Parkinson für Dummies 05: Schmerz und Parkinson

Nach langer Zeit geht es mit der Parkinson-Mini-Serie weiter. Dazu verwurste ich mal einen Artikel, den ich schon vor einiger Zeit mal als Paper konzipiert hatte, den aber bis auf so eine extrem abgespeckte Version im Hamburger Ärzteblatt (Link) niemand je so richtig haben wollte.

Epidemiologie von Schmerzen bei Parkinson

Schmerzen beim idiopathischen Parkinson-Syndrom werden zu den nicht-motorischen Symptomen gezählt, so wie die Obstipationsneigung, die Riech- und REM-Schlaf-Verhaltensstörung und die häufige orthostatische Dysregulation. Die nicht-motorischen Symptome standen lange Jahre sehr im Hintergrund und wurden erst in der letzten Zeit wieder zunehmend mehr beachtet. Und wie in allen Parkinson-Artikeln kann man auch in diesem Artikel an dieser Stelle dann was mit James Parkinson schreiben. Ich versuche das mal standesgemäß:

Dies ist in so fern erstaunlich, da die nicht motorischen Symptome schon in der Erstbeschreibung der Erkrankung durch James Parkinson 1817 einen gewichtigen Stellenwert eingenommen haben, selbst Schmerzen bei Parkinson als „schmerzhafte rheumatoide Beschwerden“ zumindest in einem Halbsatz erwähnt wurden.

Je nach Studie leiden dabei bis zu 85% aller Parkinson-Patienten an chronischen Schmerzen, im Gegenzug zu durchschnittlich 19% der Menschen in der europäischen Gesamtbevölkerung (was mir extrem viel vorkommt by the way). Für 25% der Parkinson-Erkrankten sind Schmerzen bei Parkinson eines der drei am relevantesten Beschwerden, für knapp 10% sogar die relevanteste Einschränkung, noch vor den motorischen Symptomen. Das Vorhandensein chronischer Schmerzen geht wiederum stark mit einer Einschränkung der Lebensqualität einher. Weibliches Geschlecht, eine komorbide depressive Störung, motorische Wirkfluktuationen und bestimmte genetische Konstellationen scheinen das Auftreten von Schmerzen bei Parkinson zu begünstigen.

Viele Parkinson-Erkrankte leiden an mehreren Schmerzqualitäten. Insgesamt werden die Häufigkeiten der einzelnen Schmerzen, welche in den verfügbaren Studien erheblich variieren (meist bei Möglichkeit von Mehrfachnennungen) in etwas wie folgt angegeben: Muskuloskelettale Schmerzen treten am häufigsten auf und werden in 41-70 % der Fälle berichtet, Schmerzen im Rahmen von motorischen Wirkfluktuationen in 17-40 %, radikuläre Schmerzen in 27-35% und Schmerzen, welche als zentrale Schmerzen klassifiziert werden (siehe unten), machen 10-20 % aus.

Pathophysiologie von Schmerzen bei Parkinson

Schmerzen bei Parkinson-Syndromen entstehen durch mehrere Mechanismen. Zum einen scheint es es durch Fehl- und Schonhaltungen häufiger als in der Normalbevölkerung muskuloskelettale und radikuläre Schmerzen zu geben, zum anderen verursacht die Parkinson-Erkrankung selbst offenbar häufig Schmerzen, was sich mit den in den letzten 10 Jahren gewonnenen Erkenntnissen über die pathophysiologischen Mechanismen neurodegenerativen Erkrankungen plausibel erklären lässt (also die Prion-artige Ausbreitung pathogener Eiweiße im ZNS). Wer hier noch wenig bewandert ist, kann dazu etwas im Blogeintrag zu Braak & Co nachlesen). Sehr früh, noch vor dem Beginn erster motorischer Kernsymptome lassen sich Lewy-Körperchen (also pathogenes alpha-Synuclein) im Riechhirn und im enterischen Nervensystem nachweisen, dann aszendierend über den Nervus vagus im Hirnstamm in den Kerngebieten des Nervus vagus und von dort sich über Hirnstamm, Mittel- und Zwischenhirn zum Großhirn ausbreitend. Zurück zum Schmerz: Das schmerzverarbeitenden afferenten Faserverbindungen werden in zwei Bahnsysteme unterteilt: Das mediale und das laterale System (das hatte ich hier auch schon mal erklärt). Das mediale System ist in die kognitive und affektive Schmerzverarbeitung, das Schmerzgedächtnis und in autonome Antworten auf Schmerzreize eingebunden. Im lateralen System werden insbesondere Informationen zum Schmerzort und zur Dauer des Schmerzreizes verarbeitet. Die absteigenden, schmerzhemmenden, Fasern als dritter Teil des schmerzverarbeitenden Systems verlaufen wiederum vom periaquäduktalen Grau, über den Locus caeruleus zum Rückenmark.

