Eigentlich wollte ich heute den lange verschobenen Beitrag zum Thema Schmerzen und Parkinson veröffentlichen, aber dann haben meine Lieblings-Twitterer Karl Lauterbach und Cornelius Römer folgendes Preprint gepostet:
Mlcochova, P., Kemp, S. A., Shanker Dhar, M., Papa, G., Meng, B., Mishra, S., Whittaker, C., Mellan, T., Ferreira, I., Datir, R., Collier, D., Singh, S., Pandey, R., Ponnusamy, K., Radhakrishnan, V. S., Sengupta, S., Brown, J., Marwal, R., Ponnusamy, K., … Gupta, R. K. (2021). SARS-CoV-2 B.1.617.2 Delta variant emergence, replication and immune evasion. BioRxiv, 2021.05.08.443253. https://doi.org/10.1101/2021.05.08.443253, was man hier runterladen kann. Bei Karl Lauterbach wurde das Paper in diesen Tweet eingebettet:
Vor allem die Aussage „weshalb Delta Variante so gefährlich auch für Geimpfte ist.“ hat mich stutzig gemacht und mal wieder furchtbar aufgeregt. Ich hatte ja schon im ersten Teil vom Artikel zu Bullshit-Corona-Papern (Link) erläutert, welche Schwierigkeiten ich mit der Verwendung wissenschaftlicher Literatur habe, gerade wie Karl Lauterbach sie oft betreibt. Und dann musste ich unbedingt nachschauen, was wirklich im Artikel steht und worum es darin eigentlich geht.
Preprint: SARS-CoV-2 B.1.617.2 Delta variant emergence, replication and immune evasion
Es handelt sich um eine Arbeit aus Indien, die verschiedene laborchemische Aspekte der Delta-Variante zusammenträgt und mit epidemiologischen Daten von sogenannten „Durchbruchsinfektionen“ bei zuvor Geimpften assoziiert. Die Daten der Infizierten stammen von Beschäftigten im indischen Gesundheitssystem, die in dem Artikel mit HCW (health care worker) abgekürzt werden.
Einleitung
Die Autoren beschreiben die Herkunft und die molekulargenetischen Unterschiede der Delta-Variante im Vergleich zum Wildtyp und der Alpha-Variante, insbesondere die Aspekte, die darauf hindeuten, warum die Delta-Variante sich so schnell und umfassend durchgesetzt hat (spezielle Mutationen im Spike-Protein). Außerdem findet sich eine (weitere) Kurzzusammenfassung der Kernaussagen des Artikels.
Ergebnisse
Wachstumsvorteile der Delta-Variante
Zunächst wird hier das Verfahren beschrieben, das mit einem mathematischen Modell (der bayesschen Statistik, Link Wikipedia, ich verstehe davon kein Wort) verschiedene molekulargenetische und epidemiologische Faktoren und Aussagen assoziiert wurden. Sie beschreiben auch die methodische Schwäche dieses statistischen Verfahrens, nämlich dass eine homogene Bevölkerungsstruktur besteht mit der gleichen Zahl von Kontakten und auch gleichem Expositionsrisiko. Daher wurden offenbar weitere stochastische Verfahren verwendet um diesen „Fehler“ auszubügeln. Ob es realistisch ist, von 50% nicht gemeldeten COVID19-Todesfällen auszugehen, kann ich für Indien nicht beurteilen, ein Übertrag für Deutschland ist es auf Grund der RKI-Zählweise der COVID-Todesfälle und der flächendeckenden Testung bei Krankenhausaufnahmen zumindest für die Krankenhäuser unplausibel (die ewige Diskussion an oder mit COVID gestorben). Auch werden weitere methodische Schwächen (u.a. die Generierung des Serumproben von sich freiwillig vorstellenden, nicht-repräsentativen, Probanden) benannt.
Die Autoren gehen von einer 1,1-1,4-fach erhöhten Übertragbarkeit der Delta-Variante gegenüber der alpha-Variante und einer um 16-55% vermindert effektiven Immunantwort gegenüber Delta auf Grund ihrer mathematischen Modelle aus.
Geringere Effektivität von neutralisierenden Antikörpern in Genesenen-Seren
Es wurden Serumproben von 12 an COVID19 erkrankten und mittlerweile genesenen Probanden aus der ersten Erkrankungswelle (Wildtyp) untersucht. Es wurde gemessen, in wiefern diese Seren Delta-Varianten Nasen-Rachen-Abstrich-Proben im Vergleich zu einer Alpha-, einer Beta- und einer Wildtyp-Probe neutralisieren konnten. Die Alpha-Variante konnte 2,3-fach schlechter, die Delta-Probe 5,7-fach und die Beta-Variante 8,2-fach schlechter neutralisiert werden.
