/S1474-4422(18)30443-5

Neurodegenerative Erkrankungen

Diese laufen für mich ein wenig außer Konkurrenz, da sie ja vor allem im höheren Lebensalter auftreten. Dennoch liegt die Lebenszeitprävalenz für eine Alzheimer-Erkrankung bei US-Bürgern zwischen 11,6% und 21,1% (Link) oder bei älteren Daten aus der Framingham Heart Study ab einem Lebensalter von 65 Jahren zwischen 25,5 % bis 28,1% Rest-Lebenszeitprävalenz.

Seshadri S, Wolf PA, Beiser A, et al. Lifetime risk of dementia and Alzheimer’s disease: The impact of mortality on risk estimates in the Framingham Study. Neurology. 1997;49(6):1498-1504. doi:10.1212/WNL.49.6.1498

Das idiopathische Parkinson-Syndrom ist seltener, hier liegt die Lebenszeitprävalenz zwischen 3,7% bei Frauen und 4,4% bei Männern, zumindest nach den Daten dieser auch schon 20 Jahre alten Studie:

Elbaz A, Bower JH, Maraganore DM, et al. Risk tables for parkinsonism and Parkinson’s disease. Journal of Clinical Epidemiology. 2002;55(1):25-31. doi:10.1016/S0895-4356(01)00425-5

Fazit

In der Welt der neurologischen Erkrankungen lautet das Ergebnis der Recherche für mich also: Es ist wahrscheinlicher, dass ich an einem Schlaganfall, einem Diabetes mellitus oder einer neurodegenerative Erkrankung im Alter erkranke als an Long Covid. Anders herum ist eine MS-Diagnose, eine Epilepsie und ein hirneigener bösartiger Tumor unwahrscheinlicher als Long Covid. Mein ganz persönliches Fazit ist, dass ich keine Sorge und keine Angst vor Long Covid habe, aber auch nicht aus allen Wolken fallen werde, wenn ich daran erkranke. Da ich aber mit den anderen hier zitierten Erkrankungsrisiken auch vor der COVID-19-Ära schon umgegangen bin, werde ich mich wegen des Long Covid-Risikos in meinem Privat- und Sozialleben nicht einschränken. Ganz im Gegenteil.

Das ist aber nur mein Fazit, das muss nicht eures sein. Zudem bin ich auch nicht der Typ, der große Teile seines Monatseinkommens für Versicherungen und Absicherungen zurücklegt, sondern da eher mit einem „Rumpf-Programm“ arbeitet. Außerdem kann es gut sein, dass die Berechnung, die ich für mich aufgemacht habe, am Ende „nicht richtig“ ist, aber am Ende machen für mich persönlich ein paar Prozent mehr oder weniger nicht den den Unterschied.

Impfungen und Long Covid: Was die Briten wissen

Manchmal geschehen komische Dinge und man findet im BILD-Live Ticker plötzlich interessante Literatur. Zum Beispiel diese hier The effectiveness of vaccination against long COVID. A rapid evidence briefing (Link pdf, Link Begleittext) der UK Health Security Agency (UKHSA), was die Public Health-Institution des Vereinigten Königreichs ist. Es handelt sich um eine Zusammenstellung von 15 Studien (davon überwiegend Preprints) zum Thema Auswirkungen von COVID-Impfungen auf Long Covid-Beschwerden, die kurz vorgestellt werden.

Das verrückte ist, dass diese Zusammenstellung viel besser ist, als viele peer reviewed COVID-Paper der letzten Zeit. Die Studien werden in ihrer Qualität beurteilt, es werden Confounder identifiziert und angesprochen, was will man mehr.

Die Twitter-Zusammenfassung

Kurz gesagt steht in dem Bericht inhaltlich das selbe, was Martin Korte letzte Woche bei Holsteins Abendspaziergang berichtet hat: COVID-Impfungen verringern das Risiko bei einer (Durchbruchs-)Infektion mit COVID-19 Long Covid zu entwickeln. Und sie scheinen Long Covid-Symptome abzumildern und zu verkürzen, wenn schon welche bestehen und nach durchgemachter Infektion eine Impfung erfolgt.

Die Blog-Zusammenfassung

Ein bisschen ausführlicher sieht es so aus: Eingeschlossen wurden 15 Studien (vier aus Großbritannien, vier aus den USA, eine aus Frankreich, zwei aus Indien, weine aus Indonesien, eine aus Israel und zwei internationale „Online-Studien“). Bei acht Studien ging es um den Schutz von COVID-Impfungen vor Long Covid, sie betrachteten also Durchbruchsinfektionen. Mit diesen Studien fangen wir an. Sieben Studien beschäftigten sich mit Menschen mit Long Covid, die nach der Infektion mit SARS-CoV-2 und schon bestehenden Long Covid-Symptomen noch eine COVID-Impfung erhielten.

Einschränkungen der Studien

Auch ein schönes Twitter-Thema ist ja das Folgende: Methodische Einschränkungen von Long Covid-Studien. Dies thematisieren auch die MHRA-Autoren. Eine erste Problematik ist die unterschiedliche Definition von Long Covid in den verschiedenen Studien. Eine Zweite die schwierige Objektivierbarkeit der Long Covid-Symptome, die Dritte, dass sich in einigen Studien die Long Covid-Symptome rasch zurückbildeten (das wissen wir ja aus anderen Studien zu dem Thema, dass nur ein Teil der Betroffenen länger als 4-6 Wochen relevante Symptome hat) und die Vierte, dass vermutlich erhebliche Placebo-, aber auch Nocebo-Effekte eine Rolle bei der Bewertung von Long Covid-Symptomen mit und ohne Impfung gespielt haben dürften. Darüber hinaus waren alle Studien Beobachtungsstudien, die andere Confounder nicht ausschließen konnten, auch wurden Online-Befragungen mit den bekannten Problemen (overreporting von Symptomen) und Studien, die ihre Probanden ausschließlich aus der Gruppe hospitalisierter Patienten rekrutierten (mehr Long Covid nach schweren Verläufen) eingeschlossen.

Schutz vor Long Covid durch COVID-Impfung

Im ersten Abschnitt des Berichts geht es um „Vaccination before infection“. Auch hier wird den Studienergebnissen eine Limitierung vorrausgestellt, in diesem Fall eine anzunehmende Unterschätzung der Verhinderung von Long Covid durch Impfungen, da ja nur Menschen mit Durchbruchsinfektionen eingeschlossen wurden und keine repräsentative Gesamtpopulation. In drei von vier Studien konnte gezeigt werden, dass sich das Long Covid-Risiko mit einer vollständigen Impfung (zu den Studienzeitpunkten überwiegend noch zwei Impfungen) in den meisten Fällen ungefähr halbierte (im Vergleich zu einer ungeimpften Kontrollgruppe), bei jüngeren Erwachsenen (18-59 Jahre) in einer Studie sogar auf ein Fünftel des Ausgangsrisikos sank. Das Thema jüngere Erwachsene ist aber so eine Sache, da sich diese in anderen Studien schnell von Long Covid erholten und dementsprechend der Benefit der Impfung dann geringer war.

Bei nur einer Impfdosis bis zur Infektion war das Ergebnis uneinheitlicher, teilweise zeigte sich eine leichte Reduktion des Long Covid-Risikos, teilweise nicht.

Eine indische Studie ergab genau das gegenteilige Bild. Hier waren geimpfte Menschen häufiger von Long Covid betroffen, dies ließ sich aber in den anderen Studien nicht beobachten, wohl aber in einer amerikanischen Studie kein objektivierbarer Effekt auf Long Covid durch eine COVID-Impfung.

Veränderung von Long Covid-Symptomen durch COVID-Impfungen

In meinen Augen spannender, weil immunologisch interessant, ist der zweite Part des Berichts. Hier geht es um „Vaccination after infection“.

Von den sieben Studien hierzu verglichen vier Arbeiten Long Covid-Symptome vor und nach der Impfung. In drei dieser Studien konnte man eine Verbesserung von Long Covid-Symptomen nach einer Impfung feststellen, bzw. mehr Verbesserungen von Symptomen als Verschlechterungen. Dabei geht es aber um so Größenordnungen von jeweils 10% der Probanden (23,2% der Geimpften verspürten eine Verbesserung der Long Covid-Symptome gegenüber 15,4% der ungeimpft bleibenden Kontrollgruppe, 25,6% der Kontrollgruppe berichteten von einer Symptomverschlechterung im Verlauf, jedoch nur 14,3% der geimpften Long Covid-Betroffenen), in einer der Studien auch um gute 50%, die von einer Impfung profitierten. Teilweise wurde auch nur – insbesondere nach der ersten Impfung – von einer passageren Beschwerdebesserung berichtet. Teilweise gab es sehr rasch nach der Impfung eine Symptombesserung.

In einer französischen Arbeit zeigte sich ein konträrer Eindruck, hier führte eine Impfung bei einem großen Teil der Probanden zu einer Symptomverschlechterung.

Was auch zu beobachten war, war dass eine „schnelle“ Impfung bis vier Wochen nach der Infektion eher zu einer Symptomlinderung führte, als wenn der „offizielle“ Abstand von bis zu sechs Monaten eingehalten wurde.

Ein kleines Fazit

Meines Erachtens ein super Bericht mit einer super Aussage. Die Impfung hilft aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur gegen schwere COVID-Verläufe, sondern verringert auch das Risiko Long Covid zu entwickeln, es ist also eine klassische win-win-Situation. Ob und in welchem Ausmaß hier Placebo-Effekte eine Rolle spielen ist aus klinischen Erwägungen ziemlich egal. Wenn es den Menschen hilft, ist es doch gut. Und die Impfung ist auf Grund der Verringerung schwerer Krankheitsverläufe eh indiziert. Außerdem wissen wir aus der Placebo-Forschung (wäre auch noch mal ein gutes Blog-Thema), dass auch Placebo-Effekte deutliche Veränderungen in der Immunantwort von Menschen hervorrufen können.

Zwischenruf: Wenn der Gesundheitsminister (der Herzen) über wissenschaftliche Literatur twittert

Vielleicht ist es auch nur Psychohygiene, weil ich eigentlich diese Faktenchecker, Faktenfüchse, Volksverpetzer usw. ganz furchtbar finde, weil da meistens mehr Agenda als Faktencheck hintersteckt. Aber wenn wer Freude dran hat:


22.03.2021

Blog-Beitrag zu dem Thema (Link), bis zu „Oft zitiert und oft kritisiert: Die Studie mit dem Internetfragebogen“ scrollen.


08.05.2021

Blog-Beitrag zu dem Thema, das Thema VITT bei jungen mit AstraZeneca-Geimpften war da schon längst bekannt: Link.


12.05.2021


30.06.2021


18.07.2021

und ausführlicher hier: Link.


19.07.2021

und das hier:


13.08.2021


14.08.2021


16.08.2021


17.08.2021


20.08.2021


30.08.2021


30.08.2021


07.09.2021


08.09.2021


12.09.2021


26.09.2021


06.10.2021


06.10.2021


07.10.2021


14.10.2021


17.10.2021


19.10.2021


20.10.2021


21.10.2021


22.10.2021


28.10.2021


31.10.2021


03.11.2021

Das Paper hatten wir ähnlich unglücklich kommuniziert weiter oben schon mal:


11.11.2021


29.11.2021


01.12.2021

Long Covid bei Kindern

Das ist nun das Wespennest-Thema, noch viel mehr als Long Covid bei Erwachsenen, zumindest auf Twitter und Co (#lLongCovidKids). Noch aufgeladener mit Emotionen, noch mehr instrumentalisiert, um die eigene (vorgefasste) Meinung zu bestätigen. Wie gehen wir es also an? So zumindest nicht:

Ich denke, wir machen es so wie beim Thema Long Covid bei Erwachsenen, wir schauen uns die zur Verfügung stehenden Studien und Paper an. Stand heute (08.08.2021) findet man bei pubmed 41 Einträge zum Thema long covid children (Link) und 899 Einträge zum Thema post covid children (Link). Dazu kommen noch unzählige Preprints. Insgesamt ist das Thema noch sehr um Fluss, die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie führt aktuell eine Erhebung zum Thema Post Covid-Symptome bei Kindern durch (Link), die federführend in Dresden koordiniert wird. Nur by the way: Wenn man aktuelle Zahlen zu Krankenhausaufnahmen von Kindern auf Grund von COVID19 usw. sucht, hier kann man gut aktuelle Informationen bekommen: DGPI COVID-19 Survey.

Long Covid Kids Journal Club

Wenn ich nichts wesentliches übersehen habe, wurden in den letzten Wochen v.a. drei Arbeiten zitiert. Daneben gibt es noch sehr sehr viele andere Arbeiten, welche – noch mehr als beim Thema Long Covid bei Erwachsenen – komplett konträre Positionen zu bestätigen scheinen. Mit zwei von denen fangen wir kurz an:

Die Internetfragebogen-Studie für Kinder

Buonsenso, D., Munblit, D., & Simpson, F. K. (2021). Clinical characteristics, activity levels and mental health problems in children with Long COVID: a survey of 510 children. Preprints, March. https://doi.org/10.20944/preprints202103.0271.v1

Vielleicht aus Gründen ist diese Untersuchung bislang nicht über den Preprint-Status gekommen. Worum geht’s? Es wurde eine anonyme Internetbefragung durchgeführt, welche von Kindern mit Long Covid und ihren Eltern entwickelt wurde. Hieran nahmen dann 510 Probanden teil, die angaben länger als vier Wochen an Long Covid-Beschwerden zu leiden. Es gab offenbar Fragen, die von den Kindern selber und Fragen, die von den Eltern beantwortet werden sollten. Die häufigsten Symptome waren Müdigkeit und Schwäche (444 Probanden, 87,1%), Kopfschmerzen (401 Probanden, 78,6%), Bauchschmerzen (387 Probanden, 75,9%), Muskel- und Gelenkschmerzen (309 Probanden, 60,6%), Hautausschlag (267 Probanden, 52,4%). Fast 95% der Teilnehmer gaben mindestens vier Symptome an, 25,3% der Probanden hatten konstant anhaltende Beschwerden, 49,4% litten an einem Long Covid-Rezidiv und nur 10% der Probanden erholten sich komplett.

Was die Studie auszeichnet ist, dass die Autoren sich der Limitation ihrer Aussagen selbst bewusst sind:

This study has several limitations to address. First, it is an online survey that was only shared through an online platform and not systematically proposed to consecutively diagnosed children within specific settings, therefore determining a selection bias. Also, this survey has been launched on the page of Long COVID Kids UK, which was created with the purpose to provide awareness and support to families with children with Long COVID. Therefore, parents of children with persisting symptoms may have had more interest in participating in this survey, and this can explain the large number of children with persisting symptoms in this cohort, when compared with other cohorts. Therefore, we were not able to define the incidence of Long COVID in children. Another limitation is that not all children received a microbiologically confirmed diagnosis.

Die Lungenfunktions-Studie

Knoke, L., Schlegtendal, A., Maier, C., Eitner, L., Lücke, T., & Brinkmann, F. (2021). More complaints than findings – Long-term pulmonary function in children and adolescents after COVID-19. MedRxiv, 2021.06.22.21259273. https://doi.org/10.1101/2021.06.22.21259273

Auch ein Preprint. Diese Arbeit aus Bochum wird teilweise zitiert, um deutlich zu machen, dass Long Covid bei Kindern kein Problem darstellt. Worum es in erster Linie in dem Paper geht ist, dass die Autoren verschiedene Lungenfunktionstestungen bei 73 Kindern- und Jugendlichen mit anhaltenden Luftnot-Beschwerden nach relativ schweren COVID-Infektion durchgeführt und dies mit einer Kontrollgruppe (45 Kinder) ohne SARS-CoV2-Infektion verglichen haben. 27% der Kinder und Jugendlichen mit durchgemachter SARS-CoV2-Infektion hatten über anhaltende Atemwegsbeschwerden geklagt. Im Vergleich zur Kontrollgruppe konnte aber nur in 12% der Fälle eine Pathologie in den apparativen Untersuchungsverfahren gefunden werden (bei 16% in der Kontrollgruppe). Die Autoren schließen daraus, dass

The discrepancy between persistent respiratory symptoms and normal pulmonary function suggests a different underlying pathology such as dysfunctional breathing.

Weiter schreiben sie:

Similarly, other studies in children with viral infections, such as RSV or rhinovirus, detected acute and long-term loss of pulmonary function.

Worum es in der Arbeit gar nicht geht, sind die „typischen“ Long Covid-Symptome wie Erschöpfbarkeit, Müdigkeit, verminderte körperliche Belastbarkeit.

Prospektive Studie aus Großbritannien

Molteni, E., Sudre, C. H., Canas, L. S., Bhopal, S. S., Hughes, R. C., Antonelli, M., Murray, B., Kläser, K., Kerfoot, E., Chen, L., Deng, J., Hu, C., Selvachandran, S., Read, K., Capdevila Pujol, J., Hammers, A., Spector, T. D., Ourselin, S., Steves, C. J., … Duncan, E. L. (2021). Illness duration and symptom profile in symptomatic UK school-aged children tested for SARS-CoV-2. The Lancet Child & Adolescent Health, 4642(21), 1–11. https://doi.org/10.1016/S2352-4642(21)00198-X

Das ist die erste der drei in der letzten Zeit vermehrt zitierten Studien. Es handelt sich um eine sehr große, prospektive und regulär veröffentlichte (kein Preprint) Studie aus Großbritannien, die Daten verwendete, bei denen Erwachsene (vermutlich in erster Line Eltern) per App Daten zu auf SARS-CoV2-positiv getesteten Kindern angeben konnten. Gescreent wurden 258.790 Kinder, von denen 75.529 positive SARS-CoV2-Testergebnisse hatten. Eingeschlossen wurden am Ende 1734 Kinder (588 im Alter zwischen 5 und 11 Jahren, 1146 im Alter zwischen 12 und 17 Jahren). Es gab eine Vergleichsgruppe mit Kindern mit einem Infekt aber mit negativer SARS-CoV2-Testung. Am häufigsten wurden in der Gruppe mit positivem COVID-Test Kopfschmerzen (62%) und Müdigkeit (55%) als Symptome angegeben. Die mittlere Erkrankungsdauer betrug 6 Tage, in der Kontrollgruppe 3 Tage. Ältere Kinder waren im Schnitt zwei Tage länger als jüngere Kinder symptomatisch.

Krankheitssymptome über 28 Tage hatten 4,4% der COVID-positiven Kinder, wobei auch hier die ältere Kohorte mehr als die jüngere Kohorte betroffen war (5,1% vs. 3,1%). Die Symptomlast nach 28 Tagen war sehr gering. Bei 1,8% der COVID-19-positiven Kinder bestanden Symptome über mehr als 56 Tage (bei 0,9% der Kontrollgruppe).

Die Autoren diskutieren, dass sie eine deutlich niedrigere Long Covid-Prävalenz ermittelt haben, als die Daten der britischen Statistikbehörde (ONS) nahelegen würden und vermuten, dass dies unter Umständen mit unterschiedlichen Studienpopulationen und der Tatsache, dass bei den ONS-Erhebungen zwei asymptomatische Nachbeobachtungstermine für ein definiertes Krankheitsende benötigt werden, in der Studie aber nur einer, zusammenhängen könnte.

Die Schweizer Studie zu Long Covid bei Kindern

Radtke, T., Ulyte, A., Puhan, M. A., & Kriemler, S. (2021). Long-term symptoms after SARS-CoV-2 infection in school children: population-based cohort with 6-months follow-up. MedRxiv, 2021.05.16.21257255. https://doi.org/10.1101/2021.05.16.21257255 (Preprint) und

Radtke T, Ulyte A, Puhan MA, Kriemler S. Long-term Symptoms After SARS-CoV-2 Infection in Children and Adolescents. JAMA. Published online July 15, 2021. doi:10.1001/jama.2021.11880 (reguläres Paper, pdf aber nur mit Account erhältlich)

Das ist vermutlich die meistbesprochene Studie der letzten Zeit zum Thema Long Covid bei Kindern. Daher stelle ich sie etwas ausführlicher vor. In der Studie wurden Daten aus der Ciao Corona-Untersuchung verwendet (Link). Ciao Corona ist eine Längschnitt-Kohortenstudie, in der die Prävalenz für SARS-CoV2 in 55 Schulen im Kanton Zürich untersucht wurden. Es gab eine Phase mit Lockdown und Schulschließung im Studienzeitraum (16.03.-10.05.2020), ansonsten waren die Schulen bis auf die Ferien offen. Im Rahmen der Ciao Corona-Studie wurden Blut-Reihentestung auf SARS-CoV2-Antikörper durchgeführt. Für die Long Covid-Untersuchung wurden Kinder eingeschlossen, die zwischen Oktober und November 2020 (also in der zweiten Erkrankungswelle mit dem SARS-CoV2-Wildtyp) seropositiv getestet wurden. Es wurde eine Kontrollgruppe aus negativ getesteten Kindern gebildet. Zwischen März und Mai 2021 wurden die Eltern der Kinder mittels Fragebogen zu Symptomen, die länger als vier, bzw. 12 Wochen angehalten hatten, befragt.

