Chronischer Rückenschmerz

Wenden wir uns dem Brot- und Butter-Geschäft der Schmerztherapie zu, was für den Krankenhaus-Neurologen der Schlaganfall ist, ist in der Schmerztherapie der chronische Rückenschmerz.

Alles ein alter Hut?

Die Bedeutung chronischer Rückenschmerzen durch die pure Masse der Betroffenen ist glaube ich allen bewusst, dennoch sind die – vielleicht auch mittlerweile zu oft zitierten – Kennzahlen schon beeindruckend: Die Lebenszeitprävalenz von lumbalen Rückenschmerzen beträgt mindestens 85%, mindestens 23% die von chronischen Rückenschmerzen, ca. 12% der erwachsenen Bevölkerung ist in ihrer Arbeitsfähigkeit durch Rückenschmerzen eingeschränkt, die Behandlungskosten allein für Rückenschmerzen liegen jährlich in Deutschland bei ca. 50 Milliarden Euro, was gut 2% des Bruttosozialprodukts entspricht.

Dem geneigten Neurologen ist zudem klar, dass es eine riesige Diskrepanz zwischen bildgebenden pathologischen Befunden und der Klinik der Betroffenen gibt und dass eindrückliche bildgebende Befunde mit dem Alter stark zunehmen, ohne dass sie überhaupt Symptome machen müssen. Anschaulich wird dies z.B. hier aufgearbeitet:

nach: Brinjikji, W. et al. Systematic Literature Review of Imaging Features of Spinal Degeneration in Asymptomatic Populations. Am. J. Neuroradiol. 36, 811–816 (2015).

Aus diesem Grund ist die Behandlung von Rückenschmerzen auch eigentlich extrem gut standardisiert und mit allen Arten von Leitlinien ausgestattet, die man sich nur vorstellen kann (s.u.). Und trotzdem tummeln sich auf eben diesem Gebiet extrem viel semiseriöse Behandlungsangebote, finden viel zu viele interventionelle und operative Eingriffe statt und werden Medikamente in astronomischen Ausmaß verordnet.

Was wir wissen

Bei chronischen Rückenschmerzen – und um diese, nicht um die akuten, soll es hier gehen, finden sich überhaupt nur in gerade mal 10% der Fälle überhaupt radiologische Befunde, welche sich auch bei kritischer Reevaluation mit der jeweiligen Klinik in Übereinstimmung bringen lassen. Im Umkehrschluss heißt das, das 90% der Patienten eine „unsichtbare“ Schmerzursachehaben müssen. Gute 10-15 Jahre – seit der Etablierung der multimodalen Schmerztherapie – war man sich beim Großteil der Behandler sicher, dass es sich überwiegend um funktionelle und myofasziale Schmerzen handeln muss. An dem Konzept muss man allerdings gewichtige Zweifel anmelden, doch dazu in einem eigenen Blogbeitrag mehr. Mittlerweile wird man das Phänomen des noziplastischen Schmerzes sicher mitanführen müssen, um die 90% zu erklären. Dazu kommt, dass sich diese 10-90% Unterteilung meist in neurologischen Übersichtsarbeiten findet, dass der kundige Orthopäde aber einwenden wird:

Halt, was ist mit der Stufendiagnostik?

Mit Stufendiagnostik meint man das sequenzielle Anspritzen verschiedener Strukturen an der Wirbelsäule und in ihrer Nähe mit Lokalanästhetika, um sich systematisch an den bildgebenden Auffälligkeiten entlang vorzuarbeiten, um herauszufinden, was nun schmerzt. Man arbeitet sich also von in Frage kommenden Nervenwurzeln (PRT) zu den Facettengelenken vor, dann zum ISG und ggfs. auch noch zum Hüftgelenk. Es gibt durchaus Studien, die diesem Vorgehen eine relativ hohe Spezifität zuschreiben, insbesondere bei wiederholtem und placebokontrollierten Vorgehen. Macht man eine ordentliche Stufendiagnostik, wird sich die 10-90%-Unterteilung sicherlich noch eimal deutlich verschieben.

Doppelt-Halt: Was ist denn mit der Anamnese?

