Autoimmunität nach Viruserkrankungen: EBV und Multiple Sklerose

In den letzten knapp 20 Jahren hat sich das medizinisch-wissenschaftliche Wissen bei der Multiplen Sklerose (MS) in zwei miteinander zusammenhängenden Themenblöcken in wahnsinniger Geschwindigkeit fortentwickelt: Bei den immunologischen Grundlagen der Entzündungsprozesse auf Zell- und Körperebene und bei den immunmodulatorischen und immunsuppressiven Therapien, welche seit der Zulassung von Natalizumab (2004 erstmals in den USA) (Link Wikipedia) immer spezifischer geworden sind, immer tiefer in das Immunsystem eingreifen, mit dem Benefit oft komfortabler Einnahme-, bzw. Applikationszyklen und dem Fehlen von allgemeinen Krankheitssymptomen als häufige Nebenwirkung. Der Preis hierfür sind seltene, aber schwere, teils tödliche, Komplikationen durch die Eingriffe ins Immunsystem, der Prototyp hierfür die progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) (Link Wikipedia) nach Natalizumab-Gaben, welche sich teilweise erst mit erheblicher Latenz nach Therapiebeginn gezeigt haben.

Wer einen Einblick in die unglaublichen Details, die über die Immunologie der MS bekannt sind haben möchte, dem seien das (mittlerweile auch schon wieder fünf Jahre alte) Paper von Martin et al. empfohlen (Link) und die Arbeit von Jelcic et al. (Link), welche beide als open access für alle lesbar sind. Das ist so detailliert und tiefgehend, dass ich das als klinisch tätiger Arzt teilweise nicht mehr (oder nur mit Mühe und Not) verstehe und schon gar nicht adäquat hier wieder geben könnte.

Im Vergleich hierzu hatte sich bis zur letzten Woche auf dem Feld der Ursachen für die Entwicklung einer Multiplen Sklerose viel weniger getan. Seit Jahren werden immer die selben Risikofaktoren diskutiert, doch dazu gleich mehr. Zunächst ein kleiner Überblick über die MS für alle nicht ganz so in der Neurologie sattelfesten.

A brief summary of Multiple Sklerose

Die Multiple Sklerose ist (auch weiterhin) außerhalb von Traumafolgen die häufigste bei jungen Erwachsenen zur Behinderung führende Erkrankung. Die Häufigkeit mit der eine MS auftritt variiert auf der Erde extrem abhängig vom Längen- und Breitengrad, sowie vom gesellschaftlichen Wohlstand. Die MS ist eine Erkrankung der (westlichen) Industrieländer mit einem starken Nord-Süd-Gefälle (je äquatornäher, desto seltener tritt sie auf). Frauen sind erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts häufiger als Männer betroffen, diese Entwicklung ist aber in den letzten Jahren zunehmend, mittlerweile liegt die Häufigkeitsverteilung bei 3:1. Die Prävalenz der MS beträgt in Deutschland mittlerweile deutlich mehr als die um 2000 angenommene 149/100.000, entsprechend gut 120.000 MS-Patienten. 2017 wurde eine Zahl von ca. 240.000 MS-Patienten in Deutschland ermittelt (Link), was den für Norwegen (dort funktioniert eine epidemiologische Erhebung von Krankheitsdaten und zwar nicht nur für COVID-19) ermittelten 270/100.000 relativ gut entsprechen sollte. Die MS manifestiert sich in den meisten Fällen im jungen Erwachsenenalter, es gibt aber auch Fälle im Kindes- (und zunehmend, oft als Zufallsbefunde) auch im späteren Erwachsenenalter.

Dass die MS wirklich „eine“ Erkrankung ist, und nicht viel mehr ein phänomenologisches Sammelbecken ähnlicher Autoimmunprozesse wird zunehmend seltener angenommen, schon seit ca. 15 Jahren gibt es eine immunologische Zuordnung in mindestens vier anders ablaufende immunologische „Unterformen“, teils mit sehr viel entzündlicher Krankheitsaktivität und teils mit sehr viel Neurodegeneration. Klinisch wird weiterhin in schubförmige und chronisch-progrediente MS-Verlaufsformen unterschieden, klinisch bestätigt sich auch weiterhin, dass viele MS-Erkrankungen mit viel Entzündungsaktivität und Schüben beginnen und nach und nach Entzündungsaktivität nachlässt und Neurodegeneration zunimmt, so dass sich hieraus der Übergang von schubförmigen in chronisch-progrediente Verlaufsformen ergibt. Bei genauem Hinsehen merkt man aber zunehmend öfter, dass oft beide Prozesse nebeneinander vorherrschen und es beides gibt: Krankheitsschübe und eine schleichende Verschlechterung.

Die MS ist eine Entzündung der Oligodendrozyten, also der Stützzellen des Nervengewebes im Gehirn und Rückenmark mit oft perivenöser Betonung, was zunächst einer Schädigung der „Kabelstränge“ durch eine Entmarkung (der Isolationsschicht der Nervenfasern) im zentralen Nervensystem führt, im Verlauf auch zu einer Schädigung der Kabelstränge selber, der Axone. Zusätzlich kommt es zu einer Atrophie von Kortexzellen, also dem Verlust von Nervenzellen. In den entzündlichen Läsionen finden sich histologisch vor allem T-Zellen, aber auch – wenn auch in geringerer Zahl – B-Lymphozyten und Plasmazellen.

Die Entzündungen führen zur Klinik der MS, die abhängig vom Ort der entzündlichen Veränderungen variiert. Entzündungen des Sehnerven (Optikusneuritis) sind häufig, zudem Entzündungen im periventrikulären Marklager, v.a. mit Einbeziehung des Balkens und des Rückenmarks. Klinisch resultieren Sehstörungen auf einem Auge mit Farbentsättigung und Bulbusbewegungsschmerz bei der Sehnervenentzündung, Lähmungen oder Sensibilitätsstörungen bei den Entzündungen im Marklager des Gehirns und (meist inkomplette) Querschnittssyndrome bei Rückenmarksentzündungen. Ein typischer Schub entwickelt sich innerhalb von Stunden bis wenigen Tagen, die Beschwerden halten dann mehrere Wochen an und bessern sich dann langsam.

Die MS ist nicht heilbar, wohl aber lassen sich vor allem die entzündlich dominierten Verlaufsformen heutzutage so gut immunmodulatorisch und immunsuppressiv behandeln, dass das Ziel in der Regel eine Schubfreiheit ist und damit auch eine Verhinderung von Behinderungsprogression im weiteren Krankheitsverlauf. Der Preis für diese effektive Immuntherapie sind die erwähnten seltenen, dann aber schweren Nebenwirkungen der Medikamente.

Risikofaktoren für die Entwicklung einer Multiplen Sklerose

Seit ich mich mit Neurologie beschäftige (und wenn man in die Literatur guckt auch schon deutlich davor) werden in erster Linie immer wieder die selben wesentlichen Risikofaktoren, eine Multiple Sklerose zu entwickeln genannt:

  • eine genetische Prädisposition
  • niedrige Vitamin D-Spiegel
  • Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV)
  • ein sogenannter Migrationsfaktor
  • Übergewicht in der Kindheit
  • und Rauchen

Für all diese Faktoren gibt es eine starke Korrelation mit der Entwicklung einer MS, aber bislang keinen Kausalzusammenhang. Ein ganz paar Anmerkungen zu den anderen Risikofaktoren noch, bevor es dann um EBV geht.

Genetische Prädisposition

Es gibt (schon relativ alte) Zwillingsstudien zur MS, die eine genetische Prädisposition nahelegen, zudem lässt sich bei ungefähr jeder achten MS-Erkrankung einer familiäre Häufung von MS erfragen. Aber – von eineiigen Zwillingen – entwickeln nur in 25-30% der Fälle beide eine MS. Ein genetischer Hauptrisikofaktor scheinen bestimmte HLA-Konfigurationen zu sein.

Mini-Exkurs HLA-System

Allen Immunologen sei gesagt: Ich entschuldige mich vielmals für die Gossen-Immunologie, die nun folgt, aber mehr kann ich nicht:

Das HLA-System (Link Wikipedia HLA-System, Link Wikipedia MHC) kann man sich ganz grob gesagt als Immunsystem-Presets vorstellen. Abhängig von der jeweiligen HLA-Konfiguration werden auf viralen oder bakteriellen Proteinen verschiedene Stellen der Oberfläche erkannt und bekämpft. Das hat evolutionsbiologisch den Vorteil, dass wenn z.B. ein neuartiges Virus kommt (sowas soll es ja geben) durch die Streuung der Immunantwort es unwahrscheinlicher ist, dass gleich die ganze Spezies an der Erkrankung ausstirbt. Es hat aber auch den Nachteil, dass alles menschliche und nicht so menschliche Leben auf den selben 21 Aminosäuren basiert, aus denen dann Proteine gebildet werden. Somit besteht eine gewisse Chance, dass es Aminosäure-Ketten gibt, die es sowohl auf Erreger-Oberflächen, als auch auf körpereigenen Oberflächeneiweißen gibt, die dann beide als bekämpfenswert erkannt werden, was dann ein Faktor für autoimmune Prozesse ist.

HLA-DRB15 ist dabei die HLA-Konfiguration für die bei Heterozygoten ein drei fach erhöhtes und bei Homozygoten ein sechs fach erhöhtes MS-Risiko beschrieben ist. Es sind noch weitere Nukleotidpolymorphismen in das Immunsystem steuernden Genen beschrieben worden, die das MS-Erkrankungsrisiko erhöhen, dies aber in der Regel nur leicht mit einer odds ratio von 1,1 bis 1,2.

Vitamin D

Das mit den Vitamin D-Spiegeln ist so eine Sache. Statistisch ist ein niedriger Vitamin D-Spiegel ein „unabhängiger Risikofaktor“ für die Entwicklung einer Multiplen Sklerose, allerdings ist ein Vitamin D-Mangel mit ganz vielen Erkrankungen assoziiert.

Vitamin D spielt offenbar in der Steuerung vieler entzündlicher Prozesse eine wichtige Rolle, wie man aus Grundlagenforschungs-Arbeiten weiß und wirkt dabei antiinflammatorisch und neuroprotektiv (Döring et al.). In der Arbeit von Cortese et al. (Link) waren hohe Vitamin D-Spiegel mit einem milderen Verlauf der MS und auch weniger kognitiven Störungen assoziiert, als niedrige.

Tierexperimentiell bestanden große Hoffnungen, dass man mit Vitamin D-Gaben Einfluss auf MS-Verläufe nehmen kann. Bis heute sind aber alle klinischen Studien, die dies versucht haben, zumindest an den primären Studienendpunkten gescheitert und konnten – wenn überhaupt – bei Surrogatmarkern, wie der MS-Aktivität im MRT einen Effekt der Vitamin D-Gaben zeigen (Hupperts et al.).

Die Abhängigkeit der MS-Häufigkeit von der Entfernung zum Äquator korreliert sehr gut mit der UV-B-Exposition, die die Menschen durch die Sonnenlichteinstrahlung erhalten. Daher liegt es nahe, dass niedrigere Vitamin D-Spiegel in den äquatorfernen Ländern der Grund für die MS-Häufung dort sind. Zudem würden sie auch – da kommt gleich noch ein zweiter Faktor – die Zunahme der MS-Häufigkeit bei Frauen in den letzten 100 Jahren miterklären, da mit zunehmender Industrialisierung und dem dem Rollenbild der „Hausfrau und Mutter“ der Nachkriegsära Frauen zunehmend mehr drinnen und weniger körperlich aktiv gelebt haben, als vorher und so auch niedrigere Vitamin D-Spiegel gehabt haben dürfen.

Der Migrationsfaktor

Hiermit mein man folgendes Phänomen: Es ist schon sehr lange bekannt, dass wenn Erwachsene aus Ländern mit niedrigerer MS-Prävalenz in Länder mit höherer Prävalenz migrieren, sie das niedrige MS-Erkrankungsrisiko ihres Herkunftslandes behalten. Anders herum bekommen Kinder von Migranten aus Ländern mit niedriger Prävalenz das höhere MS-Erkrankungsrisiko des Landes, in das emigriert wurde, wenn sie dort geboren oder ihre Kindheit und Jugend verbracht haben.

Hierfür gibt es vor allem ein Erklärungsmodell: Nämlich das Thema Vitamin D-Spiegel, der ggfs. vor allem in Kindheit und Jugend entscheidend für das MS-Erkrankungsrisiko sein könnte.

Rauchen und Übergewicht

Rauchen erhöht das MS-Erkrankungsrisiko um etwa 50%. Die mittlerweile weibliche Dominanz bei MS-Erkrankungen scheint zu einem großen Teil mit der zunehmenden Rate von Frauen, die nach dem 2. Weltkrieg angefangen haben zu rauchen, zu erklären zu sein.

Und last but not least vor dem eigentlichen Thema: Ja, auch Übergewicht, vor allem in der Kindheit ist ein unabhängiger Risikofaktor für die Entwicklung einer MS.

EBV: Von Korrelation zur Kausalität

So, kommen wir zum eigentlichen Thema dieses Beitrags, dem Epstein-Barr-Virus.