Eingeschlossen in die Studie wurden am Ende 1355 von 2503 zunächst gemeldeten Kindern und Jungendlichen, davon 109 in der Untersuchungs- und 1246 in der Kontrollgruppe. Die Studienteilnehmer waren eher jünger (11 Jahre im Mittel), weibliches Geschlecht und ein höherer Bildungsstand in der Häuslichkeit dominierten die Studienpopulation. In der Studie wurden sehr niedrige Häufigkeiten von Long Covid-Symptomen gefunden. Knapp 10% der seropositiven Kinder hatten Beschwerden über 4 Wochen, 4% hatten mindestens ein Symptom, was länger als 12 Wochen anhielt. Kongruent zu vielen anderen Untersuchungen wurden als häufigste Long Covid-Symptome anhaltende Müdigkeit, Konzentrationsstörungen und ein vermehrter Schlafbedarf berichtet.

seropositiv
(109 Probanden)
seronegativ
(1246 Probanden)
Demographische Daten
Weibliches Geschlecht58 (53%)669 (54%)
6 – 11 Jahre66 (61%)703 (56%)
12 – 16 Jahre43 (39%)543 (55%)
Mindestens 1 Symptom mehr als 12 Wochen4 (4%)28 (2%)
Müdigkeit3 (3%)10 (1%)
Konzentrationsschwierigkeiten2 (2%)8 (1%)
Vermehrtes Schlafbedürfnis2 (2%)0 (0%)
Verstopfte oder laufende Nase1 (1%)3 (< 1%)
Magenschmerzen1 (1%)3 (< 1%)
Thorakales Engegefühl1 (1%)0 (0%)
Mindestens 1 Symptom mehr als 4 Wochen10 (9%)121 (10%)
Müdigkeit7 (6%)51 (4%)
Kopfschmerzen5 (5%)39 (3%)
Verstopfte oder laufende Nase3 (3%)40 (3%)
Magenschmerzen3 (3%)18 (1%)
Schlafstörungen3 (3%)14 (1%)
Husten2 (2%)15 (1%)
Selbsteinschätzung des Gesundheitszustandes
Sehr gut43 (41%)497 (41%)
Gut56 (53%)680 (55%)
Ausreichend5 (5%)48 (4%)
Schlecht2 (2%)2 (< 1%)
Nach: Radtke T, Ulyte A, Puhan MA, Kriemler S. Long-term Symptoms After SARS-CoV-2 Infection in Children and Adolescents. JAMA. Published online July 15, 2021. doi:10.1001/jama.2021.11880

Auch diese – im Vergleich zu vielen anderen Studien gut konzipierte – Arbeit hat Schwächen, sehr anschaulich wurde das in diesem Twitter-Thread erläutert:

Eine Kritik an der Schweizer Studie zu Long Covid bei Kindern ist, dass die Studie nur 109 seropositive Kinder aufweist. Nat. ist eine geringe Zahl immer problematisch bei der Einschätzung. Wie sicher kann man sich mit den angegebenen Werten sein?
https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.05.16.21257255v2.supplementary-material (1/n)

Bei der Studie wurden 109 Kinder im Alter von 6-16 Jahren einbezogen, die positiv auf COVID-19-Antikörper getestet wurden. Außerdem gab es eine Kontrollgruppe von 1246 Personen, die negativ getestet wurden. So ist eine Überprüfung möglich, inwieweit Virus ursächlich ist. (2/n)

Von den 109 Seropositiven hatten 4 länger als 12 Wochen lang mindestens ein Symptom gemeldet (≈ 3,67%) im Vergleich zu 28 von 1246 in der Vergleichsgruppe (≈ 2,25%). Doch wie sicher können wir uns sein, dass diese Werte auch bei einer höheren Testgruppe auftreten würden? (3/n)

Dazu können wir uns die Betaverteilung ansehen und so ein 95%-Konfidenzintervall bestimmen. Für die 4 von 109 Personen mit >=1 Symptom nach >12 Wochen erhalten wir ein sehr breites Intervall von 1,02% bis 7,9%. Die Unsicherheit ist aufgrund der geringen Zahl recht hoch. (4/n)

Doch was fällt weiter auf? Die Betaverteilung ist linkssteil/rechtsschief. Demnach sind Werte < Ø deutlich wahrscheinlicher, als Werte > Ø. Das ist typisch für Tests mit geringer Personenzahl und kleinem Alphawert. Woran liegt das? (5/n)

Die Verteilung sieht so aus, da aufgrund der geringen Personenzahl eine starke Unsicherheit besteht und Abweichungen vom Durchschnittswert wahrscheinlicher auftreten können. Dabei ist für Abweichungen nach unten weniger Platz als nach oben. Es „staut“ sich nach unten. (6/n)

Das führt dazu, dass der wahrscheinlichste Wert mit 2,8% für das Auftreten von mindestens einem Symptom über 12 Wochen lang bei seropositiven Kindern im Alter von 6 -16 Jahren unter dem Ø von 3,67% liegt. Das Konfidenzintervall muss natürlich im Hinterkopf behalten werden. (7/n)

Bei seronegativen Kindern berichteten 28 von 1246 von >= 1 Symptom mehr als 12 Wochen lang (≈ 2,25%). Aufgrund der größeren Personenzahl liegt das 95%-Konfidenzintervall zwischen 1,5% und 3,14% und ist damit deutlich schmaler als das bei den Seropositiven (geringere Zahl). (8/n)

Aufgrund der höheren Zahl ist die Betaverteilung auch nur minimal rechtsschief. Dadurch liegt der wahrscheinlichste Wert mit 2,17% nur minimal unterhalb des Ø von ≈ 2,25%. Der wahrscheinlichste Wert für Seropositive liegt mit 2,8% nur leicht über 2,17% Seronegativer. (9/n)

Es lohnt sich auch ein Blick auf die Zahl der Kinder, die >2 Symptome >12 Wochen lang berichteten. Bei 109 Seropositven waren es 3 (≈ 2,75%), bei 1246 Seronegativen 6 (≈ 0,48%). Auch hier können wir die Betaverteilung nutzen, um wahrscheinlichsten Wert zu berechnen. (10/n)

Das 95%-Konfidenzintervall für die 3 von 109 Kindern ist wieder recht weit und liegt zwischen 0,58% und 6,53%. Hierbei liegt der wahrscheinlichste Wert aus den zuvor genannten Gründen mit ≈ 1,87% unter dem Ø von ≈ 2,75%. (11/n)

Das 95%-Konfidenzintervall für die 6 von 1246 Kinder liegt zwischen 0,18% und 0,93%. Der wahrscheinlichste Wert liegt auch hier mit 0,4% unter dem Ø von 0,48% und auch deutlich unter dem wahrscheinlichsten Wert für Seropositive mit 1,87% (minus 1,47 Prozentpunkte). (12/n)

Die 95%-Konfidenzintervalle überlappen sich im Bereich zwischen 0,58% und 0,93%. Dass der eigentliche Wert gleichzeitig für Seropositive und Seronegative in diesem Bereich liegt, ist mit rund 1,4% jedoch recht unwahrscheinlich (vgl. auch wahrscheinlichste Werte). (13/n)

Bei den vorherigen Berechnungen ist sowohl auf die Sensitivität und die Spezifität der Tests nicht eingegangen worden. Auch hier besteht natürlich eine gewisse Unsicherheit. (14/n)

Bei der Risikobetrachtung muss auch die Schwere der gemeldeten Symptome betrachtet werden. Die Einzelsymptome, die gemeldet wurden und dabei länger als 12 Wochen bei den Seropositiven vorkamen, traten nie mehr als bei je 3 Kindern auf. (15/n)

Die Symptome, die länger als 12 Wochen andauerten und gemeldet wurden, waren: Müdigkeit (3 seropositive Kinder), Konzentrationsschwierigkeiten (2), erhöhtes Schlafbedürfnis (2), verstopfte oder laufende Nase (1) und Bauchschmerzen (1). (16/n)

Darunter fallen mit Müdigkeit und erhöhtes Schlafbedürfnis auch zwei Symptome, die doch sehr ähnlich sind. Nennung beider Symptome, die das selbe beschreiben könnten, sind daher möglich, was direkt zu einer erhöhten Meldung von Symptomen führen kann. (17/n)

Schwerwiegende Langzeitfolgen wie Herzmuskelentzündungen wurden hingegen offensichtlich nicht gemeldet. Allerdings dürfte eine solche Folge auch sehr selten sein. Dafür ist die Zahl von 109 Seropositiven auch zu gering, um das festzustellen. (18/n)

Wünschenswert wäre deshalb eine Studie mit vielen Seropositiven und ebenfalls einer Kontrollgruppe, um die Kausalität feststellen zu können. Auch wäre die Untersuchung eines längeren Zeitraums wünschenswert, um festzustellen, ob die Symptome abklingen. (19/n)

Wir wissen, dass bei anderen uns bekannten Viruserkrankungen (RS-Virus, Influenza) Langzeitfolgen auftreten können. Auch hier muss für die Risikobetrachtung eine Einordnung stattfinden und geprüft werden, wie diese Folgen im Verhältnis zu anderen Viruserkrankungen auftreten.(n/n)

Originally tweeted by Daniel Haake (@haake_daniel) on 20. Juli 2021.

Die sächsische Studie

Blankenburg, J., Wekenborg, M. K., Reichert, J., Kirsten, C., Kahre, E., Haag, L., Schumm, L., Czyborra, P., Berner, R., & Armann, J. P. (2021). Mental health of Adolescents in the Pandemic: Long-COVID19 or Long-Pandemic Syndrome? MedRxiv, 2021.05.11.21257037. https://doi.org/10.1101/2021.05.11.21257037

Diese Studie, die bislang nur als Preprint existiert, ist auf den ersten Blick relativ ähnlich konzipiert wie die Schweizer Studie. Untersucht wurden aber Schüler der Klassen 8-12 in Ostsachsen. Damit sind sie aber älter als in der Schweizer Studie. Der größte Vorteil hiervon ist, dass die Probanden selber die Fragen zu ihrem Gesundheitszustand beantworten konnten (und durften). Hinsichtlich der eingeschlossenen Probanden (188 seropositive Teilnehmer und 1365 seronegative) ähnelt die Verteilung dann wieder der Schweizer Arbeit. Abgefragt wurden in erster Linie neuropsychologische Symptome. Das bemerkenswerte Ergebnis ist, dass zwischen den Angaben zu Long Covid-Symptomen der seropositiv und der seronegativ getesteten Teilnehmer kein signifikanter Unterschied bestand, sondern die Symptome relativ gleich verteil waren, insgesamt aber mit hohen Prävalenzen berichtet wurden. Die Autoren diskutieren daher, ob es sich bei den Symptomen wirklich um Long Covid- und nicht um Long Pandemie-Beschwerden handeln könnte. Sie schreiben

The equal prevalence of neurocognitive, pain and mood symptoms in seronegative and seropositive adolescents in our study does not negate the existence of Long-COVID19 symptoms in general or in the pediatric population. However, it does suggest that they occur less frequently than previously assumed – at least in children and adolescents with only mild to asymptomatic courses of disease – as were investigated by this study. Furthermore, it confirms the negative effects of lockdown measures on mental health and well-being of children and adolescents16. These effects – affecting this whole age group – need to be balanced with the risk of Long-COVID19 in infected individuals. This balancing act will be a difficult task for public health officials and political officials. Nevertheless, it will be a necessary one when aiming to improve mental health in adolescents.

Ich halte das für einen interessanten Gedanken.

Fazit

Long Covid bei Kindern scheint viel seltener aufzutreten als bei Erwachsenen. Während wir bei Erwachsenen in der 10% und drüber-Kategorie sind, sind es bei Kindern deutlich unter 10%, eher um die 5% oder weniger. Long Covid bei Kindern und Jugendlichen scheint auch – wenn man die zur Verfügung stehenden Studien mit besserer Qualität betrachtet – relativ gutartig zu verlaufen, ein Großteil der Beschwerden bildet sich innerhalb von 4 Wochen zurück. Die Ergebnisse der sächsischen Studie sind sicherlich interessant, die Frage was Long Covid ist und was Long Pandemie kam ja auch in einigen Studien zu Long Covid bei Erwachsenen auf.

Durch die insgesamt geringeren Fallzahlen kann man sehr seltene Long Covid-Symptome schlechter einschätzen, als bei Erwachsenen. Das heißt Dinge wie eine sekundär sklerosierende Cholangiopathie würden mit der derzeitigen Datenlage vermutlich übersehen.

Ein Fazit

Eine dezidierte Meinung zum Long Covid-Syndrom zu äußern, ist sicherlich mit vielen Fettnäpfchen behaftet, in die man treten kann. Am Ende ist es ein stark emotionsgeladenes Thema, über das man immer noch recht wenig weiß, auch wenn der Blogbeitrag dazu – bzw. eigentlich es sind ja mehrere Beiträge – sehr lang geworden ist.

Kurzzusammenfassung

Ich versuche mal, das bisher Erarbeitete, zu strukturieren und zusammenzufassen:

  1. Wir sehen nach schweren COVID-19-Infektionen strukturelle Organschäden, v.a. Lungengerüstveränderungen und Myokarditiden, critical illness Polyneuropathien und Myopathien. Das ist relativ unstrittig und lässt sich durch die Virusinfektion als solche gut erklären.
  2. Unter dem Begriff Long Covid werden aber in der öffentlichen Diskussion vor allem schwerer fassbare, eigentlich unspezifische Symptome, in erster Linie eine erhöhte Ermüdbarkeit, Konzentrationsstörungen, Muskel- und Kopfschmerzen zusammengefasst, zusätzlich die beim Virus-Wildtyp noch häufig auftretenden Geruchs- und Geschmacksstörungen.
    • Der Kernkomplex des Long Covid-Syndroms ähnelt dem postinfektiösen Erschöpfungssyndrom frappierend, langes Long Covid dem chronischen Erschöpfungs- und Müdigkeitssyndrom.
    • Wir kennen postinfektiöse Erschöpfungssyndrome auch von anderen (Virus-)Infektionen. über deren Genese in der Prä-COVID-Ära keine allgemein akzeptierte Deutung zu erzielen war.
    • In den allermeisten Fällen kommt es in einem Zeitraum von maximal 12 Wochen zu einer deutlichen Symptomverbesserung.
    • Das chronische Erschöpfungssyndrom hat in der „Schulmedizin“ einen relativ schwierigen Stand und gilt sicherlich nicht als allgemein akzeptierte Erkrankung. In vielen Köpfen ist es – wenn überhaupt – als psychosomatische Erkrankung verortet, in vielen aber auch als was, was jemand mit einem Rentenbegehren vorbringt.

Soweit, so konsensuell (vermutlich). Ich würde nach etwas Einarbeitung in das Thema noch ergänzen:

  • Es gibt überzeugende Hinweise darauf, dass der Kern der neuropsychologischen Long Covid-Beschwerden in der Immunreaktion des Körpers auf die Virusinfektion begründet liegt.
  • Es gibt ebenfalls überzeugende Hinweise darauf, dass biopsychosoziale Gründe bei der längerfristigen Chronifizierung von Long Covid-Symptomen eine bedeutende Rolle spielen.

Ein Mienenfeld

Viele Punkte sind aber weiterhin unklar. Sich hier zu positionieren ist eigentlich wichtig, erscheint aber angesichts widerstreitender und teils unvereinbarer Interessen und Standpunkte sehr schwierig.

Ist Long Covid etwas Corona-spezifisches?

Die klingt erst mal bescheuert. Aber worum es mir geht ist, ob das was wir als Long Covid bezeichnen, tatsächlich nicht das selbe ist, was wir nach anderen Virusinfektionen auch in der Vergangenheit beobachtet haben? Oder ist es etwas exklusives, was in der speziellen Pathophysiologie einer COVID-19-Infektion begründet liegt? In einem Letter to the editors in Lancet schreiben Long Covid-Betroffene aus dem medizinischen Bereich

In the guideline there are implicit assumptions about the nature of long COVID, which could result in some likening it to post-viral fatigue and may lead to providers over-emphasising a psychological component. At the very early stage of any new disease, it is unwise to presume parallels with other conditions. This approach risks mismanagement and missed pathology.

Gorna, R., MacDermott, N., Rayner, C., O’Hara, M., Evans, S., Agyen, L., Nutland, W., Rogers, N., & Hastie, C. (2021). Long COVID guidelines need to reflect lived experience. The Lancet, 397(10273), 455–457. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32705-7

als Kritik an den NICE-Kriterien für Long Covid. Ich würde entgegnen, dass wir keinen sicheren Anhalt für einen COVID-spezifischen Prozess haben, vielmehr jetzt (endlich) belastbare Anhaltspunkte für die Genese von postinfektiösen Erschöpfungssyndromen. Wir haben sehr viel über Zytokin-vermittelte Prozesse im Rahmen systemischer Virusinfektionen gelernt und im Vergleich zu den Folgesymptomen nach anderen Infektionen wissen wir in der kurzen Zeit von gut 1,5 Jahren sehr, sehr viel über die Pathogenese von SARS-CoV2. Wirklich exklusiv, nur durch SARS-CoV2 entstehende, Mechanismen sehe ich nicht. Natürlich sind medizinische Auffassungen aber nie in Stein gemeisselt und das hier ist auch nur meine Auffassung. Zudem ist COVID-19 die erste „richtige“ Pandemie im Internet- und soziale Medien-Zeitalter und das scheint bei vielen Menschen das Bedürfnis zu wecken, an etwas besonders einmaligem, besonders schlimmen und besonders spektakulären teilzuhaben oder zu leiden.

Ist die Definition von Long Covid klar genug?

Nein, in meinen Augen überhaupt nicht. Die derzeitige Definition lässt nahezu alle postinfektiösen Beschwerden als Long Covid zu, teilweise wird nicht mal ein Nachweis einer stattgehabten Infektion gefordert. Und dennoch wird sie als „nicht weit genug“ gefasst kritisiert. So heißt es:

the clinical case definition of long COVID in the guideline does not adequately describe the varied symptoms experienced beyond the limited number of symptoms and signs listed in an annex towards the end of the guideline. Although the guideline notes that symptoms may fluctuate and often present as overlapping clusters, there is insufficient consideration of the apparent relapsing–remitting nature of the condition, which risks patients being discharged from clinics during a time of remittance of symptoms but before resolution of the condition.

Gorna, R., MacDermott, N., Rayner, C., O’Hara, M., Evans, S., Agyen, L., Nutland, W., Rogers, N., & Hastie, C. (2021). Long COVID guidelines need to reflect lived experience. The Lancet, 397(10273), 455–457. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32705-7

Je weiter und unspezifischer man die Definition von Long Covid aber fasst, desto weniger aussagekräftig werden kommende Studien sein und desto weniger spezifisch und für die Patienten hilfreich wird man Long Covid behandeln können. Das ist der Preis, wenn man jetzt möglichst vielen Menschen Absolution erteilen will und ihnen auch ohne harte Hinweise Long Covid attestiert. Beim CRPS (Link) wurden die Budapest-Kriterien eingeführt, weil man die bestehenden IASP-Kriterien als nicht spezifisch genug ansah. Dabei gibt es – glaube ich – wenige Erkrankungen, die man so gut klinisch diagnostizieren kann, wie ein CRPS, wenn man sich bei Anamnese und klinischer Untersuchung etwas Mühe gibt. Unspezifischer als die derzeitige Long Covid-Definition geht es aber kaum.

Long Covid als rein somatische Erkrankung

To tackle this new and complex condition optimally, we propose that all clinics caring for people with persisting symptoms after acute COVID-19 provide a thorough physical assessment by a consultant physician from a medical specialty, addressing first and foremost identification and management of any organ or multisystem dysfunction. Psychological aspects of disease should be managed as part of the recovery process, but not seen as the primary treatment focus for all.

Gorna, R., MacDermott, N., Rayner, C., O’Hara, M., Evans, S., Agyen, L., Nutland, W., Rogers, N., & Hastie, C. (2021). Long COVID guidelines need to reflect lived experience. The Lancet, 397(10273), 455–457. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32705-7

schreiben Gorna et al.

Die methodisch (in meinen Augen zurecht) kritisierte Studie (u.a. Probandenrekrutierung über Facebook-Betroffenen-Gruppen) von Ladds et al. hat qualitative Interviews mit Long Covid-Betroffenen geführt.

Aussagen wie diese:

They said ok we’ll get someone to phone you. My GP called back and just said ‘oh well it’s probably anxiety’. He didn’t seem to have any idea what it could be. I felt fobbed off. I said I’m worried – there are articles and news outlets that I’ve been reading and I want to know what’s happening to me – people are having strokes, blood clots. I haven’t been to hospital but I’m concerned I’m still getting these effects. He said ‘oh you’ll be fine you’ve only had it mildly’.

Ladds, E., Rushforth, A., Wieringa, S., Taylor, S., Rayner, C., Husain, L., & Greenhalgh, T. (2020). Persistent symptoms after Covid-19: qualitative study of 114 “long Covid” patients and draft quality principles for services. BMC Health Services Research, 20(1), 1144. https://doi.org/10.1186/s12913-020-06001-y

klingen wie Anamnesen vieler Patienten mit körpernahen somatoformen Symptomen. Und diese hier:

I’m not working, I haven’t… I wasn’t able to go back to work and then I got made redundant. I’m… I can’t even imagine how I’m going to find a new job yet. In the last week, I’m wondering because my brain fog seems to have lifted and it’s feeling possible finally, after nearly six months, that I might one day find a new job. But my life is just nothing like it was and it’s not really the life I want, you know; I need to improve.

Ladds, E., Rushforth, A., Wieringa, S., Taylor, S., Rayner, C., Husain, L., & Greenhalgh, T. (2020). Persistent symptoms after Covid-19: qualitative study of 114 “long Covid” patients and draft quality principles for services. BMC Health Services Research, 20(1), 1144. https://doi.org/10.1186/s12913-020-06001-y

wie die von jemandem mit einer depressiven Episode.