Ja, irgendwie ist die Reihenfolge hier falsch. Normale Reihenfolge ist ja eigentlich immer: Anamnese, Untersuchung, Auffassung bilden, ggfs. Zusatzdiagnostik veranlassen. Und das gilt natürlich auch – und insbesondere – für chronische Rückenschmerzen. Der große Mist ist nur, dass die aktuelle Anamnese – insbesondere bei den 90% der Patienten – oft relativ gleich ist, interessant sind eher die Vorgeschichte, die bisherigen Behandlungen, die Dynamik der Schmerzen und die biographische Anamnese und die Sozialanamnese. Denn im überwiegenden Teil der Fälle berichten die Patienten, dass die aktuellen Schmerzen immer vorhanden seien, bei körperlicher Belastung – insbesondere Heben und Stehen – stark zunehmen würden, ebenfalls bei Lagewechseln, dass morgens eine gewisse Morgensteifigkeit bestehe, dass der Schlaf fragmentiert und unerholsam sei und das Wärme und leichte körperliche Bewegung schmerzlindernd seien. Typisch ist zudem eine Schmerzausstrahlung von lumbal ins Gesäß, die Leiste oder in den lateralen Oberschenkel.

Das führt dann wieder zum Thema myofasziale oder noziplastische Schmerzen, irgendwie ist es ja schon wahrscheinlich, dass die klinische Endstrecke chronischer Rückenschmerzen unabhängig ihres genauen Auslösers relativ gleich zu sein scheint.

Failed back-surgery

Eine weitere Gemeinsamkeit vieler Patienten mit chronischen Rückenschmerzen sind eine oder mehrere operative Vorbehandlungen, die zu keiner Schmerzlinderung, sondern zu gleichbleibenden oder sogar schlimmer werdenden Schmerzen geführt haben. Dies nennt man auf Neudeutsch failed back-surgery. Dieses Syndrom hat wiederum verschiedene Ursachen:

  • Zum Einen beheben viele Operationen die Schmerzen nicht, weil sie von vornherein Strukturen behandelt haben, die mit dem Schmerzen wenig bis nichts zu tun hatten und somit eigentlich gar nicht indiziert waren.
  • Verletzungen und Traumata durch die Operation, also z.B. an den die Wirbelsäule stabilisierenden tiefen Rückenmuskeln
  • Iatrogene Komplikationen durch den Eingriff
Psychopathologie: Schon wieder der ist voll Psycho

Psychopathologische und psychosoziale Gründe spielen bei vielen chronischen Schmerzsyndromen eine große Rolle, was sich über das biopsychosoziale Modell chronischer Schmerzen erklärt. Insbesondere bei chronischen Rückenschmerzen scheinen sie jedoch ganz erheblich zu sein. Das wiederum hat Gründe, welche im Wesen des Rückenschmerzes mit seinen Einschränkungen für Alltag und Berufsleben liegen, anders herum scheinen gewisse psychopathologische und psychodynamische Prozesse, die Chronifizierung von Rückenschmerzen zu begünstigen. Diese unheilvolle Kombination führt oft zu sehr ähnlichen maladaptiven Verhaltensweisen:

  • objektivierbar nicht nachvollziehbares Vermeidungsverhalten bei inadäquat erscheinend hohen wahrgenommenen Schmerzintensitäten
  • vermehrtes Rückzugsbedürfnis, lange Ruhezeiten, Fokussierung auf Schmerzmanagement
  • depressiv getönte Verhaltensweisen oder manifeste Depressionen
movement control deficit

Die Beobachtung einer sich verändernden Körperwahrnehmung mit z.B. immer schlechter werdender 2-Punkt-Diskrimination und Propriozeption bei chronischen Rückenschmerzen ist schon recht alt und stammt aus den frühen 2000er Jahren. Lange Jahre wurde dieses Phänomen unter dem Begriff movement control deficit subsumiert, mittlerweile könnte man es vermutlich beim noziplastischen Schmerz und den Folgen der Schmerzchronifizierung einsortieren.

Was man tun kann

Noch mal richtig nachgucken?

Nein! Die aller-allermeisten Patienten mit chronischen Rückenschmerzen sind schon völlig überdiagnostiziert, es existieren oft nicht 1, sondern gleich mehrere MRT der LWS, dann noch 1-2 x der HWS, dann noch eine BWS, ein Becken usw. Aufgabe bei der Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen ist es eher, diese ganzen Befunde zusammen mit dem Patienten in den entsprechenden klinischen Kontext zu rücken, hier viel Edukation zu betreiben und die Bedeutung vermeintlicher „schlimmer“ Befunde entsprechend ihrer wahren Bedeutung zu relativieren. Dies bedeutet aber auch, dass wichtiger als noch ein MRT, weil das letzte „ja schon 1 Jahr alt ist“, eine gründliche neurologische und neuro-orthopädische Untersuchung ist, damit man nicht etwaige red flags dann doch beim ganzen Relativieren übersieht.

