Zwischenruf: Beteiligung Nichtgeimpfter an den Kosten ihrer COVID-19-Behandlung. Gedanken zu dem Beitrag auf gesundheitsrecht.blog

Worum geht es?

Relativ prominent durch Stefan Huster wurde auf Twitter ein Beitrag auf der Webseite gesundheitsrecht.blog verbreitet

In dem Blogbeitrag erörtern die Autorinnen Frauke Brosius-Gersdorf und Nicole Friedlein Möglichkeiten, wie man nicht gegen COVID-19 Geimpfte an den Behandlungskosten einer etwaigen medizinischen Behandlung wegen COVID-19 oder COVID-19-Krankheitsfolgen beteiligen könnte.

Was steht drin?

Erst einmal, der Beitrag ist in einem juristischen Blog erschienen, es geht hierin um Juristerei und nicht um Medizin oder Medizinethik. Zweitens, bevor man den Beitrag wichtig nimmt, er ist auf gesundheitsrecht.blog erschienen, das ist sicherlich kein Leitmedium (dieser Blog übrigens auch nicht). Drittens, er erstreckt sich über zwei Seiten und ist zwar wegen der juristischen Erläuterungen etwas mühsam zu lesen, aber es ist durchaus machbar. Für die, die die Lektüre nicht übers Herz bringen hier ein kurzer Abriss:

Die Autorinnen erläutern zunächst, dass der Gedanke der Solidargemeinschaft, welche einzelne Mitglieder nicht für Risikoverhalten / -konstellationen sanktioniert bei der gesetzlichen Krankenversicherung prinzipiell deutlich höher gehängt wird, als bei anderen (gesetzlichen) Versicherungen und erst recht als bei privaten. Diese Solidargemeinschaft sei aber durch zunehmend steigende Gesundheitsausgaben immer mehr gefordert, die gesetzlichen Krankenversicherungen zunehmend defizitär, was zu höheren Beitragszahlungen und Steuerzuschüssen führe. Die COVID-Pandemie habe dabei noch einmal besonders zu einem Anstieg der Gesundheitsausgaben geführt, intensivmedizinische Behandlungen auf Grund von COVID-19 seien besonders teuer, dennoch seien 22% der deutschen Bevölkerung nicht gegen COVID geimpft. Da die Impfung gut gegen schwere COVID-Verläufe schütze, seien Ungeimpfte besonders prädestiniert, einen schweren (und teuren) COVID-Verlauf zu entwicklen. Im Sozialgesetzbuch sei explizit eine Kostenbeteiligung an Behandlungskosten vorgesehen, wenn

sich Versicherte eine Krankheit vorsätzlich oder bei einem von ihnen begangenen Verbrechen oder vorsätzlichen Vergehen zugezogen haben.

Die Autorinnen führen aus, dass man ihrer Ansicht nach Vorsatz bei Nichtimpfung und einen Kausalzusammenhang zwischen fehlender Impfung und schwerem Krankheitsverlauf annehmen kann, dass es aber einen Ermessensspielraum der Krankenkassen gebe. Prinzipiell sei die rechtliche Auslegung aber nicht so eindeutig, so dass die Autorinnen eine entsprechende gesetzliche Regelung vorschlagen. Im Folgenden wird das Für und Wider einer gesetzlichen Regelung erörtert, bei dem die Autorinnen recht eindeutig mehr für- als widersprechende Argumente aufführen. Mehr zu diesem Teil des Beitrags jedoch gleich.