Hier den Anspruch zu äußern, pauschal und schon im Vorfeld attestiert zu bekommen, dass eine psychosomatische Genese nicht in Frage kommt, bzw. unwahrscheinlich erscheint, ist in meinen Augen wenig sinnvoll. Es deckt sich aber mit den Aussagen, den man oft von psychosomatisch erkrankten Patienten hört, „endlich den Grund“ für ihre Beschwerden finden zu wollen, der aber in jedem Fall nur rein körperlich sein kann. Und ganz oft geht es dabei gar nicht um eine pragmatische Verbesserung der Lebens- und Kranheitssituation der Betroffenen, sondern nur um die Suche nach einer Antwort, in dem vorgegebenen Rahmen. Und natürlich scheitern wir an diesen Vorgaben regelmäßig. Das führt zu viel Frustration auf allen Seiten, gehört aber meines Erachtens ein Stück weit zum Prozess einer Krankeitsakzeptanz bei nicht rein körperlichen Erkrankungen dazu. Wenn man diesen Prozess aber von vornherein in Verfahrensanweisungen ausgeschlossen haben will (und so verstehe ich Äußerungen wie von Gorna et al.), so verbaut man den Weg zu einer Antwort und sichert sich parallel das „Recht“ auf eine Attestierung einer rein körperlichen, nicht verstandenen Erkrankung. Das spricht in meinen Augen eher für die noch im Fluss befindliche Krankheitsverarbeitung der Autoren, als für einen weisen Ratschlag.

Literaturangaben (explizit keine Weiterlese-Tips)

Gorna, R., MacDermott, N., Rayner, C., O’Hara, M., Evans, S., Agyen, L., Nutland, W., Rogers, N., & Hastie, C. (2021). Long COVID guidelines need to reflect lived experience. The Lancet, 397(10273), 455–457. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32705-7

Ladds, E., Rushforth, A., Wieringa, S., Taylor, S., Rayner, C., Husain, L., & Greenhalgh, T. (2020). Persistent symptoms after Covid-19: qualitative study of 114 “long Covid” patients and draft quality principles for services. BMC Health Services Research, 20(1), 1144. https://doi.org/10.1186/s12913-020-06001-y

Schlussbemerkung

Fast man all das zusammen, komme zumindest ich zu dem Schluss, dass es sich beim Phänomen Long Covid ähnlich verhalten dürfte, wie bei chronischen Schmerzen (Link). Es gibt einen organischen Kern, der bei dem/der einen größer und bei dem/der anderen kleiner ist. Und es gibt biopsychosoziale Faktoren, die eine besonders lang andauernde Symptomatik (und auch eine ausbleibende Besserung) mitbegründen.

Ist Long Covid häufiger, als postinfektiöse Syndrome nach anderen Erkrankungen? Im April hätte ich noch nein gesagt, mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher. Vermutlich ist es am Ende auch egal, durch die große Zahl an COVID-Erkrankten resultiert eh eine sehr hohe Zahl von Menschen mit entsprechender Symptomatik.

Was in mehreren Studien zudem anklang und was ich interessant finde, dass wir durch die Pandemie, aber v.a. auch durch die Lockdown-Maßnahmen deutlich mehr affektive Erkrankungen sehen. Und der Gedanke, dass die höhere Prävalenz derartiger Erkrankungen auch eine relevante Rolle bei der Long Covid-Entstehung haben dürfte, erscheint mir extrem logisch.

Was absolut albern (aus der Außenperspektive) und fatal für die Betroffenen ist, sind Äußerungen die Long Covid überdramatisieren i.S. von „das Leben wird nie mehr das selbe sein“ oder bei Long Covid es handele sich um #InfiniteCovid. Erstens wissen wir das überhaupt nicht, fast alle Studien mit einer relevanten Nachbeobachtung haben eine signifikante Symptombesserung über die Zeit gezeigt. Und Zweitens, wenn doch Symptome persistieren, wird es darum gehen müssen, mit diesen Symptomen „zu leben“ (ja ich weiß, das ist etwas überstrapaziert). Aber das gilt für Menschen mit anderen anhaltenden körpernahen Beschwerden, wie dem Fibromyalgie-Syndrom, auch (Link).

Ideen zur Pathogenese von Long Covid

Grundsätzliche Überlegungen

In den zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema Long Covid werden verschiedene Vermutungen angestellt, warum sich das Phänomen überhaupt entwickelt. Da es sich bei den meisten Symptomen um neuropsychologische Defizite im weitesten Sinne handelt („Neuro-COVID“), gehen die meisten ätiologischen Überlegung in Richtung ZNS-Beteiligung an der COVID-Infektion. In der Regel wird entweder eine ZNS-Pathogenität des Virus selber oder – und das in der letzten Zeit zunehmend – eine autoimmunvermittelte Genese im Rahmen des berühmten „Zytokinsturms“, also der Immunantwort auf die Virusinfektion mit hieraus entstehenden Schäden an Neuronen postuliert.

In der letzten Zeit rücken auch andere Organsysteme, v.a. das Herz in den Fokus, gerade weil ja auch „Herzrhythmusstörungen“ als Long Covid-Symptome beschrieben werden.

Insgesamt ähneln sich die Überlegungen weitestgehend mit denen zu den anderen postinfektiösen (Erschöpfungs-)Syndromen (siehe Teil 1 der Reihe, Link). Was bislang noch weitestgehend ausgespart wurde (und auch teilweise offensiv negiert wird), ist die Möglichkeit einer psychosomatischen Genese der Beschwerden. Dabei ist dies sowohl im historischen Kontext, als auch in der ätiologischen Differentialdiagnostik sicherlich nicht die unwahrscheinlichste Möglichkeit. Aber hier spürt man noch sehr deutlich die anhaltende Diskriminierung psychosomatischer Beschwerden als „nichts echtes“,„Spinnkram“, „Hysterie“ oder „Simulantentum“, auch und insbesondere von Betroffenen selbst. Doch dazu später noch einmal mehr.

ZNS-Invasion von SARS-CoV2 oder Autoimmunität?

Persistenz von SARS-CoV2 in Geweben

Gerade zu Beginn der Pandemie wurden mehrere Paper veröffentlicht, in denen es um die Dauer ging, in der SARS-CoV2 zunächst im Rachen, später aber auch an anderen Stellen nachweisbar war. Dabei konnte gezeigt werden, dass gerade und insbesondere auch bei leicht betroffenen Patienten SARS-CoV2-PCR sehr lange auch nach klinischer Genesung positiv sein können (bis zu 70 Tagen). Draus wurde die Hypothese abgeleitet, dass durch das persistierende Virus entweder die Long Covid-Beschwerden direkt entstehen oder ein andauernder Immunprozess ausgelöst würde, der zu Long Covid-Symptomen führen würde.

Eine Hamburger und eine Aachener Studie helfen weiter

Das mit der direkten ZNS-Pathogenität klingt erst einmal ganz charmant und war auch die erste Idee, die öffentlich diskutiert wurde. So nahm man an, dass der häufige Geschmacks- und Geruchsverlust durch eine Neuroinvasion von SARS-CoV2 bedingt war. Auch war relativ schnell klar, dass SARS-CoV2 ACE-Rezeptoren benutzt, um in die Gewebe einzudringen und ACE-Rezeptoren gibt es eben nicht nur in der Lunge, im Herzen und den großen Gefäßen, sondern auch in großer Zahl an der Blut-Hirn-Schranke. Es wurde dann vorgeschlagen (vgl. Baig), die COVID-Manifestationen (und damit auch die Infektionsorte) nach den betroffenen Organsystemen zu benennen, eben Neuro-COVID, Kardio-COVID, GI-COVID, Angio-COVID usw. Allerdings konnten schon früh z.B. im Rahmen der Hamburger Autopsie-Reihenstudie bei COVID-Toten nur in der Hälfte der Fälle Hinweise für eine SARS-CoV2-Virusinfektion des ZNS gefunden werden (vgl. Matschke et al. Was regelhaft gefunden werden konnte, waren neben abgelaufenen Hirninfarkten und Hirnblutungen Mikroglia-Aktivierungen in der weißen Substanz, wie man sie teilweise als Befunde auch aus Hirnbiopsien kennt (und die man dann oft als unspezifisch postentzündlich einschätzt werden), sowie eine aseptische T-Zell-Aggregationen im Hirnstamm und Kleinhirn als Zeichen einer hier stattfindenden Neuroinflammation.

Eine Ergänzung zur Hamburger Arbeit stellt die Arbeit von Yang et al. dar, in der sehr aufwändig molekulargenetisch Genanalysen aus Hirngewebe-Proben aus an COVID-19 verstorbenen Patienten vorgenommen wurden. Auch hier konnte in keiner der Proben SARS-CoV2-RNA per PCR im Hirngewebe nachgewiesen werden. Was gefunden werden konnte, waren die schon beschriebenen Mikroglia-, aber auch T-Zell-Aktivierungen. Die Autoren gehen von einer Blut-Hirn-Schranken-Störung im Plexus choreideus aus, mit hier besonders explizierten Abwehr-Genen gegen Virus-Infektionen (IFITM3), Komplement- und Zytokin-Aktivierung. Heruntergeregelt waren hingegen Gene, die in der Neurotransmission von Bedeutung sind. Ein ähnliches Muster sei in der Vergangenheit bei Autismus-Spektrum Störungen mit kognitiven Störungen beschrieben worden.

In einer Arbeit von Ermis et al. aus Aachen wurde das Phänomen Neuro-COVID sehr gründlich untersucht. Von 138 Patienten, die in Aachen in der ersten Krankheitswelle stationär behandelt wurden, konnten 53 neurologisch untersucht und in die Studie eingeschlossen werden. 28 Patienten wurden intensivmedizinisch, 25 auf einer COVID Unit auf einer Normalstation behandeltBei neun Patienten wurden Liquorproben gewonnen, bei dreien fand sich eine leichte Pleozytose und eine Schrankenstörung als Hinweis auf einen entzündlichen ZNS-Prozess, bei sechs nicht. Bei den drei Patienten mit einem entzündlichen Liquor waren die D-Dimer-, Ferritin-, Interleukin (IL)-2-Rezeptor-, Interleukin (IL)-6- und TNF-alpha-Spiegel auch im Liquor erhöht, in keiner der Liquorproben konnte SARS-CoV2-RNA nachgewiesen werden, wohl aber EBV- und HSV-DNA im Liquor (das wird später noch mal wichtig). Zwei der drei Patienten hatten auch Hirnnervenausfälle, so dass man von einer Hirnnervenneuritis ausging und antiviral behandelte. 10 Patienten mit einem ARDS und entsprechender Intensivpflichtigkeit hatten zwischenzeitlich positive PCR aus der Herpesgruppe (HSV, VZV, CMV oder EBV) im Serum, was man als Reaktivierung im Rahmen des schweren systemischen Krankheitsbildes verstand (auch das wird noch mal wichtig). Bildgebend konnten nicht alle Patienten untersucht werden, sondern nur 27. Hier zeigten sich eine erhöhte Anzahl von ischämischen Schlaganfällen (11%) und kortikalen Subarachnoidalblutungen (30%), beides v.a. bei den schwer betroffenen Patienten. Vier der acht Patienten mit einer Subarachnoidalblutung wurden mittels ECMO behandelt. EEG-Untersuchungen wurden bei acht Patienten abgeleitet (sechs mit ARDS), hier fanden sich überwiegend Allgemeinveränderungen und Zeichen einer subkortikalen Funktionsstörung, bei zwei Patienten auch epilepsietypische Muster.

Die Autoren reflektieren sehr angenehm, dass auch bei ihnen die Rate der Schlaganfälle über dem statistisch Erwartbaren lag, dass aber viele Patienten ausgeprägte vaskuläre Risikofaktoren und/oder eine disseminierte intravasale Gerinnung (DIC) hatten, so dass man eigentlich keine gute Aussage über die konkrete Schlaganfallgenese machen konnte. Eine COVID-Meningits oder -Enzephalitis konnte nicht festgestellt werden, 24% der Patienten litten an einer critical illness Polyneuropathie/Myopathie (CIP/CIM) (Link). 61,5% der Patienten hatten – in der akuten Phase der Erkrankung – kognitive Defizite im MoCA-Test (Link), v.a. im Bereich der Exekutivfunktionen, der Aufmerksamkeit, der Sprache und im verzögerten Gedächtnisabruf. Von den kognitiv alterierten Patienten war bei einem Patient eine Parkinson-Erkrankung bekannt, die übrigen galten bis zur COVID-Infektion als kognitiv unauffällig. Eine Veröffentlichung mit Verlaufsuntersuchungen der Kohorte hinsichtlich ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit sei geplant schreiben die Autoren.

Ich halte dies für eine sehr gute Studie, die den aktuellen Wissensstand zum Thema Neuro-COVID zusammenfasst. Was man sonst noch findet sind Einzelfallberichte zu „spektakulären“ Fällen, wie eine Fallserie von zwei tödlichen COVID-19-Infektionen von Jensen et al., in der einmal von multiplen embolischen ischämischen Hirninfarkten und einmal von einer Hirnstammenzephalitis berichtet wurde. Was es auch gibt, sind Berichte postinfektiös aufgetretener Enzephalomyelitiden (vgl. Kim et al.), wie man sie auch nach anderen Virusinfektionen, v.a. aus der Herpes-Gruppe kennt. Und es gibt Einzelfallberichte, z.B. aus Lübeck, wo nach milder COVID-Primärinfektion ein deutliches Long Covid-Syndrom mit neuropsychologischen Defiziten bei einer jüngeren, komorbide an einer Depression erkrankten Patientin auftrat. Diese Patientin hatte deutlich erhöhte intrathekale SARS-CoV2-Antikörper.

Wo man weiterlesen kann

Matschke, J., Lütgehetmann, M., Hagel, C., Sperhake, J. P., Schröder, A. S., Edler, C., Mushumba, H., Fitzek, A., Allweiss, L., Dandri, M., Dottermusch, M., Heinemann, A., Pfefferle, S., Schwabenland, M., Sumner Magruder, D., Bonn, S., Prinz, M., Gerloff, C., Püschel, K., … Glatzel, M. (2020). Neuropathology of patients with COVID-19 in Germany: a post-mortem case series. The Lancet Neurology, 19(11), 919–929. https://doi.org/10.1016/S1474-4422(20)30308-2

Yang, A. C., Kern, F., Losada, P. M., Agam, M. R., Maat, C. A., Schmartz, G. P., Fehlmann, T., Stein, J. A., Schaum, N., Lee, D. P., Calcuttawala, K., Vest, R. T., Berdnik, D., Lu, N., Hahn, O., Gate, D., McNerney, M. W., Channappa, D., Cobos, I., … Wyss-Coray, T. (2021). Dysregulation of brain and choroid plexus cell types in severe COVID-19. Nature. https://doi.org/10.1038/s41586-021-03710-0

Ermis, U., Rust, M. I., Bungenberg, J., Costa, A., Dreher, M., Balfanz, P., Marx, G., Wiesmann, M., Reetz, K., Tauber, S. C., & Schulz, J. B. (2021). Neurological symptoms in COVID-19: a cross-sectional monocentric study of hospitalized patients. Neurological Research and Practice, 3(1), 17. https://doi.org/10.1186/s42466-021-00116-1

Bleibender Nervenzellschaden? Ja oder Nein?

Hier gibt es zwei interessante – auf den ersten Blick in ihren Aussagen aber diametral unterschiedliche – Arbeiten, die es sich zu lesen lohnt. Die erste Arbeit stammt aus Göteborg (Kranberg et al.). Hier wurden 100 Patienten zwischen Februar und November 2020 mit durchgemachter COVID-19-Infektion mit leichtem (24, asymptomatische oder ambulant behandelte Patienten), mäßigem (28, stationär auf Normalstation behandelt) und schwerem (48, hoher Sauerstoffbedarf oder intensivmedizinische Behandlung) COVID-Verlauf über gut 7 Monate nachbeobachtet. Mit einer Rate von fast 50% Patienten mit Long Covid-Symptomen berichteten sehr viele Probanden über anhaltende Beschwerden. Es wurde eine geschlechts- und alterskorrelierte Kontrollgruppe mit gesunden Probanden gebildet. Aus Blutproben der Probanden wurden zwei derzeit heiß diskutierte Serummarker für Nervenzelluntergang Neurofilament-Leichtketten (NfL) und saures Gliafaserprotein (GFAP) bestimmt. Über diese Marker wird auch einer der nächsten Blogbeiträge gehen. Im Gegensatz zur Bestimmung von Tau-Protein als Marker eines neuronalen Unterganges haben die zwei Werte den Vorteil, dass sie ohne Liquorpunktion gewonnen werden können. Alle drei Marker werden bislang vorwiegend in Studien-Settings bestimmt und stehen für Routine-Laboranalysen in der Breite noch nicht zur Verfügung.

In der akuten Phase der Erkrankung waren die Spiegel zuerst von GFAP und dann auch von NfL v.a. bei den älteren und schwer betroffenen Patienten erhöht, GFAP auch bei den moderaten Krankheitsverläufen. Zum Ende der Nachbeobachtungszeit hatten sich bei allen Probanden die Serumspiegel wieder normalisiert, unabhängig davon, ob sie an Long Covid-Symptomen litten oder nicht.

Die Autoren schlussfolgern, dass GFAP – was in erster Linie mit einer Astrozytenschädigung assoziiert ist – zunächst zu Beginn der COVID-Infektion mit Affektion von Riechschleimhaut, systemischer Entzündungsreaktion, Mikrothrombosen ansteigt, NfL – was einen Neuronenschaden anzeigt – vor allem bei schweren Krankheitsverläufen und etwas zeitversetzt zu GFAP erhöht ist. Die Autoren vermuten, dass Long Covid-Symptome entsprechend ihren Studienergebnissen sich nicht durch eine neuronale Schädigung erklären. Sie schreiben unter Verweis auf andere Arbeiten, dass ihres Erachtens COVID-Erkrankungen nicht mit anderen, klassisch neurotropen, Infektionskrankheiten vergleichbar sind, da es eben kaum, bzw. nur in einem sehr begrenzten Umfang zu einer intrathekalen Virus-RNA-Aussaat, einer intrathekalen Antikörperproduktion oder einer Blut-Liquor-Schrankenstörung kommt und dementsprechend eine direkte virale ZNS-Infektion nicht plausibel für die neurologischen Symptome während und nach COVID in Frage kommt.

Einschränkend weisen die Autoren darauf hin, dass eine NfL-Erhöhung (die ja vor allem bei älteren Patienten und schwereren Krankheitsverläufen auftrat) auch bei einer CIP/CIM ([Link]) beobachtet werden kann, der Anstieg von GFAP als nur im ZNS vorkommender Marker aber nicht.

Eine türkische augenärztliche Studie hat ebenfalls ein relativ neues Untersuchungsverfahren die corneal confocal microscopy benutzt, um sich der Frage neuronaler Schäden bei Long Covid zu nähren.
Dazu muss man kurz einige erklärende Sätze zu diesem Untersuchungsverfahren zwischenfügen: Bei der konfokalen Cornea-Mikroskopie wird in der Hornhaut die Nervenfaserdichte peripherer Nervenfasern untersucht. Das Verfahren unterscheidet sich daher von der optischen Kohärenztomografie, mit der die Nervenfaserdicke der Retina gemessen werden kann und welche außer bei augenärztlichen Fragestellungen unter anderem bei der Multiplen Sklerose benutzt wird um einen Untergang zentraler Neuronen zu zeigen. Befunde einer abnehmenden Nervenfaserdichte konnten bei der konfokalen Cornea-Mikroskopie in der Vergangenheit bei diabetischen Polyneuropathien, der small fibre Neuropathie und dem Fibromyalgie-Syndrom nachgewiesen werden.

In der türkischen Studie wurden 40 COVID-Patienten ca. 3,5 Monate nach durchgemachter Infektion untersucht. Es gab eine Kontrollgruppe aus gesunden Probanden. 83% der Teilnehmer der Interventionsgruppe hatten leichte oder moderate COVID-Verläufe. Auch hier erscheint die Long Covid-Symptom-Rate mit 78% nach vier und 62% nach 12 Wochen relativ hoch. Probanden mit neurologischen Long Covid-Symptomen wie Konzentrationsstörungen oder eine vorschnelle Ermüdbarkeit hatten in der Studie eine abnehmende Dichte und Länge kornealer Nervenfasern, zudem eine erhöhte Rate unreifer dendritischer Zellen, wie man sie bei entzündlichen Prozessen finden kann. Probanden mit nicht-neurologischen Long Covid-Symptomen (z.B. anhaltender Husten) hatten nur eine erhöhte Rate von unreifen dendritischen Zellen. Es gab eine Assoziation der pathologischen Mikroskopiebefunde mit schweren Krankheitsverläufen, anhaltenden neurologischen und muskuloskelettalen Beschwerden.
Die Autoren schreiben zu den Limitationen ihrer Studie, dass ein Problem die fehlende Quantifizierung von Neuropathien mittels Elektrophysiologie (für die Neuropathien mittlerer und großer Nervenfasern) und Hautbiopsie (für die small fibre Neuropathie) erfolgte, zudem keine klinisch-neurologische Untersuchung, sondern nur eine Erfassung der Symptome per Fragebogen. Dementsprechend muss auch hier ein gewisser bias durch versehentlichen Miteinschloss von CIP/CIM angenommen werden.

