Senile Chorea und Huntington

Meine spät entdeckte Liebe für die Huntington-Erkrankung

Das mit der Huntington-Erkrankung und mir war eine schwere Geburt. Selbst im Neuro eBook kann man eine gewisse Frustration über CAG-Repeats und die Namensgebung Huntingtin nur schwerlich überlesen und ganz lange habe ich die Huntington-Erkrankung für ein elendiges Thema für Staatsexamen-Prüfungsfragen gehalten. Erst in den letzten Jahren konnte ich für mich unter der Überschrift unterdiagnostizierte neurodegenerative Erkrankung mit Bewegungsstörung ein gewisses Interesse für die Erkrankung entwickeln.

In der letzten Info Neurologie + Psychiatrie bin ich dann zufällig über ein Interview mit Herwig Lange gestolpert, der relativ viel Ahnung von der Huntington-Erkrankung hat. Meistens lese ich diese Interviews nicht, aber das fand ich dann doch interessant. Da ging es dann um verschiedene Antisense-Oligonucleotide (um so was geht’s in diesen Interviews oft, deshalb interessieren sie mich auch nur selten), aber in einer kurzen Frage auch um Spätmanifestationen der Huntington-Erkrankung. Und da sagte dann der Herr Lange, dass man durchaus einige der senilen Choreas doch einer spät und mild verlaufenden Huntington-Erkrankung zuschreiben kann. Und da ich diesen Gedanken interessant finde und den ein oder anderen Blick in verschiedene Paper wert, wollte ich hier mal was dazu schreiben.

Was man über die Huntington-Krankheit wissen könnte

Das, was alle wissen (und nach dem Staatsexamen sofort wieder verdrängen)
Berühmter Huntington-Patient und Linken-Vorzeige-Ikone: Woody Guthrie
Berühmter Huntington-Patient und Linken-Vorzeige-Ikone: Woody Guthrie, Link.

Die Huntington-Erkrankung ist eine autosomal dominant vererbte Erkrankung, bei der es zu einer übermäßigen Ansammlung von CAG-Repeats auf dem kurzen Arm von Chromosom 4 kommt. Dadurch wird das Protein Huntingtin in seiner Funktion erheblich gestört. Es gibt das Phänomen der Antizipation, d.h. das von Generation zu Generation immer mehr CAG-Repeats hinzukommen und sich damit die Erkrankung immer früher manifestiert, ganz nach dem Motto je mehr Repeats, desto früher und schwerer die Erkrankung. Und es gibt de-novo Mutationen, bei denen Menschen eine Huntington-Erkrankung bekommen, ohne dass in der Familie andere Mitglieder auch betroffen sind. Was man irgendwann auch mal auswendig gelernt hatte ist, dass sich die Huntington-Erkrankung typischerweise ab mehr als 60 CAG-Repeats manifestiert, physiologisch bis zu 35 Repeats sind. Was man sich meist länger merkt ist, dass die Huntington-Erkrankung meistens eine rasch progrediente Demenz und eine Bewegungsstörung beinhaltet und dass es sich dabei oft um eine Chorea handelt und dass es keine kausale Therapie gibt.

Das, was nur wenige wissen, was aber eigentlich interessant ist: Thema Genetik

So banal 35 CAG-Repeats sind normal und bei 60 bekommt man Huntington, ist es dann doch nicht (aber das war ja auch eigentlich klar). Also, eine vollständige Penetranz (also jede Generation bekommt die Huntington-Erkrankung) findet man wohl schon ab 39 CAG-Repeats, zwischen 36 und 39 Repeats ist die Penetranz unvollständig und zwischen 27 und 35 Repeats besteht ein erhöhtes Erkrankungsrisiko ohne sichere Vorhersagbarkeit, CAG-Repeats unter 27 sind normal. Werden die CAG-Repeats von CAA-Tripletts unterbrochen, so kann man eine insgesamt höhere Anzahl an Repeats haben, ohne zu erkranken.

Evolutionär höher entwickelte Lebewesen haben eine höhere Anzahl an CAG-Repeats als evolutionstechnisch gesehen ältere Arten. Vermutlich korreliert die CAG-Repeat-Anzahl mit der Hirnmasse (in Relation zum Körpergewicht), in einigen Huntington-Studien sind für Kinder und junge Erwachsene mit 40 CAG-Repeats sehr hohe IQ-Werte beschrieben worden. Diese Zahl 40 ist auch deshalb interessant, weil das auch die Größenordnung von CAG-Repeats ist, bei der Spätmanifestationen in Studien beschrieben wurden (was im Englischen dann oft Late Onset Huntington Disease (LoHD) heißt. Die normalen Erkrankungsverläufe scheinen sich eher bei 44 und mehr Repeats zu manifestieren. Die Spätmanifestationen machen in Huntington-Studien oft zwischen 4 und 11% der eingeschlossenen Erkrankungen aus, man nimmt aber eine deutliche Unterdiagnostik in der Bevölkerung an.