Exkurs: Epstein-Barr-Virus

Das Epstein-Barr-Virus (EBV) ist ein Herpes-Virus und damit ein DNA-Virus. Wie alle Herpesviren (die anderen für uns am meisten relevanten Viren der Herpesgruppe sind Herpes simplex-Virus (HSV), Varizella-Zoster-Virus (VZV) und Cytomegalievirus (CMV) hat EBV eine extrem hohe Durchseuchung der erwachsenen Bevölkerung, irgendwo zwischen 90 und 95%. Ungefähr die Hälfte der EVB-Infektionen finden dabei in der Kindheit statt, die andere Hälfte im Jungendlichen- und jungen Erwachsenen-Alter. Ebenfalls wie alle anderen Herpes-Viren auch, persistiert EBV nach Infektion im Körper und zwar in Zellen der Immunabwehr, d.h. vor allem in Lymphozyten und kann z.B. bei einem schlechteren Immunstatus reaktiviert werden. HSV und VZV hingegen persistieren in Nervenzellen, wir kennen sie vom Lippenherpes (die Neurologen von der Herpes-Enzephalitis) bei Reaktivierung, und VZV von der Gürtelrose.

Die Primärinfektion mit EBV im Kindesalter verläuft oft mild, insbesondere bei jungen Erwachsenen und Jugendlichen hingegen oft recht schwer als infektiöse Mononukleose oder im Volksmund als Pfeiffer’sches Drüsenfieber. Es gibt aber auch Mononukleose-Fälle bei jüngeren Kindern. Nach EBV-Infektionen kommt es gehäuft zu anhaltenden postinfektiösen Erschöpfungssyndromen, diese sind – wenn man so will – der Prototyp für Long Covid (Link). EBV ist aber auch mit einer ganzen Reihe von vor allem hämatologischen Krebserkrankungen assoziiert und einer Reihe von Autoimmunerkrankungen, bei denen man glaubt, dass sie durch EBV getriggert werden, u.a. den systemischen Lupus erythematodes, die rheumatoide Arthritis und eben MS.

Einen schönen Überblick über EBV kann man auch in diesem Thread von Franziska Briest bekommen:

und ansonsten taugt auch der Wikipedia-Artikel durchaus was (Link).

Der bisherige Stand des Wissens

Seit Jahren, eigentlich seit Jahrzehnten ist EBV als Risikofaktor für die Entwicklung einer MS bekannt. Vor allem ist bekannt, das ein negativer EBV-Serostatus das Vorhandensein einer MS sehr unwahrscheinlich macht, vermutlich sogar ausschließt. Ebenfalls ist bekannt, dass eine symptomatische EBV-Erkrankung, also eine infektiöse Mononukleose das MS-Erkrankungsrisiko stark erhöht. Viele epidemiologische Arbeiten zu dem Thema beruhen auf der selben Kohorte, wie in dem Paper von Bjornevik et al., um das es gleich noch geht. Sehr viele Arbeiten der letzten Jahre konnten EBV-Infektionen als sehr wichtigen, wenn nicht den wichtigsten Risikofaktor für die Entwicklung einer MS herausarbeiten.

Dabei muss man bedenken, dass EBV eine extrem häufige Infektionskrankheit ist, die nahezu alle Menschen durchleben sie, MS ist hingegen viel, viel seltener. Das machte bislang alle Versuche, eine Kausalität nachzuweisen zunichte. Statistisch entwickelt 1 von 900 EBV-positiven Menschen eine MS und 1 von 240, die eine infektiöse Mononukleose erleiden (Ruprecht).

Warum verursacht EBV eigentlich MS?

Der Pathomechanismus zwischen EBV-Infektion und MS ist bis heute unklar. Es gibt eine Arbeit von 2007, die in Gehirnen von MS-Patienten EBV-Infiltrationen nachweisen konnte und die seinerzeit viel beachtet und diskutiert wurde. Allerdings konnte dieser Befund in nachfolgenden wissenschaftlichen Untersuchungen nicht mehr reproduziert werden. Es gab dann um 2010 noch mal einen neuen Anlauf der Autoren des ersten Papers, sogar einen Workshop zur Klärung der diskrepanten Befunde, der aber ergebnislos blieb und immer wieder die Hinweise, dass es sich bei diesem Befund durchaus um ein Epiphänomen handeln könnte, wenn man weiß, dass EBV in B-Zellen persistiert und diese natürlich auch im Gehirn vorkommen.

Bei Liquoruntersuchungen zeigte sich ein ähnliches Bild. Je nach Arbeit konnte eine intrathekale Antikörpersynthese gegen EBV in 10-25% der untersuchten Fälle nachgewiesen werden, aber nie in der Mehrzahl der Fälle. Insgesamt ähnelt das Ganze frappierend an die Neurotropie-Diskussion um SARS-CoV-2 (Link).

Kommt man auf das Thema HLA-Konfigurationen zurück, so liegt ein molekulares Mimikri nahe, also dass das Immunsystem Oberflächenstrukturen von EBV erkennt und die selben Aminosäureketten auch auf Oberflächen von Oligodendrozyten. Allerdings ist dies bislang nur eine Hypothese.

Was man hingegen weiß ist, dass MS-Patienten in der Regel höhere EBV-Antikörper-Titer aufweisen, als Menschen ohne MS. Auch die zelluläre Immunantwort gegen EBV scheint bei MS-Patienten deutlich stärker ausgeprägt, als bei Gesunden.

Insgesamt bleibt das Thema aber unrund, auch weil unklar ist, warum diese Phänomene nur bei MS-Patienten zu beobachten sind.

Von der Korrelation zur Kausalität: Die Studie aus Science

Dieses Paper macht nun aber ein neues Kapitel auf:

Bjornevik K, Cortese M, Healy BC, et al. Longitudinal analysis reveals high prevalence of Epstein-Barr virus associated with multiple sclerosis. Science. Published online January 21, 2022:1-10. doi:10.1126/science.abj8222

Für die Studie haben die Autoren Blutproben von US-Militärangehörigen analysiert, welche zwischen 1993 und 2013 abgenommen und eingefroren konserviert wurden. Bei der Aufnahme ins US-Militär werden standardmäßig ein HIV-Screening durchgeführt und die Blutproben aufbewahrt, ebenso die von Verlaufsuntersuchungen. Die Autoren konnten so auf Blutproben von mehr als 10 Millionen Menschen über einen Zeitraum von 20 Jahren zugreifen. Studienaufgabe war, wie sie selber schreiben

„an experiment of nature“, a longitudinal investigation of MS incidence in a cohort of EBV-negative individuals, some of whom will be infected with EBV during the follow-up and some who will not.

Sie stellen auch noch mal das Hauptproblem mit Kausalität und Korrelation beim Thema EBV und MS heraus:

The ubiquitous nature of EBV, which infects 95% of adults, and the fact that MS is a relatively rare disease, has until now impeded such an investigation.

Beim Eintritt in das MS-Militär waren 5,3% der Militärangehörigen EBV-negativ, was gut mit der angenommenen Durchseuchung von 95% der erwachsenen Bevölkerung übereinstimmt. 955 MS-Erkrankungen wurden in dem Beobachtungszeitraum wurden dokumentiert, bei 801 Fällen konnte der EBV-Status festgestellt werden. Von den 801 MS-Fällen trat genau einer auf, der in der letzten Blutprobe vor der MS-Erkrankung (ca. 1 Jahr vor Erkrankungsbeginn) noch EBV-negativ gewesen war, 800 bei EBV-positiven. 35 Militärangehörige, die später eine MS entwickelten, waren bei Studieneinschluss EBV-negativ, davon erlitten 34 eine EBV-Infektion im Beobachtungszeitraum, einer – der erwähnte – nicht, bzw. ggfs. erst nach der letzten Blutabnahme. Die Serokonversionsrate bei MS-Patienten lag damit bei 97% gegenüber 57% bei denen, die keine MS entwickelten. Die statistische Hauptaussage der Studie lautet demnach auch:

The HR for MS comparing EBV seroconversion versus persistent EBV seronegativity was 32,4.

Im Mittel erfolgte die EBV-Infektion 5 bis 7,5 Jahre vor dem Beginn der MS-Erkrankung.

Für die Kontrollgruppe wurden für jeden MS-Fall zwei zufällig ausgewählte Kontrollprobanden eingeschlossen, welche sich hinsichtlich Alter, Geschlecht, Ethnizität, Waffengattung beim Militär und Zeitpunkt der Blutentnahme entsprachen. Um Confounder wie Umweltfaktoren oder spezielle Verhaltensweisen auszuschließen, untersuchten die Autoren die Antikörper-Titer von CMV, welches auch ein Herpes-Virus ist, welches auch über den Speichel übertragen wird und welches ebenfalls eine extrem hohe Durchseuchung in der Bevölkerung aufweist und somit bei US-Militärangehörigen mit EBV nahezu gleich verteilt ist. Es gab keinen Unterschied in der Serokonversion von CMV bei später MS-Erkrankten und ihrer Kontrollgruppe. Das MS-Erkrankungsrisiko war bei CMV-positiven sogar geringer als bei CMV-negativen.

Aus vorherigen Arbeiten war schon bekannt, dass EBV-Infektionen der MS-Klinik mehrere Jahre vorausgehen, ein klinisch stummer Erkrankungsbeginn wie bei anderen neurologischen Erkrankungen auch (z.B. neurodegenerativen Erkrankungen) ist sehr wahrscheinlich. Wie in vielen Arbeiten der letzten Zeit wurde neurofilament light chain (NFL) als im Serum bestimmbarer, neuer, neuronaler Schädigungsmarker bestimmt.

Die NFL-Titer waren bei allen EBV-negativen Probanden zunächst ähnlich niedrig und entwickelten sich zum Zeitpunkt der EBV-Infektion ebenfalls vergleichbar. Nach der Infektion stiegen sie aber bei den Probanden, die später eine MS entwickelten stark an, bei denen die keine MS entwickelten nicht.

Um hier Confounder auszuschließen wurde bei 30 MS-Erkrankten und 30 gesunden Kontrollprobanden zu Zeitpunkten kurz vor und kurz nach der MS-Manifestation ein umfassendes Screenings auf humanpathogene Viren durchgeführt, welches bis auf die durchgemachte EBV-Infektion bei den MS-Patienten keine Auffälligkeiten zeigte.

Die Autoren schlussfolgern demnach:

A causal interpretation of our results requires ruling out the possibility that systematic differences can be grouped into two categories (i) confounding by known or unknown factors ans (ii) reverse causation.

Confounding by known facts is virtually ruled out by the strength of the association. To explain a 32-fold increase in MS risk of EBV seroconversion and a >60-fold risk of MS. None of known or suspected risk factors for MS has such strong associations.

Sie führen weiter aus, dass für die erwähnte HLA-DRB15-Konfiguration das MS-Erkrankungsrisiko gerade mal 3 bis 6 Mal erhöht ist und dass dies der bekannteste stärkste Risikofaktor ist. Und weiter:

The existence of a still unknown factor that increases the risk of both EBV infection and MS by >60-fold is rather implausible and there are no good candidates, even hypothetical ones.

Hinsichtlich der Möglichkeit einer „reverse causation“ schreiben die Autoren, dass eine Dysregulation des Immunsystems durch die beginnende MS eine EBV-Infektion begünstigt hätte. Hierfür, so führen sie aus, haben sie aber überhaupt keinen Anhalt, auch nicht für eine andere Infektion, welche derartige Phänomene bedingen könnte. Zudem sprächen die NFL-Titer und ihr Verlauf für den Zusammenhang zwischen EBV-Infektion und MS-Erkrankung.

In der Schlussfolgerung des Artikels kommen noch zwei interessante Gedanken zur Sprache:

  • Wenn es eine EBV-Impfung gäbe, könnte man MS vermutlich verhindern
  • Rituximab und Ocrelizumab als sehr potente MS-Therapeutika sind B-Zell-Inhibitoren, da sie an den CD20-Rezeptor binden. B-Zellen sind es aber, in denen EBV persistiert. Ggfs. könnte ein therapeutischer Ansatz zur Behandlung der MS weniger eine allgemeine CD20-Blockade (ist für das derzeit allgegenwärtige Thema COVID-19-Impfung eh Mist) sein und viel mehr eine spezifische EBV-Therapie (die es aber bislang noch nicht gibt).

Ein kurzes Fazit

Ein Mega-Paper meiner Meinung nach. Furchtbar oft kann man in der Medizin zwar Korrelationen nachweisen, sehr selten aber nur Kausalitäten. Für das Thema EBV und MS gilt das nun nicht mehr, den direkten Kausalzusammenhang kann man wohl nicht mehr wegdiskutieren.