Die Studie ist dennoch extrem interessant und zwar, auf Grund der Befunde der konfokalen Cornea-Mikroskopie beim Fibromyalgie-Syndrom ([Link]) und der small fibre Neuropathie. Wesentliche Gemeinsamkeiten mit der Fibromyalgie sind die schnelle körperliche Erschöpfbarkeit und mit Fibromyalgie und small fibre Neuropathie das fehlende Korrelat in den klassischen apparativen Untersuchungsverfahren. Was sich mir nicht logisch erscheint ist folgender Punkt: Die korneale Nervenfaserdichte spiegelt die Dichte peripherer Neuronen wieder. Dass diese bei der diabetischen Polyneuropathie, der small fibre Neuropathie und der CIP/CIM erniedrigt sind, erscheint logisch. Aber warum zentral-nervöse Symptome wie eine vermehrte Erschöpfbarkeit oder chronische Müdigkeit sich hierdurch erklären sollen, ist irgendwie weniger logisch.

Wo man weiterlesen kann

Bitirgen, G., Korkmaz, C., Zamani, A., Ozkagnici, A., Zengin, N., Ponirakis, G., & Malik, R. A. (2021). Corneal confocal microscopy identifies corneal nerve fibre loss and increased dendritic cells in patients with long COVID. British Journal of Ophthalmology, bjophthalmol-2021-319450. https://doi.org/10.1136/bjophthalmol-2021-319450
Kanberg, N., Simrén, J., Edén, A., Andersson, L.-M., Nilsson, S., Ashton, N. J., Sundvall, P.-D., Nellgård, B., Blennow, K., Zetterberg, H., & Gisslén, M. (2021). Neurochemical signs of astrocytic and neuronal injury in acute COVID-19 normalizes during long-term follow-up. EBioMedicine, 70, 103512. https://doi.org/10.1016/j.ebiom.2021.103512

The return of EBV

Wie es so ist, manchmal ist der erste Gedanke offenbar doch nicht der schlechteste: Durch einen Twitter-Tweet von F_I_Briest kam das Thema EBV zurück:

Es geht dabei um eine Arbeit von Gold et al. mit relativ geringer Probandenzahl (185), bei denen ca. ein Drittel (56) Long-Covid-Beschwerden hatte (was mir extrem viel vorkommt). Bei den Probanden mit Long Covid konnten in 2/3 der Fälle serologische Marker einer EBV-Reaktivierung gefunden werden, also EBV-EA-AK und EBV-VCA-IgM (vergleiche auch hier Link). In einer Kontrollgruppe mit durchgemachter COVID-Infektion aber ohne Long Covid-Symptome konnte eine EBV-Reaktivierung nur bei 10% der Probanden festgestellt werden. Ein ähnliches Verhältnis von 2/3 EBV-Reaktivierungen konnte man auch bei einer zweiten Kohorte Probanden mit gerade erst durchgemachter COVID-Infektion feststellen. Die Autoren der Studie weisen auf die frappierende Ähnlichkeit von long EBV-Symptomen und Long Covid hin, zudem auf mehrere andere Untersuchungen (Chen et al. Und Simonnet et al.) , die eine Reaktivierung von EBV- (aber auch anderen Herpes-Viren) bei schwer betroffenen COVID-Patienten nachweisen konnten. Zudem deckt sich die Studie von Gold et al. in dem Bereich mit der Aachener Neuro-COVID-Studie, dass die dort identifizierten Patienten mit einem entzündlichen Liquor-Syndrom alle einen Nachweis von Viren aus der Herpes-Gruppe (EBV und HSV) im Liquor hatten.

Ich möchte noch ergänzen, dass mit der Gedanke aus zwei Gründen attraktiv erscheint: Einmal, auf Grund der offenkundigen klinischen Ähnlichkeit zwischen long EBV und Long Covid und auf Grund der Tatsache, dass wir wissen, dass Viren der Herpes-Gruppe (insbesondere HSV) nach einer Primärinfektion offenbar stark Autoimmunenzephalitiden triggern (der Klassiker wäre die NMDA-Rezeptor-Enzephalitis nach der durchgemachten HSV-Enzephalitis). Jetzt gibt es bei den allermeisten Long Covid-Betroffenen keine Hinweise auf manifeste Enzephalitiden, aber als Zeichen einer vermehrten Autoimmunität vermittelt durch Herpes-Viren-Primärinfektionen kann das schon verstanden werden.

Wo man weiterlesen kann

Gold, J. E., Okyay, R. A., Licht, W. E., & Hurley, D. J. (2021). Investigation of Long COVID Prevalence and Its Relationship to Epstein-Barr Virus Reactivation. Pathogens, 10(6), 763. https://doi.org/10.3390/pathogens10060763

Chen, T., Song, J., Liu, H., Zheng, H., & Chen, C. (2021). Positive Epstein–Barr virus detection in coronavirus disease 2019 (COVID-19) patients. Scientific Reports, 11(1), 10902. https://doi.org/10.1038/s41598-021-90351-y

Simonnet, A., Engelmann, I., Moreau, A.-S., Garcia, B., Six, S., El Kalioubie, A., Robriquet, L., Hober, D., & Jourdain, M. (2021). High incidence of Epstein–Barr virus, cytomegalovirus, and human-herpes virus-6 reactivations in critically ill patients with COVID-19. Infectious Diseases Now, 51(3), 296–299. https://doi.org/10.1016/j.idnow.2021.01.005

Endothelopathie

Die Fortführung der ACE-Rezeptor-Idee ist, dass Long Covid-Symptome durch eine Endothelschädigung durch COVID-19 entstehen.
In einer irischen hämatologischen Studie wurde zwischen Mai und September 2020 das Serum von 50 Patienten mit durchgemachter COVID-19-Infektion untersucht, im Mittel gut 2 Monate nach der Infektion (Fogarty et al.) Gesucht wurde nach Biomarkern, die Endothelschäden und die Aktivierung von Thrombozyten zeigen konnten. Vergleichen wurden die Proben mit den Seren von 17 nicht stationär behandelten, nicht an COVID-19 erkrankten Probanden. Untersucht wurden der Von-Willebrand-Faktor ([Link Wikipedia]) und eine seiner Vorstufen, die Aktivität von Faktor VIII ([Link Wikipedia]), lösliches Thrombomodulin (als Zeichen einer Endothelschädigung) und die Thrombinaggregation ([Link Wikipedia]). Die Laborwerte wurden mit klinischen Markern und Befunden (Röntgenbild der Lunge, Gehstreckentest, Sauerstoffsättigung und einem Fatigue-Score) assoziiert. Die Autoren konnten zeigen, dass auch gut zwei Monate nach der COVID-Infektion das Blutgerinnungssystem aktiver war, als bei nicht-COVID-Probanden. Es gab eine starke Korrelation zwischen Blutgerinnungsaktivierung mit dem Alter der Patienten, den Vorerkrankungen und der Schwere der COVID-Infektion. Auch konnten die Blutgerinnungsauffälligkeiten mit schlechteren Ergebnissen im Gehstreckentest und vermehrter Fatigue korreliert werden. Wenn man mit statistischen Methoden den Einfluss von Schwere der Infektion, Alter und Geschlecht herausrechnete, konnte dieser Zusammenhang nicht mehr gezeigt werden. Die Autoren schlussfolgern dementsprechend, dass ältere und schwerer an COVID-erkrankte Patienten statistisch häufiger anhaltende Blutgerinnungsauffälligkeiten haben. Sie merken selber an, dass schlechtere Ergebnisse im Gehstreckentest durchaus auch mit dem Alter und den Begleiterkrankungen der Patienten zu tun gehabt haben können. Sie schreiben weiter:

It is important to emphasize that EC activation and dysfunction have also been described to play important roles in the pathogenesis of other severe viral illnesses including influenza.

schreiben aber auch weiter

However, specific differences in vascular perturbance between acute COVID-19 and influenza have also been described.

und begründen dies mit den Ergebnissen aus Autopsiestudien, die mehr Mikroembolien bei an COVID-Verstorbenen als an Grippe-Verstorbenen gezeigt hätten. Somit bestünden sowohl Gemeinsamkeiten, als auch Unterschiede in der Aktivierung des Gerinnungssystems, Endothelschäden und immunologisch vermittelten Thrombosen bei SARS-CoV-2 und anderen Virusinfektionen.
In einem US-amerikanischen Review-Paper (Paul et al.) wurde die Wirkung von oxidativem Stress als mögliche Ursache von Long Covid-Symptomen, aber auch vom chronischen Müdigkeitssyndrom (siehe unten) beleuchtet. Die Autoren beschreiben die biochemischen Grundzüge von oxidativem Stress (Überangebot an reaktiven Sauerstoffmolekülen) und nitrosativem Stress (überschüssige Stickstoffdonatoren) auf den Zellstoffwechsel und damit auf die molekularbiologische Ebene der gerade beschriebenen Endothelschädigung. Relativ ausführlich wird auf Ergebnisse der immunbiologischen Grundlagenforschung eingegangen und dies mit den Besonderheiten von COVID-19-Infektionen (ACE-Bindung, Spike-Protein-Pathogenität) verglichen. Die Autoren stellen fest, dass es mehrere Arbeiten gibt, die einen vermehrten oxidativen und nitrosativen Stress bei COVID-Infektionen nahe legen. Sie vergleichen diese Erkenntnisse auch mit Untersuchungen zum chronischen Müdigkeitssyndrom, wo ein ähnlicher Effekt zu beobachten sei. Sie gehen weiter auf das Konzept der mitochondrialen Dysfunktion bei chronischen Müdigkeitssyndromen ein und übertragen dies auf COVID-19. In einem dritten Teil der Arbeit wird der Zusammenhang zwischen verschiedenen Zytokinen, wie IL-1 und anhaltenden Müdigkeitssymptomen beschrieben, wie man sie zum Beispiel bei der Hepatitis-Behandlung mit Interleukinen beobachten kann. Die Autoren führen dann diese Beobachtungen, sowie die in Autopsiestudien zu beobachtenden T-Zell-Aktivierung zu einem komplexen Zusammenspiel zwischen den einzelnen Faktoren oxidativer Stress, mitochondriale Dysfunktion und Immunaktivierung zusammen. Die Autoren schließen mit der Empfehlung, Redoxreaktionen (als “Gegenspieler“ von oxidativem Stress) ggfs. durch Vitamin-, Acetylcystein- oder CoEnzym Q10-Gaben anzustoßen.
Hier muss allerdings meines Erachtens angemerkt werden, dass dies Therapieverfahren sind, die in größeren Untersuchungen zum chronischen Müdigkeitssyndrom keine sicheren Therapieeffekte zeigen konnten (siehe unten).

Wo man weiterlesen kann

Fogarty, H., Townsend, L., Morrin, H., Ahmad, A., Comerford, C., Karampini, E., Englert, H., Byrne, M., Bergin, C., O’Sullivan, J. M., Martin‐Loeches, I., Nadarajan, P., Bannan, C., Mallon, P. W., Curley, G. F., Preston, R. J. S., Rehill, A. M., McGonagle, D., Ni Cheallaigh, C., … O’ Donnell, J. S. (2021). Persistent Endotheliopathy in the Pathogenesis of Long COVID Syndrome. Journal of Thrombosis and Haemostasis, jth.15490. https://doi.org/10.1111/jth.15490
Paul, B. D., Lemle, M. D., Komaroff, A. L., & Snyder, S. H. (2021). Redox imbalance links COVID-19 and myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome. Proceedings of the National Academy of Sciences, 118(34), e2024358118. https://doi.org/10.1073/pnas.2024358118

Klinische Neuro-COVID-Manifestationen

Kognitive Defizite durch COVID-10

Eine Arbeit aus Freiburg (Hosp et al.) greift den Gedanken aus der Aachener Studie auf und hat diese bei ihren stationären Patienten um aufwändigere Untersuchungen wie PET-Scans mit einer alterskorrelierten Kontrollgruppe ergänzt. Die Studie ist mit 29 Patienten kleiner als die Aachener, dafür aber detaillierter. Am Interessantesten sind die Ergebnisse der neuropsychologischen und der PET-Untersuchungen, welche meistens ca. einen Monat nach Krankheitsbeginn durchgeführt wurden. Die neuropsychologische Testung ergab ein ähnliches Bild, wie die Aachener Studie. Allerdings konnten die Freiburger Autoren keine Aufmerksamkeitsstörungen und damit keine Hinweise auf ein komorbides Delir (Link) in ihren Testungen feststellen. Das war in der Aachener Studie anders. In den PET-Scans wurde bei der Mehrzahl (67%) der COVID-Patienten mit neuropsychologischen Defiziten ein für neurodegenerative Erkrankungen untypisch (frontal und parietal) verteilter kortikaler Hypometabolismus beobachtet. Auch die Freiburger Studie konnte keine bildmorphologischen oder serologischen Anhaltspunkte für strukturell-läsionelle Schäden finden. Die Autoren gehen daher von einer zytokinbedingten neuronalen Funktionsstörung aus.

Charmant ist, dass es zu dieser Studie schon eine Folgestudie gibt (Blazhenets et al.), welche nach sechs Monate nochmals neuropsychologische und PET-Untersuchungen durchführte. Hier zeigte sich eine signifikante, allerdings nur inkomplette, Besserung sowohl der neuropsychologischen Defizite, als auch der PET-Befunde. Die Freiburger Autoren trauen sich sogar zu, anhand der PET-Verlaufs-Befunde und dem Vergleich mit gesunden Kontrollprobanden ein spezifisches, „COVID-19-bezogenes Kovarianzmuster“ in den PET-Untersuchungen identifizieren zu können. Das wäre durchaus spektakulär, da man dann ein bildgebendes Korrelat für „Neuro-COVID“ hätte.

Das große Aber ist, dass diese Studie mit schwer betroffenen, stationär behandelten Patienten durchgeführt wurde und sich nicht ohne weiteres auf die Long Covid-Beschwerden initial leicht betroffener Patienten übertragen lässt, wie der folgende Punkt zeigt:

Große Aufregung und Diskussionen gab es zuletzt um eine Studie von Hampshire et al., welche anhaltende kognitive Defizite nach durchgemachter COVID-Infektion zu zeigen schien. Es klingt auch erst einmal überzeugend, wenn die Autoren schreiben

People who had recovered from COVID-19, including those no longer reporting symptoms, exhibited significant cognitive deficits versus controls when controlling for age, gender, education level, income, racial-ethnic group, pre-existing medical disorders, tiredness, depression and anxiety.

Hampshire, A., Trender, W., Chamberlain, S. R., Jolly, A. E., Grant, J. E., Patrick, F., Mazibuko, N., Williams, S. C., Barnby, J. M., Hellyer, P., & Mehta, M. A. (2021). Cognitive deficits in people who have recovered from COVID-19. EClinicalMedicine, 000, 101044. https://doi.org/10.1016/j.eclinm.2021.101044

und feststellen, dass eine COVID-19-Erkrankung den IQ um bis zu 7 Punkte im Vergleich zum prämorbiden Zustand verringert. Die Studie wurde auch im deutschsprachigen Raum prominent promotet (ich nehme ausnahmsweise mal nicht Karl Lauterbach, der war aber auch dabei):

Ärgerlich wird es dann aber, wenn man feststellt, dass ein Großteil der Studienteilnehmer gar keinen positiven SARS-CoV2-Befund hatte:

https://twitter.com/christoph_rothe/status/1419019984978722822

Oder dass die Unterpopulationen so unterschiedlich waren, dass sie nahezu unvergleichbar sind:

Am Ende kann man, wenn man sich intensiv mit der Studie beschäftigt wohl wenig hilfreiches aus ihr ableiten.

Wo man weiterlesen kann

Hosp, J. A., Dressing, A., Blazhenets, G., Bormann, T., Rau, A., Schwabenland, M., Thurow, J., Wagner, D., Waller, C., Niesen, W. D., Frings, L., Urbach, H., Prinz, M., Weiller, C., Schroeter, N., & Meyer, P. T. (2021). Cognitive impairment and altered cerebral glucose metabolism in the subacute stage of COVID-19. Brain, 1–14. https://doi.org/10.1093/brain/awab009

Blazhenets, G., Schröter, N., Bormann, T., Thurow, J., Wagner, D., Frings, L., Weiller, C., Meyer, P. T., Dressing, A., & Hosp, J. A. (2021). Slow but evident recovery from neocortical dysfunction and cognitive impairment in a series of chronic COVID-19 patients. Journal of Nuclear Medicine, jnumed.121.262128. https://doi.org/10.2967/jnumed.121.262128

Der Elefant im Raum: Das chronische Erschöpfungssyndrom

Ich hatte es ja nun schon mehrfach angedeutet: Es gibt zwischen dem einen Kernsymptom dessen, was in der Öffentlichkeit unter Long Covid verstanden wird, nämlich der anhaltenden Müdigkeit und verminderten körperlichen Belastbarkeit und dem chronischen Erschöpfungssyndrom große Überschneidungen.

Was ist das chronische Erschöpfungs-, bzw. Müdigkeitssyndrom überhaupt?

In erster Linie ist es eine bislang schwer umstrittene Krankheitsentität. Die seit vielen Jahren geführte Grundsatz-Auseinandersetzung dreht sich um die Frage, ob das chronische Erschöpfungssyndrom eigentlich eine eigene Krankheit ist (Befürworter weisen hier regelhaft auf die eigene ICD-Kodierung hin) oder ob es sich um eine depressive Störung ggfs. mit somatoformen Symptomen oder eine Anpassungsstörung handelt. Diese Frage ist mit sehr viel Vorurteilen und Emotionen aufgeladen und das merkt man auch jetzt in der Long Covid-Diskussion.

2017 und damit kurz vor der SARS-CoV-2-Pandemie erschien ein deutschsprachiges Review von Rollnik zu dem Thema, was sich sehr eindeutig positioniert und dem chronischen Müdigkeits- und Erschöpfungssyndrom (so wird die Erkrankung dort bezeichnet) das Wesen einer eigenständigen Erkrankung abspricht. Insbesondere wird ausführlich auf die widersprüchlichen und nicht konsistenten Hypothesen zur erreger-, autoimmun oder genetisch vermittelten Genese des chronischen Erschöpfungssyndromes (CFS) eingegangen. Auch die vermutlich nicht haltbaren Ergebnisse neuroanatomischer Besonderheiten bei CFS-Patienten aus MRT-Studien mit kleiner Fallzahl werden erwähnt. Der Autor beschreibt, dass, obwohl es eigentlich ein Ausschlusskriterium der Diagnose eines chronischen Erschöpfungssyndromes sein sollte, in einer von CFS-Befürwortern angeführten repräsentativen Studie aus den USA 70% derjenigen, die an einem Erschöpfungssyndromes gelitten hätten, auch die Diagnose einer depressiven Störung gehabt hätten. Das Verhältnis von Frauen zu Männern in der Studie habe bei 4:1 gelegen, es seien überwiegend Menschen mit höherem Bildungsstatus betroffen gewesen. Er beschreibt die sehr stark schwankenden Angaben zur Inzidenz der Erkrankung von unter 1% der Bevölkerung auf bis zu 7%, je nachdem ob die Diagnose ärztlich ermittelt worden sei (niedrige Inzidenzen) oder auf Fragebögen zur Selbstbeantwortung beruhe (hohe Inzidenzen). Erwähnt wird, dass laut mehreren Reviews Patienten mit einem CFS oft eine

Kausalattribuierung, die auf externale oder körperliche Ursachen fokussiere

Rollnik, J. (2017). Das chronische Müdigkeitssyndrom – ein kritischer Diskurs. Fortschritte Der Neurologie · Psychiatrie, 85(02), 79–85. https://doi.org/10.1055/s-0042-121259

hätten, was im wesentlichen Merkmal einer somatoformen Störung sei.

Zur Therapie des CFS wird angeführt, dass ein Cochrane-Review einen guten Effekt von Bewegungstherapie für einen Zeitraum zwischen 12 und 26 Wochen zeigen konnte mit anschließender nachhaltiger Besserung. Zudem wird beschrieben, dass es eine Evidenz für die Wirksamkeit einer medikamentösen antidepressiven Therapie gebe, was ggfs. aber auch an der großen Überschneidung mit depressiven Erkrankung liegen könne. Alternativmedizinische Verfahren würden zwar häufig von Betroffenen in Anspruch genommen, zeigten aber in Studien nur einen sehr kleinen Benefit. Die in einzelnen Studien auf dem Boden der zwischenzeitlich diskutierten autoimmunen Genese durchgeführte Therapie mit CD20-Antikörpern wie Rituximab wird sehr kritisch kommentiert. Die Arbeit schließt mit der Zusammenfassung:

Betrachtet man die vorhandenen Publikationen zu Ätiologie und Pathophysiologie, so lässt sich konstatieren, dass es keine schlüssigen Belege für eine einheitliche infektiologische, immunologische, genetische oder eine anders geartete, spezifische Ursache für die Entstehung eines CFS gibt.

Rollnik, J. (2017). Das chronische Müdigkeitssyndrom – ein kritischer Diskurs. Fortschritte Der Neurologie · Psychiatrie, 85(02), 79–85. https://doi.org/10.1055/s-0042-121259

Und weiter heißt es:

Aus ärztlich-therapeutischer Sicht ist es kontraproduktiv, Patienten, die an einer somatisch nicht erklärbaren Fatigue-Symptomatik leiden, ein pseudowissenschaftliches, externales oder körperliches Erklärungsmodell ihrer Beschwerden anzubieten.

