Kompliziertes, was eigentlich ganz einfach ist: Radikulopathien und Rückenschmerz mit und ohne Ausstrahlung

Spezifische und nicht-spezifische Rückenschmerzen

Hier ging es ja schon einmal um chronische Rückenschmerzen, jetzt – so ohne Schmerz-Prüfung vor Augen – müssen wir uns aber dringend noch mal den akuten Rückenschmerzen zuwenden. Der akute Rückenschmerz ist noch mal deutlich häufiger als der chronische und betrifft – zumindest was den unteren Rücken betrifft – mit einer 85%-Lebenszeitprävalenz nahezu jeden irgendwann einmal. Ganz offiziell werden Rückenschmerzen in spezifische und nicht-spezifische Rückenschmerzen unterteilt, womit man meint, dass es Rückenschmerzen gibt, die auf einer ganz klaren Ursache wie einem Bandscheibenvorfall, einer Spinalkanalstenose, einer Wirbelkörperfaktur, eine Spondylodiszitits usw. beruhen und die mit der Behandlung dieser Grunderkrankung auch wieder verschwinden und dass es Schmerzen gibt, bei denen das eben nicht so ist. Die Genese der nicht-spezifischen Rückenschmerzen ist auch im Jahr 2020 unklar und vermutlich gibt es auch nicht die eine Ursache, sondern viele verschiedene Gründe, die zu nicht-spezifischen Rückenschmerzen führen. Eine Hypothese besagt, dass ein großer Teil der akuten Rückenschmerzen vertebragen bedingt ist, also aus den Wirbelkörpern (und Bandscheiben) stammt und in erster Linie ein Nozizeptor-Schmerz ist (welcher demnach auch gut auf Analgetika ansprechen müsste). In schmerztherapeutischen Kreisen wird in der Regel der paarvertebralen Muskulatur mit dem Konzept der myofaszialen Schmerzen die größte Bedeutung bei der Entstehung und Behandlung der Rückenschmerzen zugeschrieben. Relativ klar – wenn in ihrer genauen pathogenetischen Einordnung nicht gänzlich verstanden – ist auch die Bedeutung psychosozialer Belastungsfaktoren nicht nur für die Chronifizierung von Rückenschmerzen, sondern auch für die Entstehung akuter Rückenschmerzen. Dabei muss man dabei wieder drei Untergruppen unterscheiden und berücksichtigen:

  • psychosoziale Faktoren des Patienten selber, die in der NVL Kreuzschmerz sogar eine eigene Warnflaggen-Farbe bekommen und als yellow flags gelten. Dazu gehören: Vorbestehende depressive Symptome, Distress (also negativer Stress), die Neigung zum Katastrophisieren, Hilf- und Hoffnungslosigkeit, Angst-Vermeidungs-Verhalten mit passivem Schmerzverhalten und übermäßiger Schonhaltung und die Neigung zur Somatisierung; dazu die üblichen Probleme: Rauchen, Alkoholkonsum, Übergewicht und fehlende Kondition
  • arbeitsplatzbezogene Risikofaktoren, welche als blue flags bezeichnet werden (und welche natürlich nur bei berufstätigen Patienten wichtig sind) und die sich teilweise mit den intrinsischen Risikofaktoren von gerade überschneiden: Körperliche schwere Arbeit, monotone Körperhaltung, Vibrationsexposition, geringe berufliche Qualifikation, geringer Einfluss auf die Arbeitsgestaltung, geringe soziale Unterstützung, berufliche Unzufriedenheit und Verlust des Arbeitsplatzes, Kränkungserleben am Arbeitsplatz und Mobbing und eine negative Erwartungshaltung hinsichtlich einer Rückkehr an den Arbeitsplatz mit Angst vor erneuter Akquise von Rückenschmerzen dort
  • und am faszinierendsten: Risikofaktoren, welche durch den Arzt selber generiert werden und die da lauten: Fehlende Akzeptanz der multifaktoriellen Genese von Rückenschmerzen, Überbewertung radiologischer Befunde bei nicht-spezifischen Schmerzen, zu lange Krankschreiben, Förderung passiver Therapiekonzepte (Spritzen, Fango, Massagen) und übertriebener Einsatz von Diagnostik.
Ohne gute Untersuchung geht es nicht