Wo man weiterlesen kann

Bjornevik K, Cortese M, Healy BC, et al. Longitudinal analysis reveals high prevalence of Epstein-Barr virus associated with multiple sclerosis. Science. Published online January 21, 2022:1-10. doi:10.1126/science.abj8222

Cortese, M., Munger, K. L., Martínez-Lapiscina, E. H., Barro, C., Edan, G., Freedman, M. S., Hartung, H.-P., Montalbán, X., Foley, F. W., Penner, I. K., Hemmer, B., Fox, E. J., Schippling, S., Wicklein, E.-M., Kappos, L., Kuhle, J., & Ascherio, A. (2020). Vitamin D, smoking, EBV, and long-term cognitive performance in MS. Neurology, 94(18), e1950–e1960. https://doi.org/10.1212/WNL.0000000000009371

Dobson, R., & Giovannoni, G. (2019). Multiple sclerosis – a review. European Journal of Neurology, 26(1), 27–40. https://doi.org/10.1111/ene.13819

Jelcic, I., Al Nimer, F., Wang, J., Lentsch, V., Planas, R., Jelcic, I., Madjovski, A., Ruhrmann, S., Faigle, W., Frauenknecht, K., Pinilla, C., Santos, R., Hammer, C., Ortiz, Y., Opitz, L., Grönlund, H., Rogler, G., Boyman, O., Reynolds, R., … Martin, R. (2018). Memory B Cells Activate Brain-Homing, Autoreactive CD4+ T Cells in Multiple Sclerosis. Cell, 175(1), 85-100.e23. https://doi.org/10.1016/j.cell.2018.08.011

Martin, R., Sospedra, M., Rosito, M., & Engelhardt, B. (2016). Current multiple sclerosis treatments have improved our understanding of MS autoimmune pathogenesis. European Journal of Immunology, 46(9), 2078–2090. https://doi.org/10.1002/eji.201646485

Weitere Literaturangaben (keine Weiterlese-Tips)

Döring, A., Paul, F., & Dörr, J. (2013). Vitamin D und Multiple Sklerose: Der Stellenwert für das Erkrankungsrisiko und die Behandlung. Nervenarzt, 84(2), 173–189. https://doi.org/10.1007/s00115-012-3645-z

Hupperts, R., Smolders, J., Vieth, R., Holmøy, T., Marhardt, K., Schluep, M., Killestein, J., Barkhof, F., Beelke, M., & Grimaldi, L. M. E. (2019). Randomized trial of daily high-dose vitamin D 3 in patients with RRMS receiving subcutaneous interferon β-1a. Neurology, 93(20), 10.1212/WNL.0000000000008445. https://doi.org/10.1212/WNL.0000000000008445

Ruprecht, K. (2013). Multiple Sklerose und Epstein-Barr-Virus: Eine aktuelle Übersicht. Aktuelle Neurologie, 40(07), 400–407. https://doi.org/10.1055/s-0033-1347250

Ideen zur Pathogenese von Long Covid

Grundsätzliche Überlegungen

In den zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema Long Covid werden verschiedene Vermutungen angestellt, warum sich das Phänomen überhaupt entwickelt. Da es sich bei den meisten Symptomen um neuropsychologische Defizite im weitesten Sinne handelt („Neuro-COVID“), gehen die meisten ätiologischen Überlegung in Richtung ZNS-Beteiligung an der COVID-Infektion. In der Regel wird entweder eine ZNS-Pathogenität des Virus selber oder – und das in der letzten Zeit zunehmend – eine autoimmunvermittelte Genese im Rahmen des berühmten „Zytokinsturms“, also der Immunantwort auf die Virusinfektion mit hieraus entstehenden Schäden an Neuronen postuliert.

In der letzten Zeit rücken auch andere Organsysteme, v.a. das Herz in den Fokus, gerade weil ja auch „Herzrhythmusstörungen“ als Long Covid-Symptome beschrieben werden.

Insgesamt ähneln sich die Überlegungen weitestgehend mit denen zu den anderen postinfektiösen (Erschöpfungs-)Syndromen (siehe Teil 1 der Reihe, Link). Was bislang noch weitestgehend ausgespart wurde (und auch teilweise offensiv negiert wird), ist die Möglichkeit einer psychosomatischen Genese der Beschwerden. Dabei ist dies sowohl im historischen Kontext, als auch in der ätiologischen Differentialdiagnostik sicherlich nicht die unwahrscheinlichste Möglichkeit. Aber hier spürt man noch sehr deutlich die anhaltende Diskriminierung psychosomatischer Beschwerden als „nichts echtes“,„Spinnkram“, „Hysterie“ oder „Simulantentum“, auch und insbesondere von Betroffenen selbst. Doch dazu später noch einmal mehr.

ZNS-Invasion von SARS-CoV2 oder Autoimmunität?

Persistenz von SARS-CoV2 in Geweben

Gerade zu Beginn der Pandemie wurden mehrere Paper veröffentlicht, in denen es um die Dauer ging, in der SARS-CoV2 zunächst im Rachen, später aber auch an anderen Stellen nachweisbar war. Dabei konnte gezeigt werden, dass gerade und insbesondere auch bei leicht betroffenen Patienten SARS-CoV2-PCR sehr lange auch nach klinischer Genesung positiv sein können (bis zu 70 Tagen). Draus wurde die Hypothese abgeleitet, dass durch das persistierende Virus entweder die Long Covid-Beschwerden direkt entstehen oder ein andauernder Immunprozess ausgelöst würde, der zu Long Covid-Symptomen führen würde.

Eine Hamburger und eine Aachener Studie helfen weiter

Das mit der direkten ZNS-Pathogenität klingt erst einmal ganz charmant und war auch die erste Idee, die öffentlich diskutiert wurde. So nahm man an, dass der häufige Geschmacks- und Geruchsverlust durch eine Neuroinvasion von SARS-CoV2 bedingt war. Auch war relativ schnell klar, dass SARS-CoV2 ACE-Rezeptoren benutzt, um in die Gewebe einzudringen und ACE-Rezeptoren gibt es eben nicht nur in der Lunge, im Herzen und den großen Gefäßen, sondern auch in großer Zahl an der Blut-Hirn-Schranke. Es wurde dann vorgeschlagen (vgl. Baig), die COVID-Manifestationen (und damit auch die Infektionsorte) nach den betroffenen Organsystemen zu benennen, eben Neuro-COVID, Kardio-COVID, GI-COVID, Angio-COVID usw. Allerdings konnten schon früh z.B. im Rahmen der Hamburger Autopsie-Reihenstudie bei COVID-Toten nur in der Hälfte der Fälle Hinweise für eine SARS-CoV2-Virusinfektion des ZNS gefunden werden (vgl. Matschke et al. Was regelhaft gefunden werden konnte, waren neben abgelaufenen Hirninfarkten und Hirnblutungen Mikroglia-Aktivierungen in der weißen Substanz, wie man sie teilweise als Befunde auch aus Hirnbiopsien kennt (und die man dann oft als unspezifisch postentzündlich einschätzt werden), sowie eine aseptische T-Zell-Aggregationen im Hirnstamm und Kleinhirn als Zeichen einer hier stattfindenden Neuroinflammation.

Eine Ergänzung zur Hamburger Arbeit stellt die Arbeit von Yang et al. dar, in der sehr aufwändig molekulargenetisch Genanalysen aus Hirngewebe-Proben aus an COVID-19 verstorbenen Patienten vorgenommen wurden. Auch hier konnte in keiner der Proben SARS-CoV2-RNA per PCR im Hirngewebe nachgewiesen werden. Was gefunden werden konnte, waren die schon beschriebenen Mikroglia-, aber auch T-Zell-Aktivierungen. Die Autoren gehen von einer Blut-Hirn-Schranken-Störung im Plexus choreideus aus, mit hier besonders explizierten Abwehr-Genen gegen Virus-Infektionen (IFITM3), Komplement- und Zytokin-Aktivierung. Heruntergeregelt waren hingegen Gene, die in der Neurotransmission von Bedeutung sind. Ein ähnliches Muster sei in der Vergangenheit bei Autismus-Spektrum Störungen mit kognitiven Störungen beschrieben worden.

In einer Arbeit von Ermis et al. aus Aachen wurde das Phänomen Neuro-COVID sehr gründlich untersucht. Von 138 Patienten, die in Aachen in der ersten Krankheitswelle stationär behandelt wurden, konnten 53 neurologisch untersucht und in die Studie eingeschlossen werden. 28 Patienten wurden intensivmedizinisch, 25 auf einer COVID Unit auf einer Normalstation behandeltBei neun Patienten wurden Liquorproben gewonnen, bei dreien fand sich eine leichte Pleozytose und eine Schrankenstörung als Hinweis auf einen entzündlichen ZNS-Prozess, bei sechs nicht. Bei den drei Patienten mit einem entzündlichen Liquor waren die D-Dimer-, Ferritin-, Interleukin (IL)-2-Rezeptor-, Interleukin (IL)-6- und TNF-alpha-Spiegel auch im Liquor erhöht, in keiner der Liquorproben konnte SARS-CoV2-RNA nachgewiesen werden, wohl aber EBV- und HSV-DNA im Liquor (das wird später noch mal wichtig). Zwei der drei Patienten hatten auch Hirnnervenausfälle, so dass man von einer Hirnnervenneuritis ausging und antiviral behandelte. 10 Patienten mit einem ARDS und entsprechender Intensivpflichtigkeit hatten zwischenzeitlich positive PCR aus der Herpesgruppe (HSV, VZV, CMV oder EBV) im Serum, was man als Reaktivierung im Rahmen des schweren systemischen Krankheitsbildes verstand (auch das wird noch mal wichtig). Bildgebend konnten nicht alle Patienten untersucht werden, sondern nur 27. Hier zeigten sich eine erhöhte Anzahl von ischämischen Schlaganfällen (11%) und kortikalen Subarachnoidalblutungen (30%), beides v.a. bei den schwer betroffenen Patienten. Vier der acht Patienten mit einer Subarachnoidalblutung wurden mittels ECMO behandelt. EEG-Untersuchungen wurden bei acht Patienten abgeleitet (sechs mit ARDS), hier fanden sich überwiegend Allgemeinveränderungen und Zeichen einer subkortikalen Funktionsstörung, bei zwei Patienten auch epilepsietypische Muster.

Die Autoren reflektieren sehr angenehm, dass auch bei ihnen die Rate der Schlaganfälle über dem statistisch Erwartbaren lag, dass aber viele Patienten ausgeprägte vaskuläre Risikofaktoren und/oder eine disseminierte intravasale Gerinnung (DIC) hatten, so dass man eigentlich keine gute Aussage über die konkrete Schlaganfallgenese machen konnte. Eine COVID-Meningits oder -Enzephalitis konnte nicht festgestellt werden, 24% der Patienten litten an einer critical illness Polyneuropathie/Myopathie (CIP/CIM) (Link). 61,5% der Patienten hatten – in der akuten Phase der Erkrankung – kognitive Defizite im MoCA-Test (Link), v.a. im Bereich der Exekutivfunktionen, der Aufmerksamkeit, der Sprache und im verzögerten Gedächtnisabruf. Von den kognitiv alterierten Patienten war bei einem Patient eine Parkinson-Erkrankung bekannt, die übrigen galten bis zur COVID-Infektion als kognitiv unauffällig. Eine Veröffentlichung mit Verlaufsuntersuchungen der Kohorte hinsichtlich ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit sei geplant schreiben die Autoren.

Ich halte dies für eine sehr gute Studie, die den aktuellen Wissensstand zum Thema Neuro-COVID zusammenfasst. Was man sonst noch findet sind Einzelfallberichte zu „spektakulären“ Fällen, wie eine Fallserie von zwei tödlichen COVID-19-Infektionen von Jensen et al., in der einmal von multiplen embolischen ischämischen Hirninfarkten und einmal von einer Hirnstammenzephalitis berichtet wurde. Was es auch gibt, sind Berichte postinfektiös aufgetretener Enzephalomyelitiden (vgl. Kim et al.), wie man sie auch nach anderen Virusinfektionen, v.a. aus der Herpes-Gruppe kennt. Und es gibt Einzelfallberichte, z.B. aus Lübeck, wo nach milder COVID-Primärinfektion ein deutliches Long Covid-Syndrom mit neuropsychologischen Defiziten bei einer jüngeren, komorbide an einer Depression erkrankten Patientin auftrat. Diese Patientin hatte deutlich erhöhte intrathekale SARS-CoV2-Antikörper.

Wo man weiterlesen kann

Matschke, J., Lütgehetmann, M., Hagel, C., Sperhake, J. P., Schröder, A. S., Edler, C., Mushumba, H., Fitzek, A., Allweiss, L., Dandri, M., Dottermusch, M., Heinemann, A., Pfefferle, S., Schwabenland, M., Sumner Magruder, D., Bonn, S., Prinz, M., Gerloff, C., Püschel, K., … Glatzel, M. (2020). Neuropathology of patients with COVID-19 in Germany: a post-mortem case series. The Lancet Neurology, 19(11), 919–929. https://doi.org/10.1016/S1474-4422(20)30308-2

Yang, A. C., Kern, F., Losada, P. M., Agam, M. R., Maat, C. A., Schmartz, G. P., Fehlmann, T., Stein, J. A., Schaum, N., Lee, D. P., Calcuttawala, K., Vest, R. T., Berdnik, D., Lu, N., Hahn, O., Gate, D., McNerney, M. W., Channappa, D., Cobos, I., … Wyss-Coray, T. (2021). Dysregulation of brain and choroid plexus cell types in severe COVID-19. Nature. https://doi.org/10.1038/s41586-021-03710-0

Ermis, U., Rust, M. I., Bungenberg, J., Costa, A., Dreher, M., Balfanz, P., Marx, G., Wiesmann, M., Reetz, K., Tauber, S. C., & Schulz, J. B. (2021). Neurological symptoms in COVID-19: a cross-sectional monocentric study of hospitalized patients. Neurological Research and Practice, 3(1), 17. https://doi.org/10.1186/s42466-021-00116-1

Bleibender Nervenzellschaden? Ja oder Nein?

Hier gibt es zwei interessante – auf den ersten Blick in ihren Aussagen aber diametral unterschiedliche – Arbeiten, die es sich zu lesen lohnt. Die erste Arbeit stammt aus Göteborg (Kranberg et al.). Hier wurden 100 Patienten zwischen Februar und November 2020 mit durchgemachter COVID-19-Infektion mit leichtem (24, asymptomatische oder ambulant behandelte Patienten), mäßigem (28, stationär auf Normalstation behandelt) und schwerem (48, hoher Sauerstoffbedarf oder intensivmedizinische Behandlung) COVID-Verlauf über gut 7 Monate nachbeobachtet. Mit einer Rate von fast 50% Patienten mit Long Covid-Symptomen berichteten sehr viele Probanden über anhaltende Beschwerden. Es wurde eine geschlechts- und alterskorrelierte Kontrollgruppe mit gesunden Probanden gebildet. Aus Blutproben der Probanden wurden zwei derzeit heiß diskutierte Serummarker für Nervenzelluntergang Neurofilament-Leichtketten (NfL) und saures Gliafaserprotein (GFAP) bestimmt. Über diese Marker wird auch einer der nächsten Blogbeiträge gehen. Im Gegensatz zur Bestimmung von Tau-Protein als Marker eines neuronalen Unterganges haben die zwei Werte den Vorteil, dass sie ohne Liquorpunktion gewonnen werden können. Alle drei Marker werden bislang vorwiegend in Studien-Settings bestimmt und stehen für Routine-Laboranalysen in der Breite noch nicht zur Verfügung.