Rollnik, J. (2017). Das chronische Müdigkeitssyndrom – ein kritischer Diskurs. Fortschritte Der Neurologie · Psychiatrie, 85(02), 79–85. https://doi.org/10.1055/s-0042-121259

Der Autor betont mehrfach die Notwendigkeit einer wertschätzenden und den Leidensdruck der Betroffenen respektierenden ärztlichen Grundhaltung, im klassischen (psycho)therapeutischen Sinn, auch wenn man das körperliche Störungsmodell der Patienten nicht nachvollziehen könne. Damit decken sich seine Äußerungen mit der derzeit in Überarbeitung befindlichen, aber weiterhin abrufbaren Leitlinie der DEGAM zum Thema Müdigkeit, in der auch das CFS aufgeführt wird (Link).

Long Covid vs. CFS

Was auffällt ist, dass anders als beim chronischen Erschöpfungssyndrom die ätiologischen Erklärungsmodelle für die Fatigue bei Long Covid ganz überwiegend rein somatisch ausgerichtet sind. Aktuell wird für die Fatigue und die kognitiven Leistungsstörungen, die beim chronischen Erschöpfungssyndrom in erster Linie biopsychosozial erklärt werden, eine autoimmunvermittelte neuronale Dysfunktion angenommen (siehe weiter oben). In den epidemiologischen Studien (siehe Teil 2, Link) wurden hingegen auch immer wieder psychosomatische (Mit)Ursachen in den Raum geworfen, wie bei Sykes et al. In der Preprint-Metaanalyse von López-León wird ein Vergleich zum chronischen Erschöpfungssyndrom gezogen und geschrieben

„It is tempting to speculate that SARS-CoV-2 can be added to the viral agents‘ list causing ME/CFS.“

López-León, S., Wegman-Ostrosky, T., Perelman, C., Sepulveda, R., Rebolledo, P. A., Cuapio, A., & Villapol, S. (2021). More than 50 Long-Term Effects of COVID-19: A Systematic Review and Meta-Analysis. MedRxiv, 1–22. https://doi.org/10.2139/ssrn.3769978

Und wenn man sich die ins Deutsche übersetzten „internationalen Konsensuskriterien“ des chronischen Erschöpfungssyndrom aus der Arbeit von Rollnik anschaut, dann sind sie weitestgehend deckungsgleich mit den Symptomen bei Long Covid, v.a. der verminderten körperlichen Belastbarkeit und der erhöhten Ermüdbarkeit.

HauptkriterienEntkräftung nach Belastung („Post-Exertional Neuroimmune Exhaustion“): schnelle körperliche und/oder geistige Erschöpfbarkeit als Reaktion auf Belastung, Symptomverstärkung nach Belastung (z. B. grippeähnliche Symptome), sofortige oder verzögert auftretende Entkräftung nach Belastung, verlängerte Erholungszeit (≥ 24 h), vermindertes Aktivitätsniveau (verglichen mit prämorbidem Zustand)
NebenkriterienJeweils mindestens ein Symptom aus jeder der folgenden Kategorien muss vorliegen:
▪neurologische Störungen: neurokognitiv (Schwierigkeiten in der Informationsverarbeitung oder mit dem Kurzzeitgedächtnis), Schmerz (Kopfschmerz oder andere Lokalisation), Schlafstörungen, andere Beschwerden (z. B. Phono- oder Photophobie, Muskelschwäche, Ataxie)
▪immunologische, gastrointestinale oder urologische Störungen: grippeähnliche Beschwerden, Infektanfälligkeit, Nausea, Reizdarmsyndrom, Dranginkontinenz, Lebensmittelunverträglichkeiten
▪„Beeinträchtigungen der Energieproduktion/des Ionenkanaltransports“: Orthostaseprobleme, Hypotonie, Luftnot, Temperaturregulationsstörungen
AusschlusskriterienPrimäre psychiatrische Erkrankungen, somatoforme Störungen und Drogenmissbrauch sowie alle anderen Erkrankungen, die nach gründlicher Anamnese, körperlicher Untersuchung oder Laborbefunden die Beschwerden erklären können
Nach: Rollnik, J. (2017). Das chronische Müdigkeitssyndrom – ein kritischer Diskurs. Fortschritte Der Neurologie · Psychiatrie85(02), 79–85. https://doi.org/10.1055/s-0042-121259

Und noch etwas ähnelt sich frappierend: Die Risikofaktoren solch ein Long Covid-Syndrom zu entwickeln. Hier lohnt ein Blick in die Arbeit von Naidu et al., in der stationär behandelte COVID-Patienten untersucht wurden. In dem Paper wird eine klare Evidenz von vermehrten Post-Covid-Symptomen bei Patienten, die schon vor der Infektion an einer Traumafolgestörung oder einen depressiven Störung litten, beschrieben.

Wo man weiterlesen kann

Rollnik, J. (2017). Das chronische Müdigkeitssyndrom – ein kritischer Diskurs. Fortschritte Der Neurologie · Psychiatrie, 85(02), 79–85. https://doi.org/10.1055/s-0042-121259

Naidu, S. B., Shah, A. J., Saigal, A., Smith, C., Brill, S. E., Goldring, J., Hurst, J. R., Jarvis, H., Lipman, M., & Mandal, S. (2021). The high mental health burden of “Long COVID” and its association with on-going physical and respiratory symptoms in all adults discharged from hospital. European Respiratory Journal, 2004364. https://doi.org/10.1183/13993003.04364-2020

critical illness Polyneuropathie und -Myopathie nach COVID-19-Infektion

Bei den Symptomen nach schweren COVID-Verläufen ist es so, das ein größer Teil der Beschwerden gut im Themenkomplex critical illness Polyneuropathie (CIP) und critical illness Myopathie (CIM), bzw. intensiv care unit-acquired weakness (ICUAW) aufgeht. Patienten mit einer CIP/CIM nach intensivpflichtiger COVID-Erkrankung sehen wir in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation recht häufig. CIP/CIM-Patienten gelten generell zumindest inoffiziell als „unkomplizierte“ und relativ dankbare Frühreha-Patienten, da bei den allermeisten in recht überschaubarer Zeit ein guter Reha-Erfolg zu erzielen ist. Und von den CIP/CIM-Patienten gelten COVID-CIP/CIM-Patienten oft noch mehr als „Selbstläufer“, vermutlich da sie nicht so multimorbide vorerkrankt sind, wie die „normalen“ CIP/CIM-Patienten und so der Rehabilitationsverlauf durch weniger Komplikationen erschwert wird. Ich hatte hier ja schon einen eigenen Blogbeitrag zum Thema CIP/CIM veröffentlicht, daher halte ich es hier recht kurz.

Zur Prognose hatte ich ja schon im Journal Club (siehe Teil 2 der Reihe, Link) geschrieben, knapp die Hälfte der COVID-19-Patienten mit einer CIP/CIM (genauer 46%) nach 3 Monaten wieder zur Arbeit zurückkehren, dass das aber dennoch 10% mehr sind, als in Metaanalysen zu Patienten die auf der Intensivstation auf Grund anderer Erkrankungen behandelt wurden.

Wo man weiterlesen kann

Kamdar, B. B., Suri, R., Suchyta, M. R., Digrande, K. F., Sherwood, K. D., Colantuoni, E., Dinglas, V. D., Needham, D. M., & Hopkins, R. O. (2020). Return to work after critical illness: a systematic review and meta-analysis. Thorax, 75(1), 17–27. https://doi.org/10.1136/thoraxjnl-2019-213803).

Abseits von Neuro-COVID

Organschäden?

Spätestens mit einer unglücklich, bzw. ungenau, bzw. reißerisch kommunizierten Pressemeldung der Uniklinik Ulm, die eine Long Covid-Ambulanz betreibt (Link) ist das Thema bleibende Organschäden nach COVID-19-Infektion auch in der breiten Öffentlichkeit angekommen.

https://twitter.com/christoph_rothe/status/1417410192803876868

Was und welche Organschäden gemeint sind, bleibt zunächst in den meisten Artikeln recht diffus, wenn man etwas genauer nachliest, geht es wohl um Myokarditiden und Folgen der Lungengerüstveränderungen bei schwerem COVID-Verlauf, wie man in diesem SWR-Artikel (Link) nachlesen kann:

Bei den rund 20 Prozent der Patienten mit Organschäden beobachten die Ärzte vor allem Herzmuskelentzündungen und die Folgen davon. Dazu gehörten etwa Herzschwäche und Herzrhythmusstörungen, so Buckert. „Bei der Lunge beobachten wir, dass sich das Lungengerüst verändert und so ein schlechterer Gasaustausch möglich ist.“ Atemnot sei die Folge.

Der Artikel, den Karl Lauterbach dazu zitiert,

ist eine Arbeit von Crook et al., die anhand der ACE-Hypothese (siehe oben), noch mal verschiedene Organmanifestationen aufzählt, wobei sie beim ZNS wieder die Hypothese von ZNS-Virusinfiltrationen, Blut-Hirn-Schrankenstörungen und Enzephalitiden v.a. im Hirnstamm annimmt, für die die diesbezüglich spezifischeren Hamburger und Aachener Untersuchungen keinen sicheren Anhalt finden konnten. Wenn man den Artikel aber als Übersichtsarbeit versteht, die auf verschiedenen Gebieten aber nicht so sehr in die Tiefe geht und ggfs. auch schon wieder als überholt geltende Thesen verwendet, kann man ihn dennoch gut lesen.

Wo man weiterlesen kann

Crook, H., Raza, S., Nowell, J., Young, M., & Edison, P. (2021). Long covid—mechanisms, risk factors, and management. BMJ, n1648. https://doi.org/10.1136/bmj.n1648

Gallenwegserkrankungen nach COVID-19

In der ersten Version des Long Covid-Themas hatte ich ja schon die beiden mir bekannten Hamburger Fälle einer sekundär sklerosierenden Cholangitis nach COVID-19-Erkrankung beschrieben, einmal aus unserem Krankenhaus und einmal aus der Asklepios Klinik Altona (mit Veröffentlichung im Hamburger Ärzteblatt, S. 32-33, Link, Link Wikipedia), nach einer schwer verlaufenden COVID-Pneumonie bei einem 19-jährigen Patienten. In unserer Klinik wurde die selbe Diagnose bei einem 51-jährigen Patienten mit ebenfalls schwerst verlaufender COVID-Pneumonie und sekundärer Pilzpneumonie gestellt, den wir nach einer intensivmedizinischen dreimonatigen Beatmungstherapie (11/2020-01/2021) von unserer Intensivstation in die Frührehabilitation übernommen hatten.

MRCP unseres Patienten mit sekundär sklerosierende Cholangitis nach schwerer COVID-Infektion

Die sekundär sklerosierende Cholangitis ist sicherlich keine COVID-spezifische Erkrankung, sondern kommt auch nach anderen schwersten intensivmedizinisch zu versorgenden Erkrankungen vor, ist aber auch so selten, dass zwei Fälle in Hamburger Kliniken in kurzer Zeit sicherlich erwähnenswert sind. Und natürlich kann man in jedem Fall argumentieren, dass beide Patienten diese (häufig zur Notwendigkeit einer Lebertransplantation führende) Erkrankung nicht entwickelt hätten, wenn sie keine COVID-Infektion erlitten hätten. Mittlerweile findet man auch Literatur und andere Fallberichtsserien zu dem Thema (z.B. Durazo et al.).

Wo man weiterlesen kann

Durazo, F. A., Nicholas, A. A., Mahaffey, J. J., Sova, S., Evans, J. J., Trivella, J. P., Loy, V., Kim, J., Zimmerman, M. A., & Hong, J. C. (2021). Post–Covid-19 Cholangiopathy—A New Indication for Liver Transplantation: A Case Report. Transplantation Proceedings, 53(4), 1132–1137. https://doi.org/10.1016/j.transproceed.2021.03.007

Literaturangaben (explizit keine Weiterlese-Tips)

Marshall, M. (2020). The lasting misery of coronavirus long-haulers. Nature, 585(7825), 339–341. https://doi.org/10.1038/d41586-020-02598-6

Baig, A. M. (2021). Chronic COVID syndrome: Need for an appropriate medical terminology for long‐COVID and COVID long‐haulers. Journal of Medical Virology, 93(5), 2555–2556. https://doi.org/10.1002/jmv.26624

Jensen, M. P., Le Quesne, J., Officer‐Jones, L., Teodòsio, A., Thaventhiran, J., Ficken, C., Goddard, M., Smith, C., Menon, D., & Allinson, K. S. J. (2021). Neuropathological findings in two patients with fatal COVID‐19. Neuropathology and Applied Neurobiology, 47(1), 17–25. https://doi.org/10.1111/nan.12662

Borsche, M., Reichel, D., Fellbrich, A., Lixenfeld, A. S., Rahmöller, J., Vollstedt, E.-J., Föh, B., Balck, A., Klein, C., Ehlers, M., & Moser, A. (2021). Persistent cognitive impairment associated with cerebrospinal fluid anti-SARS-CoV-2 antibodies six months after mild COVID-19. Neurological Research and Practice, 3(1), 34. https://doi.org/10.1186/s42466-021-00135-y

Kim, J., Abdullayev, N., Neuneier, J., Fink, G. R., & Lehmann, H. C. (2021). Post-COVID-19 encephalomyelitis. Neurological Research and Practice, 3(1), 18. https://doi.org/10.1186/s42466-021-00113-4

Kandetu, T.-B., Dziuban, E. J., Sikuvi, K., Beard, R. S., Nghihepa, R., van Rooyen, G., Shiningavamwe, A., & Katjitae, I. (2020). Persistence of Positive RT-PCR Results for Over 70 Days in Two Travelers with COVID-19. Disaster Medicine and Public Health Preparedness, 1–2. https://doi.org/10.1017/dmp.2020.450

Wang, X., Huang, K., Jiang, H., Hua, L., Yu, W., Ding, D., Wang, K., Li, X., Zou, Z., Jin, M., & Xu, S. (2020). Long-Term Existence of SARS-CoV-2 in COVID-19 Patients: Host Immunity, Viral Virulence, and Transmissibility. Virologica Sinica, 35(6), 793–802. https://doi.org/10.1007/s12250-020-00308-0

Hampshire, A., Trender, W., Chamberlain, S. R., Jolly, A. E., Grant, J. E., Patrick, F., Mazibuko, N., Williams, S. C., Barnby, J. M., Hellyer, P., & Mehta, M. A. (2021). Cognitive deficits in people who have recovered from COVID-19. EClinicalMedicine, 000, 101044. https://doi.org/10.1016/j.eclinm.2021.101044

Medizinhistorisches und Entstehung des Begriffs Long Covid

Einleitung

Ich hatte ja schon im April einen Beitrag zum Thema Long Covid geschrieben. In den drei Monaten seither hat sich relativ viel getan, an der Publikationsfront und der wissenschaftlichen Diskussion, aber in erster Linie auch in der öffentlichen Wahrnehmung und Kommuniktion des Begriffes Long Covid. Long Covid wird dabei immer mehr zum Schlagwort und Kampfbegriff. Daher habe ich das Long Covid-Thema noch einmal renoviert und so angelegt, dass man es im Verlauf einfacher und besser erweitern kann.

Vorläufige Definition

Den Versuch (und dabei wird es bleiben, es ist gar nicht so banal) einer genaueren Definition des Begriffes Long Covid versuche ich später, zunächst behelfen wir uns mit einer groben Approximation. Mit Long Covid werden nach einer COVID-Infektion anhaltende Beschwerden beschrieben, wobei der Begriff in erster Linie für Menschen mit initial leichten Krankheitsverläufen (die im ambulanten Setting, bzw. nicht auf einer Intensivstation behandelt wurden) und nun anhaltenden Erschöpfungs-, Müdigkeitssyndromen, Konzentrationsstörungen, sowie Geruchs- und Geschmacksstörungen verwendet wird. Interessanterweise werden die Folgeerkrankungen von Patienten mit schweren Krankheitsverläufen, die intensivmedizinisch behandelt wurden, hierunter – zumindest in der öffentlichen Diskussion – meist nicht subsummiert.

Warum das so ist, hat sehr viel mit der Entstehung des Begriffes Long Covid zu tun.

Long Covid als Erkrankung der Internetära

Long Covid wurde nicht im medizinischen Bereich, sondern in sozialen Netzwerken (v.a. Facebook, Twitter und Instagram) unter dem Hashtag #LongCovid oder #LongHaulers von Betroffenen selber geprägt. In dem Paper von Callard und Perego (Literaturangabe siehe unten, open access) wird die Entstehung des Begriffes beschrieben, die Autorinnen sind dabei offenbar eine der ersten, die diesen Begriff geprägt haben. Beide leiden ihrer Ansicht nach an Long Covid. Es lohnt sich in jedem Fall dieses Paper zu lesen, weil hierin sehr schnell deutlich wird, dass es bei der Entstehung des Begriffs von Long Covid weniger um eine präzise Krankheitsdefinition ging, sondern viel mehr um einen Kampf um Anerkennung der Beschwerden als Folge der COVID-Erkrankung. Dazu kommt – zumindest in dem Paper – der unverhohlene Anspruch Krankheiten „von der Basis“ aus (eben über die sozialen Medien organisierte Selbsthilfegruppen) zu definieren und eben nicht „von der Medizin“ vorgegeben zu bekommen. Kann man so machen, führt aber zu der schon erwähnten Schwäche in einer exakten Definition und damit zu einer systematisch vorgegebenen Unschärfe, die einen wissenschaftlichen Umgang mit dem Phänomen sehr schwierig macht. In meinen Augen wird es spätestens dann extrem problematisch, wenn es heißt:

Patients continue to experience epistemic injustice – their long-term symptoms misunderstood, or reduced to anxiety.

Callard, F., & Perego, E. (2021). How and why patients made Long Covid. Social Science & Medicine, 268(October 2020), 113426. https://doi.org/10.1016/j.socscimed.2020.113426

Darauf möchte ich aber später eingehen.

Mediale Rezeption

Das Thema Long Covid ist seit April noch mehr politisch aufgeladen, als es damals eh schon war und wird weiterhin in der Öffentlichkeit typischerweise von Vertretern eines sehr vorsichtigen/restriktiven Umgangs mit der Pandemie verwendet um jeweilige Standpunkte oder Forderungen zu untermauern:

„Das ist also sehr, sehr besorgniserregend, dass es in die jüngeren Altersklassen geht, und da gibt es ja natürlich dann auch eine Long-COVID, etwas, was halt immer wieder betont wird, aber offenbar nicht stark genug betont wird. Das heißt, die Leute gehen in die Intensivstation rein, kommen da lebendig auch wieder raus, aber nie wieder so, wie es vorher gewesen ist, und haben oftmals monatelang damit noch zu kämpfen, mit den Folgen.“

Sagte zum Beispiel Dirk Brockmann, der Physiker ist und für das Robert Koch Institut Modelle zur Infektionsdynamik von SARS-CoV2 entwickelt in einem Interview mit dem Deutschlandfunk (Link) im April. Auf Twitter tritt er recht offensiv für die NoCovid-Initative ein (Link).

Auch mein Lieblings-Twitterer Karl Lauterbach bedient sich oft des Begriffes Long Covid meist um Restriktionen einzufordern oder düstere Szenarien an die Wand zu malen. Dabei werden meist irgendwelche Long Covid-Häufigkeiten zitiert, die aber häufig divergent sind und bei denen die Quelle unklar bleibt, wie hier:

Oder hier, wenn man mit der aktuellen STIKO-Empfehlung nicht einverstanden ist, um trotzdem eine Impfung von Kindern- und Jugendlichen einzufordern:

Früher gab’s so was aber nicht.

Doch! Es folgt ein kleiner medizinhistorischer Exkurs in die Untiefen verschiedener Infektionskrankheiten

Ein etwas problematischer (oder doch nicht?) Vergleich: Long EBV

Mein Einstieg im April in dieses Thema war die Überlegung, ob es so etwas wie Long Covid nicht auch bei anderen Erkrankungen geben müsste. Und ich empfand und empfinde auch weiterhin die Influenza im COVID-Kontext etwas überstrapaziert, so dass ich meine ganze mikrobiologischen Pseudoexpertise zusammengekratzt und lange überlegt habe und zu dem Schluss gekommen bin, dass ich mal gucke, wie das mit dem Epstein Barr-Virus so ist. Und zwar weil das endemisch ist (und das ist ja das worauf wir mit SARS-CoV2 gerade auch zusteuern), eine unglaublich hohe Kontagiösität hat (wie die Delta-Variante) und weil auch hier gilt, je jünger die Betroffenen sind, desto leichter sind die Verläufe und je älter umso schwerer. Und ja, der Vergleich hinkt, weil SARS-CoV2 ein RNA-Virus ist und kein DNA-Virus der Herpes-Gruppe. Aber trotzdem. Praktisch ist zudem, dass es hierzu Literatur gibt, wo man nachschauen kann u.a. eine skandinavische Studie zu dem Thema mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen (siehe Literaturangaben unten).