Damit ist aber auch klar, das ganze Thema steht und fällt mit der möglichst richtigen Zuordnung in spezifische und nicht-spezifische Rückenschmerzen. Und wenn wir uns nicht sicher sind und einfach mal Großgerätediagnostik verballern, machen wir den Schmerz unter Umständen einfach nur schlimmer und nicht besser. In der NVL (Nationale Versorgungsleitlinien sind ja sozusagen so Fachgesellschaft-übergreifende Konsensusleitlinien) findet sich daher auch als erste Empfehlung beim Thema Diagnostik folgender Satz:

Finden sich bei Patienten mit Kreuzschmerzen durch Anamnese und körperliche Untersuchung beim Erstkontakt keine Hinweise auf gefährliche Verläufe oder andere ernstzunehmende Pathologie, sollen vorerst keine weiteren diagnostischen Maßnahmen durchgeführt werden.

Dies bezieht sich natürlich einmal auf neurologische Ursachen der Schmerzen, aber auch auf andere Erkrankungen, die mit Rückenschmerzen einhergehen können wie Cholezystitiden, Pankreatitiden, Aortenaneurysmen, gynäkologisch und urologische Erkrankungen. In der NVL werden darüberhinaus red flags formuliert, welche für die Themen Fraktur, Infektion, Radikulopathien, Neuropathien, Tumorleiden und axiale Spondylarthritis jeweils anamnestische und klinische Hinweise formulieren, die es zu erfragen/untersuchen gilt und die sicherlich einmal einen ausgeprägten Blick wert sind:

Fraktur/Osteoporose: schwerwiegendes Trauma z. B. durch Autounfall oder Sturz aus größerer Höhe, Sportunfall; Bagatelltrauma (z. B. Husten, Niesen oder schweres Heben) bei älteren oder potentiellen Osteoporosepatienten; systemische Steroidtherapie.

Infektion: allgemeine Symptome, wie kürzlich aufgetretenes Fieber oder Schüttelfrost, Appetitlosigkeit, rasche Ermüdbarkeit; durchgemachte bakterielle Infektion; i.v.-Drogenabusus; Immunsuppression; konsumierende Grunderkrankungen; kürzlich zurückliegende Infiltrationsbehandlung an der Wirbelsäule; starker nächtlicher Schmerz.

Radikulopathien/Neuropathien: bei jüngerem Lebensalter eher Bandscheibenvorfall als Ursache der Wurzelkompression; im Dermatom in ein oder beide Beine ausstrahlende Schmerzen, ggf. verbunden mit Gefühlsstörungen wie Taubheitsgefühlen oder Kribbelparästhesien im Schmerzausbreitungsgebiet oder Schwächegefühl; Kaudasyndrom: plötzlich einsetzende Blasen-/Mastdarmstörung, z. B. Urinverhalt, vermehrtes Wasserlassen, Inkontinenz; Gefühlsstörung perianal/perineal; ausgeprägtes oder zunehmendes neurologisches Defizit (Lähmung, Sensibilitätsstörung) der unteren Extremität; Nachlassen des Schmerzes und zunehmende Lähmung bis zum kompletten Funktionsverlust des Kennmuskels (Nervenwurzeltod).

Tumor/Metastasen: höheres Alter; Tumorleiden in der Vorgeschichte; allgemeine Symptome: Gewichtsverlust, Appetitlosigkeit, rasche Ermüdbarkeit; Schmerz, der in Rückenlage zunimmt; starker nächtlicher Schmerz.

Axiale Spondyloarthritis: länger anhaltende Kreuzschmerzen (> 12 Wochen) und Beginn vor dem 45. Lebensjahr; schleichender Beginn der Schmerzen; Morgensteifigkeit (≥ 30 Minuten); Verbesserung der Kreuzschmerzen durch Bewegung, nicht in Ruhe; schmerzbedingtes frühmorgendliches/nächtliches Erwachen; alternierender Gesäßschmerz; zunehmende Steifheit der Wirbelsäule; begleitende periphere Arthritis, Enthesitis, Uveitis; bekannte Psoriasis, entzündliche Darmerkrankung.