Zwei Gedankenstränge

Für mich finden sich in der Argumentation der Autorinnen, vor allem in der Diskussion für eine gesetzliche explizite Regelung zwei Gedankenstränge, die man jeweils gesondert betrachten muss:

  • ein COVID-spezifischer und
  • ein genereller zum Thema Eigenbeteiligung an Behandlungskosten in der gesetzlichen Krankenversicherung

Die Tyrannei der Ungeimpften

Der COVID-spezifische Gedankenstrang erscheint mir seltsam aus der Zeit gefallen und eher aus den Unzeiten von 2G+ Ende 2021/Anfang 2022 zu stammen. Vor allem stellt sich hier die Frage nach der Relevanz. Die COVID-Krankheitslast hat seit Anfang 2022 extrem stark abgenommen, in der Bevölkerung existiert eine breite Immunität durch Impfungen und durchgemachte Infektionen und auch bei nicht gegen COVID-19 Geimpften dürfte die Zahl der Immunnaiven mittlerweile durch Vorinfektionen extrem gering sein, was zum allgemein zu beobachtenden Phänomen führt, dass schwere COVID-Verläufe ziemlich selten geworden sind. Der tatsächliche monetäre Wert einer derartigen Regelung für die gesetzlichen Krankenkassen dürfte dementsprechend gering sein.

Dazu kommt, dass der Sachverhalt mittlerweile weniger eindeutig gesehen wird. Zumindest in vielen skandinavischen Ländern wird eine COVID-Impfung für gesunde unter 50-jährige ohne Risikofaktoren und für Kinder und Jugendliche gar nicht mehr empfohlen, in den USA hingegen für alle ab dem Babyalter.

Der unbedingte Wunsch (der in dem Beitrag ja recht unverhohlen formuliert wird) nicht Geimpfte an „ihren“ Behandlungskosten zu beteiligen hat viel von „zur Rechenschaft ziehen“ von Personen mit nonkonformen Verhalten, ist am Ende nur die Fortsetzung der Montgomery’schen „Tyrannei der Ungeimpften“. Manche Menschen brauchen aber offenbar einen Sündenbock. Und was für die einen dann eine kinderbluttrinkende (mehr oder weniger antisemitisch konnotierte) globale Elite ist, sind für die anderen halt „die Ungeimpften“ und für die Dritten reichen schon „die Ausländer, die uns Frauen und Arbeit wegnehmen“. Wer sowas für sich braucht, sei’s drum. Dann wäre es einfach ein sinnloser Artikel, der viel über die Kleingeistigkeit der Autorinnen aussagt, aber mehr auch nicht. Es gibt aber gute Gründe anzunehmen, dass das nicht so ist:

Der generelle Ansatz

Der Grund warum ich überhaupt hier was schreibe und ich den Blogbeitrag für diskussionswürdig halte, ist aber ein anderer: Ich denke, das ganze ist mehr oder weniger ein trojanisches Pferd für die Aufweichung des Solidarprinzips der gesetzlichen Krankenversicherung, bzw. ein „Testballon“, um zu schauen, wie weit man gehen kann und um eine (vermeintlich) eindeutige Stimmungslage (zumindest bei den gängigen dafür empfindsamen Politiker:innen, Parteien und Medien) auszunutzen. Fangen wir mal mit dem Fazit des Artikels an:

Die engen Anwendungsvoraussetzungen des § 52 I Alt. 1 SGB V stellen Hürden für eine Beteiligung nichtgeimpfter Versicherter an den Kosten ihrer Covid-19-Behandlung dar. Im Hinblick auf die zurückhaltende Anwendungspraxis der Krankenkassen ist kaum zu erwarten, dass Nichtgeimpfte auf der Grundlage dieser Vorschrift tatsächlich an ihren Behandlungskosten beteiligt werden.

Die aktuelle Gesetzeslage reicht also nicht für das Ansinnen der Autorinnen.

Die Einführung einer zumutbar und gleichheitskonform gestalteten neuen Vorschrift zur Beteiligung von Versicherten an den Kosten ihrer coronabedingten Krankenbehandlung bei Nichtimpfung gegen Covid-19 ist verfassungsrechtlich machbar. Sie würde sowohl dem Bedürfnis nach einer eigenverantwortlichen Impfentscheidung gerecht als auch schützte sie die Beitrags- und Steuerzahlergemeinschaft vor den teilweise beträchtlichen Ausgaben für die Behandlung von Covid-19-Krankheiten nichtgeimpfter Versicherter.