Nach einer Infektion mit dem Epstein Barr-Virus (EBV) (Link Wikipedia) werden in gut 10% der Fälle (je nach Studie auch bis 11 oder 13%) länger anhaltende Erschöpfungssyndrome berichtet. Diese sind in der Regel innerhalb von sechs Monaten regredient. Bei den Betroffenen, die länger als sechs Monate unter Erschöpfungssyndromen leiden, ließen sich in der unten aufgeführten Studie statistisch signifikant folgende Faktoren feststellen, die offenbar mit einem länger andauernden Erschöpfungssyndrom assoziiert sind: Ausmaß der klinischen Symptomatik während der Infektion, funktionell relevante Beschwerden durch die Infektion, negative Emotionen (insbesondere Ängstlichkeit) und vor der Infektion durchgemachte negative Lebensereignisse. Von 98 in der Studie untersuchten Biomarkern ließen sich nur bei Folgenden ein Unterschied zu einer Kontrollgruppe mit durchgemachter EBV-Infektion aber ohne Erschöpfungssymptome feststellen: Weibliches Geschlecht, CRP-Wert bei Infektion, Vitamin B12-Spiegel, sensorische Empfindlichkeit, Schmerzschwelle, verringertes Wortgedächtnis und Schritte/Tag. Die gesamte sehr umfangreiche immunologische Diagnostik mittels Bestimmung verschiedener Zytokine und Immunzellpoulationen und die infektiologische Serologie incl. Bestimmung der Viruslast, Antikörperstatus usw. konnte keine eindeutigen Unterschiede zwischen Betroffenen mit anhaltendem Erschöpfungssyndrom und Kontrollgruppe herausarbeiten. Hilfreich in der Behandlung waren ein Bewegungstraining und kognitive Verhaltenstherapie.

Die Autoren schlussfolgern, dass es eine offensichtliche Ähnlichkeit der Risikofaktoren für ein Erschöpfungssyndrom nach einer EBV-Infektion und eines chronischen Erschöpfungssyndromes (CFS) gibt. Weiter kommen sie zu dem Schluss, dass die Ergebnisse der Studie eher ein biopsychosoziales Erklärungsmodell der Erschöpfungssymptome als eine biomedizinische Kausalität nahelegen und dass sich das mit den aktuellen wissenschaftlichen Auffassungen zum chronischen Erschöpfungssyndrom decken würde.

Nachtrag:

Mittlerweile gibt es ernstzunehmende Hinweise auf eine überproportional häufige serologisch messbare EBV-Reaktivierung bei Patienten mit Long Covid. Doch dazu komm ich noch mal in Teil 3 (Link).

Long SARS

Ich habe damals noch etwas weiter geschaut und fand auch die SARS-Pandemie (Link Wikipedia) ganz interessant. Das ist jetzt knapp 20 Jahre her (2002/2003) das war ja alles weit weg und in China, aber immerhin ging es da um ein Corona-Virus. Auch hier wurden postinfektiöse Erschöpfungssyndrome berichtet, bestehend aus anhaltendem Krankheitsgefühl, Appetitverlust, Müdigkeit und Muskelschmerzen. Die Autoren im von mir zitierten Paper postulieren eine milde Störung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse als mögliche Ursache mit einem hierdurch bedingten leichten Hypocortisolismus. Diese zentralnervöse Fehlfunktion werten sie als Folge eines starken körperlichen Stresserlebens. Eine medikamentöse Substitutionstherapie wird aber nicht für notwendig erachtet.

Postinfektiöse Erschöpfungssyndrome sind nichts neues

Über die EBV-Arbeiten bin ich dann zum schon erwähnten chronischen Erschöpfungssyndrom (CFS) gekommen, von dem ich bislang nicht viel wusste, es aber irgendwo zwischen chronischer Borreliose ohne Antikörper-Nachweis und multipler Chemikalienunverträglichkeit einsortiert hatte. Wenn man sich hierzu etwas beließt, ist das aber total interessant. Vor allem die medizinhistorische Einordnung:

Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurden Fallberichte und Fallsammlungen zu anhaltenden Erschöpfungssyndromen nach der russischen Grippe (Link Wikipedia) veröffentlich. So litten unter anderem der britische Premier- und Außenminister, sowie der irische Außenminister an einem prolongierten Erschöpfungssyndrom. Kernsymptome der damaligen Berichte waren Schlafstörungen, anhaltende Müdigkeit, diffuse Schmerzen und eine tiefgreifende allgemeine Erschöpfung. In der damaligen medialen Rezeption führte dies dazu, dass Mitte der 1890er Jahre die russische Grippe nahezu wahllos für psychiatrische Erkrankungen, Suizide und diffuse Beschwerden aller Art verantwortlich gemacht wurde. Männer waren von der russischen Grippe häufiger betroffen als Frauen. Die postinfektiösen Symptome wurden daher – dem damaligen Zeitgeist folgend – explizit nicht als „hysterisch“ bedingt (die Hysterie als Diagnose war in weiten Teilen Frauen „vorbehalten“, sondern als „Neurasthenie“ (etwas was man heute ggfs. als Erschöpfungsdepression verstehen würde) aufgefasst. An einer Neurasthenie zu leiden war damals „modern“ und Ausdruck, dass man viel geleistet habe.

Bei der spanischen Grippe (Link Wikipedia) wurden ähnliche, andauernde Beschwerden beschrieben, zudem eine erhöhte Rate von Influenza-Erkrankten, welche nach der Grippeerkrankung Parkinson-Symptome und Augenmuskelparesen entwickelten. Auch die bis heute mysteriöse europäische Schlafkrankheit (Encephalitis lethargica) (Link Wikipedia) trat in Folge der spanischen Grippe erstmals auf und ebbte erst 1927 ab, also sieben Jahre nach dem Ende der Grippe-Pandemie. Damals entwickelte sich erstmals die Vorstellung, dass eine wie auch immer geartete „Gehirnbeteiligung“ ursächlich für die neuropsychiatrischen Symptome sei.

Im 20. Jahrhundert änderte sich dann – zumindest in der Schulmedizin – die wohlwollende Auffassung des postinfektiösen Syndroms nahezu in das Gegenteil. In der Zwischenzeit hatte das Phänomen neue Namen bekommen, z.B. myalgische Enzephalomyelitis, epidemische Neuromyasthenie oder zuletzt chronisches Erschöpfungssyndrom (Link Wikipedia). Frauen wurden nun als 10 Mal häufiger betroffen als Männer eingeschätzt. Als typischer Auslöser galt ein meist unspezifischer oberer Atemwegsinfekt.

The cardinal symptom is profound muscular fatigue and this is often accompanied by muscle pain, headache, paraesthesiae, dizziness, urinary frequency, cold extremities, bouts of sweating and fainting attacks. Other symptoms are poor memory, lack of concentration, sleep disturbance, mild expressive and receptive dysphasia, hyperacusis and emotional lability

Archer, M. I. (1987). The post-viral syndrome: a review. The Journal of the Royal College of General Practitioners, 37(298), 212–214. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/3320358

Übersetzt also: Kernsymptome sind vermehrte muskuläre Ermüdbarkeit, Muskelschmerzen, Kopfschmerzen, Missempfindungen, Schwindelgefühl, vermehrtem Harndrang, kalten Extremitäten, unvermitteltes Schwitzen und Ohnmachtsanfälle. Dazu bestünden Konzentrations- und Schlafstörungen, Sprachstörungen, eine vermehrte Geräuschempfindlichkeit und eine emotionale Labilität. Klinische und laborchemische Untersuchungen seien nicht wegweisend, bei einem Großteil der Betroffenen komme es zu einer kompletten Erholung, bei einem Teil durch emotionalen oder physischen Stress ausgelösten Rückfällen und bei einem kleinen Teil zu einer chronischen Verlaufsform. In der Folge entwickelte sich ein heftiger Streit darüber, ob es sich bei der myalgischen Enzephalomyelitis um eine eigenständige und einzugrenzende Krankheit oder eine willkürliche Ansammlung von Symptomen handele, es einen somatischen Kern der Erkrankung gebe, es diesen eben nicht gebe und ob es sich ggfs. um eine anhaltende „slow virus-infection“ des Gehirns handeln könne. Festgestellt wurde, dass dieses Syndrom überwiegend nach Virusinfekten auftrete und dass neben unspezifischen grippalen Infekten insbesondere Influenza-, Coxsackie-, Entero-, Cytomegalie-, Varizella-Zoster- und das Epstein-Barr-Virus eine Rolle zu spielen scheinen.

Für heutige Verhältnisse ungewöhnlich harsch (und eigentlich auch sexistisch) wurde diskutiert, ob es sich nicht „nur um Hysterie“ handele, da es keine objektivierbaren apparativen Untersuchungsergebnisse gäbe, überwiegend Frauen und in einem großen Teil in medizinischen Berufen (v.a. Kranken- und Altenpflege) mit Clustern in Betrieben und Freundeskreisen betroffen seien und eine Intensivierung der Diagnostik häufig zu einer Chronifizierung der Beschwerden führe (das ist vermutlich die wichtigste Erkenntnis und gilt ja auch heute für viele somatoforme Beschwerden). So kommt die Arbeit von Archer et al. zu dem Schluss:

„Whether the initial process is organic or hysterical there is probably a psychiatric disturbance, either preexisting or secondary to the disease, in most patients.“

Archer, M. I. (1987). The post-viral syndrome: a review. The Journal of the Royal College of General Practitioners, 37(298), 212–214. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/3320358

Und in der Zusammenfassung geht es entsprechend noch einmal so zu:

„The post-viral syndrome is a mixed-bag of organic and psychiatric disease, and finding a definitive test to prove a viral aetiology will not lessen the psychiatric symptoms of its sufferers.“

Archer, M. I. (1987). The post-viral syndrome: a review. The Journal of the Royal College of General Practitioners, 37(298), 212–214. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/3320358

Die Arbeit von Bannister et al. ein Jahr später nimmt eine eher konträre Position ein und beschäftigt sich intensiv mit den damals diskutierten Theorien zur Hypothese des postinfektiösen Syndroms. Es wurde z.B. noch einmal darauf hingewiesen, dass es postinfektiöse Syndrome auch nach bakteriellen Infektionen oder autoimmunen Prozessen gäbe. Zudem wurden Fälle mit distal-symmetrischen Paresen und Faszikulationen der Muskulatur nach schwereren Verläufen der initialen Infektionskrankheit berichtet, welche wir heutzutage vermutlich als critical illness Polyneuropathie / -Myopathie (CIP/CIM) (Link) einordnen würden, sowie von Patienten mit Muskelschmerzen und erhöhter Serum-CK, insbesondere nach Infektion mit Coxsackie-Viren, was man heutzutage vermutlich als postinfektiöse Myositis (Link Wikipedia) verstehen würde (dazu kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen, dass lohnt sich nicht, ist relativ ekelig). Generell nimmt in dieser Arbeit die serologische Virus-Antikörperdiagnostik einen breiten Raum ein, insbesondere die erwähnten Coxsackie-Viren und das Epstein-Barr-Virus werden intensiv als möglicher Auslöser diskutiert. Auch wird in Ansätzen das Konzept oxidativen Stresses und einer mitochondrialen Fehlfunktion eingegangen, was in der Folgezeit als pathophysiologisches Korrelat des chronischen Erschöpfungssyndromes diskutiert wurde.

Wo man weiterlesen kann

Callard, F., & Perego, E. (2021). How and why patients made Long Covid. Social Science & Medicine, 268(October 2020), 113426. https://doi.org/10.1016/j.socscimed.2020.113426

Pedersen, M., Asprusten, T. T., Godang, K., Leegaard, T. M., Osnes, L. T., Skovlund, E., Tjade, T., Øie, M. G., & Wyller, V. B. B. (2019). Predictors of chronic fatigue in adolescents six months after acute Epstein-Barr virus infection: A prospective cohort study. Brain, Behavior, and Immunity, 75(June 2018), 94–100. https://doi.org/10.1016/j.bbi.2018.09.023

Pedersen, M., Asprusten, T. T., Godang, K., Leegaard, T. M., Osnes, L. T., Skovlund, E., Tjade, T., Øie, M. G., & Wyller, V. B. B. (2019). Fatigue in Epstein-Barr virus infected adolescents and healthy controls: A prospective multifactorial association study. Journal of Psychosomatic Research, 121(February), 46–59. https://doi.org/10.1016/j.jpsychores.2019.04.008

Chrousos, G. P., & Kaltsas, G. (2005). Post-SARS sickness syndrome manifestations and endocrinopathy: how, why, and so what?. Clinical Endocrinology, 63(4), 363–365. https://doi.org/10.1111/j.1365-2265.2005.02361.x

Archer, M. I. (1987). The post-viral syndrome: a review. The Journal of the Royal College of General Practitioners, 37(298), 212–214. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/3320358

Bannister, B. A. (1988). Post-infectious disease syndrome. Postgraduate Medical Journal, 64(753), 559–567. https://doi.org/10.1136/pgmj.64.753.559

Honigsbaum, M., & Krishnan, L. (2020). Taking pandemic sequelae seriously: from the Russian influenza to COVID-19 long-haulers. The Lancet, 396(10260), 1389–1391. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32134-6

Definition von Long Covid und Journal Club

Das Problem einer Definition von Long Covid

Welche Publikationen gibt es?

Bei pubmed finden sich Stand heute (23.07.2021) 413 Einträge zum Thema Long Covid (Link) und 7.436 Einträge zum Suchbegriff Post Covid (Link), zuzüglich der unzähligen Preprints, welche häufig durch die Medien geistern. Viele der pubmed-Einträge sind sogenannte letter to the editors, also wissenschaftliche Leserbriefe, zudem finden sich sehr viele kleine Fallserien. Große und vor allem kontrollierte Studien sind recht rar. Ich versuche mich weiter unten an einer Art Journal Club.

Heißt es nun Long Covid oder Post Covid?

In der Literatur finden sich beide Begriffe bislang recht wild gemischt. Teilweise werden sie für das selbe gebraucht, teilweise auch benutzt um verschiedene Aspekte zu beschreiben:

  • Post Covid für Symptome nach schwerem Krankheitsverlauf
  • Long Covid bei anhaltenden Symptomen nach leichteren Krankheitsverläufen.

Das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) hat Ende 2020 eine Richtlinie veröffentlicht (Link), in der der Begriff ongoing symptomatic COVID-19 für anhaltende Symptome 4-12 Wochen nach der Infektion und post-COVID-19 syndrome für Beschwerden, die länger als 12 Wochen anhalten, vorgeschlagen werden. In einem deutschsprachigen Beitrag von Franke et al. wird diese Definition wie folgt ins Deutsche übersetzt:

Ein Post-COVID-19-Syndrom liegt dann vor, wenn klinische Symptome und pathologische Untersuchungsbefunde während oder nach einer mit COVID-19 vereinbaren Erkrankung auftreten und für mindestens 12 Wochen nach der Akutinfektion andauern und nicht durch andere Diagnosen erklärt werden können.

Der Begriff Long-COVID-19 umfasst klinische Symptome, die während oder nach COVID-19 auftraten; die Akutinfektion liegt hierbei mindestens 4 Wochen zurück.

Franke, C., Warnke, C., Gorsler, A., & Prüß, H. (2021). Neurologische Manifestationen bei Patienten mit Post-COVID-19-Syndrom. DGNeurologie, 4(4), 276–280. https://doi.org/10.1007/s42451-021-00345-3

Demnach wäre Long Covid ein postinfektiöses Syndrom bei anhaltenden Beschwerden vier Wochen nach der Infektion, Post Covid dann ein longes Long Covid. Der Artikel ist insgesamt erstaunlich unkritisch, zum Beispiel scheinen die Autoren für ein Post Covid-Syndrom nicht mal zwingend eine nachgewiesene COVID-19-Erkrankung voraussetzen, es reicht auch eine „mit COVID-19 zu vereinbarende Erkrankung“ (also, das was was teilweise harsch kritisiert wird, Long Covid ohne sichere COVID-19-Diagnose). In den anderen von mir (quer)gelesenen Artikeln werden aber teilweise stark divergierende Zeiträume genannt, ab denen die jeweiligen Autoren ein Long Covid-Syndrom annehmen. So findet man durchaus auch Arbeiten, die Long Covid postulieren, wenn ein Symptom 1-2 Wochen nach der festgestellten Infektion auftritt und innerhalb von 4 Wochen sich zurückbildet.

Diese uneinheitliche zeitliche Definition ist aber extrem problematisch, da natürlich eine Virusinfektion bei unterschiedlichen Menschen mit einer unterschiedlichen Dynamik verläuft und bei COVID-19 schon beim Wildtyp Krankheitsverläufe von zwei Wochen eher die Regel denn die Ausnahme waren (daran hatte sich ja die Quarantäne-Zeiten bemessen).

Ich persönlich finde die Einteilung in Long Covid für Symptome nach leichteren Krankheitsverläufen und Post Covid für anhaltende Symptome nach schwerer verlaufenden Infektionskrankheiten recht charmant, da der Begriff Long Covid in der öffentlichen Diskussion nahezu ausschließlich für anhaltende Symptome nach leichter Erkrankung benutzt wird.

Was ist denn dann nun Long Covid?

Wenn man das so definiert, wie ich gerade geschrieben habe, dann genau das: Anhaltende Symptome nach einem (nach RKI- oder WHO-Kriterien) leichten COVID-Infektionsverlauf, das heißt ohne Sauerstoffpflichtigkeit und in der Regel auch ohne stationäre Behandlungsbedürftigkeit. Wenn man dies voraussetzt, dann geht es um eigentlich eher unspezifisch anmutende Beschwerden wie eine anhaltende Müdigkeit (Fatigue), ein anhaltendes Krankheitsgefühl, trockener Husten, Kopfschmerzen und ein anhaltender Geruchs- und Geschmacksverlust. Ich füge an dieser Stelle mal die Tabelle aus dem Artikel von Franke et al. mit den häufigsten Long Covid-Symptomen ein:

SymptomHäufigkeit
Fatigue31-63%
Insomnie24-54%
Gelenkschmerzen27%
Muskelschmerzen /-schwäche23%
Angst/Depression18-23%
Gedächtnis-/Konzentrationsstörungen21%
Riech- und Geschmacksstörungen10-15%
Kopfschmerzen10%
Schwindel8&
Nach: Franke, C., Warnke, C., Gorsler, A., & Prüß, H. (2021). Neurologische Manifestationen bei Patienten mit Post-COVID-19-Syndrom. DGNeurologie4(4), 276–280. https://doi.org/10.1007/s42451-021-00345-3
Wo man weiterlesen kann

Venkatesan, P. (2021). NICE guideline on long COVID. The Lancet Respiratory Medicine, 9(2), 129. https://doi.org/10.1016/S2213-2600(21)00031-X
Franke, C., Warnke, C., Gorsler, A., & Prüß, H. (2021). Neurologische Manifestationen bei Patienten mit Post-COVID-19-Syndrom. DGNeurologie, 4(4), 276–280. https://doi.org/10.1007/s42451-021-00345-3

Was sagt die Literatur? Der Long Covid-Journal Club

Angesichts der zitierten Zahl von pubmed-Einträgen zuzüglich der unter anderem bei Twitter kommunizierten Preprints und den fehlenden „richtigen“ Metaanalysen (es gibt zwei, die man mit Einschränkungen verwenden kann, dazu aber gleich noch mehr) zu dem Thema kann das ganze nur kursorisch sein. Ich versuche mal die am häufigsten zitierten Arbeiten zu erwischen und sie kurz mit ihren Ergebnissen und Besonderheiten vorzustellen.

In Thorax veröffentlichte Studie mit Krankenhauspatienten

Mandal, S., Barnett, J., Brill, S. E., Brown, J. S., Denneny, E. K., Hare, S. S., Heightman, M., Hillman, T. E., Jacob, J., Jarvis, H. C., Lipman, M. C. I., Naidu, S. B., Nair, A., Porter, J. C., Tomlinson, G. S., & Hurst, J. R. (2021). ‘Long-COVID’: a cross-sectional study of persisting symptoms, biomarker and imaging abnormalities following hospitalisation for COVID-19. Thorax, 76(4), 396–398. https://doi.org/10.1136/thoraxjnl-2020-215818

Das ist eine Arbeit aus London, welche sich auf Patienten bezieht, die auf Grund einer COVID-19-Infektion stationär behandelt werden mussten und eine der ersten zu dem Thema. Naturgemäß muss man bei hospitalisierten Patienten von einem schweren COIVD19-Verlauf ausgehen. In der Londoner Arbeit wurden 385 Patienten untersucht, das mittlere Alter lag ziemlich genau bei 60 Jahren, 62% waren Männer (also typische COVID19-Krankenhauspatienten). Von diesen Patienten hatten 42% einen Bluthochdruck, 27% einen Diabetes mellitus, 17,5% ein Asthma bronchiale oder eine COPD. Es gab eine Untersuchung bei Einschluss in die Studie und ein Follow Up, welches nach 60-90 Tagen durchgeführt worden scheint (das wird nirgends klar benannt). Berichtet wurden v.a. die Kernsymptome Kurzluftigkeit, anhaltender Husten, Erschöpfung (Fatigue) und verminderte Schlafqualität. Knapp 60% der Betroffenen (die genaue Prozentzahl schwankt etwas, je nachdem, ob die Patienten nur Sauerstoff benötigten, eine CPAP-Beatmung oder eine Intubation) litten bei Einschluss in die Studie (also in der akuten Infektion) unter Kurzluftigkeit, gute 35% unter Husten, um die 70% an einer starken Erschöpfung und zwischen 61 und 77% an einer schlechten Schlafqualität. Bis zum Follow Up kam es bei allen vier Symptomen zu einer deutlichen Besserung und einer Abnahme der Intensität der Beschwerden, am eindrücklichsten bei der Atemnot (81% gaben eine Besserung an), ebenso bei Husten (75% Besserung) und Erschöpfung (80% Besserung), nur bei der verminderten Schlafqualität gaben nur 66% eine Besserung an. Das heißt aber auch im Umkehrschluss, dass von den stationär behandelten Patienten mit COVID19 19% keine Besserung der Luftnot, 24% keine Besserung des Hustens, 18,5% keine Besserung der Müdigkeit und 30% keine Besserung des Schlafes innerhalb von 60-90 Tagen verspürten.