In der akuten Phase der Erkrankung waren die Spiegel zuerst von GFAP und dann auch von NfL v.a. bei den älteren und schwer betroffenen Patienten erhöht, GFAP auch bei den moderaten Krankheitsverläufen. Zum Ende der Nachbeobachtungszeit hatten sich bei allen Probanden die Serumspiegel wieder normalisiert, unabhängig davon, ob sie an Long Covid-Symptomen litten oder nicht.

Die Autoren schlussfolgern, dass GFAP – was in erster Linie mit einer Astrozytenschädigung assoziiert ist – zunächst zu Beginn der COVID-Infektion mit Affektion von Riechschleimhaut, systemischer Entzündungsreaktion, Mikrothrombosen ansteigt, NfL – was einen Neuronenschaden anzeigt – vor allem bei schweren Krankheitsverläufen und etwas zeitversetzt zu GFAP erhöht ist. Die Autoren vermuten, dass Long Covid-Symptome entsprechend ihren Studienergebnissen sich nicht durch eine neuronale Schädigung erklären. Sie schreiben unter Verweis auf andere Arbeiten, dass ihres Erachtens COVID-Erkrankungen nicht mit anderen, klassisch neurotropen, Infektionskrankheiten vergleichbar sind, da es eben kaum, bzw. nur in einem sehr begrenzten Umfang zu einer intrathekalen Virus-RNA-Aussaat, einer intrathekalen Antikörperproduktion oder einer Blut-Liquor-Schrankenstörung kommt und dementsprechend eine direkte virale ZNS-Infektion nicht plausibel für die neurologischen Symptome während und nach COVID in Frage kommt.

Einschränkend weisen die Autoren darauf hin, dass eine NfL-Erhöhung (die ja vor allem bei älteren Patienten und schwereren Krankheitsverläufen auftrat) auch bei einer CIP/CIM ([Link]) beobachtet werden kann, der Anstieg von GFAP als nur im ZNS vorkommender Marker aber nicht.

Eine türkische augenärztliche Studie hat ebenfalls ein relativ neues Untersuchungsverfahren die corneal confocal microscopy benutzt, um sich der Frage neuronaler Schäden bei Long Covid zu nähren.
Dazu muss man kurz einige erklärende Sätze zu diesem Untersuchungsverfahren zwischenfügen: Bei der konfokalen Cornea-Mikroskopie wird in der Hornhaut die Nervenfaserdichte peripherer Nervenfasern untersucht. Das Verfahren unterscheidet sich daher von der optischen Kohärenztomografie, mit der die Nervenfaserdicke der Retina gemessen werden kann und welche außer bei augenärztlichen Fragestellungen unter anderem bei der Multiplen Sklerose benutzt wird um einen Untergang zentraler Neuronen zu zeigen. Befunde einer abnehmenden Nervenfaserdichte konnten bei der konfokalen Cornea-Mikroskopie in der Vergangenheit bei diabetischen Polyneuropathien, der small fibre Neuropathie und dem Fibromyalgie-Syndrom nachgewiesen werden.

In der türkischen Studie wurden 40 COVID-Patienten ca. 3,5 Monate nach durchgemachter Infektion untersucht. Es gab eine Kontrollgruppe aus gesunden Probanden. 83% der Teilnehmer der Interventionsgruppe hatten leichte oder moderate COVID-Verläufe. Auch hier erscheint die Long Covid-Symptom-Rate mit 78% nach vier und 62% nach 12 Wochen relativ hoch. Probanden mit neurologischen Long Covid-Symptomen wie Konzentrationsstörungen oder eine vorschnelle Ermüdbarkeit hatten in der Studie eine abnehmende Dichte und Länge kornealer Nervenfasern, zudem eine erhöhte Rate unreifer dendritischer Zellen, wie man sie bei entzündlichen Prozessen finden kann. Probanden mit nicht-neurologischen Long Covid-Symptomen (z.B. anhaltender Husten) hatten nur eine erhöhte Rate von unreifen dendritischen Zellen. Es gab eine Assoziation der pathologischen Mikroskopiebefunde mit schweren Krankheitsverläufen, anhaltenden neurologischen und muskuloskelettalen Beschwerden.
Die Autoren schreiben zu den Limitationen ihrer Studie, dass ein Problem die fehlende Quantifizierung von Neuropathien mittels Elektrophysiologie (für die Neuropathien mittlerer und großer Nervenfasern) und Hautbiopsie (für die small fibre Neuropathie) erfolgte, zudem keine klinisch-neurologische Untersuchung, sondern nur eine Erfassung der Symptome per Fragebogen. Dementsprechend muss auch hier ein gewisser bias durch versehentlichen Miteinschloss von CIP/CIM angenommen werden.

Die Studie ist dennoch extrem interessant und zwar, auf Grund der Befunde der konfokalen Cornea-Mikroskopie beim Fibromyalgie-Syndrom ([Link]) und der small fibre Neuropathie. Wesentliche Gemeinsamkeiten mit der Fibromyalgie sind die schnelle körperliche Erschöpfbarkeit und mit Fibromyalgie und small fibre Neuropathie das fehlende Korrelat in den klassischen apparativen Untersuchungsverfahren. Was sich mir nicht logisch erscheint ist folgender Punkt: Die korneale Nervenfaserdichte spiegelt die Dichte peripherer Neuronen wieder. Dass diese bei der diabetischen Polyneuropathie, der small fibre Neuropathie und der CIP/CIM erniedrigt sind, erscheint logisch. Aber warum zentral-nervöse Symptome wie eine vermehrte Erschöpfbarkeit oder chronische Müdigkeit sich hierdurch erklären sollen, ist irgendwie weniger logisch.

Wo man weiterlesen kann

Bitirgen, G., Korkmaz, C., Zamani, A., Ozkagnici, A., Zengin, N., Ponirakis, G., & Malik, R. A. (2021). Corneal confocal microscopy identifies corneal nerve fibre loss and increased dendritic cells in patients with long COVID. British Journal of Ophthalmology, bjophthalmol-2021-319450. https://doi.org/10.1136/bjophthalmol-2021-319450
Kanberg, N., Simrén, J., Edén, A., Andersson, L.-M., Nilsson, S., Ashton, N. J., Sundvall, P.-D., Nellgård, B., Blennow, K., Zetterberg, H., & Gisslén, M. (2021). Neurochemical signs of astrocytic and neuronal injury in acute COVID-19 normalizes during long-term follow-up. EBioMedicine, 70, 103512. https://doi.org/10.1016/j.ebiom.2021.103512

The return of EBV

Wie es so ist, manchmal ist der erste Gedanke offenbar doch nicht der schlechteste: Durch einen Twitter-Tweet von F_I_Briest kam das Thema EBV zurück:

Es geht dabei um eine Arbeit von Gold et al. mit relativ geringer Probandenzahl (185), bei denen ca. ein Drittel (56) Long-Covid-Beschwerden hatte (was mir extrem viel vorkommt). Bei den Probanden mit Long Covid konnten in 2/3 der Fälle serologische Marker einer EBV-Reaktivierung gefunden werden, also EBV-EA-AK und EBV-VCA-IgM (vergleiche auch hier Link). In einer Kontrollgruppe mit durchgemachter COVID-Infektion aber ohne Long Covid-Symptome konnte eine EBV-Reaktivierung nur bei 10% der Probanden festgestellt werden. Ein ähnliches Verhältnis von 2/3 EBV-Reaktivierungen konnte man auch bei einer zweiten Kohorte Probanden mit gerade erst durchgemachter COVID-Infektion feststellen. Die Autoren der Studie weisen auf die frappierende Ähnlichkeit von long EBV-Symptomen und Long Covid hin, zudem auf mehrere andere Untersuchungen (Chen et al. Und Simonnet et al.) , die eine Reaktivierung von EBV- (aber auch anderen Herpes-Viren) bei schwer betroffenen COVID-Patienten nachweisen konnten. Zudem deckt sich die Studie von Gold et al. in dem Bereich mit der Aachener Neuro-COVID-Studie, dass die dort identifizierten Patienten mit einem entzündlichen Liquor-Syndrom alle einen Nachweis von Viren aus der Herpes-Gruppe (EBV und HSV) im Liquor hatten.

Ich möchte noch ergänzen, dass mit der Gedanke aus zwei Gründen attraktiv erscheint: Einmal, auf Grund der offenkundigen klinischen Ähnlichkeit zwischen long EBV und Long Covid und auf Grund der Tatsache, dass wir wissen, dass Viren der Herpes-Gruppe (insbesondere HSV) nach einer Primärinfektion offenbar stark Autoimmunenzephalitiden triggern (der Klassiker wäre die NMDA-Rezeptor-Enzephalitis nach der durchgemachten HSV-Enzephalitis). Jetzt gibt es bei den allermeisten Long Covid-Betroffenen keine Hinweise auf manifeste Enzephalitiden, aber als Zeichen einer vermehrten Autoimmunität vermittelt durch Herpes-Viren-Primärinfektionen kann das schon verstanden werden.

Wo man weiterlesen kann

Gold, J. E., Okyay, R. A., Licht, W. E., & Hurley, D. J. (2021). Investigation of Long COVID Prevalence and Its Relationship to Epstein-Barr Virus Reactivation. Pathogens, 10(6), 763. https://doi.org/10.3390/pathogens10060763

Chen, T., Song, J., Liu, H., Zheng, H., & Chen, C. (2021). Positive Epstein–Barr virus detection in coronavirus disease 2019 (COVID-19) patients. Scientific Reports, 11(1), 10902. https://doi.org/10.1038/s41598-021-90351-y

Simonnet, A., Engelmann, I., Moreau, A.-S., Garcia, B., Six, S., El Kalioubie, A., Robriquet, L., Hober, D., & Jourdain, M. (2021). High incidence of Epstein–Barr virus, cytomegalovirus, and human-herpes virus-6 reactivations in critically ill patients with COVID-19. Infectious Diseases Now, 51(3), 296–299. https://doi.org/10.1016/j.idnow.2021.01.005

Endothelopathie

Die Fortführung der ACE-Rezeptor-Idee ist, dass Long Covid-Symptome durch eine Endothelschädigung durch COVID-19 entstehen.
In einer irischen hämatologischen Studie wurde zwischen Mai und September 2020 das Serum von 50 Patienten mit durchgemachter COVID-19-Infektion untersucht, im Mittel gut 2 Monate nach der Infektion (Fogarty et al.) Gesucht wurde nach Biomarkern, die Endothelschäden und die Aktivierung von Thrombozyten zeigen konnten. Vergleichen wurden die Proben mit den Seren von 17 nicht stationär behandelten, nicht an COVID-19 erkrankten Probanden. Untersucht wurden der Von-Willebrand-Faktor ([Link Wikipedia]) und eine seiner Vorstufen, die Aktivität von Faktor VIII ([Link Wikipedia]), lösliches Thrombomodulin (als Zeichen einer Endothelschädigung) und die Thrombinaggregation ([Link Wikipedia]). Die Laborwerte wurden mit klinischen Markern und Befunden (Röntgenbild der Lunge, Gehstreckentest, Sauerstoffsättigung und einem Fatigue-Score) assoziiert. Die Autoren konnten zeigen, dass auch gut zwei Monate nach der COVID-Infektion das Blutgerinnungssystem aktiver war, als bei nicht-COVID-Probanden. Es gab eine starke Korrelation zwischen Blutgerinnungsaktivierung mit dem Alter der Patienten, den Vorerkrankungen und der Schwere der COVID-Infektion. Auch konnten die Blutgerinnungsauffälligkeiten mit schlechteren Ergebnissen im Gehstreckentest und vermehrter Fatigue korreliert werden. Wenn man mit statistischen Methoden den Einfluss von Schwere der Infektion, Alter und Geschlecht herausrechnete, konnte dieser Zusammenhang nicht mehr gezeigt werden. Die Autoren schlussfolgern dementsprechend, dass ältere und schwerer an COVID-erkrankte Patienten statistisch häufiger anhaltende Blutgerinnungsauffälligkeiten haben. Sie merken selber an, dass schlechtere Ergebnisse im Gehstreckentest durchaus auch mit dem Alter und den Begleiterkrankungen der Patienten zu tun gehabt haben können. Sie schreiben weiter:

It is important to emphasize that EC activation and dysfunction have also been described to play important roles in the pathogenesis of other severe viral illnesses including influenza.

schreiben aber auch weiter

However, specific differences in vascular perturbance between acute COVID-19 and influenza have also been described.