Der Grundsatz der Ei­gen­ver­ant­wor­tung ist ein elementarer Baustein des verfassungsrechtlichen Solidarprinzips, das es rechtfertigt, Versicherte bei eigenverantwortlicher Krankheitsverursachung an den Kosten ihrer Krankenbehandlung in angemessener Höhe zu beteiligen.

Insbesondere der letzte Satz erscheint mir dabei entscheidend. Und im Abschnitt 3. Neuer Verschuldensmaßstabim Kapitel III. Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) direkt darüber heißt es:

Eine Abkehr vom Merkmal des Vorsatzes in § 52 I SGB V hätte den Vorteil, dass eine Kostenbeteiligung bei gesundheitsgefährdendem Verhalten von Versicherten in der GKV einheitlich neu geregelt würde.

Prinzipiell fällt eine relativ schemenhafte und austauschbare Argumentation in den Begründungen für eine gesetzliche Regelung auf, mit denen man Ungeimpfte an Behandlungskosten beteiligen könnte. Die einzige Abgrenzung, die die Autorinnen gegenüber anderem „gesundheitsgefährdendem Verhalten von Versicherten“ machen findet sich im Kapitel III. Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) im Abschnitt 2. Kostenbeteiligung auch bei anderen Verhaltensweisen. Die Autorinnen schreiben auch eingangs:

Der Gesetzgeber muss zudem sorgfältig prüfen, ob und inwieweit sich eine Nichtimpfung gegen Covid-19 von anderen gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen, für die keine Kostenbeteiligungsregelung gilt, unterscheidet. Liegen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht vor, dass sie eine Differenzierung rechtfertigen, müsste eine Kostenbeteiligung auch für anderes gesundheitsschädliches Verhalten eingeführt werden.

Und weiter:

Relevant ist dies insbesondere für das Unterlassen medizinischer Behandlungs- und Vorsorgemaßnahmen, die das Risiko für die Entstehung von Krankheiten mit entsprechenden (hohen) Behandlungskosten nachweislich senken. In Sonderheit bei einer Nichtimpfung gegen andere Viren wäre daher zu erwägen, im Krankheitsfall ebenfalls eine Kostenbeteiligung vorzusehen. Im Bereich der Zahnbehandlung existiert beispielsweise bereits ein finanzielles (Bonus-)Anreizsystem. Die Krankenkasse zahlt Versicherten einen erhöhten Festzuschuss zum Zahnersatz, wenn sie ihre Zähne zahnärztlich untersuchen lassen (vgl. § 55 I 3, 4, 5 SGB V).

Hier wird schon mal eine Kostenbeteiligung auch bei anderen Viruserkrankungen gefordert. Die Abgrenzung von den „üblichen Verdächtigen“ Alkohol- und Nikotinkonsum, Übergewicht und Risikosportarten, die man auch noch sanktionieren könnte beschränkt sich auf folgende Sätze:

Gegenüber gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen aus dem Bereich der allgemeinen persönlichen Lebens­führung wie einer ungesunden Ernährungsweise, einer hohen UV-Exposition, Bewegungsmangel oder dem Konsum von Alkohol und Nikotin lassen sich dagegen deutliche Unterschiede ausmachen. Sie führen zu Erkrankungen in der Regel erst ab einer gewissen Dauer und Intensität des Verhaltens. Solche Verhaltensweisen pauschal durch Kostenbeteiligungen zu sanktionieren, erscheint daher nicht verhältnismäßig. Zudem sind eine ungesunde Lebensweise und die damit im Zusammenhang stehenden Krankheiten oftmals multifaktoriell bedingt. Sie können dem Einzelnen folglich weniger eindeutig als Folge „eigenverantwortlichen Verhaltens“ zugerechnet werden als die Konsequenzen einer punktuellen Entscheidung über die Inanspruchnahme einer bestimmten medizinischen Behandlung.