Eine weitere Studie mit Krankenhauspatienten

Sykes, D. L., Holdsworth, L., Jawad, N., Gunasekera, P., Morice, A. H., & Crooks, M. G. (2021). Post-COVID-19 Symptom Burden: What is Long-COVID and How Should We Manage It? Lung, 199(2), 113–119. https://doi.org/10.1007/s00408-021-00423-z

In dieser Studie wurden 134 Patienten aus der ersten Krankheitswelle eines großen Krankenhauses in Großbritannien eingeschlossen. 2/3 der Patienten waren männlich, das mittlere Erkrankungsalter lag bei 58 Jahren. Die Patienten waren eher schwer betroffen (alle hatten radiologisch eine COVID-Pneumonie), 87% der Patienten benötigten Sauerstoff, 20% wurden intensivmedizinisch behandelt. Es gab vier Follow-Up-Visiten (47-75 Tage nach Einschluss, 76-100 Tage, 101-125 Tage und 126-167 Tage). Auch in dieser Studie wurde anhaltende Atemnot am häufigsten, von 60% der Probanden berichtet, dann Muskelschmerzen (51,5%), Angst (47,8%), anhaltende Müdigkeit (39,6%), eine depressive Stimmungslage (37,3%) und Schlafstörungen (35,1%). Frauen waren deutlich häufiger als Männer von anhaltenden Beschwerden betroffen, diese nahmen im Verlauf der Studie mit zunehmender Nachbeobachtungszeit in ihrer Häufigkeit und Ausprägung ab. CRP und Leukozytenzahl im Blut normalisierten sich bei nahezu allen (84%, bzw. 92%) im Verlauf, auch die ehemals COVID-typischen Röntgenveränderungen bildeten sich zu einem sehr großen Teil zurück (77% komplett normale Röntgen-Aufnahmen, 8% gebesserte Befunde, 15% anhaltende, aber unspezifische Veränderungen).

Die Autoren bildeten aus den angegebenen Beschwerden sogenannte Symptomcluster (A: Myalgien und anhaltende Müdigkeit, B: depressive Stimmungslage, Angst und Schlafstörungen, C: Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen). Nur für Cluster A konnte eine Geschlechtsabhängigkeit gezeigt werden (Frauen häufiger als Männer betroffen). Was die Autoren aber als Auffälligkeit identifizieren ist die fehlende Korrelation zwischen schwerem Krankheitsverlauf und anhaltenden Beschwerden. Sie ziehen einen Vergleich zur sogenannten „Gulf War Illness“ und dem „post-9/11 syndrome“, bei denen auch ähnliche Cluster aus körperlichen und psychischen Beschwerden aufgetreten seien und fragen:

Could psychological/neuropsychiatric elements be predominant in Long-COVID, akin to post- traumatic distress?

Sie schreiben weiter:

One must appreciate the importance of the biopsychosocial effects of COVID-19 and how they may precipitate the development of long-lasting symptoms affecting both physical and mental health. With the paucity of evidence available, we question whether Long-COVID exists as a new disease with distinct pathophysiology. We suggest it is a new manifestation of a well-recognised phenomenon that can be observed after other traumatic events, as opposed to the persistent effect of COVID-19.

Schon im Abstract heißt es dementsprechend:

The presence of long-lasting symptoms is common in COVID-19 patients. We suggest that the phenomenon of Long-COVID may not be directly attributable to the effect of SARS-CoV-2, and believe the biopsychosocial effects of COVID-19 may play a greater role in its aetiology.

Die Autoren ziehen die Analogie zum chronischen Müdigkeitssyndrom (zu dem kommen wir noch) und stellen fest, dass wenn die Long Covid-Symptome nach vier Monaten anhaltend wären, sie auch die formalen Diagnosekriterien für das chronische Müdigkeitssyndrom erfüllen würden.

Häufig zitierte Studie mit Krankenhauspatienten aus Großbritannien

Arnold, D. T., Hamilton, F. W., Milne, A., Morley, A. J., Viner, J., Attwood, M., Noel, A., Gunning, S., Hatrick, J., Hamilton, S., Elvers, K. T., Hyams, C., Bibby, A., Moran, E., Adamali, H. I., Dodd, J. W., Maskell, N. A., & Barratt, S. L. (2021). Patient outcomes after hospitalisation with COVID-19 and implications for follow-up: results from a prospective UK cohort. Thorax, 76(4), 399–401. https://doi.org/10.1136/thoraxjnl-2020-216086

Die Studie von Arnold et al. wird relativ häufig in anderen Veröffentlichungen zu Long Covid zitiert. Es handelt sich um eine britische Arbeit, in der prospektiv 163 Patienten mit positiver SARS-CoV2-PCR und stationärem Behandlungsbedarf in einem Krankenhaus in Bristol eingeschlossen wurden. 32 Probanden starben im Rahmen der Akuterkrankung, was auf insgesamt eher schwer betroffene Patienten hindeutet, von 131 Überlebenden, konnten 110 in den Follow Up-Visiten untersucht werden. Kongruent zu den anderen Studien wurden insbesondere Atemnot (passt zu den schwer betroffenen Patienten), Müdigkeit und verminderte geistige Belastbarkeit berichtet, nach 8-12 Wochen (im Vergleich zu den anderen Studien eher kurze Nachbeobachtungszeit) hatten noch 74% anhaltende Beschwerden. Auffälligkeiten in den apparativen Untersuchungsverfahren konnten nur bei 35% aller Patienten gefunden werden, bei leichter betroffenen Probanden ohne Sauerstoffbedarf sogar nur bei 7%.

Metaanalyse zu Krankenhauspatienten

Cares-Marambio, K., Montenegro-Jiménez, Y., Torres-Castro, R., Vera-Uribe, R., Torralba, Y., Alsina-Restoy, X., Vasconcello-Castillo, L., & Vilaró, J. (2021). Prevalence of potential respiratory symptoms in survivors of 70% und hospital admission after coronavirus disease 2019 (COVID-19): A systematic review and meta-analysis. Chronic Respiratory Disease, 18, 147997312110022. https://doi.org/10.1177/14799731211002240

Eine Metaanalyse zum Patientenkollektiv der Krankenhauspatienten (aber nicht zu leicht betroffenen Erkrankten) hat insgesamt 10 Studien berücksichtig, u.a. die zitierte von Mandal et al. Die Arbeit ist deutlich schlechter lesbar, da umständlicher in ihren Formulierungen und Aussagen. Sie ist aber wichtig, da zum Beispiel die gerade zitierten Prozentangaben von Mandal et al. hier immer am oberen Ende der Häufigkeiten zu sein scheinen. So hatten über alle in der Metaanalyse berücksichtigten Studien hinweg 37% der Patienten Luftnot (statt 60%), 14% Husten statt 35%, 52% eine vermehrte Erschöpfbarkeit statt 70%. Vorbestehende Atemwegserkrankungen lagen bei ca. 10 % der Patienten vor. Prinzipiell ließ sich die – erwartbare – Kausalität je schwerer der Krankheitsverlauf, desto schwerer die postinfektiösen Symptome beobachten, wobei dies weniger für Schlafstörungen und Erschöpfbarkeit gilt. Die Autoren schreiben hierzu:

The symptoms have a multifactorial origin. Their perception is due to organic component; however, their presence is also related to psychological and mental health factors. Thus, it is essential to consider the mental health of patients. D’Cruz et al. founded a post-traumatic stress disorder, anxiety and depression in 25, 22 and 18% of patients 2 months after severe COVID-19 pneumonia, respectively. These findings were confirmed by Huang et al., who described the same mental health disorders in addition to sleep difficulties in a 6-month follow-up.

Patienten, die auf der Intensivstation behandelt werden mussten und noch berufstätig waren, konnten im Schnitt nur zu 46% nach 3 Monaten wieder zur Arbeit zurückkehren. Dies klingt erst mal beeindruckend wenig, das sind aber 10% mehr als in Metaanalysen zu Patienten die auf der Intensivstation auf Grund anderer Erkrankungen behandelt wurden (vgl. Kamdar, B. B., Suri, R., Suchyta, M. R., Digrande, K. F., Sherwood, K. D., Colantuoni, E., Dinglas, V. D., Needham, D. M., & Hopkins, R. O. (2020). Return to work after critical illness: a systematic review and meta-analysis. Thorax, 75(1), 17–27. https://doi.org/10.1136/thoraxjnl-2019-213803).

Eine gut lesbare Studie zu eher leicht betroffenen Patienten

Sudre, C. H., Murray, B., Varsavsky, T., Graham, M. S., Penfold, R. S., Bowyer, R. C., Pujol, J. C., Klaser, K., Antonelli, M., Canas, L. S., Molteni, E., Modat, M., Jorge Cardoso, M., May, A., Ganesh, S., Davies, R., Nguyen, L. H., Drew, D. A., Astley, C. M., … Steves, C. J. (2021). Attributes and predictors of long COVID. Nature Medicine, 27(April). https://doi.org/10.1038/s41591-021-01292-y

Zu dieser Studie habe ich bei meiner Recherche nur positive Besprechungen gefunden. Sie ist hochrangig publiziert und sie macht sich als eine der ersten die Mühe, Long Covid einmal genau zu definieren und zwar als:

symptoms of fatigue, headache, dyspnea and anosmia.

Definiert wurde Long Covid als Symptompersistenz an Tag 28 nach Infektion und abgegrenzt von Short Covid, wo die Symptomatik an Tag 10 spätestens endete. Es gab in der Studie Nachbeobachtungszeitpunkte nach den erwähnten 28 Tagen und nach 8 und 12 Wochen. Eingeschlossen wurden hauptsächlich britische COVID-Patienten, welche die „COVID Symptom Study app“ benutzt haben. Knapp 14% der Studienteilnehmer wurden stationär behandelt, so dass der überwiegende Teil eher leichte Verläufe gehabt haben dürfte. Hauptaussage der Studie ist, dass von 4.182 eingeschlossenen COVID-positiv-getesteten Probanden 588 (13%) Symptome noch nach 28 Tagen hatten, 189 (4,5%) nach 8 Wochen und 95 (2,3%) noch nach 12 Wochen. Da der Hauptteil der Studienteilnehmer weiblich und unter 70 Jahren alt war, hat man sich die Mühe gemacht und die erhobenen Häufigkeitsangaben mit der Geschlechts- und Altersverteilung von Großbritannien zu adjustieren. Dann kommt man auf 14,5% der Infizierten mit Post-Covid-Symptomen nach 28 Tagen 5,1% nach 8 Wochen und 2,2% nach 12 Wochen.

Von den Studienteilnehmern, die von Post-Covid-Symptomen berichteten, klagte ein sehr großer Teil über Fatigue und episodische Kopfschmerzen (97%, bzw. 91%), dann erst folgten der Verlust des Geruchsinns und anhaltender Husten oder Kurzatmigkeit. 16% der Betroffenen berichteten von Rückfällen. Anders als bei anderen Studien gab es eine Kontrollgruppe mit negativer COVID-PCR, hier wurde in 11% von Rückfällen berichtet.

Hauptrisikofaktoren, für die Entwicklung eines Long Covid-Syndroms waren weibliches Geschlecht, ein schwerer Krankheitsverlauf, höheres Lebensalter und hoher Body Mass Index. Die Autoren haben ein Vorhersagetool entwickelt, ob ein Betroffener mit höherer Wahrscheinlichkeit Long Covid entwickelt, welches mit der Anzahl der Symptome in der ersten Krankheitswoche (Fatigue, Kopfschmerzen, Atemnot, Stimmprobleme und Muskelschmerzen), dem Alter und dem Geschlecht auskommt.

Große retrospektive Studie aus den USA

Daugherty, S. E., Guo, Y., Heath, K., Dasmariñas, M. C., Jubilo, K. G., Samranvedhya, J., Lipsitch, M., & Cohen, K. (2021). Risk of clinical sequelae after the acute phase of SARS-CoV-2 infection: retrospective cohort study. BMJ, 373, n1098. https://doi.org/10.1136/bmj.n1098

In dieser Studie wurden US-amerikanische Versicherungs-, Krankenhaus- und Labordaten retrospektiv eingeschlossen. Das Interessante an dieser Studie ist, dass es insgesamt drei Vergleichsgruppen gab und (das ist aber bei retrospektiven Studien auch leichter) ingesamt sehr hohe Fallzahlen in den einzelnen Gruppen (jeweils um 250.000). Neben der Gruppe mit positiver SARS-CoV2-Diagnose, wurde eine Vergleichsgruppe mit Daten aus 2020 und eine mit Daten aus 2019 gebildet, zudem eine Vergleichsgruppe mit Patienten, die einen anderen Infekt der unteren Atemwege erlitten hatten. Long Covid-Symptome hatten gut 14% der SARS-CoV2-positiven Probanden. Das ist ein Wert, der relativ im Mittelfeld der hier zitierten Studien rangiert. Das Spektrum der Symptome ähnelt dem der anderen Long Covid-Studien: Auf einem der ersten Plätze rangieren anhaltende Müdigkeit und verminderte körperliche Belastbarkeit.

Jetzt kommt aber das Interessante: In der Vergleichsgruppe mit anderen Atemwegsinfektionen lag diese Rate bei 12,35%, der Unterschied betrug also „nur“ 1,65%. Probanden ohne COVID-Diagnose entwickelten vergleichbare Beschwerden in ca. 10% der Fälle.

Daten der britischen Statistikbehörde

Ayoubkhani, D. (2021). Prevalence of ongoing symptoms following coronavirus ( COVID-19 ) infection in the UK : 1 April 2021 (Issue April). https://www.ons.gov.uk/peoplepopulationandcommunity/healthandsocialcare/conditionsanddiseases/bulletins/prevalenceofongoingsymptomsfollowingcoronaviruscovid19infectionintheuk/1april2021#prevalence-of-ongoing-symptoms-following-coronavirus-infection-in-the

Es handelt sich bei den Daten der britischen Statistikbehörde um einen fortlaufend aktualisierten Bericht, der offenbar immer die letzten vier Wochen vor Veröffentlichung berücksichtigt, in der zitierten Ausgabe also die vier Wochen vor dem 06. März 2021. In diesem Zeitraum wurden in Großbritannien 1,1 Millionen selbst berichtete Long Covid-Beschwerden registriert, was einer Prävalenz von 1,7% aller Briten entspricht.

Von den Studienteilnehmern, die positiv auf COVID-19 getestet wurden, war die Symptomprävalenz 12 Wochen nach der Infektion bei weiblichen Teilnehmern (14,7%) höher als bei männlichen Teilnehmern (12,7%) und bei den 25- bis 34-Jährigen (18,2%) am höchsten. Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe von COVID-negativen Briten gleicher Alters- und Geschlechtsverteilung waren die berichteten Beschwerden bei den ehemals Infizierten acht mal häufiger. Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialwesen wiesen neben Angehörigen sozial benachteiligter Schichten die höchste Prävalanzrate auf, ebenso Arbeitstätige mit vorbestellenden „signifikanten“ bestehenden Gesundheitsstörungen. Interessant zu der erhöhten Rate von Long Covid im Gesundheits- und Sozialsektor ist die Anmerkung

„High prevalence rates of self- reported long COVID among health and social care workers may also partly reflect increased awareness of long COVID among workers in these sectors.“

Am griffigsten ist vermutlich die Tabelle der Long Covid-Symptome nach Altersgruppen und Geschlecht, was wiederum vermutlich die Häufigkeiten sind, die u.a. Karl Lauterbach verwendet hat.

Betroffene Infizierte (Mittelwert, in %)
Männer12,7
Frauen14,7
2 bis 11 Jahre7,4
12 bis 16 Jahre8,2
17 bis 24 Jahre11,5
25 bis 34 Jahre18,2
35 bis 49 Jahre16,1
50 bid 69 Jahre16,4
über 70 Jahre11,2
nach: Ayoubkhani, D. (2021). Prevalence of ongoing symptoms following coronavirus ( COVID-19 ) infection in the UK : 1 April 2021 (Issue April). https://www.ons.gov.uk/peoplepopulationandcommunity/healthandsocialcare/conditionsanddiseases/bulletins/prevalenceofongoingsymptomsfollowingcoronaviruscovid19infectionintheuk/1april2021#prevalence-of-ongoing-symptoms-following-coronavirus-infection-in-the

Populationsbezogene Studie aus der Schweiz

Menges, D., Ballouz, T., Anagnostopoulos, A., Aschmann, H. E., Domenghino, A., Fehr, J. S., & Puhan, M. A. (2021). Burden of post-COVID-19 syndrome and implications for healthcare service planning: A population-based cohort study. PLOS ONE, 16(7), e0254523. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0254523

Es handelt sich um eine prospektive Studie aus Zürich, in die 431 Erwachsene, die in der ersten Krankheitswelle im Frühjahr 2020 erkrankten, eingeschlossen wurden. 19% der Betroffenen mussten stationär behandelt werden, der Rest konnte im ambulanten Setting verbleiben. Nach 6-8 Monaten hatte ein Viertel der Probanden weiterhin anhaltende Beschwerden. Initial waren von einem Long Covid-Syndrom 55% mit vermehrter Müdigkeit und 26% mit depressiven Symptomen betroffen. Auch in der Schweizer Studie war weibliches Geschlecht ein Risikofaktor für die Entwicklung eines Long Covid-Syndroms. Im Vergleich zu anderen Studien finden sich in der Schweizer Studie sehr hohe Prozentwerte an Long Covid-Symptomen.

Prospektive Studie aus Norwegen

Blomberg, B., Mohn, K. G.-I., Brokstad, K. A., Zhou, F., Linchausen, D. W., Hansen, B.-A., Lartey, S., Onyango, T. B., Kuwelker, K., Sævik, M., Bartsch, H., Tøndel, C., Kittang, B. R., Madsen, A., Bredholt, G., Vahokoski, J., Fjelltveit, E. B., Bansal, A., Trieu, M. C., … Langeland, N. (2021). Long COVID in a prospective cohort of home-isolated patients. Nature Medicine. https://doi.org/10.1038/s41591-021-01433-3
In dieser Studie wurde ein Großteil der stationär und ambulant behandelten COVID-Fälle der ersten Krankheitswelle in und um Bergen prospektiv eingeschlossen. 312 Patienten schlossen die Studie ab, davon waren 247 Patienten ambulant und 65 stationär behandelt worden. Bei Karl Lauterbach und Co wurde die Studie gerne zitiert, weil nach 6 Monaten 61% der Patienten noch mindestens ein Symptom angaben, aber auch immerhin 52% (31 Probanden von 61) der eingeschlossenen jungen, eigentlich nur leicht betroffenen, jungen Erwachsenen. Am häufigsten wurde bei ihnen ein Geschmacks- und Geruchsverlust angegeben (28%, 17/61), dann anhaltende Müdigkeit (21%, 13/61), Dyspnoe (13%, 8/61), Konzentrationsstörungen (13%, 8/61) und Gedächtnisprobleme (11%, 7/61). Insgesamt gestalteten die Ergebnisse sich so, dass initial schwer betroffene Patienten auch am schwersten betroffen waren. Kinder und Jugendliche waren kaum betroffen, allerdings bestand die Studienpopulation auch nur aus 16 Probanden, welche jünger als 16 Jahre waren.
Insgesamt fokussieren sich die Autoren auf die jüngeren Probanden und betonen z.B. dass die Prävalenz von chronischer Müdigkeit in der norwegischen Bevölkerung sonst zwischen 11-14% liege. Die Autoren vergleichen die von ihnen ermittelte Häufigkeit chronischer Müdigkeit mit Untersuchungen zu chronischen Erschöpfungssyndromen nach Influenza, EBV und Dengue-Fieber und kommen zu dem Schluss, dass die Prävalenz bei COVID deutlich über der der anderen Erkrankungen liege.

Eine Studie aus Köln zu dem Thema

Augustin, M., Schommers, P., Stecher, M., Dewald, F., Gieselmann, L., Gruell, H., Horn, C., Vanshylla, K., Cristanziano, V. Di, Osebold, L., Roventa, M., Riaz, T., Tschernoster, N., Altmueller, J., Rose, L., Salomon, S., Priesner, V., Luers, J. C., Albus, C., … Lehmann, C. (2021). Post-COVID syndrome in non-hospitalised patients with COVID-19: a longitudinal prospective cohort study. The Lancet Regional Health – Europe, 6(January), 100122. https://doi.org/10.1016/j.lanepe.2021.100122

Diese Studie existierte bislang nur als Preprint, nun wurde sie allerdings auch regulär veröffentlicht.

Eingeschlossen wurden 958 Patienten mit PCR-bestätigter COVID-Infektion, die allesamt leicht betroffen waren. Die Patienten waren mit 31 bis 54 Jahren eher jung. Diese wurden sieben Monate lang nachbeobachtet. Long Covid wurde hier definiert als eines der folgenden Symptome nach durchgemachter COVID-Infektion: Geruchs- oder Geschmacksverlust, Fatigue oder Atemnot).