und begründen dies mit den Ergebnissen aus Autopsiestudien, die mehr Mikroembolien bei an COVID-Verstorbenen als an Grippe-Verstorbenen gezeigt hätten. Somit bestünden sowohl Gemeinsamkeiten, als auch Unterschiede in der Aktivierung des Gerinnungssystems, Endothelschäden und immunologisch vermittelten Thrombosen bei SARS-CoV-2 und anderen Virusinfektionen.
In einem US-amerikanischen Review-Paper (Paul et al.) wurde die Wirkung von oxidativem Stress als mögliche Ursache von Long Covid-Symptomen, aber auch vom chronischen Müdigkeitssyndrom (siehe unten) beleuchtet. Die Autoren beschreiben die biochemischen Grundzüge von oxidativem Stress (Überangebot an reaktiven Sauerstoffmolekülen) und nitrosativem Stress (überschüssige Stickstoffdonatoren) auf den Zellstoffwechsel und damit auf die molekularbiologische Ebene der gerade beschriebenen Endothelschädigung. Relativ ausführlich wird auf Ergebnisse der immunbiologischen Grundlagenforschung eingegangen und dies mit den Besonderheiten von COVID-19-Infektionen (ACE-Bindung, Spike-Protein-Pathogenität) verglichen. Die Autoren stellen fest, dass es mehrere Arbeiten gibt, die einen vermehrten oxidativen und nitrosativen Stress bei COVID-Infektionen nahe legen. Sie vergleichen diese Erkenntnisse auch mit Untersuchungen zum chronischen Müdigkeitssyndrom, wo ein ähnlicher Effekt zu beobachten sei. Sie gehen weiter auf das Konzept der mitochondrialen Dysfunktion bei chronischen Müdigkeitssyndromen ein und übertragen dies auf COVID-19. In einem dritten Teil der Arbeit wird der Zusammenhang zwischen verschiedenen Zytokinen, wie IL-1 und anhaltenden Müdigkeitssymptomen beschrieben, wie man sie zum Beispiel bei der Hepatitis-Behandlung mit Interleukinen beobachten kann. Die Autoren führen dann diese Beobachtungen, sowie die in Autopsiestudien zu beobachtenden T-Zell-Aktivierung zu einem komplexen Zusammenspiel zwischen den einzelnen Faktoren oxidativer Stress, mitochondriale Dysfunktion und Immunaktivierung zusammen. Die Autoren schließen mit der Empfehlung, Redoxreaktionen (als “Gegenspieler“ von oxidativem Stress) ggfs. durch Vitamin-, Acetylcystein- oder CoEnzym Q10-Gaben anzustoßen.
Hier muss allerdings meines Erachtens angemerkt werden, dass dies Therapieverfahren sind, die in größeren Untersuchungen zum chronischen Müdigkeitssyndrom keine sicheren Therapieeffekte zeigen konnten (siehe unten).

Wo man weiterlesen kann

Fogarty, H., Townsend, L., Morrin, H., Ahmad, A., Comerford, C., Karampini, E., Englert, H., Byrne, M., Bergin, C., O’Sullivan, J. M., Martin‐Loeches, I., Nadarajan, P., Bannan, C., Mallon, P. W., Curley, G. F., Preston, R. J. S., Rehill, A. M., McGonagle, D., Ni Cheallaigh, C., … O’ Donnell, J. S. (2021). Persistent Endotheliopathy in the Pathogenesis of Long COVID Syndrome. Journal of Thrombosis and Haemostasis, jth.15490. https://doi.org/10.1111/jth.15490
Paul, B. D., Lemle, M. D., Komaroff, A. L., & Snyder, S. H. (2021). Redox imbalance links COVID-19 and myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome. Proceedings of the National Academy of Sciences, 118(34), e2024358118. https://doi.org/10.1073/pnas.2024358118

Klinische Neuro-COVID-Manifestationen

Kognitive Defizite durch COVID-10

Eine Arbeit aus Freiburg (Hosp et al.) greift den Gedanken aus der Aachener Studie auf und hat diese bei ihren stationären Patienten um aufwändigere Untersuchungen wie PET-Scans mit einer alterskorrelierten Kontrollgruppe ergänzt. Die Studie ist mit 29 Patienten kleiner als die Aachener, dafür aber detaillierter. Am Interessantesten sind die Ergebnisse der neuropsychologischen und der PET-Untersuchungen, welche meistens ca. einen Monat nach Krankheitsbeginn durchgeführt wurden. Die neuropsychologische Testung ergab ein ähnliches Bild, wie die Aachener Studie. Allerdings konnten die Freiburger Autoren keine Aufmerksamkeitsstörungen und damit keine Hinweise auf ein komorbides Delir (Link) in ihren Testungen feststellen. Das war in der Aachener Studie anders. In den PET-Scans wurde bei der Mehrzahl (67%) der COVID-Patienten mit neuropsychologischen Defiziten ein für neurodegenerative Erkrankungen untypisch (frontal und parietal) verteilter kortikaler Hypometabolismus beobachtet. Auch die Freiburger Studie konnte keine bildmorphologischen oder serologischen Anhaltspunkte für strukturell-läsionelle Schäden finden. Die Autoren gehen daher von einer zytokinbedingten neuronalen Funktionsstörung aus.

Charmant ist, dass es zu dieser Studie schon eine Folgestudie gibt (Blazhenets et al.), welche nach sechs Monate nochmals neuropsychologische und PET-Untersuchungen durchführte. Hier zeigte sich eine signifikante, allerdings nur inkomplette, Besserung sowohl der neuropsychologischen Defizite, als auch der PET-Befunde. Die Freiburger Autoren trauen sich sogar zu, anhand der PET-Verlaufs-Befunde und dem Vergleich mit gesunden Kontrollprobanden ein spezifisches, „COVID-19-bezogenes Kovarianzmuster“ in den PET-Untersuchungen identifizieren zu können. Das wäre durchaus spektakulär, da man dann ein bildgebendes Korrelat für „Neuro-COVID“ hätte.

Das große Aber ist, dass diese Studie mit schwer betroffenen, stationär behandelten Patienten durchgeführt wurde und sich nicht ohne weiteres auf die Long Covid-Beschwerden initial leicht betroffener Patienten übertragen lässt, wie der folgende Punkt zeigt:

Große Aufregung und Diskussionen gab es zuletzt um eine Studie von Hampshire et al., welche anhaltende kognitive Defizite nach durchgemachter COVID-Infektion zu zeigen schien. Es klingt auch erst einmal überzeugend, wenn die Autoren schreiben

People who had recovered from COVID-19, including those no longer reporting symptoms, exhibited significant cognitive deficits versus controls when controlling for age, gender, education level, income, racial-ethnic group, pre-existing medical disorders, tiredness, depression and anxiety.

Hampshire, A., Trender, W., Chamberlain, S. R., Jolly, A. E., Grant, J. E., Patrick, F., Mazibuko, N., Williams, S. C., Barnby, J. M., Hellyer, P., & Mehta, M. A. (2021). Cognitive deficits in people who have recovered from COVID-19. EClinicalMedicine, 000, 101044. https://doi.org/10.1016/j.eclinm.2021.101044

und feststellen, dass eine COVID-19-Erkrankung den IQ um bis zu 7 Punkte im Vergleich zum prämorbiden Zustand verringert. Die Studie wurde auch im deutschsprachigen Raum prominent promotet (ich nehme ausnahmsweise mal nicht Karl Lauterbach, der war aber auch dabei):

Ärgerlich wird es dann aber, wenn man feststellt, dass ein Großteil der Studienteilnehmer gar keinen positiven SARS-CoV2-Befund hatte:

https://twitter.com/christoph_rothe/status/1419019984978722822

Oder dass die Unterpopulationen so unterschiedlich waren, dass sie nahezu unvergleichbar sind:

Am Ende kann man, wenn man sich intensiv mit der Studie beschäftigt wohl wenig hilfreiches aus ihr ableiten.

Wo man weiterlesen kann

Hosp, J. A., Dressing, A., Blazhenets, G., Bormann, T., Rau, A., Schwabenland, M., Thurow, J., Wagner, D., Waller, C., Niesen, W. D., Frings, L., Urbach, H., Prinz, M., Weiller, C., Schroeter, N., & Meyer, P. T. (2021). Cognitive impairment and altered cerebral glucose metabolism in the subacute stage of COVID-19. Brain, 1–14. https://doi.org/10.1093/brain/awab009

Blazhenets, G., Schröter, N., Bormann, T., Thurow, J., Wagner, D., Frings, L., Weiller, C., Meyer, P. T., Dressing, A., & Hosp, J. A. (2021). Slow but evident recovery from neocortical dysfunction and cognitive impairment in a series of chronic COVID-19 patients. Journal of Nuclear Medicine, jnumed.121.262128. https://doi.org/10.2967/jnumed.121.262128

Der Elefant im Raum: Das chronische Erschöpfungssyndrom

Ich hatte es ja nun schon mehrfach angedeutet: Es gibt zwischen dem einen Kernsymptom dessen, was in der Öffentlichkeit unter Long Covid verstanden wird, nämlich der anhaltenden Müdigkeit und verminderten körperlichen Belastbarkeit und dem chronischen Erschöpfungssyndrom große Überschneidungen.

Was ist das chronische Erschöpfungs-, bzw. Müdigkeitssyndrom überhaupt?

In erster Linie ist es eine bislang schwer umstrittene Krankheitsentität. Die seit vielen Jahren geführte Grundsatz-Auseinandersetzung dreht sich um die Frage, ob das chronische Erschöpfungssyndrom eigentlich eine eigene Krankheit ist (Befürworter weisen hier regelhaft auf die eigene ICD-Kodierung hin) oder ob es sich um eine depressive Störung ggfs. mit somatoformen Symptomen oder eine Anpassungsstörung handelt. Diese Frage ist mit sehr viel Vorurteilen und Emotionen aufgeladen und das merkt man auch jetzt in der Long Covid-Diskussion.

2017 und damit kurz vor der SARS-CoV-2-Pandemie erschien ein deutschsprachiges Review von Rollnik zu dem Thema, was sich sehr eindeutig positioniert und dem chronischen Müdigkeits- und Erschöpfungssyndrom (so wird die Erkrankung dort bezeichnet) das Wesen einer eigenständigen Erkrankung abspricht. Insbesondere wird ausführlich auf die widersprüchlichen und nicht konsistenten Hypothesen zur erreger-, autoimmun oder genetisch vermittelten Genese des chronischen Erschöpfungssyndromes (CFS) eingegangen. Auch die vermutlich nicht haltbaren Ergebnisse neuroanatomischer Besonderheiten bei CFS-Patienten aus MRT-Studien mit kleiner Fallzahl werden erwähnt. Der Autor beschreibt, dass, obwohl es eigentlich ein Ausschlusskriterium der Diagnose eines chronischen Erschöpfungssyndromes sein sollte, in einer von CFS-Befürwortern angeführten repräsentativen Studie aus den USA 70% derjenigen, die an einem Erschöpfungssyndromes gelitten hätten, auch die Diagnose einer depressiven Störung gehabt hätten. Das Verhältnis von Frauen zu Männern in der Studie habe bei 4:1 gelegen, es seien überwiegend Menschen mit höherem Bildungsstatus betroffen gewesen. Er beschreibt die sehr stark schwankenden Angaben zur Inzidenz der Erkrankung von unter 1% der Bevölkerung auf bis zu 7%, je nachdem ob die Diagnose ärztlich ermittelt worden sei (niedrige Inzidenzen) oder auf Fragebögen zur Selbstbeantwortung beruhe (hohe Inzidenzen). Erwähnt wird, dass laut mehreren Reviews Patienten mit einem CFS oft eine

Kausalattribuierung, die auf externale oder körperliche Ursachen fokussiere

Rollnik, J. (2017). Das chronische Müdigkeitssyndrom – ein kritischer Diskurs. Fortschritte Der Neurologie · Psychiatrie, 85(02), 79–85. https://doi.org/10.1055/s-0042-121259

hätten, was im wesentlichen Merkmal einer somatoformen Störung sei.

Zur Therapie des CFS wird angeführt, dass ein Cochrane-Review einen guten Effekt von Bewegungstherapie für einen Zeitraum zwischen 12 und 26 Wochen zeigen konnte mit anschließender nachhaltiger Besserung. Zudem wird beschrieben, dass es eine Evidenz für die Wirksamkeit einer medikamentösen antidepressiven Therapie gebe, was ggfs. aber auch an der großen Überschneidung mit depressiven Erkrankung liegen könne. Alternativmedizinische Verfahren würden zwar häufig von Betroffenen in Anspruch genommen, zeigten aber in Studien nur einen sehr kleinen Benefit. Die in einzelnen Studien auf dem Boden der zwischenzeitlich diskutierten autoimmunen Genese durchgeführte Therapie mit CD20-Antikörpern wie Rituximab wird sehr kritisch kommentiert. Die Arbeit schließt mit der Zusammenfassung:

Betrachtet man die vorhandenen Publikationen zu Ätiologie und Pathophysiologie, so lässt sich konstatieren, dass es keine schlüssigen Belege für eine einheitliche infektiologische, immunologische, genetische oder eine anders geartete, spezifische Ursache für die Entstehung eines CFS gibt.

Rollnik, J. (2017). Das chronische Müdigkeitssyndrom – ein kritischer Diskurs. Fortschritte Der Neurologie · Psychiatrie, 85(02), 79–85. https://doi.org/10.1055/s-0042-121259

Und weiter heißt es:

Aus ärztlich-therapeutischer Sicht ist es kontraproduktiv, Patienten, die an einer somatisch nicht erklärbaren Fatigue-Symptomatik leiden, ein pseudowissenschaftliches, externales oder körperliches Erklärungsmodell ihrer Beschwerden anzubieten.

