Vorweg
Zeit für eine neue Miniserie zum Thema Kopfschmerzen im Alter. Die eine oder der andere wird wissen, dass das Thema einem Vortrag entliehen ist, den ich vor nicht allzu langer Zeit gehalten habe. Aber das gibt mir die Möglichkeit, mich daran entlang zu hangeln und das eine oder andere hinzuzufügen, aber auch Dinge wegzulassen. Die Parkinson-Serie läuft aber trotzdem weiter. Da soll es als nächstes um die Braak-Stadien gehen und dann um Parkinson und Schmerz.
Migräne im Alter
Wir alle glauben zu wissen, dass Migräne im Alter, besser noch nach den Wechseljahren seltener wird und daher bei älteren Menschen kaum noch eine Rolle spielt. Außerdem haben wir alle schon Sätze wie „nach dem 55. Lebensjahr werden Sie praktisch keine Erstmanifestation primärer Kopfschmerzerkrankungen mehr sehen“ gehört und verinnerlicht. Doch stimmt das eigentlich?
Die Antwort ist nicht ganz banal. Es gibt recht gute Daten zur Prävalenz der Migräne bis zum Alter von 75 Jahren (und sehr schlechte für ältere Semester), die schon ein gewisses Seltener-Werden zu belegen scheinen:
> 60 Jahre | 60-65 Jahre | 65-70 Jahre | 70-75 Jahre | > 80 Jahre | |
♂︎ | bis 20,4 % | 8,9 % | 6,8 % | 3,4 % | 5 % |
♀︎ | 5,63 % | 4,3 % | 3,8 % | 2,1 % | 5 % |
1. Wijeratne, T., Tang, H. M., Crewther, D. & Crewther, S. Prevalence of Migraine in the Elderly: A Narrated Review. Neuroepidemiology 52, 104–110 (2019).
2. Haan, J., Hollander, J. & Ferrari, M. Migraine in The Elderly: A Review. Cephalalgia 27, 97–106 (2007).
Auch andere Studien zeigen eine Abnahme der Attackenfrequenz im Alter. Anders herum ist genauso gut belegt, dass sich die Charakteristika von Migränekopfschmerz und Migräneattacken im Alter verändern. So weiß man, das bei unter 60-Jährigen ungefähr 70% der Migränepatienten unter einer Migräne ohne Aura leiden, ca. 30% unter einer Migräne mit Aura. Bei >60-Jährigen nimmt die Prävalenz von Attacken ohne Aura ab und Migräneattacken mit Aura werden im Gegenzug häufiger. Auch eine Migräneaura ohne nachfolgenden Kopfschmerz, also eine Migraine sans Migraine wird im Alter häufiger, ebenso nuchale muskuläre Schmerzen als Triggerfaktor für Migräneattacken. Parallel verändern sich aber auch die Attacken. Sie werden eher kürzer, treten öfters beidseitig auf, sind dann weniger pulsierend und öfters drückend, die Schmerzintensität nimmt ab, ebenso die vegetativen Begleitsymptome und die Verstärkung der Kopfschmerzen durch körperliche Aktivität. Kurz gesagt, sie ähneln zunehmend Spannungskopfschmerzen. Dies führt aber vermutlich zu einer Unterdiagnostik von Migräneattacken.
Selbst Neumanifestationen im Alter scheint es zu geben, so wurde schon in den 1980er Jahren ein Konzept zur Abgrenzung von Migräneattacken mit Aura von Schlaganfallsymptomen entwickelt und in den letzten Jahren weiter verfeinert.
Late life migraine accompaniments (LLMA)
- Visuelle Aura-Symptome
- Graduelle Zunahme, Expansion, march of convulsion der Aura, „serieller Übergang“ eines Aurasymptomes in ein anderes (visuell → Parästhesien)
- Mindestens 2 Aurasymptome treten auf
- In mindestens 50% der Fälle Kopfschmerzen
- Dauer der Aura 15–25 min (vs. TIA meist < 15 min)
- Unauffällige Schlaganfallabklärung
Migräneattacken im Alter behandeln: NSAR oder Triptane oder gar nix?