Von den eingeschlossenen Patienten gaben 8,6% nach vier Monaten anhaltende Luftnot 12,4% einen anhaltenden Geruchsverlust und 9,7% eine Fatigue an. In Bezug auf die Gesamtpopulation der eingeschlossenen Patienten ergab sich eine Rate von 12,8% mit Long Covid-Symptomen nach vier Monaten. Die sieben-Monats-Daten zeigen sogar leicht steigende Häufigkeiten: 13,6% berichteten von Luftnot, 14,7% von einer Geruchsstörung und ebenfalls 14,7% von Fatigue. Frauen waren – wie in den anderen Studien auch – öfters betroffen, nach sieben Monaten konnten 11% der Long Covid-Patienten nicht vollständig am zuvorigen Alltags- und Arbeitsleben teilnehmen.

Die Autoren betonen, dass die Post Covid-Symptome von Patienten mit erfolgter Krankenhaus- und insbesondere mit Intensivstationsbehandlung oft durch die schwere der Erkrankung und ggfs. eine mechanische Beatmung erklärbar seien, dies sei bei den von Ihnen beschriebenen Patienten anders.

Die Studie hat meines Erachtens mehrere eklatante methodische Schwächen: Eingeschlossen wurden in kurzer Zeit möglichst viele Probanden, dafür hat man über die öffentlichen Medien zur Studienteilnahme aufgerufen (vermutlich sehr verzehrte Studienpopulation hierdurch). Von 958 Probanden sind nur 442 zur zweiten Visite und nur 353 zur dritten Visite nach sieben Monaten erschienen, es haben demnach nur 36% der Probanden die Studie abgeschlossen. Und es gibt keine Kontrollgruppe.

Wenn man die Studie harsch kritisiert hat man also gemessen, dass 34,8% derjenigen, die nach milder COVID-Infektion bei sich selber ein Long Covid-Syndrom vermutet haben und sich daher zu der Studienteilnahme bereiterklärt und die Studie auch abgeschlossen haben, nach sieben Monaten noch irgendein Post-Covid-Syndrom hatten. Was das jetzt besagt, sei mal dahingestellt. v.a. wenn man berücksichtigt, dass 2/3 der Probanden die Studie nie abgeschlossen haben und die Selektion der Studienpopulation in keinster Weise repräsentativ für die deutsche (oder Kölner) Bevölkerung war.

Eine Heidelberger-Studie

Seeßle, J., Waterboer, T., Hippchen, T., Simon, J., Kirchner, M., Lim, A., Müller, B., & Merle, U. (2021). Persistent symptoms in adult patients one year after COVID-19: a prospective cohort study. Clinical Infectious Diseases, 1–10. https://doi.org/10.1093/cid/ciab611

Die Heidelberger Studie hat mit die höchsten Prozentangaben von Long Covid-Symptomen auch nach vielen Monaten Nachbeobachtungszeit. Dementsprechend wird sie aus einer bestimmten medizinischen und politischen Ecke besonders häufig zitiert:

Eingeschlossen wurden prospektiv 96 Patienten mit positiver SARS-CoV2-PCR fünf Monate nach der Infektion. Bis 12 Monate nach Infektion fand eine Nachbeobachtung statt. Knapp ein Drittel der Patienten wurde im Krankenhaus behandelt, 55% der Probanden waren weiblich (was für Patienten der ersten Krankheitswelle nicht repräsentativ ist, siehe auch die anderen Studien mit ungefähr 60% männlichen Teilnehmern).

Nach 12 Monaten wurde nur bei knapp 23% der Probanden eine völlige Beschwerdefreiheit angegeben, ansonsten waren die häufigsten Symptome reduzierte körperliche Leistungsfähigkeit (56,3%), Müdigkeit (53,1%), Kurzluftigkeit (37,5%), Konzentrations- (39,6%), Wortfindungs- (32,3%) und Schlafstörungen (26,0%). Auch in dieser Studie waren Frauen weitaus häufiger als Männer von anhaltenden Beschwerden betroffen. Bei knapp 40% der Probanden konnte auch nach 12 Monaten ein mindestens leicht erhöhter ANA-Titer (> 1:160) als rheumatologischer Screening-Paramter festgestellt werden. Die erhöhten ANA-Titer waren signifikant mit anhaltenden Beschwerden assoziiert. Die Autoren schließen auf eine autoimmunologische (Mit)Ursache von Long Covid.

Eine deutsche retrospektive Studie mit leichter betroffenen Patienten

Jacob, L., Koyanagi, A., Smith, L., Tanislav, C., Konrad, M., van der Beck, S., & Kostev, K. (2021). Prevalence of, and factors associated with, long-term COVID-19 sick leave in working-age patients followed in general practices in Germany. International Journal of Infectious Diseases, 109, 203–208. https://doi.org/10.1016/j.ijid.2021.06.063

Es handelt um die größte mir bekannte Studie aus Deutschland. Es wurden Registerdaten von 30.950 gesetzlich versicherten Patienten, bei denen zwischen März 2020 und Februar 2021 in einer von 1.255 Allgemeinmedizin-Praxen COVID-19 diagnostiziert wurde. Auch in dieser Studie waren Frauen öfter als Männer eingeschlossen, die Patienten waren mit einem mittleren Alter von 41,5 Jahren relativ jung. Die Häufigkeit von Long Covid wurde anhand der Dauer der Krankschreibung auf Grund einer COVID-Infektion approximiert, ab vier Wochen Arbeitsunfähigkeit ging man von Long Covid aus. Dies betraf 5,8% der Patienten, was im Vergleich zu den anderen Studien relativ gering erscheint. Allerdings wird man vermutlich auf Grund einer anhaltenden Geschmacksstörung nicht krankgeschrieben werden, so dass hier eher schwerere Long Covid-Verläufe erfasst sein dürften.

Weibliches Geschlecht, höheres Lebensalter, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, depressive und Anpassungsstörungen, Diabetes mellitus, Refluxkrankheit, atopisches Ekzem, arterielle Hypertonie und bestehende Mononeuropathien (?! interessant) waren mit einem höheren Risiko für Long Covid assoziiert.

Oft zitiert und oft kritisiert: Die Studie mit dem Internetfragebogen

Davis, H. E., Assaf, G. S., McCorkell, L., Wei, H., Low, R. J., Re’em, Y., Redfield, S., Austin, J. P., & Akrami, A. (2020). Characterizing long COVID in an international cohort: 7 months of symptoms and their impact. MedRxiv. https://doi.org/10.1101/2020.12.24.20248802

Das hier ist der Tweet, weshalb ich überhaupt was zu Long Covid schreibe:

Ich kannte diese Studie – die weiterhin nur als Preprint erhältlich ist – vorher nur ganz oberflächlich, wusste aber, dass sie auf Grund ihres Studiendesigns

„International web-based survey of suspected and confirmed COVID-19 cases with illness lasting over 28 days and onset prior to June 2020“

und des -settings:

„Survey distribution via online COVID-19 support groups and social media“

an verschiedenen Stellen heftig kritisiert wurde und nun postet Karl Lauterbach den Link zu dieser Arbeit mit den Worten „Bisher beste Langzeitstudie dazu“. Habe ich mich sofort furchtbar drüber aufgeregt. Aber was steht eigentlich drin?

Die Studie wurde von Betroffenen, die selber an einem Long Covid-Syndrom leiden, konzipiert und durchgeführt. Sie beruht auf einem Onlinefragebogen, der öffentlich zugänglich war. Aus verschiedenen Social Media-Plattformen wurde auf den Fragebogen verlinkt, dieser in diverse Sprachen übersetzt. Der Fragebogen selber erscheint sehr umfangreich mit 257 Fragen und einer mittleren Bearbeitungsdauer von 69 Minuten. Neben dem Studiendesign, dem erwartbaren confirmation bias, da die Studie von Betroffenen durchgeführt und veröffentlicht wurde, ist der allergrößte Kritikpunkt dieser:

„In addition to positively tested subjects (n=1,020, either diagnostic (RT-PCR/antigen, Table 1) or antibody), we included participants with absent (n=1,819) or negative test results (n=923, diagnostic and antibody), since the prevalence of 203 symptoms (out of 205, see Section “Symptoms by test results”), as well as symptom trajectory (Figure 7) and the survival functions (Figure 1a), were not significantly different between diagnostic/antibody positive and negative or untested groups.“

Positiv getestet (PCR, Schnelltest oder Antikörper-Nachweis) wurden insgesamt nur 27% der Teilnehmer. Dass sich die Ergebnisse faktisch nicht unterscheiden, zwischen SARS-CoV2-negativen und -positiven Studienteilnehmern bis auf die Geruchs- und Geschmacksstörung, könnte man eigentlich als komplettes Scheitern der Studie auffassen, allerdings tun das die Autoren nicht. Die stellen einfach fest:

„While the majority of participants did not report receiving a positive SARS-CoV-2 diagnostic or antibody test result, our analysis confirms that this is not a limitation of our study; rather, it is a limitation of the availability and accuracy of SARS-CoV-2 tests“.

Von den Studienteilnehmern wurden nur 8,4% stationär aufgenommen, alle anderen waren im ambulanten Setting behandelt worden, was auf eher leichte COVID-Infektionen schließen lässt. 79% der Teilnehmer waren weiblich, zwischen 30 und 59 Jahre alt und weiß. Die Nachbeobachtungszeit erstreckt sich mittlerweile über 7 Monate. 96% der Teilnehmer berichteten von anhaltenden Post Covid-Symptomen, 85% von Rückfällen nach anfänglicher Besserung, 45% eine eingeschränkte Arbeitsfähigkeit und 22% eine fehlende Arbeitsfähigkeit. Die meisten Symptome waren laut Angabe der Studienteilnehmer milder Natur, die eh geringe Rate von schweren persistierenden Symptomen hat sich n der Studie innerhalb von vier Monaten nahezu null angenähert, stieg ab Monat sechs dann aber wieder an. Abgefragt wurden so ungefähr alle denkbaren Symptome inclusive

„Decrease in size of testicles/penis“,

was ich auch für ein extrem nachvollziehbares Post-Covid-Symptom halte. Hübsch ist auch die Grafik in der explizit keine neuropsychiatrischen Symptome aufgeführt würden und dann kommt da Fatigue, anhaltendes Krankheitsgefühl, Missempfindungen der Haut, sexuelle Dysfunktion, Tunnelblick, Doppelbilder und Appetitverlust vor. Da freut sich das Neurologenherz und das des Psychosomatikers umso mehr.

Was interessant ist, da ja in erster Linie leicht betroffene COVID-Patienten und Menschen, die nur vermutet haben, eine COVID-Infektion durchgemacht zu haben, in die Studie eingeschlossen wurden, ist, dass Fatigue mit einer Häufigkeit von 80% über sieben Monate konstant persistierte, ebenfalls ein anhaltendes Krankheitsgefühl (hier niedriger Beginn mit 30% Häufigkeit, dann bis Woche acht Anstieg auf 70%, seither konstant), sowie Gedächtnisstörungen und „brain fog“ (gleiche Dynamik wie das anhaltende Krankheitsgefühl) während pulmonale und gastrointestinale Beschwerden sich bis auf einen trockenen Reizhusten, der bei 40% persistiere, zurückgebildet hätten.

Die Preprint-Metaanalyse

López-León, S., Wegman-Ostrosky, T., Perelman, C., Sepulveda, R., Rebolledo, P. A., Cuapio, A., & Villapol, S. (2021). More than 50 Long-Term Effects of COVID-19: A Systematic Review and Meta-Analysis. MedRxiv, 1–22. https://doi.org/10.2139/ssrn.3769978

In der Metaanalyse wurden 15 Studien eingeschlossen, 19 auf Grund von Fallzahlen unter 100 ausgeschlossen, zudem die Internet-Fragebogen-Studie auf Grund der erwähnten methodischen Mängel. Kernaussage der Metaanalyse ist, dass Fatigue, Kopfschmerzen, Aufmerksamkeitsstörungen, Haarverlust und Dyspnoe am häufigsten auftreten. 80% der COVID-Infizierten würden mindestens ein Symptom oder auffälligen Laborparameter haben. Leider findet sich in der gesamten Metaanalyse keine Prozentangabe der einzelnen Symptome oder Laborauffälligkeiten, was die Arbeit m.E. insgesamt wenig hilfreich macht.

Und nun? Ein Zwischenfazit

Gemeinsamkeiten der Long Covid-Studien

Es fällt auf, dass sich die unter Long Covid subsumierten Symptome in den verschiedenen Untersuchungen durchaus ähneln. In der Regel geht es um anhaltende Müdigkeit, verminderte körperliche Belastbarkeit, depressive Symptome und mal mehr und mal weniger um Palpitationen (bzw. Herzrhythmusstörungen). In den Untersuchungen, welche sich auf die ersten beiden Erkrankungswellen mit dem Wildtyp fokussieren, werden auch öfters anhaltende Geschmacks- und Geruchsstörungen berichtet, was bei den bislang pandemischen Virusvarianten alpha und delta ja aber offenbar nicht mehr so ein häufiges Symptom ist.

Es fällt auch auf, dass auch bei offeneren und umfangreicheren Symptomabfragen die häufigsten Symptome immer die zitierten bleiben. Das heißt, das man vermutlich die Definition von Long Covid so stehen lassen kann wie sie ist und auch die mit Long Covid attributierten Symptome valide reproduzierbar scheinen.

Drittens beschreiben die meisten Studien eine Besserung und Regredienz der Beschwerden, in der Regel gilt: Je schwerer ein Patient betroffen war und je mehr strukturelle Organschäden entstanden sind, desto länger dauert die Restitution und umso ungewisser ist auch eine vollständige Erholung. Und je leichter ein Patient betroffen war und umso unspezifischer die Beschwerden, desto besser sind die Chancen einer kompletten Rückbildung der Symptome. Es gibt aber eine Ausnahme und damit kommen wir zum letzten Punkt:

Viertens scheinen die Risikofaktoren, ein Long Covid-Syndrom zu entwickeln reproduzierbar: Weibliches Geschlecht, ein Alter zwischen 25 und 69 Jahren, Adipositas, vorbestehende depressive Störungen und vorbestehende Traumafolgestörungen erhöhen das Risiko für Long Covid und insbesondere für besonders lang anhaltende Beschwerden nach einer COVID-19-Infektion offenbar deutlich.

Unterschiede der Long Covid-Studien

Die Häufigkeitsangaben der Long Covid-Symptome variieren hingegen beträchtlich. Und zwar so, dass man ohne wirklich gute Statistik-Kenntnisse die Studienergebnisse hinsichtlich der angegebenen Häufigkeiten kaum unter einen Hut bringen wird. Ich kann so was überhaupt nicht, daher warte ich (ein bisschen sehnsüchtig) auf eine peer reviewte Metaanalyse, die das macht. Im April schien sich die Long Covid-Häufigkeit in den verschiedenen Arbeiten um gute 10 bis knappe 15% der Infizierten einzupendeln, mittlerweile erscheint die Spanne der Häufigkeitsangaben weitaus größer.

Woran kann das liegen? Ich habe versucht, so gut es mir möglich war zu verstehen, was Gründe für die sehr unterschiedlichen Häufigkeitsangaben in den einzelnen Studien sein könnten. Hier meine Beobachtungen:

Gibt es eine Vergleichsgruppe?

Wenige Studien haben eine Vergleichsgruppe. Das ist aber interessant, weil viele Long Covid-Symptome erst einmal unspezifisch sind und eben auch ohne COVID-Erkrankung auftreten können. Hier helfen die amerikanische retrospektive und die norwegische prospektive Studie weiter. In der amerikanischen Studie gab es ja zwei Prä-Covid-Vergleichsgruppen und eine Vergleichsgruppe mit anderen viralen Atemwegsinfekten der unteren Atemwege. Hier wurde eine Prävalenz von typischen Long Covid-Symptomen auch ohne COVID-Diagnose in der Bevölkerung um 10% herausarbeitet, von 14% bei SARS-CoV2-positiven Probanden und von 12,65% bei anderen Atemwegsinfekten. In der norwegischen Studie wurde dies nur für das anhaltende Erschöpfungssyndrom getan. Hier lagen junge Erwachsene nach COVID-Infektion bei 21% gegenüber 11-14% in der Normalbevölkerung.
Demnach wäre das „Mehr“ an postinfektiösen Symptomen bei COVID in der amerikanischen Studie gerade mal 1,35% gegenüber anderen Infekten und 5% gegenüber der Normalbevölkerung ohne COVID. Bei der norwegischen Studie läge das „Mehr“ dann bei ca. 10% für das chronische Erschöpfungssyndrom gegenüber der Prävalenz in der Normalbevölkerung.

Sehr unterschiedliche Probanden-Populationen

Die Grundgesamtheiten der Probanden-Populationen unterscheiden sich teilweise erheblich. Studien, die ihre Probanden aus Long Covid-Ambulanzen rekrutieren, liefern deutlich höhere Long Covid-Prävalenzen als andere Studien. Am „schlimmsten“ sieht es bei der Internetfragebogen-Studie aus. Ausnahme ist hier die Züricher Studie, die sehr hohe Prävalenzen auch bei einem bevölkerungsbezogenen Ansatz ergab.

Es scheint zudem eine große Rolle zu spielen, ob eine Geschlechts-Adjustierung auf die Gechlechterverteilung von COVID-Infektionen in der Normalbevölkerung stattgefunden hat oder nicht. Mehrere Studien haben einen sehr hohen Anteil weiblicher Probanden, eigentlich alle Studien zeigen, dass Frauen erheblich häufiger als Männer von Long Covid-Symptomen betroffen sind, Männer erkranken aber eher und schwerer an COVID-19. Wenn man das nicht berücksichtigt, resultieren relativ hohe Long Covid-Prävalenzen.

Was wird überhaupt gemessen? Ist das, was gemessen wird überhaupt relevant?

In vielen Studien geht es darum, ob nach einem Zeitpunkt X mindestens ein Symptom, welches mit Long Covid assoziiert ist, vorhanden ist. Hier ergeben sich zwei Probleme: Die relativ hohe Prävalenz der eigentlich unspezifischen Long Covid-Symptome in der Normalbevölkerung (siehe oben) und die Sache mit den Geruchs- und Geschmacksstörungen.

Hierzu ein Beispiel aus eigener Erfahrung: Nachdem ich erst überzeugt war, dass ich meine COVID-Infektion ohne Folgeschäden überstanden habe, ist mir nun doch aufgefallen, dass mein Geschmacksempfinden retrospektiv seit der Infektion doch nicht wieder ganz hergestellt scheint (ich hatte zwischenzeitlich einen relativ starken Geruchs- und Geschmacksverlust): So hat z.B. Cola jetzt einen ganz eigenartig unangenehmen Nachgeschmack im Abgang und verschiedene Dinge schmecken „seifig“, z.B. Bohnen. Die Frage ist nur: 1. Interessiert das überhaupt einen großen Geist, inclusive mich. Ist eh besser, wenn ich keine Cola trinke. 2. Ist das wirklich ein Long Covid-Symptom oder kommt mir das retrospektiv nur so vor und Bohnen und Cola haben schon immer so geschmeckt? 3. Hat das irgendeinen negativen Einfluss auf mein weiteres Leben und meine Lebensqualität? Nein, eher nicht. Dennoch könnte ich jetzt bei einer Long Covid-Studie unter Umständen ein Symptom angeben und würde somit als Long Covid-Fall zählen.

In diesem Punkt kann die retrospektive Studie aus Deutschland ggfs. Anhaltspunkte geben, bei denen knapp 6% der COVID-Patienten längerfristig krankgeschrieben waren, vermutlich auf Grund schwerer Long Covid-Beschwerden.

Über- und Unterschätzung von Long Covid-Symptomen

Die retrospektiven Arbeiten sind ja auf die Dokumentation/Codierung von Long Covid-Symptomen angewiesen. Wenn die initial behandelnden Ärzte diese Symptome entweder nicht erfragt haben oder – weil sie sie als „normalen Krankheitsverlauf“ aufgefasst haben nicht dokumentiert haben, werden sie nicht erfasst. Dadurch neigen diese Arbeiten zum systematischen Unterschätzen von Long Covid-Symptomen. Behelfen kann man sich, wenn man wie in der amerikanischen Register-Studie gute Vergleichsgruppen bildet, bei denen der selbe systematische Fehler auch gemacht wird und dann die Differenz der angegebenen Häufigkeiten bildet (in der Studie also 5% Long Covid-Symptome gegenüber der Normalbevölkerung und 1,35% gegenüber anderen Virusinfekten der unteren Atemwege).

Studien mit aktiver Probanden-Befragung werden die Häufigkeiten von Long Covid hingegen eher überschätzen, siehe auch mein Beispiel von gerade eben mit meiner Geschmacksstörung. Wenn man es ganz offen lässt wie in der Internetfragebogen-Studie, resultieren dann unter Umständen auch so skurrile Long Covid-Symptome wie die abnehmende Penisgröße.

Und nun? Wie soll man mit Long Covid-Studien umgehen, die jemand zitiert oder als Argumentationsgrundlage benutzt?

Bei den heterogenen Studienergebnissen (was die Long Covid-Häufigkeiten betrifft) und der sehr emotional aufgeladenen öffentlichen Debatte hierzu bleibt eigentlich nur das Warten auf eine auch offiziell veröffentlichte Metaanalyse. Ansonsten muss man sich am ehesten jeweils anschauen, wer und mit welcher Intention welche Studie gerade zitiert. Meines Erachtens geschieht das beim Thema Long Covid in einem Großteil der Fälle mit einem Hintergedanken dabei (in die eine oder die andere Richtung). Und man wird die Studien (die ja erfreulicherweise überwiegend open access sind) wohl oder übel selber lesen müssen, wenn man sich eine fundierte Meinung bilden möchte.