Corona-Paper-Bullshit-Bingo: Sex und COVID sells

Eine US-Wissenschaftsjournalistin und Pulitzer-Preisträgerin mit mehr als 200.000 Followern auf Twitter teasert im Mai 2023 eine Pressemitteilung der East Carolina University (Link) mit einer im Juni 2022 veröffentlichten dänischen retrospektiven Kohortenstudie an, nach der nach COVID-Infektionen ein erhöhtes relatives Risiko für Alzheimer-Erkrankungen und Parkinson-Syndrome besteht. Dabei ist in dem Teaser-Beitrag (Link) die Studie nicht mal verlinkt, sondern wird nur angekündigt. Es handelt sich – nach kurzer Recherche in gängigen Suchmaschinen – aber um diese Studie (Zarifkar P, Peinkhofer C, Benros ME, Kondziella D. Frequency of Neurological Diseases After COVID-19, Influenza A/B and Bacterial Pneumonia. Front Neurol. 2022;13:904796. doi:10.3389/fneur.2022.904796, Link pdf), die seinerzeit medial durchaus Wellen geschlagen hat und vielerorts eingeordnet wurde.

Der Impact in den sozialen Medien ist erwartbar, insbesondere wird der Tweet nun von den üblichen COVID-Doomsday-Propheten geteilt, die Heerscharen von Demenzkranken nach durchgemachter COVID-Infektion befürchten (vielleicht aber auch herbeisehnen). Das Ganze ist ärgerlich, sogar sehr ärgerlich und das auf mehreren Ebenen und darum soll es hier gehen:

Die dänische Kohortenstudie

Zarifkar P, Peinkhofer C, Benros ME, Kondziella D. Frequency of Neurological Diseases After COVID-19, Influenza A/B and Bacterial Pneumonia. Front Neurol. 2022;13:904796. doi:10.3389/fneur.2022.904796

Fangen wir mit der Studie an. Ausgewertet wurden elektronische Patientenakte der dänischen Bevölkerung im Zeitraum Februar 2020 bis November 2021, also aus der Frühphase der Pandemie mit dem Wuhan-Wildtyp der alpha- und der delta-Variante, zudem bis Ende 2020 aus der Prä-Impfstoff-Ära. In diesem Zeitraum wurden 43.375 Däninnen und Dänen positiv auf COVID getestet, von diesen 35.362 Erkrankte ambulant und 8.013 stationär behandelt. Es wurde das Risiko berechnet einen Monat, drei, sechs und 12 Monate nach COVID-Infektion eine neurodegenerative (Alzheimer-Demenz, Parkinson-Erkrankung), eine zerebrovaskuläre (ischämische Schlaganfall, Hirnblutung, Subarachnoidalblutung) oder eine autoimmunvermittelte Erkrankung (Multiple Sklerose, Guillain Barré-Syndrom, Myasthenia Gravis, Narkolepsie) zu erleiden, bzw. dass zu diesen Zeitpunkten eine entsprechende ICD-10-Diagnose dokumentiert wurde. Bei dieser Auswertung war das relative Risiko eine Alzheimer-Demenz sechs und 12 Monate nach durchgemachter COVID-Infektion bei ambulant behandelten Patienten um den Faktor 3,6, bzw. 3,5 erhöht, bei stationär behandelten um den Faktor 3,5 und 3,4. Die Autoren berechneten das Risiko noch mal, nachdem Dänen mit in der Vorgeschichte durchgemachten Delirien ausgeschlossen wurden (da ein Delir eine nachhaltige kognitive Verschlechterung bedingen kann, Link): Es blieb erhöht. Etwas ähnliches ließ sich für Parkinson-Erkrankungen berechnen. Hier was das Risiko um den Faktor 2,4, bzw. 2,7 erhöht. Aber: Im Vergleich zu Patienten, die eine Influenza oder bakterielle Pneumonie durchgemacht hatten und stationär behandelt wurden fand sich kein statistisch signifikanter Unterschied sowohl hinsichtlich des Alzheimer-, als auch des Parkinson-Risikos.

Finally, there was no excess risk of Alzheimer’s disease or Parkinson’s disease compared to influenza or bacterial pneumonia inpatients.