Bringt man diese Beobachtungen der Grundlagenforschung zusammen, wird deutlich, dass bei der Parkinson-Krankheit im Rahmen der sich ausbreitenden alpha-Synuklein-Pathologie schon sehr früh im Krankheitsverlauf schmerzverarbeitende Systeme von Neurodegeneration betroffen sind und sich hierüber – neben mechanischen Krankheitskonzepten insbesondere bei muskuloskelettalen Schmerzen – das häufige Auftreten von durch die Grunderkrankung bedingter Schmerzen erklären.

King’s Parkinson’s Disease Pain Scale

Zur Erfassung von Schmerzen bei Parkinson existierte lange Zeit kein validiertes Scoring-Instrument. In der Non-motor Symptoms Questionnaire und Scale als gängigster Score zur Erfassung nicht motorischer Symptome werden Schmerzen lediglich im Selbstauskunftsbogen in einer Frage thematisiert, ansonsten wird auf das Phänomen Schmerz bei Parkinson nicht weiter eingegangen.

Für den englischen Sprachraum wurde am King’s College in London eine semiquantitative Skala entwickelt, die seit kurzem auch in einer konsentierten Übersetzung vorliegt. In sieben Domänen werden 14 Items zu den Themen muskuloskelettale Schmerzen, chronische Schmerzen, Schmerzen im Rahmen von Wirkfluktuationen, nächtliche Schmerzen, orofaziale und abdominelle Schmerzen, Schmerzen durch Ödeme und radikuläre Schmerzen. Für alle 14 Items können der Schweregrad in den Stufen 0-3 (keine Beschwerden, leicht Beschwerden, mäßige Beschwerden, schwere Beschwerden) und die Häufigkeit in den Stufen 0-4 (nie Schmerzen, seltener als 1 x wöchentlich, 1 x wöchentlich, mehrere Male wöchentlich, täglich) angegeben werden. Beide Punktwerte werden miteinander multipliziert. Am Ende wird aus allen 14 Punktwerten die Gesamtsumme gebildet.

Schmerzarten bei Parkinson und ihre Therapie

Muskuloskelettale Rückenschmerzen

Muskuloskelettale Schmerzen machen – wie erwähnt – den größten Teil der Schmerzen bei Parkinson-Erkrankungen aus, am häufigsten ist der untere Rücken betroffen, aber auch die Schulter-Nacken-Region, Hüfte und Knie werden häufig als Schmerzorte angegeben. Typisch für muskuloskelettale Schmerzen bei Parkinson sind eine Zunahme der Beschwerden in Off-Phasen und ein relativ gutes Ansprechen auf eine dopaminerge Medikation. Neben dieser offenbar kausalen Verbindung zwischen muskuloskelettalen Schmerzen und der Parkinson-Erkrankung, entstehen derartige Beschwerden bei Parkinson-Patienten auch sekundär über ganz gewöhnliche Mechanismen – wie weiter oben schon erwähnt – welche sich auch bei nicht an Parkinson erkrankten Rückenschmerz-Patienten beobachten lassen: Zum Beispiel durch Fehl- und Schonhaltungen, Immobilität und Gangstörungen, welche zu einer Fehlbelastung der Rücken- und Extremitätenmuskulatur führen.