Für Neurologen bedeutet das, dass man im Zweifel derjenige ist, der sich zum Thema Radikulopathie/Neuropathie verlässlich äußern muss und das geht halt nur, wenn man die Dermatom- und Reflexzuordnung und die jeweiligen Kennmuskeln für die einzelnen Nervenwurzeln kennt. Und das ist etwas, was man wohl oder übel halt auswendig lernen muss.

Uralte Dermatomkarte, aber sehr übersichtlich. Diese D10-Schreibweise ist etwas veraltet, heute würde man Th10 schreiben …

SegmentMuskelnReflexSensibilitätsstörung
C4Zwerchfell

C5M. deltoideus, M. bicepsBSRSchulter
C6M. biceps, M. brachioradialisBSR, RPRSchulter und lateraler Oberarm
C7M. triceps, M. pectoralis majorTSRUnterarmstreckerseite, Handrücken, Finger II-IV
C8Kleine HandmuskelnTrömner, TSRUlnarer Unterarm, Finger IV-V
Th1HyothenarTrömnerOberarm-Unterseite
Kennmuskeln, Reflexe und Sensibilitätsstörung bei Affektion der zervikalen Segmente
SegmentMuskelnReflexSensibilitätsstörung
L1

Leiste oberhalb des Leistenbandes
L2M. iliopsoas, AdduktorenADRUnterhalb des Leistenbandes
L3M. quadriceps femorisADR, PSRStreck- und Innenseite Oberschenkel bis zum Knie
L4M. quadriceps femorisPSRAußenseite Oberschenkel über Patella bis zur Tibiavorderkante
L5M. gluteus medius, FußheberTPRKnie, Außenseite Unterschenkel, Fußrücken, Großzehe
S1M. gastrocnemiusASRAußenseite Oberschenkel, Unterschenkel, Malleolus lateralis, Kleinzehe
Kennmuskeln, Reflexe und Sensibilitätsstörung bei Affektion der lumbalen Segmente

Mit diesem Wissen kann man dann unterscheiden, ob es sich um einen Rückenschmerz mit Ausstrahlung oder eine Radikulopathie handelt.

Fallstricke bei der klinischen Untersuchung

Es sind eigentlich zwei Dinge, worauf man immer wieder reinfällt: Alte Reflexdefizite nach einem stattgehabten Bandscheibenvorfall in der Vorgeschichte mit einem jetzt nicht-radikulären Schmerzsyndrom und die berühmte schmerzbedingte oder algophobe Minderinnervation, welche funktionell relevante Paresen imitieren kann. Beim ersten Punkt hilft nur der Versuch die Schmerzausstrahlung möglichst genau zu erfragen und immer wieder zu schauen, ob das einem radikulären Syndrom entsprechen könnte, beim zweiten Punkt kann man oft ein ruckartiges Nachgeben in der Einzelkraftprüfung beobachten: Erst wird volle Kraft aufgebracht, dann kommt es zu einem einschießenden Schmerz und dadurch zu dem rückartigen Nachlassen der Muskelkraftentwicklung.

Helfen kann manchmal der Schmerzcharakter, wobei das jetzt nicht evidenzbasierte Medizin ist: Nicht-spezifische Rückenschmerzen schmerzen im Bereich des Rückens oft viel mehr, als Radikulopathien, wo nicht selten, der Hauptschmerz im betreffenden Dermatom und weniger im Rücken lokalisiert ist. Nicht-spezifische Rückenschmerzen sind in Ruhe oft besser, verstärken sich typischerweise durch körperliche Belastung und langes Stehen und Sitzen, auf radikulären Rückenschmerzen können viele Betroffene auch kurz nicht gut sitzen oder liegen und sind eher angetrieben, rastlos und versuchen in ständiger leichter Bewegung zu bleiben.

Im Zweifelsfall ein Bild machen?