Verwirklicht sich ein durch Sport erhöhtes Krankheitsrisiko, lässt sich der Krankheitseintritt zwar objektiv-kausal auf den Sport zurückführen. Allerdings fördern selbst besonders risikoreiche Extremsportarten die allgemeine körperliche Fitness, sodass der gemeinschaftsschädliche Effekt durch eine insgesamt gesundheitsfördernde Wirkung kompensiert wird.

Problematisch erscheint mir, dass man all die Punkte der Autorinnen, mit denen sie für einen Ausnahmetatbestand Nichtimpfung gegen COVID-19 zuvor argumentiert haben, auch hier anbringen könnte. Eine Aufklärung / Ermahnung / Behandungsangebot hat stattgefunden, ab nun gilt die Selbstbeteiligung („Konsequenzen einer punktuellen Entscheidung über die Inanspruchnahme einer bestimmten medizinischen Behandlung“):

  • Sie haben eine COPD und Rauchen weiter? Dann müssen Sie die Behandlungskosten jetzt selber tragen. Schließlich haben wir Sie bei der Diagnosestellung der COPD auf die Entstehungsmechanismen und die zu Grunde liegenden länderbaren Lebensstilfaktoren aufmerksam gemacht.
  • Sie haben nach ihrem ersten Herzinfarkt nicht abgenommen? Gehen nicht mehr zum Kardiosport?
  • Sie haben die empfohlene Vorsorgeuntersuchung nicht wahrgenommen Ja, dann müssen Sie sich wohl an den Kosten Ihrer Brust-/Ovarial-/Dickdarm-/Prostatakrebsbehandlung selber beteiligen.
  • Sie trinken wieder Alkohol? Gehen nicht mehr regelmäßig zur Selbsthilfegruppe? Dann fällt unser Zuschuss zur nächsten Entgiftungsbehandlung leider geringer aus.
  • Sie haben Ihre regelmäßige Diabetesschulung nicht wahrgenommen? …

Und so weiter und so fort. Und das führt zum letzten Teil:

Ohne Medizinethik geht es nicht

Frei nach Friedrich Dürrenmatt und „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden“, die Umsetzung der Vorschläge der Autorinnen hätte nicht unerhebliche Konsequenzen:

Gehen wir einmal davon aus, dass ich falsch liege und doch eine relevante Anzahl an COVID-Erkrankten ihre Behandlung selbst zahlen, bzw. sich in relevantem Umfang beteiligen müssten: Wäre das wirklich eine „Impfmotivation“, wie von den Autorinnen angenommen oder führte das nicht dazu, dass sich nicht Geimpfte seltener oder später bei einer COVID-Infektion in ärztliche Behandlung begeben würden? Vor allem, wenn man die typischen Risikogruppen für einen fehlenden oder unvollständigen Impfschutz betrachtet: Menschen mit Migrationshintergrund, psychisch Kranke und generell Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status.

Für die nicht-COVID-Variante würde das umso mehr gelten. Am Ende ist der Vorschlag der Autorinnen in erster Linie ein Versuch, die zunehmenden Kosten des Gesundheitswesens auf Grund einer alternden, zunehmend multimorbiden Gesellschaft auf die jeweiligen „Schuldigen“ abzuwälzen, bzw. das Solidarprinzip nur noch anzuwenden, wenn man analog zum Zahnarzt-Bonus-Heft auch das erwünschte Verhalten nachweisen kann.

Es gibt einen guten Grund, warum in der gesetzlichen Krankenversicherung derartige Ansinnen bislang keine Chancen auf eine Realisation hatten. Man nennt ihn Solidarität.