Durchgehend erhöht (um den Faktor 2,3 bis 2,7) – kongruent zu anderen Studien – blieb das Schlaganfall-Risiko, besonders kurz nach der COVID-Infektion. Influenza-Patienten hatten dieses erhöhte Schlaganfall-Risiko nicht, wohl aber die Pneumonie-Patienten. Ebenfalls fand sich ein leicht erhöhtes Hirnblutung- (ICB), aber nicht Subarachnoidal-Blutungs-Risiko. Autoimmunerkrankungen traten – anders als zu Anfang der Pandemie vermutet – nicht vermehrt nach durchgemachter COVID-Infektion auf.

Soweit, so normal. Ärgerlich wird aber die Zwei-Sätze-Einleitung der Diskussion, wenn man Titel, Abstract und auch weitergehende Diskussion der Autoren betrachtet:

Key findings from this population-based cohort study covering roughly half of Denmark’s population include an increased frequency of new-onset neurodegenerative and cerebrovascular (but not neuroimmune) disorders in COVID-19 positive compared to COVID-negative individuals. However, when comparing the frequencies of these disorders after COVID-19 with those after influenza and community-acquired pneumonia, we found no significant differences, except for ischemic stroke.

Seriös wäre meines Erachtens gewesen zu schreiben: Nach durchgemachter schwerer Atemwegsinfektion (SARI) ist das Risiko nach 6, bzw. 12 Monaten die Diagnose einer neurodegenerativen Erkrankung zu erhalten erhöht. Nach COVID-Infektion ist zudem das Schlaganfall-Risiko erhöht, vor allem kurz nach der Infektion.

Leider schreiben das die Autoren nicht, leider betonen sie – wo es nur geht – den COVID-Part und erwähnen die anderen Atemwegsinfektionen eher nebenbei.

Kausalität und Korrelation

Was in der öffentlichen Rezeption der Studie – und der Darstellung der Autoren – untergeht: Das Studiendesign erlaubt keine Aussage zu einer etwaigen Kausalität, es kann allenfalls eine Korrelation zeigen (dies tut es, aber so wie oben beschrieben). Was auch untergeht: Die akzeptierte Hypothese der Entstehung neurodegenerativer Erkrankung, das Konzept der Proteinopathien (Link), bei der sich pathogene Eiweiße prionartig von Zelle zu Zelle ausbreiten bedingt einen Jahrzehnte andauernden Krankheitsprozess, bevor überhaupt Symptome auftreten. In keinem Fall ist eine zuvor nicht vorhandene Proteinopathie, die innerhalb von sechs, bzw. 12 Monaten neu auftritt und symptomatisch wird plausibel. Sowenig wie es Turbokrebs nach COVID-Infektion oder -Impfung gibt, gibt es Turbo-Alzheimer.

Es gibt – und darauf zielen die Autoren und auch Frau Garrett ab – Überlegungen aus der Grundlagenforschung, dass COVID-19 neurodegenerative Prozesse beschleunigen/auslösen könnte (SARS-CoV-2 als möglicher Auslöser von Neurodegeneration, SARS-CoV-2 und Neurodegeneration, Qualitäts-COVID-Paper-Offensive Teil 2, SARS-CoV-2 zerstört Hirn und T-Zellen?!?), doch dazu gleich noch mal mehr.

Mediale Rezeption

Entsprechend der Aufmachung und Vorstellung der Studie war die mediale Rezeption für eine einzelne Studie durchaus beachtlich, viele Medien sahen sich aber zu einer Einordnung genötigt. So zitiert DER SPIEGEL den DGN-Generalsekretär Peter Berlit (Link):

Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), sagte der dpa: Man könne aus der Studie nicht ableiten, dass ein Mensch nach einer Coronainfektion ein erhöhtes Risiko habe, zu einem späteren Zeitpunkt Alzheimer zu entwickeln. Es sei lediglich gezeigt worden, dass nach einer Infektion häufiger Symptome diagnostiziert würden. Er verweist darauf, dass auch äußere Faktoren – etwa das Verlieren des gewohnten Umfeldes, weil jemand in eine Klinik muss – dazu führen können, dass eine bereits bestehende Alzheimer-Erkrankung symptomatisch wird.

Auch der Beitrag des RedaktionsNetzwerk Deutschland benutzt die selbe Artikel-Grundlage (Link), ebenso die Rheinische Post (Link). Die DW ergänzt noch (Link):

Gerade weil das Risiko für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson laut der Studie nach einer Coronainfektion nicht höher sei als bei anderen Atemwegserkrankungen, sei es wahrscheinlich eher der Infekt an sich, der das Risiko steigert. „Das ist nicht wirklich neu“, sagt der Neurologe Berlit.