Hält man sich an die reine Lehre und an alle PRISCUS-Listen und so müsste man eigentlich sagen: Gar nix, ist aber nicht so schlimm, da die Attacken ja oft weniger intensiv sind und notfalls geht ja auch noch Paracetamol. Im wahren Leben funktioniert die reine Lehre aber wie so oft nur mehr schlecht als recht, und genauso wie bei Schwangeren die Antwort „eigentlich gar nix“ zwar formal richtig sein mag, bringt es den Betroffenen aber meist ebenfalls rein gar nix.
Also wird man wohl oder übel auf die NSAR vs. Triptan-Frage zurück kommen. Von NSAR wissen wir, dass sie bei älteren Menschen das kardiovaskuläre Risiko deutlich erhöhen. Für Ibuprofen liegt dies bei einem 1,6-fach erhöhten Risiko für Herzinfarkte, einem über 3,36 fach erhöhten für Schlaganfälle und einem 2,4 fach erhöhten Risiko für einen kardiovaskulären Tod. Ähnlich sieht das für Diclofenac aus und erst recht für COX2-Hemmer. ASS und Naproxen scheinen hier weniger schlimm zu sein, führen aber beide zu einer massiven Zunahme von GI-Blutungen gerade bei Älteren.
Für Triptane sieht es hingegen – vielleicht etwas unerwartet – sogar besser aus. Es gibt zu dem Thema sogar prospektive Daten aus der Framnigham Heart Study, nach denen es vertretbar ist Triptane einzunehmen, wenn das 10-Jahres-kardiovaskulärer Tod-Risiko nach dem Framnigham Risk Score (https://www.mdcalc.com/framingham-risk-score-hard-coronary-heart-disease) unter 10% liegt. Zudem gibt es eine große retrospektive Auswertung von knapp 30.000 Patienten mit einer Triptan- und Ergotamin-Einnahme auch mit parallel vorhandenen Herz-Kreislauf-Erkrankungen (und damit einem Framnigham Risk Score > 10%), welche kein erhöhtes vaskuläres Risiko zeigen konnte, selbst bei einem Triptan-Übergebrauch.
Migräneprophylaxe im Alter: Synergie-Effekte nutzen
Medikamentöse Migräneprophylaxe im Alter ist eigentlich viel einfacher als bei jungen Menschen, da man relativ oft Synergie-Effekte nutzen kann. So benötigen viele Patienten eh einen Betablocker oder ein Sartan oder aber auch ein Antiepileptikum oder ein Antidepressivum. Gerade die gut verträglichen ACE-Hemmer und Sartane, die aber in der Migräneprophylaxe off label-Medikamente sind, können ja aber on label als Antihypertensivum verordnet werden. Richtig abgeraten wird (nicht nur in der PRISCUS-Liste) eigentlich nur von dem ansonsten von mir sehr geschätzten Amitriptylin (auf Grund seines Nebenwirkungsprofils), das stattdessen empfohlene Topiramat halte ich nach meiner Erfahrung für das am häufigsten schon nach kurzer Zeit wegen nicht tolerabler Nebenwirkungen abgesetzte Medikament zur Migräneprophylaxe.
Die nicht-medikamentöse Migräneprophylaxe, die ja den deutlich wichtigeren Part darstellt, kann so oder so auch im Alter durchgeführt werden. Gegen die regelmäßige Anwendung von Muskelentspannungsverfahren spricht sowieso gar nichts, 2-3 x wöchentlicher Ausdauersport länger als 30 Minuten muss ggfs. etwas an die jeweilige Realität angepasst werden.
Wo man weiterlesen kann
S1-Leitlinie Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne: https://www.dgn.org/leitlinien/3583-ll-030-057-2018-therapie-der-migraeneattacke-und-prophylaxe-der-migraene
- Wammes-van der Heijden, E. A., Rahimtoola, H., Leufkens, H. G. M., Tijssen, C. C. & Egberts, A. C. G. Risk of ischemic complications related to the intensity of triptan and ergotamine use. Neurology 67, 1128–1134 (2006).
- Haan, J., Hollander, J. & Ferrari, M. Migraine in The Elderly: A Review. Cephalalgia 27, 97–106 (2007).
- Mathew, S. & Ailani, J. Traditional and Novel Migraine Therapy in the Aging Population. Curr. Pain Headache Rep. 23, 42 (2019)
- Wijeratne, T., Tang, H. M., Crewther, D. & Crewther, S. Prevalence of Migraine in the Elderly: A Narrated Review. Neuroepidemiology 52, 104–110 (2019).
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