Ist man sich nicht sicher oder das klinische Bild nicht eindeutig, steht man vor der Zwickmühle: MRT-Bildgebung veranlassen oder nicht? Folgt man der NVL wäre die Antwort: Eher nein, folgt man der Versorgungsrealität lautet die Antwort ja. Dies führt aber zum nächsten Fallstrick: Wie beim Thema chronische Rückenschmerzen erwähnt, ist die Rate an auffälligen radiologischen Befunden ohne klinisches Korrelat gerade beim Thema Rückenschmerz und gerade mit steigendem Lebensalter extrem hoch.

Die Abbildung hatte ich schon beim chronischen Rückenschmerz …
nach: Brinjikji, W. et al. Systematic Literature Review of Imaging Features of Spinal Degeneration in Asymptomatic Populations. Am. J. Neuroradiol. 36, 811–816 (2015).

Und das bedingt dann, dass man eine reale Chance hat, mit einem unpräzisen klinischen Befund und einem MRT eine vermeintlich die Schmerzen bedingende strukturelle Ursache ausmachen zu können, die dann im Zweifelsfall sogar operiert wird und dann zu dem Phänomen failed back surgery beiträgt.

Halt, wird der ein oder andere jetzt sagen: Aber der Rechtsanwalt! Wenn wir kein Bild machen und dann einen Bandscheibenvorfall übersehen, werden wir vielleicht verklagt. Mag sein, ist aber Schwachsinn. Denn die Behandlung von radikulären Schmerzen ohne OP-Indikation und von nicht-spezifischen Rückenschmerzen ist erst einmal gleich, doch dazu gleich mehr. Man verpasst also nichts, wenn man sich sicher ist, dass keine OP-Indikation besteht und man kein MRT veranlasst und das gilt es auch den Patienten zu vermitteln.

Wann muss man denn operieren?

Dazu kann man kurz und knackig sagen: Wenn progrediente oder alltagsrelevante Paresen oder eine Blasen- und Mastdarmstörung durch einen Bandscheibenvorfall bestehen. Alle anderen Gründe sind eine kann-Indikation, also in erster Linie konservativ nicht suffizient behandelbare Schmerzen durch eine Radikulopathie. Ansonsten gilt, dass mit einer OP sich die Schmerzen und auch funktionell nicht-relevante Paresen schneller zurückbilden, als ohne Eingriff, dass aber nach 12 Monaten kein messbarer Unterschied zwischen operierten und nicht-operierten Patienten besteht.

Und wann muss man einem Patienten von einer OP abraten?

Wenn es sich um einen nicht-spezifischen Rückenschmerz handelt, da man dann das Risiko einer failed back surgery vergrößert, aber das hatten wir ja gerade schon im vorletzten Abschnitt.

Bettruhe, Stufenbett und Oxycodon?

Kernaussage der Behandlung nicht-spezifischer Kreuzschmerzen ist: In Bewegung bleiben, Bettruhe und Stufenbett sind also genau das Falsche wie übermäßige Medikation. Dennoch kann in Einzelfällen die Gabe auch stark wirksamer – retardierter – Opioide notwendig erscheinen. Prinzipiell gilt aber: Möglichst einfache, aber wirksame Medikation, nicht-wirksame Präparate auch wieder absetzen (wenn sie vorher ausreichend hoch dosiert versucht wurden), Mischintoxikationen vermeiden, es gibt keine Evidenz, dass frühzeitige Physiotherapie bei nicht-spezifischen Kreuzschmerzen zu einem besseren Outcome führt als entspanntes Zuwarten und Eigenmobilisation des Patienten.