Rollnik, J. (2017). Das chronische Müdigkeitssyndrom – ein kritischer Diskurs. Fortschritte Der Neurologie · Psychiatrie, 85(02), 79–85. https://doi.org/10.1055/s-0042-121259

Der Autor betont mehrfach die Notwendigkeit einer wertschätzenden und den Leidensdruck der Betroffenen respektierenden ärztlichen Grundhaltung, im klassischen (psycho)therapeutischen Sinn, auch wenn man das körperliche Störungsmodell der Patienten nicht nachvollziehen könne. Damit decken sich seine Äußerungen mit der derzeit in Überarbeitung befindlichen, aber weiterhin abrufbaren Leitlinie der DEGAM zum Thema Müdigkeit, in der auch das CFS aufgeführt wird (Link).

Long Covid vs. CFS

Was auffällt ist, dass anders als beim chronischen Erschöpfungssyndrom die ätiologischen Erklärungsmodelle für die Fatigue bei Long Covid ganz überwiegend rein somatisch ausgerichtet sind. Aktuell wird für die Fatigue und die kognitiven Leistungsstörungen, die beim chronischen Erschöpfungssyndrom in erster Linie biopsychosozial erklärt werden, eine autoimmunvermittelte neuronale Dysfunktion angenommen (siehe weiter oben). In den epidemiologischen Studien (siehe Teil 2, Link) wurden hingegen auch immer wieder psychosomatische (Mit)Ursachen in den Raum geworfen, wie bei Sykes et al. In der Preprint-Metaanalyse von López-León wird ein Vergleich zum chronischen Erschöpfungssyndrom gezogen und geschrieben

„It is tempting to speculate that SARS-CoV-2 can be added to the viral agents‘ list causing ME/CFS.“

López-León, S., Wegman-Ostrosky, T., Perelman, C., Sepulveda, R., Rebolledo, P. A., Cuapio, A., & Villapol, S. (2021). More than 50 Long-Term Effects of COVID-19: A Systematic Review and Meta-Analysis. MedRxiv, 1–22. https://doi.org/10.2139/ssrn.3769978

Und wenn man sich die ins Deutsche übersetzten „internationalen Konsensuskriterien“ des chronischen Erschöpfungssyndrom aus der Arbeit von Rollnik anschaut, dann sind sie weitestgehend deckungsgleich mit den Symptomen bei Long Covid, v.a. der verminderten körperlichen Belastbarkeit und der erhöhten Ermüdbarkeit.

HauptkriterienEntkräftung nach Belastung („Post-Exertional Neuroimmune Exhaustion“): schnelle körperliche und/oder geistige Erschöpfbarkeit als Reaktion auf Belastung, Symptomverstärkung nach Belastung (z. B. grippeähnliche Symptome), sofortige oder verzögert auftretende Entkräftung nach Belastung, verlängerte Erholungszeit (≥ 24 h), vermindertes Aktivitätsniveau (verglichen mit prämorbidem Zustand)
NebenkriterienJeweils mindestens ein Symptom aus jeder der folgenden Kategorien muss vorliegen:
▪neurologische Störungen: neurokognitiv (Schwierigkeiten in der Informationsverarbeitung oder mit dem Kurzzeitgedächtnis), Schmerz (Kopfschmerz oder andere Lokalisation), Schlafstörungen, andere Beschwerden (z. B. Phono- oder Photophobie, Muskelschwäche, Ataxie)
▪immunologische, gastrointestinale oder urologische Störungen: grippeähnliche Beschwerden, Infektanfälligkeit, Nausea, Reizdarmsyndrom, Dranginkontinenz, Lebensmittelunverträglichkeiten
▪„Beeinträchtigungen der Energieproduktion/des Ionenkanaltransports“: Orthostaseprobleme, Hypotonie, Luftnot, Temperaturregulationsstörungen
AusschlusskriterienPrimäre psychiatrische Erkrankungen, somatoforme Störungen und Drogenmissbrauch sowie alle anderen Erkrankungen, die nach gründlicher Anamnese, körperlicher Untersuchung oder Laborbefunden die Beschwerden erklären können
Nach: Rollnik, J. (2017). Das chronische Müdigkeitssyndrom – ein kritischer Diskurs. Fortschritte Der Neurologie · Psychiatrie85(02), 79–85. https://doi.org/10.1055/s-0042-121259

Und noch etwas ähnelt sich frappierend: Die Risikofaktoren solch ein Long Covid-Syndrom zu entwickeln. Hier lohnt ein Blick in die Arbeit von Naidu et al., in der stationär behandelte COVID-Patienten untersucht wurden. In dem Paper wird eine klare Evidenz von vermehrten Post-Covid-Symptomen bei Patienten, die schon vor der Infektion an einer Traumafolgestörung oder einen depressiven Störung litten, beschrieben.

Wo man weiterlesen kann

Rollnik, J. (2017). Das chronische Müdigkeitssyndrom – ein kritischer Diskurs. Fortschritte Der Neurologie · Psychiatrie, 85(02), 79–85. https://doi.org/10.1055/s-0042-121259

Naidu, S. B., Shah, A. J., Saigal, A., Smith, C., Brill, S. E., Goldring, J., Hurst, J. R., Jarvis, H., Lipman, M., & Mandal, S. (2021). The high mental health burden of “Long COVID” and its association with on-going physical and respiratory symptoms in all adults discharged from hospital. European Respiratory Journal, 2004364. https://doi.org/10.1183/13993003.04364-2020

critical illness Polyneuropathie und -Myopathie nach COVID-19-Infektion

Bei den Symptomen nach schweren COVID-Verläufen ist es so, das ein größer Teil der Beschwerden gut im Themenkomplex critical illness Polyneuropathie (CIP) und critical illness Myopathie (CIM), bzw. intensiv care unit-acquired weakness (ICUAW) aufgeht. Patienten mit einer CIP/CIM nach intensivpflichtiger COVID-Erkrankung sehen wir in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation recht häufig. CIP/CIM-Patienten gelten generell zumindest inoffiziell als „unkomplizierte“ und relativ dankbare Frühreha-Patienten, da bei den allermeisten in recht überschaubarer Zeit ein guter Reha-Erfolg zu erzielen ist. Und von den CIP/CIM-Patienten gelten COVID-CIP/CIM-Patienten oft noch mehr als „Selbstläufer“, vermutlich da sie nicht so multimorbide vorerkrankt sind, wie die „normalen“ CIP/CIM-Patienten und so der Rehabilitationsverlauf durch weniger Komplikationen erschwert wird. Ich hatte hier ja schon einen eigenen Blogbeitrag zum Thema CIP/CIM veröffentlicht, daher halte ich es hier recht kurz.

Zur Prognose hatte ich ja schon im Journal Club (siehe Teil 2 der Reihe, Link) geschrieben, knapp die Hälfte der COVID-19-Patienten mit einer CIP/CIM (genauer 46%) nach 3 Monaten wieder zur Arbeit zurückkehren, dass das aber dennoch 10% mehr sind, als in Metaanalysen zu Patienten die auf der Intensivstation auf Grund anderer Erkrankungen behandelt wurden.

Wo man weiterlesen kann

Kamdar, B. B., Suri, R., Suchyta, M. R., Digrande, K. F., Sherwood, K. D., Colantuoni, E., Dinglas, V. D., Needham, D. M., & Hopkins, R. O. (2020). Return to work after critical illness: a systematic review and meta-analysis. Thorax, 75(1), 17–27. https://doi.org/10.1136/thoraxjnl-2019-213803).

Abseits von Neuro-COVID

Organschäden?

Spätestens mit einer unglücklich, bzw. ungenau, bzw. reißerisch kommunizierten Pressemeldung der Uniklinik Ulm, die eine Long Covid-Ambulanz betreibt (Link) ist das Thema bleibende Organschäden nach COVID-19-Infektion auch in der breiten Öffentlichkeit angekommen.

https://twitter.com/christoph_rothe/status/1417410192803876868

Was und welche Organschäden gemeint sind, bleibt zunächst in den meisten Artikeln recht diffus, wenn man etwas genauer nachliest, geht es wohl um Myokarditiden und Folgen der Lungengerüstveränderungen bei schwerem COVID-Verlauf, wie man in diesem SWR-Artikel (Link) nachlesen kann:

Bei den rund 20 Prozent der Patienten mit Organschäden beobachten die Ärzte vor allem Herzmuskelentzündungen und die Folgen davon. Dazu gehörten etwa Herzschwäche und Herzrhythmusstörungen, so Buckert. „Bei der Lunge beobachten wir, dass sich das Lungengerüst verändert und so ein schlechterer Gasaustausch möglich ist.“ Atemnot sei die Folge.

Der Artikel, den Karl Lauterbach dazu zitiert,

ist eine Arbeit von Crook et al., die anhand der ACE-Hypothese (siehe oben), noch mal verschiedene Organmanifestationen aufzählt, wobei sie beim ZNS wieder die Hypothese von ZNS-Virusinfiltrationen, Blut-Hirn-Schrankenstörungen und Enzephalitiden v.a. im Hirnstamm annimmt, für die die diesbezüglich spezifischeren Hamburger und Aachener Untersuchungen keinen sicheren Anhalt finden konnten. Wenn man den Artikel aber als Übersichtsarbeit versteht, die auf verschiedenen Gebieten aber nicht so sehr in die Tiefe geht und ggfs. auch schon wieder als überholt geltende Thesen verwendet, kann man ihn dennoch gut lesen.

Wo man weiterlesen kann

Crook, H., Raza, S., Nowell, J., Young, M., & Edison, P. (2021). Long covid—mechanisms, risk factors, and management. BMJ, n1648. https://doi.org/10.1136/bmj.n1648

Gallenwegserkrankungen nach COVID-19

In der ersten Version des Long Covid-Themas hatte ich ja schon die beiden mir bekannten Hamburger Fälle einer sekundär sklerosierenden Cholangitis nach COVID-19-Erkrankung beschrieben, einmal aus unserem Krankenhaus und einmal aus der Asklepios Klinik Altona (mit Veröffentlichung im Hamburger Ärzteblatt, S. 32-33, Link, Link Wikipedia), nach einer schwer verlaufenden COVID-Pneumonie bei einem 19-jährigen Patienten. In unserer Klinik wurde die selbe Diagnose bei einem 51-jährigen Patienten mit ebenfalls schwerst verlaufender COVID-Pneumonie und sekundärer Pilzpneumonie gestellt, den wir nach einer intensivmedizinischen dreimonatigen Beatmungstherapie (11/2020-01/2021) von unserer Intensivstation in die Frührehabilitation übernommen hatten.

MRCP unseres Patienten mit sekundär sklerosierende Cholangitis nach schwerer COVID-Infektion

Die sekundär sklerosierende Cholangitis ist sicherlich keine COVID-spezifische Erkrankung, sondern kommt auch nach anderen schwersten intensivmedizinisch zu versorgenden Erkrankungen vor, ist aber auch so selten, dass zwei Fälle in Hamburger Kliniken in kurzer Zeit sicherlich erwähnenswert sind. Und natürlich kann man in jedem Fall argumentieren, dass beide Patienten diese (häufig zur Notwendigkeit einer Lebertransplantation führende) Erkrankung nicht entwickelt hätten, wenn sie keine COVID-Infektion erlitten hätten. Mittlerweile findet man auch Literatur und andere Fallberichtsserien zu dem Thema (z.B. Durazo et al.).

Wo man weiterlesen kann

Durazo, F. A., Nicholas, A. A., Mahaffey, J. J., Sova, S., Evans, J. J., Trivella, J. P., Loy, V., Kim, J., Zimmerman, M. A., & Hong, J. C. (2021). Post–Covid-19 Cholangiopathy—A New Indication for Liver Transplantation: A Case Report. Transplantation Proceedings, 53(4), 1132–1137. https://doi.org/10.1016/j.transproceed.2021.03.007

Literaturangaben (explizit keine Weiterlese-Tips)

Marshall, M. (2020). The lasting misery of coronavirus long-haulers. Nature, 585(7825), 339–341. https://doi.org/10.1038/d41586-020-02598-6

Baig, A. M. (2021). Chronic COVID syndrome: Need for an appropriate medical terminology for long‐COVID and COVID long‐haulers. Journal of Medical Virology, 93(5), 2555–2556. https://doi.org/10.1002/jmv.26624

Jensen, M. P., Le Quesne, J., Officer‐Jones, L., Teodòsio, A., Thaventhiran, J., Ficken, C., Goddard, M., Smith, C., Menon, D., & Allinson, K. S. J. (2021). Neuropathological findings in two patients with fatal COVID‐19. Neuropathology and Applied Neurobiology, 47(1), 17–25. https://doi.org/10.1111/nan.12662

Borsche, M., Reichel, D., Fellbrich, A., Lixenfeld, A. S., Rahmöller, J., Vollstedt, E.-J., Föh, B., Balck, A., Klein, C., Ehlers, M., & Moser, A. (2021). Persistent cognitive impairment associated with cerebrospinal fluid anti-SARS-CoV-2 antibodies six months after mild COVID-19. Neurological Research and Practice, 3(1), 34. https://doi.org/10.1186/s42466-021-00135-y

Kim, J., Abdullayev, N., Neuneier, J., Fink, G. R., & Lehmann, H. C. (2021). Post-COVID-19 encephalomyelitis. Neurological Research and Practice, 3(1), 18. https://doi.org/10.1186/s42466-021-00113-4

Kandetu, T.-B., Dziuban, E. J., Sikuvi, K., Beard, R. S., Nghihepa, R., van Rooyen, G., Shiningavamwe, A., & Katjitae, I. (2020). Persistence of Positive RT-PCR Results for Over 70 Days in Two Travelers with COVID-19. Disaster Medicine and Public Health Preparedness, 1–2. https://doi.org/10.1017/dmp.2020.450

Wang, X., Huang, K., Jiang, H., Hua, L., Yu, W., Ding, D., Wang, K., Li, X., Zou, Z., Jin, M., & Xu, S. (2020). Long-Term Existence of SARS-CoV-2 in COVID-19 Patients: Host Immunity, Viral Virulence, and Transmissibility. Virologica Sinica, 35(6), 793–802. https://doi.org/10.1007/s12250-020-00308-0

Hampshire, A., Trender, W., Chamberlain, S. R., Jolly, A. E., Grant, J. E., Patrick, F., Mazibuko, N., Williams, S. C., Barnby, J. M., Hellyer, P., & Mehta, M. A. (2021). Cognitive deficits in people who have recovered from COVID-19. EClinicalMedicine, 000, 101044. https://doi.org/10.1016/j.eclinm.2021.101044

Kompliziertes, was eigentlich ganz einfach ist: Wie Schmerzen chronifizieren

Update Ich habe den Beitrag noch mal ein wenig gepimpt und um noch einige Aspekte ergänzt, u.a. um die absteigende Schmerzhemmung, aber auch um den Begriff des noziplastischen Schmerzes.
Heute soll es also um ein klassisches Grundlagenthema gehen, nämlich die Frage wie das mit der Chronifizierung von Schmerzen eigentlich funktioniert. Das ganze kann man in drei große Themenblöcke teilen: Das, was im peripheren Nervensystem und im Rückenmark passiert, das was im Gehirn organisch passiert und das, was biopsychosozial passiert. Ganz generell spricht man von chronischen Schmerzen, wenn Schmerzen länger als 6 Monate anhalten. Es gibt aber Ausnahmen, wie primäre Kopfschmerzerkrankungen, wo das Attribut chronisch eine bestimmte Anzahl an Kopfschmerztagen im Monat beschreibt.