Ein weiteres häufiges Symptom sind Schulterschmerzen, insbesondere das Syndrom der frozen shoulder. Auch hier wird oft eine Beschwerdezunahme im Off und eine Besserung unter dopaminergen Substanzen berichtet. Bei 2-8% aller Parkinson-Patienten sind Schulterschmerzen sogar das erste Symptom der Erkrankung.

Muskuloskelettale Schmerzen bei Parkinson-Syndromen werden prinzipiell genauso wie bei nicht an Parkinson Erkrankten behandelt: Medikamentös mit NSAR, Metamizol, Opioiden (wo indiziert), bei chronischen Schmerzen mit Koanalgesie durch SSNRI oder Trizyklika (diese werden trotz anticholinerger Wirkung in der Regel gut vertragen) und insbesondere mit nicht-medikamentösen Therapiemaßnahmen, wie detonierenden Übungen, Muskelentspannungstechniken, manueller Therapie, Wärmeapplikation und – wenn zur Symptomkontrolle als hilfreich empfunden – auch mittels transkutaner elektrischen Nervenstimulation (TENS). Therapeutisch sollte zudem immer ein Ansprechen der Schmerzen auf eine dopaminerge Medikation überprüft werden.

Kamptokormie

Die Kamptokormie, also die ausgeprägte nach vorn übergebeugte Fehlhaltung des Rumpfes, tritt zwar am häufigsten bei Parkinson-Syndromen auf, ist für diese jedoch nicht spezifisch und kann auch bei anderen – in erster Linie neurodegenerativen – Erkrankungen beobachtet werden, wie bei Muskeldystrophien und Myositiden. Eine Kamptokormie bei Parkinson tritt in der Regel 4-14 Jahre nach den ersten motorischen Symptomen auf und spricht meis schlecht auf eine dopaminerge Medikation an. Andererseits wurde beobachtet, dass sich bei der tiefen Hirnstimulation, insbesondere des Globus pallidus internus Kamptokormien rasch und deutlich bessern können, so dass als Ursache des Phänomens Kamptokormie bei Parkinson mittlerweile a.e. eine nichtdopaminergen neuronalen Funktionsstörung in den Basalganglien angenommen wird.

Die Therapie der Kamptokormie, welche häufig auf Grund der ausgeprägten Fehlhaltung mit muskuloskelettalen Rückenschmerzen aber auch Radikulopathien assoziiert ist, ist medikamentös – wie erwähnt – schwierig. Neben dem schlechten Ansprechen auf L-Dopa, waren auch Therapiestudien mit der lokalen Injektion von Botulinumtoxin unter der Vorstellung einer fokalen Dystonie, als auch mit Steroiden unter der Auffassung einer Myopathie oder Myositis negativ. Für nicht-medikamentöse Therapieverfahren existieren einzelne, teils widersprüchliche, Fallberichte.

Viszerale, nozizeptive Schmerzen

Bei einem Großteil aller Parkinson-Patienten besteht eine gestörte Darmmotilität, was sich über die frühe Neurodegeneration des enterischen Nervensystems durch pathologische alpha-Synuklein-Ablagerungen erklärt. Das häufigste, in diesem Zusammenhang geäußerte Symptom ist eine Obstipationsneigung. Aber auch viszerale, eher dumpf-drückende Schmerzen werden bei Parkinsonerkrankten beschrieben. Diese Schmerzen können im gesamten Gastrointestinaltrakt von oral bis zum Analsphinkter beobachtet werden und treten oft wellen- und kolikartig im Rahmen der Peristaltik auf. Neben dem Einsatz von Prokinetika, einer vermehrten flüssigkeits- und ballaststoffreichen Ernährung und der Gabe von Laxanzien wie Macrogol, wird zudem die Durchführung einer Ernährungsberatung empfohlen. Die Gabe von Anticholinergika ist hingegen oft kontraproduktiv und führt eher zu einer Beschwerdezunahme.