Die Evidenz hinsichtlich der optimalen medikamentösen Behandlung ist generell ziemlich mau. Es gibt aber drei Erkenntnisse: Paracetamol hilft nicht besser als Placebo, Pregabalin scheint bei der akuten Lumboischialgie – auch bei neuropathischen Schmerzen – nicht sicher zu wirken, zumindest wenn keine sichere Radikulopathie oder Myelon-Verletzung vorliegt und Muskelrelaxantien bringen beim nicht-spezifischen Kreuzschmerz kaum einen Effekt (auch wenn sie das eigentlich müssten, wenn man das Konzept der myofaszialen Schmerzen betrachtet). Am Ende landet man bei NSAR, Metamizol und retardierten Opioiden und bei sicheren Radikulopathien mit neuropathischen Schmerzen bei einer Koanalgesie mit Pregabalin oder Gabapentin. Die Dauer der medikamentösen Behandlung soll möglichst kurz sein, d.h. es muss eigentlich immer schon beim Ansetzen auch über das Absetzen des jeweiligen Medikaments nachgedacht werden. Und zum Schluß noch ein kleiner Opiat-Fallstrick: Ich habe hier jetzt ja schon mehrfach retardiert vor Opiat-Nennungen geschrieben und das hat auch einen tieferen – von der NVL gestützten – Sinn. Die übliche 2/3-Retard-, 1/3-Bedarfsmedikation mit Opiaten, welche aus der Tumorschmerztherapie stammt, sollte bei der Behandlung von Rückenschmerzen wenn überhaupt in der Eindosierungsphase angewendet werden, nicht aber bei der eigentlichen Behandlung (auch nicht, wenn sie kurz ist), da gerade beim Thema Rückenschmerz die Gefahr einer Entwicklung einer Opiatabhängigkeit bei der Verwendung nicht-retardierter Opiate doch erheblich ist.

Wo man weiterlesen kann

S2k-Leitlinie Lumbale Radikulopathie https://www.dgn.org/leitlinien/3516-ll-030-058-2018-lumbale-radikulopathie

S2k-Leitlinie Zervikale Radikulopathie https://www.dgn.org/leitlinien/3514-ll-030-082-2017-zervikale-radikulopathie

Nationale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/nvl-007.html

  1. Brinjikji, W. et al. Systematic Literature Review of Imaging Features of Spinal Degeneration in Asymptomatic Populations. Am. J. Neuroradiol. 36, 811–816 (2015).
  2. Friedman, B. W. et al. Naproxen With Cyclobenzaprine, Oxycodone/Acetaminophen, or Placebo for Treating Acute Low Back Pain. JAMA 314, 1572 (2015).
  3. Fritz, J. M. et al. Early Physical Therapy vs Usual Care in Patients With Recent-Onset Low Back Pain. JAMA 314, 1459 (2015).
  4. Machado, G. C. et al. Efficacy and safety of paracetamol for spinal pain and osteoarthritis: Systematic review and meta-analysis of randomised placebo controlled trials. BMJ 350, 1–13 (2015).
  5. Chou, R. et al. Systemic Pharmacologic Therapies for Low Back Pain: A Systematic Review for an American College of Physicians Clinical Practice Guideline. Ann. Intern. Med. 166, 480 (2017).
  6. Chou, R. et al. Nonpharmacologic Therapies for Low Back Pain: A Systematic Review for an American College of Physicians Clinical Practice Guideline. Ann. Intern. Med. 166, 493 (2017).
  7. Mathieson, S. et al. Trial of Pregabalin for Acute and Chronic Sciatica. N. Engl. J. Med. 376, 1111–1120 (2017).

Chronischer Rückenschmerz

Wenden wir uns dem Brot- und Butter-Geschäft der Schmerztherapie zu, was für den Krankenhaus-Neurologen der Schlaganfall ist, ist in der Schmerztherapie der chronische Rückenschmerz.

Alles ein alter Hut?

Die Bedeutung chronischer Rückenschmerzen durch die pure Masse der Betroffenen ist glaube ich allen bewusst, dennoch sind die – vielleicht auch mittlerweile zu oft zitierten – Kennzahlen schon beeindruckend: Die Lebenszeitprävalenz von lumbalen Rückenschmerzen beträgt mindestens 85%, mindestens 23% die von chronischen Rückenschmerzen, ca. 12% der erwachsenen Bevölkerung ist in ihrer Arbeitsfähigkeit durch Rückenschmerzen eingeschränkt, die Behandlungskosten allein für Rückenschmerzen liegen jährlich in Deutschland bei ca. 50 Milliarden Euro, was gut 2% des Bruttosozialprodukts entspricht.