Geringere Effektivität von Impfstoff-induzierten Antikörpern
In meinen Augen der schwächste Punkt in dem Paper: Es wurde ein Delta-Varianten-„Lebend-Isolat“ auf Seren von mit AstraZeneca und BionTech Geimpften losgelassen. Für beide Impfstoffe wurde eine 8-fach verringerte Wirksamkeit gezeigt, allerdings ohne statistische Signifikanz zu erreichen. Das ganze wurde noch mal für ein sogenanntes Pseudovirus gemacht (das ist grob gesagt ein mikrobiologisches Analog-Modell zum echten Virus), wohl mit ähnlichem Ergebnis.
Erhöhte Reproduktivität im Nasen-Rachen-Raum der Delta-Variante
In einem Zellexperiment mit menschlichem Atemwegs-Epithel und in „primary 3D airway organoids“ (was immer auch das genau ist) konnte eine erhöhte Reproduktionszahl der Delta-Variante gegenüber der Alpha-Variante gefunden werden.
Zudem wurde bei der Delta-Variante eine höhere Viruslast im Rachen gefunden als beim Wildtyp (gemessen an der Reproduktionszahl der PCR-Tests, dem CT-Wert) mit einem CT-Wert von 16,5 gegenüber 19 bei Nicht-Delta-Infektionen (niedriger heißt höhere Viruslast), zum anderen gab es auch mehr „Superspreading“, im Schnitt wurden 3,3 weitere Personen angesteckt, gegenüber 1,1 bei Nicht-Delta-Varianten.
Vorteile der Delta-Variante durch Spike-Protein-Mutationen
In den nächsten beiden Abschnitten geht es um die molekulargenetischen Veränderungen am Spike-Protein, die der Delta-Variante ein einfacheres Eindringen in die menschlichen Zellen ermöglichen, im Vergleich zur Alpha-Variante (und dem Wildtyp) und die Impfstoffe schlechter wirken lässt. Dies ist derart komplex, das es für nicht molekulargenetisch arbeitende Mikrobiologen und Virologen kaum verständlich ist.
Durchbruchinfektionen bei mit AstraZeneca-Geimpften
Aus meiner klinischen Sicht der interessanteste Abschnitt. Die Autoren beschreiben eine relativ geringe Zahl von Impfdurchbrüchen (30 von 3800) unter der zunächst in Indien grassierenden Alpha-Variante. Ab April 2021 habe sich dann die Delta-Variante durchgesetzt, mit nun höherer Zahl an Impfdurchbrüchen. Untersucht wurde offenbar zunächst ein Krankenhaus. Von den dort beobachteten „Durchbruchsinfektionen“ seien alle mild verlaufen, ein Betroffener habe Sauerstoff erhalten müssen, niemand sei beatmet worden. Alle Mitarbeiter seien mit dem AstraZeneca-Impfstoff geimpft gewesen, im Mittel hätten sie die zweite Dosis 27 Tage vor der Infektion erhalten. Es sei eine auffallend hohe Anzahl an sehr ähnlichen oder sogar exakt gleichen Virus-RNA-Sequenzierungen beobachtet worden, die auf ein Superspreader-Event hindeuten würden.
Es wurden dann noch zwei weitere Krankenhäuser mit 1100, bzw. 4000 Beschäftigten untersucht. Im Krankenhaus mit 1100 Mitarbeitern seien 106 Durchbruchinfektionen aufgetreten, von denen 66 einem Superspreader-Event zugeordnet werden konnten; im Krankenhaus mit 4000 Mitarbeitern 65 Infektionen, davon 52 derart ähnliche Proben, dass man bei diesen von einem Superspreader-Event ausgehen würde.
Serologische Unterschiede zwischen Beschäftigten, die eine Durchbruchsinfektion erlitten hätten und denen, die keine Infektion erlitten hätten, habe man nicht finden können.
Methodisch sehr aufwändig wurde versucht, die Wirksamkeit einer (AstraZeneca-)Impfung gegen die Delta- und andere Varianten bei Beschäftigten im Gesundheitssystem zu ermitteln. Mangels nicht geimpfter Kontrollgruppe hat man sich bei Daten des britischen Gesundheitssystems bedient und eine Odds Ration von 5,14 einer Delta-Durchbruchsinfektion gegenüber anderen Virusvarianten-Durchbruchsinfektionen ermittelt.