Dystonie-bedingte Schmerzen

Unter dem Begriff Dystonie-bedingte Schmerzen – im englischen Sprachraum treffender als pain linked to motor symptoms bezeichnet – fasst man die typischen, häufig schmerzhaften, Wirkfluktuationen fortgeschrittener Parkinson-Syndrome zusammen, also beginning-of-dose-, end-of-dose- bzw. wearing-off-Phänomene, aber auch die teils schmerzhaften Überdosierungen oder Schmerzen in der Anflutungsphase des L-Dopa nach Medikamenteneinnahme. Das Erkennen und die Behandlung dieser Symptome ist in der Behandlung von Parkinson-Syndromen in der Regel gut etabliert, so dass Dystonie-bedingte Schmerzen relativ zuverlässig detektiert, durch Anpassung der dopaminergen Medikation behandelt werden und somit als weniger unterdiagnostiziert und -therapiert gelten, als die übrigen hier geschilderten Symptomkomplexe. Schmerzhafte Dystonien treten insbesondere bei jung erkrankten Parkinson-Patienten und bei bestimmten genetisch determinierten Parkinson-Formen, wie bei Parkin- oder PINK1-Mutationen auf.

Am häufigsten lassen sich frühmorgendlich auftretende schmerzhafte Dystonien beobachten, entweder vor der ersten morgendlichen Einnahme des L-Dopa oder während des langsamen Anfluten des ersten eingenommenen L-Dopa, welche typischerweise die unteren Extremitäten betreffen und mit muskelkrampfartiger Plantarflexion, Fußinversion und einer Streckung der Knie einhergehen.

Neuropathische Schmerzen

Bei den neuropathischen Schmerzen kann zwischen radikulären und zentralen Schmerzen unterschieden werden.

Radikuläre Schmerzen

Während – je nach epidemiologischer Studie – in der Allgemeinbevölkerung eine Prävalenz von Radikulopathien von ca. 10% beschrieben wird, leiden 14-35% der Parkinson-Erkrankten an radikulären Schmerzen. Dies wird in erster Linie mit der vermehrten mechanischen Schädigung der Wirbelsäule durch chronische Fehlhaltungen, wie durch die Kamptokormie und Dystonien erklärt.

Therapeutisch werden in der Regel – wie bei nicht an Parkinson Erkrankten – Koanalgetika aus der Gruppe der Antikonvulsiva eingesetzt, insbesondere Gabapentin und Pregabalin. Für Gabapentin, welches auch bei Parkinson überwiegend gut vertragen wird, existiert eine deutlich bessere Studienlage zum Einsatz bei neuropathischen Schmerzen im Rahmen einer Parkinson-Erkrankung als für Pregabalin. Auch die koanalgetische Aktivierung der absteigenden Schmerzhemmung mittels Gabe von Trizyklika und SSNRI unterscheidet sich nicht von der Behandlung von radikulären Syndromen ohne begleitende Parkinson-Erkrankung.

Zentrale Schmerzen

Ungefähr 10% der Schmerzen bei Parkinson-Syndromen machen zentrale Schmerzen aus. Diese werden oft an für Dyskinesien/Dystonien oder muskuloskelettale Schmerzen ungewöhnlichen Lokalisationen (Gesicht, Nase-/Rachen-Raum, Mund, Abdomen, Genitale) beschrieben, erscheinen teils bizarr, für Außenstehende wenig nachvollziehbar, werden meist als brennend und/oder verkrampfend beschrieben und zeigen oft eine Seitenbetonung, kongruent zu der von der Parkinson-Erkrankung schwerer betroffenen Körperseite. Vermehrt treten zentrale Schmerzen in Off-Phasen auf. Erklärt werden diese Schmerzen durch pathologische Alpha-Synuclein-Ablagerungen im Tractus spinoreticularis und Tractus spinothalamicus, die dort zur Neurodegeneration führen. Zentrale Schmerzen werden oft als derart beeinträchtigend empfunden, dass sie die übrige Parkinson-Symptomatik deutlich in den Hintergrund rücken lassen. Oft führt dies zu einer umfangreichen Abklärung des Schmerzes, ohne dass sich ein wegweisendes pathologisches Korrelat ergibt. Häufig besteht ein gutes Ansprechen der Schmerzen auf eine dopaminerge Medikation. Bei Therapieversagen können klassische Analgetika incl. Opioide, aber auch Trizyklika und atypische Neuroleptika versucht werden. Positive Fallberichte bestehen bei ansonsten therapierefraktären Schmerzen auch für eine tiefe Hirnstimulation des Ncl. subthalamicus beidseits.