Dem geneigten Neurologen ist zudem klar, dass es eine riesige Diskrepanz zwischen bildgebenden pathologischen Befunden und der Klinik der Betroffenen gibt und dass eindrückliche bildgebende Befunde mit dem Alter stark zunehmen, ohne dass sie überhaupt Symptome machen müssen. Anschaulich wird dies z.B. hier aufgearbeitet:

nach: Brinjikji, W. et al. Systematic Literature Review of Imaging Features of Spinal Degeneration in Asymptomatic Populations. Am. J. Neuroradiol. 36, 811–816 (2015).

Aus diesem Grund ist die Behandlung von Rückenschmerzen auch eigentlich extrem gut standardisiert und mit allen Arten von Leitlinien ausgestattet, die man sich nur vorstellen kann (s.u.). Und trotzdem tummeln sich auf eben diesem Gebiet extrem viel semiseriöse Behandlungsangebote, finden viel zu viele interventionelle und operative Eingriffe statt und werden Medikamente in astronomischen Ausmaß verordnet.

Was wir wissen

Bei chronischen Rückenschmerzen – und um diese, nicht um die akuten, soll es hier gehen, finden sich überhaupt nur in gerade mal 10% der Fälle überhaupt radiologische Befunde, welche sich auch bei kritischer Reevaluation mit der jeweiligen Klinik in Übereinstimmung bringen lassen. Im Umkehrschluss heißt das, das 90% der Patienten eine „unsichtbare“ Schmerzursachehaben müssen. Gute 10-15 Jahre – seit der Etablierung der multimodalen Schmerztherapie – war man sich beim Großteil der Behandler sicher, dass es sich überwiegend um funktionelle und myofasziale Schmerzen handeln muss. An dem Konzept muss man allerdings gewichtige Zweifel anmelden, doch dazu in einem eigenen Blogbeitrag mehr. Mittlerweile wird man das Phänomen des noziplastischen Schmerzes sicher mitanführen müssen, um die 90% zu erklären. Dazu kommt, dass sich diese 10-90% Unterteilung meist in neurologischen Übersichtsarbeiten findet, dass der kundige Orthopäde aber einwenden wird:

Halt, was ist mit der Stufendiagnostik?

Mit Stufendiagnostik meint man das sequenzielle Anspritzen verschiedener Strukturen an der Wirbelsäule und in ihrer Nähe mit Lokalanästhetika, um sich systematisch an den bildgebenden Auffälligkeiten entlang vorzuarbeiten, um herauszufinden, was nun schmerzt. Man arbeitet sich also von in Frage kommenden Nervenwurzeln (PRT) zu den Facettengelenken vor, dann zum ISG und ggfs. auch noch zum Hüftgelenk. Es gibt durchaus Studien, die diesem Vorgehen eine relativ hohe Spezifität zuschreiben, insbesondere bei wiederholtem und placebokontrollierten Vorgehen. Macht man eine ordentliche Stufendiagnostik, wird sich die 10-90%-Unterteilung sicherlich noch eimal deutlich verschieben.

Doppelt-Halt: Was ist denn mit der Anamnese?

Ja, irgendwie ist die Reihenfolge hier falsch. Normale Reihenfolge ist ja eigentlich immer: Anamnese, Untersuchung, Auffassung bilden, ggfs. Zusatzdiagnostik veranlassen. Und das gilt natürlich auch – und insbesondere – für chronische Rückenschmerzen. Der große Mist ist nur, dass die aktuelle Anamnese – insbesondere bei den 90% der Patienten – oft relativ gleich ist, interessant sind eher die Vorgeschichte, die bisherigen Behandlungen, die Dynamik der Schmerzen und die biographische Anamnese und die Sozialanamnese. Denn im überwiegenden Teil der Fälle berichten die Patienten, dass die aktuellen Schmerzen immer vorhanden seien, bei körperlicher Belastung – insbesondere Heben und Stehen – stark zunehmen würden, ebenfalls bei Lagewechseln, dass morgens eine gewisse Morgensteifigkeit bestehe, dass der Schlaf fragmentiert und unerholsam sei und das Wärme und leichte körperliche Bewegung schmerzlindernd seien. Typisch ist zudem eine Schmerzausstrahlung von lumbal ins Gesäß, die Leiste oder in den lateralen Oberschenkel.