Auch der WDR ordnete die Studie seinerzeit ähnlich ein: Link.

Und so muss man meines Erachtens diese – und andere, ähnliche – Studien einordnen. Ein kausaler Zusammenhang im Sinne eines de novo-Krankheitsprozesses ist nicht plausibel, wohl aber die Demaskierung einer vorbestehenden, bis dahin subklinischen, unter dem Radar verlaufenden, neurodegenerativen Erkrankung. Das ist ein Phänomen, welches man – auch abseits von Infektionserkrankungen – bei vielen älteren Patienten im Krankenhaus beobachten kann und welches regelmäßig Konfliktstoff in der Interaktion mit Angehörigen liefert. Mit Erkrankung, Umgebungswechsel, ggfs. Narkose, Behandlung auf einer Überwachungsstation ohne eindeutigen Tag-Nacht-Rhythmus demaskieren sich vorbestehende Defizite, ohne dass ein (merkbares) Delir vorliegt. Für die Familie der Patienten entsteht oft der Eindruck: „Das“ ist im Krankenhaus gekommen, während die Behandler sich sicher sind: „Das“ war doch vorher schon so.

Der Auslöser von Neurodegeneration

Der zweite Teil des Threads zielt genau wie die Studien-Autoren, die im SPIEGEL/RND/Rheinische Post-Artikel erwähnte Anja Schneider vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) oder Martin Korte vom Helmholtz-Institut für Infektionsforschung in Braunschweig (Link) auf eine grundsätzliche Frage ab: Bei den Proteinopathien ist der Auslöser des Krankheitsprozesses unklar. Eine genetische Komponente wird vermutet, zudem ein oder mehrere Umweltfaktoren, warum Person A nun Alzheimer entwickelt, Person B aber nicht. Als mögliche Auslöser (ggfs. auch ein Auslöser unter vielen) werden seit langem Infektionserkrankungen diskutiert. Dafür gibt es historische Anhaltspunkte (Parkinson-Welle nach der spanischen Grippe), aber auch Hinweise aus der Grundlagenforschung, siehe auch Linksammlung oben. Dabei gibt es immer weniger Hinweise auf ein COVID-exklusives Geschehen, vielmehr scheinen Infektionen durch die Ausschüttung von Entzündungseiweißen, proinflammatorischen Zytokinen, neurotoxisch zu wirken bzw. Neurodegenerations-Kaskaden anzustoßen.

Dies wird in dem Thread von Frau Garrett gar nicht so deutlich, wohl aber in der Pressemitteilung der East Carolina Universität, die sie verlinkt:

It’s going to be five to 10 years before we have any of this epidemiological data to say ‘yes, it does increase risk for neurological disorders or neurodegenerative disorders

Fazit

Foto von a href="https://unsplash.com/@romiyusardi?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditCopyText"Romi Yusardi/a auf a href="https://unsplash.com/de/fotos/iFoo5iFFo6Q?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditCopyText"Unsplash/a

Nach schweren Atemwegsinfektionen (SARI) können sich vorbestehende neurodegenerative Erkrankungen demaskieren, dabei bestand in der hier zitierten retrospektiven Studie kein Unterschied zwischen COVID-, Influenza-Infektion oder bakterieller Pneumonie. Übereinstimmend mit anderen Studien führte COVID-19 in der Akutphase – anders als andere SARI zu mehr Schlaganfällen.

Dass Infektionskrankheiten ein möglicher Auslöser/Verstärker für die Entwicklung neurodegenerativer Erkrankungen sind, wird seit Jahren vermutet, es gibt entsprechende Hinweise aus der Grundlagenforschung – welche durch die SARS-CoV-2-Pandemie einen deutlichen Forschungs- und Erkenntnisschub erfahren hat und derartige Mechanismen aufzeigen konnte – und es wäre extrem unplausibel, wenn das am Ende für COVID nicht gelten würde.

Weiterhin kann man offenbar nicht nur mit Sex, sondern auch mit COVID-Themen im Titel Klick- und Zugriffszahlen erhöhen, auch wenn es eigentlich um grundlegende medizinwissenschaftliche Themen und Zusammenhänge geht. Mich nervt das mittlerweile extrem.

Abbildungen

Die Abbildungen stammen von unsplash. Titelbild: Link, Käfer: Link.

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