Eine konsensuelle Definition und Abgrenzung zentraler Schmerzen von anderen Schmerzqualitäten bei der Parkinson-Erkrankung existiert nicht, üblicherweise werden Schmerzen, die nicht in eine der anderen genannten Kategorien fallen und für welche es keine plausiblere Erklärung als die Parkinson-Erkrankung selbst, als zentrale Schmerzen eingeordnet.

Schmerz und Parkinson: Wo und wie behandeln?

Ich glaube, das A&O ist das dran denken und das nachfragen, wenn Patienten von alleine nicht von Schmerzen berichten. Zudem muss man im Hinterkopf haben, dass es sich bei Schmerzen beim Parkinson-Syndrom oft um Mischbilder verschiedener Schmerzqualitäten handelt, welche zudem chronifiziert sind und im Rahmen einer progredienten, neurodegenerativen Erkrankung auftreten. Das kann dazu führen, dass die klassische unimodale Schmerztherapie rasch an ihre Grenzen gerät und eine Behandlung im Setting einer multimodalen Schmerztherapie mit einem interdisziplinären Behandlungsteam vorteilhafter sein kann.

Wo man weiterlesen kann:

Beiske AG, Loge JH, Rønningen A, Svensson E. Pain in Parkinson’s disease: Prevalence and characteristics. Pain. 2009;141:173–177.

Ford B. Pain in Parkinson’s disease. Mov Disord. 2010;25 Suppl 1:S98–S103.

Truini A, Frontoni M, Cruccu G. Parkinson’s disease related pain: a review of recent findings. J Neurol. 2013;260:330–334.

Valkovic P, Minar M, Singliarova H, et al. Pain in Parkinson’s Disease: A Cross-Sectional Study of Its Prevalence, Types, and Relationship to Depression and Quality of Life. PLoS ONE. 2015;10:e0136541.

Neurodegenerative Krankheiten: WYSIWYG oder nicht? Die Sache mit den Tauopathien und den Synukleinopathien.

Windows 95 und neurodegenerative Erkrankungen

Den WYSIWYG-Vergleich wollte ich schon ganz lange machen. Gehen soll es heute um neurodegenerative Erkrankungen und die Frage, ob es auch wirklich Parkinson ist, wenn es wie Parkinson ausschaut. WYSIWYG ist ja so ein Begriff, der ungefähr aus der Ära von Karl Klammer und Windows 95 kommt. Ganz kurz gesagt: Word ist WYSIWYG. Da sieht man beim Erstellen das Dokument, so wie es später – aus dem Drucker – herauskommt. Markdown-Editoren (mit so einem schreibe ich das hier) sind eher das Gegenteil.

Die einzelnen neurodegenerativen Erkrankungen sind in der Regel historisch bedingte Syndrome, von deren Pathogenese man bei der Erstbeschreibung und Krankheitsdefinition noch gar keine Idee hatte. Dies war insbesondere bei den atypischen Parkinson-Syndromen so, für die es relativ strenge und dogmatische Diagnosekriterien gab. Da war es dann ein Ding der Unmöglichkeit, dass eine Erkrankung z.B. eine Multisystematrophie sein konnte, da der Patient ja auch eine Demenz hatte und das bei der Multisystematrophie aber definitionsgemäß nicht vorkommt. Exemplarisch findet man das z.B. bei Gilman et al. (s.u.), wo eine Demenz-Symptomatik als explizites Ausschlusskriterium einer MSA aufgeführt wird.

Aber das war ganz lange so, es gab klinische Diagnosekriterien – typischerweise mit der Unterteilung mögliche, wahrscheinliche und gesicherte MSA/PSP/Alzheimer-Demenz/Lewy-Körperchen-Demenz/idiopathisches Parkinson-Syndrom – wobei die gesicherte Variante stets eine post mortem-Autopsiediagnose war. Ganz übersichtlich finden sich diese Diagnosekriterien für die atypischen Parkinson-Syndrome z.B. bei Fuchs et al.:

Wo man weiterlesen kann
  1. Gilman, S. et al. Consensus statement on the diagnosis of multiple system atrophy. J. Neurol. Sci. 163, 94–98 (1999).
  2. Fuchs, P. & Wenning, G. Atypische Parkinsonsyndrome – Neues aus Diagnostik und Therapie. Aktuelle Neurol. 39, 534–545 (2013).