Drei Einwände:
Die Infektionszahlen erscheinen mir aus persönlicher Erfahrung außergewöhnlich hoch (habe im Januar die Kontaktnachverfolgung positiv getesteter Mitarbeiter mit neustrukturiert und eine zeitlang noch begleitet). Unser Krankenhaus hat ca. 1900 Mitarbeiter, seit der flächendeckenden Impfung (zeitlich naturgemäß seit Anfang des Jahres und damit analog zum Anfluten der Alpha-Variante) hatten wir keine 15 Fälle bei vollständig Geimpften (was analog zu 30 von 3800 Mitarbeitern wäre), sondern unter 10 und davon mindestens 4 falsch positive PCR-Befunde mit sehr hohen CT-Werten und negativem Zweitabstrich.
Auch die Superspreading-Events mit 52-66 Betroffenen unter den Mitarbeitern erscheinen mir in einem deutschen Krankenhaus-Arbeitsalltag schwerlich reproduzierbar. Und auch da schöpf ich aus eigener Erfahrung, ich habe im Dezember 2020 selber so eine schöne Kontaktnachverfolgungs-Liste ausfüllen dürfen und es waren 28 Kontakte (von denen ich keinen infiziert hab) und es wurde mir mitgeteilt, dass es „beeindruckend viele“ Kontakte waren.
Ein sehr interessanter Punkt findet sich weit unten im Anhang des Preprints. Hier werden die klinischen und demographischen Daten der „Durchbruch-Infektionen“ angegeben. Abgesehen von der extrem niedrigen (und damit auch statistisch nicht signifikanten) Rate an Hospitalisierungen auf Grund der Infektion fällt auch die mittlere Symptomdauer von 1,5, bzw. 1,0 Tagen auf. Im Klartext und vielleicht etwas überspitzt heißt das, da hatte jemand einen Tag lang Erkältungssymptome und einen positiven PCR-Test. Hieraus eine verminderte Wirksamkeit der Impfstoffe abzuleiten, finde ich schon sehr mutig, Seren-Laborergebnisse hin oder her.
Zusammenfassung des Artikels
Die Autoren beschreiben verschiedene Faktoren, die die Delta-Variante ihrer Ansicht nach durchsetzungsfähiger gegenüber den anderen SARS-CoV2-Varianten, insbesondere der alpha-Variante machen. Sie nehmen an, dass die Delta-Variante zum Einen bei zuvor Infizierten und mit AstraZeneca geimpften Personen teilweise die Immunantwort umgehen kann und parallel auch noch infektiöser ist.
In der Studie wurden Delta-Varianten-Infektionen bei mit AstraZeneca-Geimpften Beschäftigten im Gesundheitssystem untersucht, bei denen diese Durchbruchinfektionen sehr mild und kurz verliefen. Die Autoren weisen zwar auf diese milden Verläufe hin, betonen aber, dass in Krankenhäusern durchaus Patienten mit schwacher oder nicht vorhandener Immunreaktion auf die Impfung behandelt werden, welche durch eine Ansteckung durch die Beschäftigten vital gefährdet seien. Zudem sehen sie es als notwendig an, dass die Impfstoffe weiter an die Virusvarianten angepasst werden müssen und, dass auch bei Geimpften die berühmten nicht-medikamentösen Maßnahmen (AHA-L) weiter gelten müssten:
Therefore strategies to boost vaccine responses against variants are warranted in HCW and attention to infection control procedures should be continued even in the post vaccine era.
Das ist in sofern interessant, da das sehr danach klingt, als gelte es für Krankenhäuser und Krankenhaus-Beschäftigte, so auch im Abstract zu Beginn des Artikels:
Whilst severe disease in fully vaccinated HCW was rare, breakthrough transmission clusters in hospitals associated with the Delta variant are concerning and indicate that infection control measures need continue in the post-vaccination era.
Fazit
Karl Lauterbach hat (mal wieder) eine steile These hingelegt, die er mit der zitierten Quelle nicht belegen kann. Ich glaube mittlerweile, dass das System hat und kein Versehen oder Schludrigkeit ist. Vielmehr wird nur ein verschwindend geringer Anteil der Leser seines Tweets die Originalquelle lesen und ein noch geringerer Anteil ausreichend genau. So scheint er eine politische Forderung (überspitzt „Masken für immer“ und „Delta ist ganz schlimm“) wissenschaftlich zu belegen, ohne es wirklich zu tun. Für jemanden der derart in der Öffentlichkeit steht (bzw. sich dort hinstellt oder sich selber als Gesundheitsminister ins Spiel bringt) und den Anschein des Experten aufrecht erhält finde ich das unerträglich. Irgendwer (ich hab vergessen wer es war) hat Karl Lauterbach mal als „wissenschaftlichen Populisten“ beschrieben, vermutlich trifft es das ganz gut.