Periphere Sensibilisierung

Vor chronisch kommt akut: Periphere Mechanismen der Schmerzwahrnehmung

Bevor man sich Gedanken über die Chronifizierung von Schmerzen im peripheren Nervensystem machen kann, muss man einmal rekapitulieren, wie das mit der Schmerzwahrnehmung im peripheren Nervensystem überhaupt funktioniert. Ganz in der Peripherie, z.B. in der Haut sitzen Schmerzrezeptoren. Diese Nozizeptor-Zellen gehören zu den TRP-Kanälen. TRP steht für transient rezeptor potential und davon gibt es verschiedene Typen. Die verschiedenen Typen reagieren auf verschiedne Reize, Hitze, Kälte, Druck, bestimmte Zytokine usw. Allen gemeinsam ist, dass sie bei Aktivierung Kalziumkanäle öffnen, über die Kalziumionen in die Zelle einströmen können. Dadurch depolarisiert die Zelle und es kann sich ein Aktionspotential bilden. Einer der wichtigsten TRP-Kanäle ist TRPV1. TRPV1 wird durch Temperaturen über 43° Celsius aktiviert, aber auch durch Capsaicin. Das Gegenstück zu TRPV1 ist TRPM8, welcher durch Kälte aktiviert wird. Wichtig ist noch TRPA1, welcher auf verschiedene Chemikalien reagiert (das ist auch der, der Zwiebel-, Meerrettich- und Tränengas-Inhaltsstoffe als Trigger benutzen kann). Am anderen Ende der Nozizeptor-Axone – am Rückenmark – sitzen Synapsen, welche Glutamat als Substrat haben.

Periphere Sensibilisierung

Insgesamt drei Mechanismen können zum Komplex periphere Sensibilisierung gezählt werden:
Die Phosphorilierung von TRP-Kanälen: In der Nähe der TRP-Kanäle befinden sich G-Protein-gesteuerte Rezeptoren, die auf inflammatorische Zytokine reagieren. Bei einer Entzündungsreaktion mit Einwanderung von Immunzellen, welche ja eben diese Zytokine freisetzen, werden die Rezeptoren aktiviert und sorgen über Proteinkinasen für eine Phosphorilierung von TRP-Rezeptoren. Durch diese Phosphorilierung werden die TRP-Kanäle empfindlicher. So wird z.B. TRPV1 in seiner phosphorilierten Version schon bei 37° Celsius aktiviert. Das bedeutet aber, dass dann auch schon normale Temperaturen einen Schmerz- und Hitzereiz auslösen. Das selbe gilt für die anderen TRP-Rezeptoren. So erklärt man sich das Auftreten von thermischer Hyperalgesie, Kältealllodynie und mechanischer Allodynie. Diesen Prozess bezeichnet man auch als periphere Sensibilisierung. Der physiologische Sinn dieser peripheren Sensibilisierung ist bei einer akuten Entzündung sicherlich nachvollziehbar. Wenn schon normale Sinnesreize zu Schmerzen führen, wird das entsprechende Körperteil stärker geschont. Der genaue Mechanismus bei chronischen Schmerzen, der zur peripheren Sensibilisierung führt und der tiefere Sinn dahinter ist hingegen nur teilweise verstanden. Ein Aspekt scheint die durch CGRP vermittelte neurogene Entzündung zu sein, mehr dazu aber gleich.
Vermehrte Expression von spannungsabhängigen Natriumkanälen: Die Nervenfasern selber, die die Schmerzreize weiter Richtung Rückenmark leiten, sind ja unmyelinisierte C-Fasern oder nur dünn myelinisierte A-𝛿-Fasern. Diese benutzen wiederum spannungsabhängige Natrium-Kanäle um das Nerven-Aktionspotential fortzureiten. Bei einer Gewebsverletzung geht mit relativ großer Wahrscheinlichkeit auch eine kleine Nervenfaser mit kaputt, auf jeden Fall bei einer schwereren Verletzung. Diese Nervenverletzung führt über die Ausschüttung von TNF-⍺ und IL-6 zu einer vermehrten – und sehr schnellen – Mehrexpression eben dieser Natriumkanäle. Dies führt zu einer vermehrten Erregbarkeit der Schmerzfasern im entzündeten Gewebe. Die analgetische Wirkung von Lidocain kann man vermutlich hierüber erklären, ja klar es betäubt auch einfach und hindert die Axone über die Blockade der Natriumkanäle an der Schmerzweiterleitung, in niedriger Dosierung, z.B. in einem Lidocain-Pflaster wirkt es aber in erster Linie schmerzlindernd. Vermutlich in dem es die über-exprimierten Natriumkanäle blockiert.
Sympathikus-Aktivierung: Das Konzept des sympathisch unterhaltenen Schmerzes ist mit der zunehmenden Neurologisierung der Schmerzmedizin ein wenig in die Ecke komischer Anästhesisten-Kram gedrängt worden und kommt irgendwie immer wenig in den Übersichtsarbeiten vor, ist aber in der Therapie dennoch von Bedeutung. Bei einer Nervenverletzung kommt es nämlich auch zu einer Mehrexpression von ⍺1- und ⍺2-Adrenorezeptoren mit einer vermehrten Empfindlichkeit der Nervenfasern für Katecholamine. Dies passiert physiologischerweise z.B. bei Kältereizen, pathophysiologisch aber auch bei verschiedenen neuropathischen Schmerzsyndromen, u.a. bei der Trigeminus-, Post-Zoster-Neuralgie und beim CRPS. Das Konzept der Sympathikusblockaden – in der Regel mit Opioiden im Rahmen einer GLOA – mag mit seinen langen Nadeln und den Injektionsvorrichtungen tatsächlich wie komischer Anästhesisten-Kram anmuten, hilft – zumindest der Erfahrung nach – relativ gut bei sonst therapierefraktären Schmerzsyndromen, auch wenn die Datenlage insgesamt relativ dünn ist.

Zentrale Sensibilisierung

Sensibilisierung auf Rückenmarksebene: Alles wird schlimmer gemacht, als es eh schon war

Im Rückenmark passieren vier entscheidende, aber verschiedene Mechanismen, die hier zu einer Schmerzverstärkung führen.
Erstens: Wie erwähnt, ist der Neurotransmitter der Schmerzfasern hier Glutamat. Und wie man sich vielleicht noch ganz dunkel an Biochemie erinnern kann, gibt es zwei glutamaterge Rezeptoren. AMPA- und NMDA-Rezeptoren. Die NMDA-Rezeptoren machen bei Aktivierung ja nichts anderes, als die Depolarisation der AMPA-Rezeptoren noch einmal zu verstärken. Schmerzreize verstärken sich also auf Rückenmarkseben selber, parallel kommt es zudem zu einer Hemmung schmerzweiterleitungshindernder GABA-erger und Glycin-erger Neuronen.
Der zweite Aspekt ist die neurogene Entzündung. Es ist nämlich so, dass schon die Aktivierung von TRP-Kanälen zur Freisetzung von inflammatorischen Neuropetiden führt, insbesondere zur Freisetzung von CGRP. CGRP wiederum macht eine Vasidilatation, lockt v.a. T-Zellen an und aktiviert diese über CGRP-Rezeptoren auf den Immunzellen. Dies führt wiederum zur Aktivierung von Mikroglia im Hinterhorn des Rückenmarks, dies wiederum zur Freisetzung von noch mehr Zytokinen, die zu noch mehr lokaler Entzündung und zu noch mehr Aktivierung von nozizeptiven Fasern führen. Und nun schließt sich der Kreis, unter diesen Zytokine sind auch Prostaglandine, welche wiederum die Phosphorilierung der TRP-Kanäle vorantreiben, was – und das hatten wir ja schon – auch noch zu noch mehr peripherer Sensibilisierung führt.
Drittens gibt es auf Rückenmarksebene sogenannte wide-dynamic-range-Neurone, was man mit WDR abkürzen kann und was an den Kölner Tatort erinnert und ein wenig nach besseren Handyfotos vom Sonnenuntergang klingt (aber das ist HDR). Diese lassen sich durch den schon beschriebenen Glutamat-Stoffwechsel aktivieren und haben Afferenzen sowohl aus dem nozizeptiven, aber auch aus dem epikritischen Nervenfaser-System. Dies führt zum Einen mit zur mechanischen Allodynie, zum Anderen, durch die jeweils großen Input-Areale der WDR-Neuronen zu dem Phänomen, dass das allodyne Areal oft deutlich größer ist, als das eigentlich schmerzhafte primär geschädigte Areal.
Viertens gehören die im ersten Punkt erwähnten schmerzweiterleitungshindernde GABA-ergen und Glycin-ergen Neuronen zum absteigenden schmerzhemmenden System, welches vom Hypothalamus aus auf Rückenmarksebene projiziert und ganz entscheidend eine gate-keeper-Funktion einnimmt und im Normalfall die Weiterleitung eines Großteils der eingehenden nozizeptiven Reize über die GABA- und Glycin-vermittelte Hyperpolarisation verhindert. Diese absteigende Schmerzhemmung die in ihren proximalen Abschnitten mit Serotonin und Noradrenalin als Botenstoffen arbeitet, erschöpft sich leider bei vermehrter Inanspruchnahme relativ schnell. Dieses System „wieder aufzufüllen“ ist die Rationale hinter dem Einsatz serotonerg und noradrenerg wirkender Antidepressiva in der Behandlung von Schmerzen.

Im Gehirn: Mediales und laterales schmerzverarbeitendes System

Im Gehirn wird das ganze weniger one-way, sondern durchaus komplexer. Die entscheidenden Informationen zur Funktionsweise der zerebralen Schmerzverarbeitung beim Menschen stammen v.a. aus fMRT-Untersuchungen. Verschiedene Strukturen des Gehirns scheinen je nach Situation in unterschiedlichem Ausmaß an der Schmerzverarbeitung beteiligt zu sein, so dass man von der Schmerzmatrix spricht. Diese ist auf Grund der weniger anatomisch-physiologischen Erforschung eher diffuser und „funktionaler“ in ihrer Beschreibung in der Literatur. Von unten nach oben sind Hirnstamm, Mittelhirn, Hypothalamus, Thalamus, Kleinhirn, Amygdala, präfrontaler Kortex, insulärer Kortex, anteriorer zingulärer Kortex und natürlich die sensiblen Kortexareale hauptsächlich in die Schmerzverarbeitung involviert. Funktionell unterscheidet man dann zwei „Haupt-Schmerzbahnen“: Das laterale und das mediale schmerzverarbeitende System. Das laterale System ist sozusagen der „objektive“ Schenkel der Schmerzverarbeitung, hier geht es um Schmerzintensität und -lokalisation. Hierzu zählen lateraler Thalamus, sensorischer Kortex , Stammganglien und Kleinhirn. Das **mediale System **dient v.a. der affektiv-emotionalen Interpretation von Schmerzreizen und besteht aus medialem Thalamus, insulärer Kortex, zingulärer Kortex und präfrontaler Kortex gehören.
Das bildgebend darstellbare Hauptphänomen bei der Chronifizierung von Schmerzen auf Gehirn-Ebene scheint eine Verschiebung der Schmerzverarbeitung mit Zunahme der Funktion des medialen Schmerzsystems und parallel geringerer Bedeutung des lateralen Schmerzsystems zu sein. Insbesondere im limbischen System und im präfrontalen Kortex nimmt die Stoffwechselaktivität bei chronischen Schmerzen zu. Dies ist insofern interessant, da diese Strukturen ja auch ganz entscheidend im Lern- und Belohnungssystem involviert sind. Bei bestimmten chronischen Schmerzsyndromen, beschrieben ist es für das CRPS, kommt es sehr rasch zudem zu einer Umorganisation des sensiblen Kortex mit Verschiebung der Somatopie, was z.B. die veränderte Körperwahrnehmung und die Neglekt-artigen Symptome beim CRPS erklären könnte. Und zwar wird die kortikale Repräsentation des schmerzhaften Areals sehr schnell sehr viel kleiner und damit schlechter in ihrer Ortsauflösung. Letztlich kommt es zudem auch – ähnlich wie schon in den anderen Strukturen – zu einer Veränderung der Zytokin- und Neurotransmitter-Situation mit Umorganisation von Zellen mit Opioid-Rezeptoren, aber auch des dopaminergen Systems.