Zusätzlich zu den klinischen Diagnosekriterien bestand meist seit der Erstbeschreibung eine histopathologische Beschreibung der Erkrankung, eben die gesicherte Version. So wurden für einzelne neurodegenerative Erkrankungen morphologische Beschreibungen von Einschlusskörperchen (z.B. Lewy-Körperchen, gliale zytoplasmatische Einschlusskörperchen bei der MSA, senile Plaques, neurofibrilläre Bündel usw.) veröffentlicht, teilweise gelang es auch die jeweiligen Proteine zu identifizieren, über die jeweilige Binnenstruktur in den Proteinablagerungen konnte man jedoch in der Regel nichts sagen.

Synukleinopathien, Tauopathien und ß-Amyloid-Erkrankungen

Aus dieser Zeit stammt die Einteilung der neurodegenerativen Erkrankungen in die Gruppe der Synukleinopathien, Tauopathien und ß-Amyloid-Erkrankungen, wobei die Alzheimer-Demenz interessanterweise relativ lange irgendwie parallel lief und es keine systematische Verknüpfung zu anderen neurodegenerativen Erkrankungen (v.a. denen mit Bewegungsstörungen) gab.

Zu den ⍺-Synukleinopathien in diesem klassischen Sinn gehören das idiopathische Parkinson-Syndrom, die Lewy-Körperchen-Demenz und die verschiedenen Multisystematrophie-Formen, zu den Tauopathien die PSP und die CBD. Die Alzheimer-Demenz war demnach eine ß-Amyloid-Erkrankung. Dem geneigten Leser im Jahr 2021 fällt auch hier recht mühelos die Schwierigkeit dieser – wieder sehr schematischen – Einteilung auf, da natürlich bei der Alzheimer-Erkrankung sowohl Tau-Protein als auch ß-Amyloid-Ablagerung vorkommen, bei der Lewy-Körperchen-Demenz ⍺-Synuclein und ß-Amyloid usw.

Das Problem mit der kortikobasalen Degeneration (CBD)

Bei der CBD kam man in diesem Krankheitskonzept schnell an die Grenzen, da man zwar sehr schön ein kortikobasales Syndrom (CBS) bestehend aus alien limb Phänomen, lateralisierten Apraxien, Neglect-artigen Wahrnehmungsstörungen, stimulus-sensitiven Myoklonien und fokale Dystonien definieren kann, dieses sich aber sehr oft in eine andere neurodegenerative Erkrankung weiterentwickelt, häufig eine PSP oder eine FTD-Variante (v.a. die Varianten mit Aphasie, wie primär progressive Aphasie und semantische Demenz). Insbesondere die fronttemporale Demenzen hatten zu diesem Zeitpunkt noch gar keine richtige Verbindung zu den atypischen Parkinson-Syndromen.

Neuropathologie mit Elektronenmikroskop und Immunhistochemie

Zunehmend war es dann möglich die Binnenstrukturen der für die einzelnen neurodegenerativen Erkrankungen typischen Protein-Ablagerungen aufzudecken und darüber dann die jeweiligen Erkrankungen zu definieren. Wenn man das post mortem macht, kann es aber vorkommen (und das gar nicht so selten), dass ein Patient klinisch z.B. ein idiopathisches Parkinson-Syndrom hatte oder eine reine Demenzerkrankung, neuropathologisch aber eine PSP. Dies führte bei der PSP zur Differenzierung der Erkrankung in verschiedene Subtypen, der schon geschilderten Erkenntnis, dass ein kortikobasales Syndrom nicht unbedingt eine kortikobasale Degeneration sein muss und dem Standardsatz in vielen Publikationen, dass die PSP vermutlich unterdiagnostiziert sei. Durch diesen Schritt gelang es aber erstmals die historisch gewachsene Unterteilung in Bewegungsstörungen und Demenzen zu brechen.