Keine One-Man-Show

Gerade chronische Rückenschmerzen sind die Domäne der multimodalen Schmerztherapie, die ja nicht immer im stationären oder tagesklinischen Setting stattfinden muss, sondern natürlich auch ambulant erfolgen kann. Aber ein interdisziplinäres Behandlungsteam, in der es eben auch physiotherapeutische und schmerzpsychologische Expertise gibt, ist schon extrem wichtig. Denn:

Medikamente sind allgemein überbewertet

Die medikamentöse Behandlung chronischer Rückenschmerzen ist eher supportiv. In den meisten Fällen muss man erst mal ganze Cocktails nicht-wirksamer Medikamente absetzen (übrigens ein fächerübergreifendes Medizin-Phänomen, dass wenn ein Medikament nicht wirkt, dieses nicht abgesetzt wird, sondern in der Regel die Dosis erhöht und eine Kombinationstherapie begonnen wird unter Beibehaltung des unwirksamen Präparates). Dann sind viele Patienten mit chronischen Rückenschmerzen mit Opiaten vorbehandelt, ebenfalls meistens mit mäßiger Wirksamkeit. Hier stellt sich dann die Frage, ob die Schmerzen überhaupt Opiat-sensibel sind oder ob ein Wirkverlust vorliegt und es Gründe für eine Opiatrotation gibt. Als Faustregel kann gelten, dass je älter ein Patient mit chronischen Rückenschmerzen ist, desto wahrscheinlicher zumindest Teile des Rückenschmerzes Opiat-sensibel sind, da sie durch degenerative Prozesse mit entsprechender Nozizeptor-Aktivierung bedingt sind. Bei jüngeren Patienten liegen meist v.a. noziplastische Schmerzen vor, hier wirken Opiate entsprechend schlechter. Indiziert bei chronischen Schmerzen sind v.a. Medikamente zur Aktivierung des absteigenden schmerzhemmenden Systems, also trizyklische Antidepressiva oder SSNRI.

Und was macht man nun nicht-medikamentös?

Typische Therapieziele der nicht-medikamentösen Behandlung chronischer Rückenschmerzen sind:

  • Erhöhung des Aktivitätsniveaus mit Abbau inadäquaten Krankheitsverhaltens
  • Steigerung des Kontrollerlebens durch Verbesserung der Koordination und Körperwahrnehmung und Steigerung der allgemeinen Fitness
  • und hierdurch Abbau von Angst und Depressivität

Dafür braucht man zum Einen Einzel-Physiotherapie, bei der relativ schnell die Anleitung zu Eigenübungen im Fokus stehen sollte, zum Anderen so etwas wie medizinische Trainingstherapie oder Reha-Sport und ganz viel Edukation im Bereich der biopsychosozialen Schmerzfaktoren um hier den Betroffenen Handwerkszeug mitgeben zu können, Teufelskreise zu durchbrechen.

Wo man weiterlesen kann

S2k-Leitlinie Lumbale Radikulopathie https://www.dgn.org/leitlinien/3516-ll-030-058-2018-lumbale-radikulopathie

S2k-Leitlinie Zervikale Radikulopathie https://www.dgn.org/leitlinien/3514-ll-030-082-2017-zervikale-radikulopathie

Nationale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/nvl-007.html

  1. Brinjikji, W. et al. Systematic Literature Review of Imaging Features of Spinal Degeneration in Asymptomatic Populations. Am. J. Neuroradiol. 36, 811–816 (2015).
  2. Chou, R. et al. Systemic Pharmacologic Therapies for Low Back Pain: A Systematic Review for an American College of Physicians Clinical Practice Guideline. Ann. Intern. Med. 166, 480 (2017).
  3. Maschke, M. & Überall, M. Leitliniengerechte medikamentöse Therapie des chronischen Rückenschmerzes. Aktuelle Neurol. 40, 90–95 (2013).
  4. Mertens, P., Blond, S., David, R. & Rigoard, P. Anatomy, physiology and neurobiology of the nociception: A focus on low back pain (part A). Neurochirurgie 61, S22–S34 (2015).
  5. Rommel, O. Operative Eingriffe ohne interdisziplinäre Abklärung vermeiden. Nervenarzt 90, 194–196 (2019).
  6. Zhuk, A., Schiltenwolf, M. & Neubauer, E. Langfristige Wirksamkeit einer multimodalen Schmerztherapie bei chronischen Rückenschmerzen. Nervenarzt 89, 546–551 (2018).

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