Das Paper selber erscheint mir sehr aufwändig gemacht und zumindest im laborchemischen Teil unglaublich komplex. Ob die Analogie zu den „real world“-Durchbruchsinfektionen wirklich so stehen gelassen werden kann und ob sie in den westeuropäischen oder zumindest deutschen Krankenhausalltag übertragbar ist, weiß ich nicht. Ob man von den reinen Labordaten zum BionTech-Impfstoff ohne klinische Daten eine verminderte Impfstoffwirksamkeit gegenüber der Delta-Variante schließen kann, bezweifle ich sogar. Allerdings gibt es da ja die israelischen Daten, die das zu belegen scheinen. Was ich schwierig finde, ist die Deutung der Ergebnisse, so wie sie gemacht wird. In meinen Augen sind die Durchbruchsinfektionen allesamt extrem mild verlaufen. Es gab keinen einzigen schweren Krankheitsverlauf. Die Krankheitsdauer hat offenbar nur bei wenigen Tagen gelegen, im Mittel gerade mal bei 1-1,5 Tagen. Das spricht in meiner Wahrnehmung für eine exzellente Wirkung der Impfstoffe auch gegen die Virusvarianten. Ob man tatsächlich eine Impfung gegen Husten, Schnupfen und Heiserkeit erwarten kann und konnte, glaube ich nicht. Das führt übrigens noch einmal zu Karl Lauterbachs Aussagen zurück und der „Gefährlichkeit“ der Delta-Variante auch für Geimpfte. Das ist schlicht und ergreifend Bullshit.
Etwas schwieriger ist das Thema Übertragbarkeit des Virus auch durch Geimpfte im Krankenhaus oder in anderen Risikobereichen. Auch da kann man in meinen Augen nicht die gleichen Maßstäbe anlegen, wie im öffentlichen Leben und eine „Maske für immer“-Politik kann man kaum mit den hier veröffentlichten Daten begründen. Und anders herum wurden in Bereichen mit immunsupprimierten Patienten schon immer besondere Schutzmaßnahmen wie Mund-Nase-Schutz getragen. Ob man daraus eine generelle unbeschränkte Maskenpflicht in Krankenhäusern oder Pflegeheimen ableiten kann, weiß ich nicht. Ich würde aus persönlicher Erfahrung eher nein sagen und zwar aus folgendem Grund: Gerade bei den hochaltrigen Patienten leidet ein ganz großer Teil an einer Presbyakusis. Lippenlesen ist hierbei ein häufiger Kompensationsmechanismus. Das fällt bei dem ständigen Maskentragen ersatzlos weg und führt zu noch mehr Deprivation, als wir sie eh im Krankenhaus sehen. Meiner Erfahrung nach sehen wir seit Beginn der Pandemie und der Schutzmaßnahmen eine erhöhte Rate von Delirien. Ich finde es relativ plausibel, dass das (neben den Besuchsverboten) unter anderem an der schlechteren non-verbalen Kommunikation und dem schlechteren Erkennen einzelner Bezugspersonen hinter der Uniformität der Masken liegen kann. Da wir alle von der erhöhten Mortalität im und nach einem Delir wissen (vergleiche auch den allerersten brainpainblog-Artikel, Link), muss man das meines Erachtens durchaus berücksichtigen, wenn man so etwas wie eine ständige Maskenfplicht erwägen sollte.
Wo man weiterlesen kann
Mlcochova, P., Kemp, S. A., Shanker Dhar, M., Papa, G., Meng, B., Mishra, S., Whittaker, C., Mellan, T., Ferreira, I., Datir, R., Collier, D., Singh, S., Pandey, R., Ponnusamy, K., Radhakrishnan, V. S., Sengupta, S., Brown, J., Marwal, R., Ponnusamy, K., … Gupta, R. K. (2021). SARS-CoV-2 B.1.617.2 Delta variant emergence, replication and immune evasion. BioRxiv, 2021.05.08.443253. https://doi.org/10.1101/2021.05.08.443253, Link
Das ist traurig zu sehen, dass so langsam im Klinikalltag nicht die Medizin, sondern die Politik Anweisungen gibt.
Der Sache mit dem Delir kann ich nur zustimmen. Und ich glaube eine dauerhafte Maskenpflicht würde den Medizinberufen gar nicht so gut tun, deren Prestige sich ohnehin im freien Fall befindet.
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