Das, was nur wenige wissen, was aber eigentlich interessant ist: Huntingtin

Mit zunehmender Repeat-Anzahl verklumpt das Huntingtin in den Zellen immer mehr, dadurch nimmt die Lebensdauer der Zellen stark ab, weil sich rascher eine Apoptose entwickelt. In Körperzellen, welche eh einer kürzere Lebensdauer haben und dann ersetzt werden, ist das gar nicht so relevant, im zentralen Nervensystem umso mehr. Huntingtin scheint physiologischerweise beim Transport von Vesikeln, aber auch bei Zellreparatur-Vorgängen eine wichtige Rolle zu spielen, vermutlich entscheidender ist aber die toxische Wirkung des kranken Huntingtin mit zu vielen Repeats, welches direkt zytotoxische Effekte zu haben scheint.

Das, was nur wenige wissen, was aber eigentlich interessant ist: Es muss nicht immer Chorea sein

Die Huntington-Erkrankung ist auch vermutlich deshalb unterdiagnostiziert, weil immer alle auf die Chorea warten. Die manifestiert sich aber teilweise gar nicht oder nur sehr diskret. Generell ist eine zweiphasige Bewegungsstörung beschrieben, mit zuerst hyperkinetischen Bewegungen, welche klassischerweise distal beginnen und sich dann nach proximal ausbreiten und dann einer Phase mit einer hypokinetisch, teils rigiden Bewegungsstörung und einer Gangstörung inklusive Störung der posturalen Stabilität. In diesem ersten Teil, der hyperkinetischen – sich von distal nach proximal – ausbreitenden Bewegungsstörung ist auch die ehemals namensgebenden Chorea verortet. Aber es muss nicht immer eine Chorea sein, auch Dystonien, Myoklonien, Tremores sind beschrieben, ebenso aber auch ein vollständiges Ausbleiben der hyperkinetischen Bewegungsstörung. Das bedeutet aber auch, dass eine Huntington-Erkrankung durchaus als atypisch anmutendes Parkinson-Syndrom daherkommen kann oder als eins der schlecht klinisch einzuordnenden neurodegenerativen Erkrankungen mit einer komplexen Bewegungsstörung und einer (schnell fortschreitenden) Demenz, über die man im klinischen Alltag immer mal wieder stolpert.

Ein gewisses Problem: Die Diagnosestellung

Ja klar, man kann eine genetische Untersuchung vornehmen und die CAG-Repeats zählen und dann ist die Diagnose gestellt. Aber so läuft es in der Regel ja nicht. Gerade wenn wir über Spätmanifestationen der Huntington-Erkrankung reden, muss man davon ausgehen, dass eben nicht ein junger Mensch mit einer positiven Familienanamnese mit einer Bewegungsstörung mit zunächst hyperkinetischer Komponente und einer fortschreitenden psychiatrischen Symptomatik incl. Demenz sich vorstellt, sondern eher die schon skizzierten Patienten mit der (vermeintlich) senilen Chorea oder mit den erwähnten unklaren Syndromen mit Bewegungsstörung und Demenz. Und abseits der Genetik wird es dann schnell dünn. Was sind also Punkte, die die Differentialdiagnose Huntington zumindest in den Raum stellen sollten?

Klinik

Das hab ich jetzt schon erwähnt, eigentlich jede progrediente unklare Bewegungsstörung mit Demenzsymptomatik und psychiatrischen Symptomen. Spätestens hier lohnt sich eine Fremd- und Familienanamnese. Fremdanamnestisch wird nämlich wohl häufig berichtet, dass sich Huntington-Patienten ihrer Bewegungsstörung (und ihrer neuropsychiatrischen Symptomatik) oft gar nicht bewusst sind. Und die Familienanamnese lohnt sich, weil es ja eben dann doch eine autosomal-dominante Erkrankung ist. Eine klinische Stratifizierung des Ausmaßes der Symptomatik kann man mit der UHDRS erreichen, was so ziemlich genau das Gegenstück zur UPDRS beim Parkinson ist.

Bildgebung

Das ist ein etwas frustrierendes Thema. Da kann man Artikel wie solche lesen: Wilson, H., Dervenoulas, G. & Politis, M. Structural Magnetic Resonance Imaging in Huntington’s Disease. in International Review of Neurobiology vol. 142 335–380 (Elsevier Inc., 2018) oder Johnson, E. B. & Gregory, S. Huntington’s disease: Brain imaging in Huntington’s disease. in Progress in Molecular Biology and Translational Science vol. 165 321–369 (Elsevier Inc., 2019) und ist hinterher fast genau so schlau wie vorher. Im normalen MRT werden eine einseitig betonte Atrophie von Ncl. caudatus und Striatum als häufiger Befund beschrieben, zudem Eisenablagerungen in den Stammganglien (das ist aber ein Phänomen bei vielen neurodegenerativen Erkrankungen und eigentlich einen Blogbeitrag wert) und das war’s auch schon. Spezifische Stigmata, wie bei der CJK oder der MSA und PSP gibt es nicht. Dann kann man im diffusion tensor imaging (und wie die eher forschungsbasierten Verfahren so heißen) verminderte Faserdichten feststellen und in der Voxelmetrie eine sowohl die graue, als auch weiße Substanz einschließende generelle Hirnatrophie, aber das ist natürlich auch überhaupt nicht spezifisch. Ebenso ist auch ein verminderter Stoffwechsel im präfrontalen und parietalen Kortex, wie er in der fMRT wohl beobachtet werden kann, spezifisch für eine Huntington-Erkrankung.