Die Prion-Hypothese

Richtig in Fahrt kam das neue (jetzt auch schon so gut 15 Jahre alte) Verständnis der neurodegenerativen Erkrankungen dann durch die Erkenntnis, dass die Protein-Ablagerungen in der Regel selber pathogen sind und nicht nur die Folge von Neurodegeneration und dass sie sich von Zelle zu Zelle prion-artig ausbreiten. Besonders bekannt ist das durch die Braak-Stadien beim idiopathischen Parkinson-Syndrom geworden, man kann das aber im Endeffekt für alle neurodegenerativen Erkrankungen und die unterschiedlichen Eiweiße zeigen:

Wo man weiterlesen kann
  1. Braak, H. et al. Staging of brain pathology related to sporadic Parkinson’s disease. Neurobiol. Aging 24, 197–211 (2003).
  2. Braak, H., Rub, U., Jansen Steur, E. N. H., Del Tredici, K. & de Vos, R. A. I. Cognitive status correlates with neuropathologic stage in Parkinson disease. Neurology 64, 1404–1410 (2005).
  3. Braak, H., Ghebremedhin, E., Rüb, U., Bratzke, H. & Del Tredici, K. Stages in the development of Parkinson’s disease-related pathology. Cell Tissue Res. 318, 121–134 (2004).
  4. Braak, H., Feldengut, S. & Del Tredici, K. Pathogenese und Prävention des M. Alzheimer. Nervenarzt 84, 477–482 (2013).
  5. Braak, H., Neumann, M., Ludolph, A. & Del Tredici, K. Breitet sich die sporadisch auftretende amyotrophe Lateralsklerose über axonale Verbindungen aus? Aktuelle Neurol. 44, 409–414 (2017).

Und was heißt das jetzt?

Zusammengefasst kann man folgende grundlegende Eigenschaften neurodegenerativer Erkrankungen definieren:

  • Neurodegenerative Erkrankungen werden in der Regel von sich prion-artig ausbreitenden pathogenen Protein-Konfigurationen von physiologisch vorkommenden neuronalen Proteinen verursacht.
  • Eine spezifische Protein-Pathologie kann zu verschiedenen klinischen Phänotypen führen.
  • Von einem klinischen Syndrom kann man nicht zwanglos auf die zu Grunde liegende Protein-Pathologie schließen.
  • Overlap-Syndrome, welche Symptome verschiedener klassischer neurodegenerativer Erkrankungen aufweisen sind häufig.

Bei mir führt das Einreißen von vorher dogmatisch und stur vorgetragenen Gewissheiten in der Medizin immer zu einer tiefen Befriedigung. Darüber hinaus kann das natürlich zu einer gewissen Beliebigkeit in der Diagnostik neurodegenerativer Erkrankungen führen, da man sich ja gar nicht mehr festlegen muss (und/oder kann). Am Ende wird man das jeweilige Syndrom zunächst einmal deskriptiv beschreiben müssen und darf sich nicht wundern, wenn man eine Diagnose im weiteren Verlauf auch mal revidieren muss. Für die Patienten ist zunächst einmal wichtig, gibt es eine dopamin-sensitive Bewegungsstörung und ist eine kognitive Störung dabei, ggfs. liquordiagnostisch eine, die man zu einer Alzheimer-Demenz zählen kann und welche man zumindest symptomatisch antidementiv behandeln könnte?

Wo man weiterlesen kann
  1. Klucken, J. et al. Parkinson-Syndrom(e) – Neue Konzepte für eine sich ausbreitende Erkrankung? Aktuelle Neurol. 40, 327–332 (2013).
  2. Pan-Montojo, F. & Reichmann, H. Ursache der Parkinson-Krankheit: Braak revisited. Aktuelle Neurol. 41, 573–578 (2015).
  3. Schäffer, E. & Berg, D. Neudefinition der Parkinson-Erkrankung. Aktuelle Neurol. 44, 260–266 (2017).
  4. Becktepe, J., Gövert, F. & Deuschl, G. Übergreifende Konzepte der Neurodegeneration. Aktuelle Neurol. 44, 19–26 (2017).