Das führt dann wieder zum Thema myofasziale oder noziplastische Schmerzen, irgendwie ist es ja schon wahrscheinlich, dass die klinische Endstrecke chronischer Rückenschmerzen unabhängig ihres genauen Auslösers relativ gleich zu sein scheint.

Failed back-surgery

Eine weitere Gemeinsamkeit vieler Patienten mit chronischen Rückenschmerzen sind eine oder mehrere operative Vorbehandlungen, die zu keiner Schmerzlinderung, sondern zu gleichbleibenden oder sogar schlimmer werdenden Schmerzen geführt haben. Dies nennt man auf Neudeutsch failed back-surgery. Dieses Syndrom hat wiederum verschiedene Ursachen:

  • Zum Einen beheben viele Operationen die Schmerzen nicht, weil sie von vornherein Strukturen behandelt haben, die mit dem Schmerzen wenig bis nichts zu tun hatten und somit eigentlich gar nicht indiziert waren.
  • Verletzungen und Traumata durch die Operation, also z.B. an den die Wirbelsäule stabilisierenden tiefen Rückenmuskeln
  • Iatrogene Komplikationen durch den Eingriff
Psychopathologie: Schon wieder der ist voll Psycho

Psychopathologische und psychosoziale Gründe spielen bei vielen chronischen Schmerzsyndromen eine große Rolle, was sich über das biopsychosoziale Modell chronischer Schmerzen erklärt. Insbesondere bei chronischen Rückenschmerzen scheinen sie jedoch ganz erheblich zu sein. Das wiederum hat Gründe, welche im Wesen des Rückenschmerzes mit seinen Einschränkungen für Alltag und Berufsleben liegen, anders herum scheinen gewisse psychopathologische und psychodynamische Prozesse, die Chronifizierung von Rückenschmerzen zu begünstigen. Diese unheilvolle Kombination führt oft zu sehr ähnlichen maladaptiven Verhaltensweisen:

  • objektivierbar nicht nachvollziehbares Vermeidungsverhalten bei inadäquat erscheinend hohen wahrgenommenen Schmerzintensitäten
  • vermehrtes Rückzugsbedürfnis, lange Ruhezeiten, Fokussierung auf Schmerzmanagement
  • depressiv getönte Verhaltensweisen oder manifeste Depressionen
movement control deficit

Die Beobachtung einer sich verändernden Körperwahrnehmung mit z.B. immer schlechter werdender 2-Punkt-Diskrimination und Propriozeption bei chronischen Rückenschmerzen ist schon recht alt und stammt aus den frühen 2000er Jahren. Lange Jahre wurde dieses Phänomen unter dem Begriff movement control deficit subsumiert, mittlerweile könnte man es vermutlich beim noziplastischen Schmerz und den Folgen der Schmerzchronifizierung einsortieren.

Was man tun kann

Noch mal richtig nachgucken?

Nein! Die aller-allermeisten Patienten mit chronischen Rückenschmerzen sind schon völlig überdiagnostiziert, es existieren oft nicht 1, sondern gleich mehrere MRT der LWS, dann noch 1-2 x der HWS, dann noch eine BWS, ein Becken usw. Aufgabe bei der Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen ist es eher, diese ganzen Befunde zusammen mit dem Patienten in den entsprechenden klinischen Kontext zu rücken, hier viel Edukation zu betreiben und die Bedeutung vermeintlicher „schlimmer“ Befunde entsprechend ihrer wahren Bedeutung zu relativieren. Dies bedeutet aber auch, dass wichtiger als noch ein MRT, weil das letzte „ja schon 1 Jahr alt ist“, eine gründliche neurologische und neuro-orthopädische Untersuchung ist, damit man nicht etwaige red flags dann doch beim ganzen Relativieren übersieht.