Liquor

Im Liquor finden sich wohl häufig recht hohe tau-Protein-Konzentrationen, welche aber auch nur einen generellen Neuronenuntergang anzeigen. Dann taucht auch bei der Huntington-Erkrankung eine Erhöhung von NFL (neurofilament light chain) in diversen Papern auf. Das Charmante hieran ist, dass NFL-Werte im Serum mit denen im Liquor recht gut zu korrelieren scheinen und dementsprechend eine Liquorpunktion überflüssig machen könnten (aber auch hier ist ein eigener Blogbeitrag fällig), das Dumme, dass das auch nicht viel spezifischer als eine tau-Erhöhung zu sein scheint.

Ein großes Problem: Die Behandlung

Auch ein etwas dürftiges Kapitel: Etabliert ist die symptomatische Behandlung der verschiedenen Beschwerden bei der Huntington-Erkrankung. D.h. Tiaprid und Tetrabenazin werden bei Chorea eingesetzt, atypische Neuroleptika bei psychotischer Symptomatik und es gibt gewisse Hinweise, dass Amantadin bei parkinsonoiden Symptomen helfen kann. Und wie immer bei verzweifelten Fällen taucht auch Riluzol auf, für dessen Wirksamkeit es aber keine Evidenz gibt. Pridopidin als Regulator der Dopamin-Freisetzung wurde in einer ersten Studie als nicht wirksam getestet, da es aber große inhaltlich-pathophysiologische Hoffnungen in den Wirkstoff gibt, wurde eine erneute Studie aufgesetzt.

Große Hoffnung legt man in die Antisense-Oligonukleotide, welche nach dem großen Erfolg von Nusinersen bei der spinalen Muskelatrophie jetzt für verschiedene neurodegenerative Erkrankungen erprobt werden. Hier laufen gerade Phase III-Studien, man wird also bald mehr wissen.

Jetzt aber: Senile Chorea und Huntington

Eine neu aufgetretene Chorea im Alter ist ein selteneres Symptom, aber auch nicht so furchtbar selten. Verschiedene Untersuchungen taxieren die Häufigkeit um die 0,2-0,25% aller neurologischen Vorstellungen (was mir subjektiv aber eher zu häufig erscheint, weil dann jeder 400. bis 500. Patient so etwas haben müsste). Der Großteil (ca. 2/3) dieser sich spätmanifestierenden Choreas – v.a. wenn sie einseitig sind – beruht auf Stammganglieninfarkten, ein weiterer relevanter Anteil – dann häufig, aber nicht immer, beidseitig symptomatisch – auf metabolischen Entgleisungen (v.a. Elektrolyte, Niereninsuffizienz, Diabetes). Vaskulitische, toxische (durch Drogenkonsum) und HIV-assoziierte Gründe für choreatiforme Bewegungsstörungen betreffen eher jüngere Patienten, können natürlich aber dennoch auch im Alter auftreten. Übrig bleiben knapp 10% der Patienten, bei denen die Ursache unklar bleibt. Und hierauf bezog sich das Eingangs erwähnte Interview, in einer Untersuchung fanden sich bei der Hälfte dieser unklaren Chorea-Erkrankungen dann vermehrte CAG-Repeats, eben um die 40, in der durchgeführten genetischen Testung, weshalb man diese Fälle dann als Spätmanifestation einer Huntington-Erkrankung eingeordnet hat. Und da schließt sich der Kreis, wenn die schweren Fälle mit einer Prävalenz von 1:10.000 auftreten, müssten die leichteren und späteren Manifestationen noch häufiger sein. Und dann lohnt es sich doch, sich ein bisschen mehr mit der Erkrankung zu beschäftigen …

Wo man weiterlesen kann

S2k-Leitlinie Chorea/Morbus Huntington https://dgn.org/leitlinien/2017-chorea-morbus-huntington/

  1. Ha, A. D. & Fung, V. S. C. Huntingtonʼs disease. Curr. Opin. Neurol. 25, 491–498 (2012).
  2. Lorincz, M. T. Geriatric Chorea. Clin. Geriatr. Med. 22, 879–897 (2006).
  3. Chaganti, S. S., McCusker, E. A. & Loy, C. T. What do we know about Late Onset Huntington’s Disease? J. Huntingtons. Dis. 6, 95–103 (2017).
  4. McColgan, P. & Tabrizi, S. J. Huntington’s disease: a clinical review. Eur. J. Neurol. 25, 24–34 (2018).
  5. Oosterloo, M., Bijlsma, E. K., van Kuijk, S. M., Minkels, F. & de Die-Smulders, C. E. Clinical and genetic characteristics of late-onset Huntington’s disease. Parkinsonism Relat. Disord. 61, 101–105 (2019).

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