Der ist ja auch voll Psycho und so: Biopsychosoziale Faktoren bei chronischen Schmerzen

Irgendwie ja auch ein zentrales weil zerebrales Thema, aber mehr inhaltlich als strukturell-neuroanatomisch, ist die Bedeutung verschiedener Lebens- und Umwelteinflüsse auf die Schmerzchronifizierung. In der Praxis der Behandlung von Menschen mit chronischen Schmerzen sind diese Faktoren ganz sicher viel entscheidender als alle Kenntnis über die Veränderung in Stoffwechselvorgängen oder (fehlgeleiteter) Neuroplastizität, wie ich sie bisher beschrieben habe. Kernerkenntnis dieses biopsychosozialen Modells chronischer Schmerzen ist es, dass man Schmerzentstehung, -verarbeitung und -chronifizierung eben nicht diametral in körperliche und psychische Faktoren unterscheiden kann, sondern dass sich diese zusammen mit Umwelt- und Gesellschaftseinflüssen beeinflussen. In den meisten Arbeiten werden beim biopsychosozialen Modell chronischer Schmerzen emotionale, kognitive, körperliche Faktoren und Verhaltensmechanismen und ihre Interaktion untereinander genannt. Da ich die Zuordnung der Faktoren zu den einzelnen Unterpunkten teilweise widersprüchlich und redundant empfinde, hier einmal mit Absicht ungeordnet die wichtigsten Punkte:

  • Die erlernte Hilf- und Hoffnungslosigkeit durch lang andauernde Schmerzen
  • Die Neigung zum Katastrophisierung auf Grund des Gefühls, dass die Schmerzen nicht zu kontrollieren sind und die aus diesen beiden Punkten häufig resultierenden (reaktiven) depressiven Symptome und -Erkrankungen
  • Die Fixierung auf den Schmerz und die Schmerzfreiheit als absolutes Ziel, ohne dass ein „normales“ Leben nicht wieder möglich erscheint
  • Die Wahrnehmung sehr hoher Schmerzintensitäten (NRS 8-10) ohne relevante Schwankungen der Schmerzintensität unabhängig von äußeren Faktoren aber auch unabhängig von Medikamenteneinnahme
  • Die Vermeidung körperlicher Betätigung aus der Erfahrung heraus, dass diese zu einer Schmerzzunahme führen kann oder auch das Gegenmodell, ein krankhaftes Durchhalten
  • Die Verstärkung des Schmerzerlebens im lernpsychologischen Sinn durch die dauerhafte und wiederholte Thematisierung und Fokussierung der Schmerzen bei verschiedenen und häufigen Arzt- und Therapeutenkontakten
  • Zielkonflikte (früher mal sekundärer Krankheitsgewinn) durch ein Mehr an Zuwendung von Freunden, Familie, Partnern und sozialem Umfeld auf Grund der Schmerzen, die Vermeidung und Lösung von interaktionellen Konflikten durch die Schmerzen, die Lösung nicht befriedigender Arbeitssituationen, die dazu führen, dass die Schmerzen „gar nicht besser werden dürfen“, da sonst die Konfliktlösung wegfällt.
  • Vereinsamung durch Abbruch sozialer Beziehungen, auch weil Partner/Freunde sich irgendwann von der dauerhaft hilfsbedürftigen Person abwenden
  • Frustrane Behandlungserfahrungen von medizinischen Vorbehandlungen
  • Wirtschaftliche Bedrohung durch Armut durch Wegfall von Lohnfortzahlung, Krankengeld oder durch Arbeitslosigkeit.
  • Diese Punkte zu thematisieren, für sich anzunehmen und Bewältigungsstrategien zu entwickeln, ist – wie schon gesagt – der entscheidende Teil bei der Behandlung chronischer Schmerzen, oft weit mehr als jede medikamentöse und erst recht als jede interventionelle oder operative Behandlung.

Diese Punkte zu thematisieren, für sich anzunehmen und Bewältigungsstrategien zu entwickeln, ist – wie schon gesagt – der entscheidende Teil bei der Behandlung chronischer Schmerzen, oft weit mehr als jede medikamentöse und erst recht als jede interventionelle oder operative Behandlung.

Noziplastischer Schmerz

Die beschriebenen Mechanismen führen an ganz verschiedenen Stellen zu dem Phänomen, dass ab einem gewissen Punkt der Schmerz durch die fehlgeleitete Neuroplastizität sich selbst unterhalten kann und gar keinen nozizeptiven Input mehr braucht. Um dieses Phänomen von den sonst etablierten Schmerzarten nozizeptive und neuropathische Schmerzen abzugrenzen, wurde der Begriff noziplastische Schmerzen eingeführt.

Wo man weiterlesen kann
  1. Borsook, D., Youssef, A. M., Simons, L., Elman, I. & Eccleston, C. When pain gets stuck. Pain 159, 2421–2436 (2018).
  2. Morlion, B. et al. Pain chronification: what should a non-pain medicine specialist know? Curr. Med. Res. Opin. 34, 1169–1178 (2018).
  3. Pak, D. J., Yong, R. J., Kaye, A. D. & Urman, R. D. Chronification of Pain: Mechanisms, Current Understanding, and Clinical Implications. Curr. Pain Headache Rep. 22, 9 (2018).
  4. Trouvin, A.-P. & Perrot, S. New concepts of pain. Best Pract. Res. Clin. Rheumatol. 33, 101415 (2019).

Parkinson für Dummies 03: Braak & Co. Wie geht eigentlich Parkinson?

Eigentlich das erste Thema der Serie. Aber irgendwie auch nicht. Nach der Erstbeschreibung der shaking palsy durch James Parkinson 1817, welcher durchaus auch nicht-motorische Symptome der Parkinson-Erkrankung beschrieb, standen spätestens nach der Verfügbarkeit von L-Dopa v.a. die motorischen Symptome und ihre Behandlung im Vordergrund.

95 Jahre später, 1912, wurden durch Friedrich Jacob Heinrich Lewy die später nach ihm benannten Einschlusskörperchen in Neuronen von Parkinson-Patienten entdeckt, von denen man heute weiß, dass diese Einschlusskörperchen aus großen Mengen fehlgefaltetem alpha-Synuclein bestehen. Alpha-Synuclein ist ein kleines, ubiquitär in Nervenzellen vorkommendes Protein, welches normalerweise Stützaufgaben beim Vesikeltransport zu haben scheint.

In den frühen bis mittleren 2000er Jahren finden dann zwei bahnbrechende Entdeckungen statt: In einer Arbeit von Li et al. (Li, J.-Y. et al. Lewy bodies in grafted neurons in subjects with Parkinson’s disease suggest host-to-graft disease propagation. Nat. Med. 14, 501–503 (2008)) wurde in Hinbiopsien verstorbener Patienten, welche zuvor eine Stammzell-Transplantation bei einer Parkinson-Erkrankung erhalten hatten, Lewy Körperchen in den Transplantaten nachgewiesen. Dies kollidierte mit den damals vorherrschenden Erklärungsmodellen der Parkinson-Erkrankung (einer genetisch determinierten Erkrankung, bzw. einem verfrühten Alterungsprozess), da die Zellen ja von einem genetisch unterschiedlichen Individuum stammten und im Gegensatz zum restlichen Gehirn erst 11-16 Jahre alt waren. Parallel publizierte der Ulmer Neuropathologe Heiko Braak zusammen mit seiner Arbeitsgruppe Fallserien von Autopsien von Parkinson-Patienten, in welchen er eine Ausbreitung der Lewy-Körperchen vom Hirnstamm, über die Pons, die Stammganglien bis in die Kortexareale nachweisen und diese mit den jeweiligen klinischen Befunden vor Versterben in Einklang bringen konnte.

Braak-StadiumBetroffene neuroanatomische Strukturen
IBulbus olfactorius und dorsaler Vaguskern
IIUntere Raphe-Kerne sowie der Coeruleus/Subcoeruleus-Komplex 
IIIMittelhirn mit der Substantia nigra
IVbasales Vorderhirn 
V-VIkortikale Strukturen
Braak-Stadien
Bildquelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/Gray%27s_Anatomy_plates, eigene Anmerkungen

Später konnte er diese Stadien noch um den N. vagus, das enterische Nervensystem und das Riechhirn erweitern, in welchen noch früher alpha-Synuclein-Ablagerungen nachweisbar waren.

Aszensionshypothese beim idiopathischen Parkinson-Syndrom

Damit war die Aszensionshypothese zumindest beim idiopathischen Parkinson-Syndrom geboren. Es stellte sich dann nur die Frage, wie kommen die Lewy-Körperchen von Zelle zu Zelle. Und damit kommen die frühen 1990er Jahre und die BSE-Krise ins Spiel. Damals wurde das Konzept der Prion-Erkrankungen hoffähig, also die Annahme, dass ein reguläres intrazelluläres Protein durch eine Konformationsänderung zu einem pathogenen Agens werden kann, dann andere „normale“ Proteine ebenfalls zu einer Konformationsänderung bringt und sich zudem von Zelle zu Zelle ausbreitet. Bei den klassischen Prion-Erkrankungen kommt zur Dramatiksteigerung noch hinzu, dass das Prion-Protein in der pathologischen Form auch noch extrem hitzebeständig und auch ansonsten nahezu unzerstörbar ist.

Ähnlich wie das Prion-Protein scheint das fehlgefaltete alpha-Synuclein über verschiedene relativ unspektakuläre Exozytose- und Endozytose-Mechanismen (Golgi Apparat, endoplasmatisches Retikulum) von Zelle zu Zelle zu gelangen. Das Fehlen spezifischer Transportmechanismen macht wiederum eine zielgerichtete, z.B. Antikörper-Therapie gegen den Krankheitsprogress ungemein schwierig.

Der Clou an der Sache ist aber eigentlich, dass nach und nach klar wurde, dass eigentlich alle neurodegenerativen Erkrankung auf diese Weise (pathologische Protein-Ablagerungen, Prion-artige Ausbreitung) zu funktionieren scheinen, nur dass sich die jeweiligen Proteine und Ausbreitungswege unterscheiden. Aber das ist ein eigenen Blogeintrag wert.

Ist Parkinson dann nicht eigentlich ansteckend? Und warum bekommen nicht alle Parkinson?

Von den Prion-Erkrankung kommend, müsste man eigentlich annehmen, dass Parkinson dann auch ansteckend sein könnte. V.a. wenn die Erkrankung im enterischen Nervensystem und im Riechhirn zu beginnen scheint, also in Strukturen, wo Nervenzellen relativ direkten Kontakt zur Außenwelt haben. Epidemiologische Daten und auch Tiermodelle scheinen dies aber nicht zu bestätigen. Vielmehr scheint es so zu sein, dass eine genetische Prädisposition vorhanden sein muss, damit fehlgefaltetes alpha-Synuclein sich von Zelle zu Zelle ausbreiten kann, was relativ überzeugend mit transgenen Mäusen gezeigt werden konnte. Und so scheint es am Ende zu sein, wie bei vielen anderen Erkrankungen: Es muss eine genetische Prädisposition vorhanden sein, damit verschiedene Umweltfaktoren dann eine Parkinson-Erkrankung auslösen können. Diese sind bislang nur in Ansätzen offenbar: So scheinen fehlender Kaffee-, Nikotin- und Alkoholkonsum das Auftreten einer Parkinson-Erkrankung zu begünstigen, ebenfalls Kopftraumata in der Vorgeschichte. Eine Obstipationsneigung, depressive Symptome, fehlender Bluthochdruck und Betablocker-Einnahme scheinen eher Frühsymptomen der Parkinson-Erkrankung, bzw. ihrer Behandlung zu entsprechen. Das Quartett Leben auf dem Land, Trinken von Brunnenwasser, Pestizid-Exposition und Tätigkeit in der Landwirtschaft stammt aus großen amerikanischen Registern und gehört vermutlich zusammen, wobei der Kern dann wohl a.e. die Pestizid-Exposition sein dürfte. Interessanterweise sind sogar die sonst immer angeschuldigten drei Faktoren Handystrahlung, Impfen und Aluminum-Exposition untersucht und als nicht das Risiko einer Parkinson-Syndroms erhöhend eingeschätzt worden.

Wo man weiterlesen kann
  1. Braak, H. et al. Staging of brain pathology related to sporadic Parkinson’s disease. Neurobiol. Aging 24, 197–211 (2003).
  2. Braak, H., Sastre, M., Bohl, J. R. E., de Vos, R. A. I. & Del Tredici, K. Parkinson’s disease: lesions in dorsal horn layer I, involvement of parasympathetic and sympathetic pre- and postganglionic neurons. Acta Neuropathol. 113, 421–429 (2007).
  3. Pan-Montojo, F. & Reichmann, H. Ursache der Parkinson-Krankheit: Braak revisited. Aktuelle Neurol. 41, 573–578 (2015).
  4. Klingelhoefer, L. & Reichmann, H. Aszensionshypothese beim idiopathischen Parkinson-Syndrom. Aktuelle Neurol. 44, 170–179 (2017).