Keine One-Man-Show

Gerade chronische Rückenschmerzen sind die Domäne der multimodalen Schmerztherapie, die ja nicht immer im stationären oder tagesklinischen Setting stattfinden muss, sondern natürlich auch ambulant erfolgen kann. Aber ein interdisziplinäres Behandlungsteam, in der es eben auch physiotherapeutische und schmerzpsychologische Expertise gibt, ist schon extrem wichtig. Denn:

Medikamente sind allgemein überbewertet

Die medikamentöse Behandlung chronischer Rückenschmerzen ist eher supportiv. In den meisten Fällen muss man erst mal ganze Cocktails nicht-wirksamer Medikamente absetzen (übrigens ein fächerübergreifendes Medizin-Phänomen, dass wenn ein Medikament nicht wirkt, dieses nicht abgesetzt wird, sondern in der Regel die Dosis erhöht und eine Kombinationstherapie begonnen wird unter Beibehaltung des unwirksamen Präparates). Dann sind viele Patienten mit chronischen Rückenschmerzen mit Opiaten vorbehandelt, ebenfalls meistens mit mäßiger Wirksamkeit. Hier stellt sich dann die Frage, ob die Schmerzen überhaupt Opiat-sensibel sind oder ob ein Wirkverlust vorliegt und es Gründe für eine Opiatrotation gibt. Als Faustregel kann gelten, dass je älter ein Patient mit chronischen Rückenschmerzen ist, desto wahrscheinlicher zumindest Teile des Rückenschmerzes Opiat-sensibel sind, da sie durch degenerative Prozesse mit entsprechender Nozizeptor-Aktivierung bedingt sind. Bei jüngeren Patienten liegen meist v.a. noziplastische Schmerzen vor, hier wirken Opiate entsprechend schlechter. Indiziert bei chronischen Schmerzen sind v.a. Medikamente zur Aktivierung des absteigenden schmerzhemmenden Systems, also trizyklische Antidepressiva oder SSNRI.

Und was macht man nun nicht-medikamentös?

Typische Therapieziele der nicht-medikamentösen Behandlung chronischer Rückenschmerzen sind:

  • Erhöhung des Aktivitätsniveaus mit Abbau inadäquaten Krankheitsverhaltens
  • Steigerung des Kontrollerlebens durch Verbesserung der Koordination und Körperwahrnehmung und Steigerung der allgemeinen Fitness
  • und hierdurch Abbau von Angst und Depressivität

Dafür braucht man zum Einen Einzel-Physiotherapie, bei der relativ schnell die Anleitung zu Eigenübungen im Fokus stehen sollte, zum Anderen so etwas wie medizinische Trainingstherapie oder Reha-Sport und ganz viel Edukation im Bereich der biopsychosozialen Schmerzfaktoren um hier den Betroffenen Handwerkszeug mitgeben zu können, Teufelskreise zu durchbrechen.

Wo man weiterlesen kann

S2k-Leitlinie Lumbale Radikulopathie https://www.dgn.org/leitlinien/3516-ll-030-058-2018-lumbale-radikulopathie

S2k-Leitlinie Zervikale Radikulopathie https://www.dgn.org/leitlinien/3514-ll-030-082-2017-zervikale-radikulopathie

Nationale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/nvl-007.html

  1. Brinjikji, W. et al. Systematic Literature Review of Imaging Features of Spinal Degeneration in Asymptomatic Populations. Am. J. Neuroradiol. 36, 811–816 (2015).
  2. Chou, R. et al. Systemic Pharmacologic Therapies for Low Back Pain: A Systematic Review for an American College of Physicians Clinical Practice Guideline. Ann. Intern. Med. 166, 480 (2017).
  3. Maschke, M. & Überall, M. Leitliniengerechte medikamentöse Therapie des chronischen Rückenschmerzes. Aktuelle Neurol. 40, 90–95 (2013).
  4. Mertens, P., Blond, S., David, R. & Rigoard, P. Anatomy, physiology and neurobiology of the nociception: A focus on low back pain (part A). Neurochirurgie 61, S22–S34 (2015).
  5. Rommel, O. Operative Eingriffe ohne interdisziplinäre Abklärung vermeiden. Nervenarzt 90, 194–196 (2019).
  6. Zhuk, A., Schiltenwolf, M. & Neubauer, E. Langfristige Wirksamkeit einer multimodalen Schmerztherapie bei chronischen Rückenschmerzen. Nervenarzt 89, 546–551 (2018).