Das könnte gut werden: Gedanken zur Empfehlung der Regierungskommission für eine Reform der Krankenhausvergütung

Am 06.12. hat die Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung – wie sie offiziell heißt – ihre Pläne für eine Reform der Krankenhausfinanzierung in Deutschland auf der Bundespressekonferenz vorgestellt. Es ist relativ wahrscheinlich, dass die Vorschläge der Kommission zumindest ähnlich wie in der vorgeschlagenen Art und Weise umgesetzt werden, so dass es sich lohnt, sich damit zu beschäftigen, wenn man irgendwie mit Krankenhausmedizin zu tun hat. Um die Reformvorschläge richtig verstehen zu können, muss man aber erst einmal damit auseinander setzen, wie Krankenhausfinanzierung in Deutschland bislang funktioniert, also das DRG-System. Dazu hatte ich den Blogbeiträgen zu Überversorgung in der Medizin und zum Thema Medizin brennt schon mal was geschrieben, habe es hier aber zusammengetragen und etwas erweitert.

Der Status Quo: Das DRG-System

Krankenhausfinanzierung kann man ganz grob in zwei Bereiche unterteilen: In die Finanzierung der laufenden Kosten, die durch Behandlung von Patienten entstehen und die, die man für die Bereitstellung der Krankenhausinfrastruktur benötigt. Für den zweiten Teil sind die Bundesländer zuständig. Hier ist es ähnlich gelagert wie beim 2% Ziel der NATO und dem deutschen Verteidigungshaushalt: Die Bundesländer kommen dem gesetzten Ziel von 7-8% Investitionsförderung gemessen am Umsatz der Krankenhäuser nicht nach und lagen 2020 nur bei 3,4% (Link). Das ist ein wesentlicher Teil des Problems warum viele Krankenhäuser in so schlechtem baulichen Zustand sind und warum die Energiekosten für viele Krankenhäuser derzeit oft eine existenzielle Krise darstellen (Link). Besonders wenig Förderung bekommen übrigens staatliche Häuser, besser schneiden Häuser privater oder freigemeinnützlicher Träger ab. Aber darum geht es hier eigentlich nicht, sondern um die Finanzierung der laufenden Behandlungs- und Personalkosten, die im wesentlichen über die Diagnosis Related Groups (DRG) geleistet wird.

Kostengewicht und Landesbasisfallwert: Die Original-DRG

Diagnosis Related Groups (DRG) gibt es als Grundlage für Verteilung von Versicherungsleistungen schon ganz lange. In Deutschland wurde 2003 jedoch das damals bestehende System so geändert, dass seither jede stationäre Krankenhausbehandlung (mit Ausnahme der Psychiatrie) mit einer Fallpauschale vergütet wird, deren Höhe sich an der Diagnose und verschiedenen Schweregraden und Begleiterkrankungen bemisst. Grob gesagt kann man sich das wie einen Pauschalurlaub mit all inclusive vorstellen.

Jede Diagnose findet sich in einer Fallpauschale wieder, die in einer bestimmten Systematik durchnummeriert sind. Jeder Fallpauschale ist ein Kostengewicht (andere Begriffe sind Bewertungsrelation und Relativgewicht) zugeordnet, ein Zahlenwert, der den Schweregrad und den Behandlungsaufwand der Fallpauschale darstellen soll.

Bestimmte Prozeduren, also Operationen, aber auch Komplexbehandlungen (also interdisziplinäre Behandlungsmodelle, z.B. bei einem Schlaganfall, in der Frührehabilitation auf der Intensivstation usw. mit definierten ärztlichen, pflegerischen aber auch therapeutischen Leistungen) erhöhen die Bewertungsrelation (und damit den Abrechnungsbetrag).

Zwei Beispiele (Link):

  • Die Behandlung eines Patienten mit einem Schlaganfall ohne eine Komplexbehandlung auf einer Stroke Unit führt zur DRG B70F mit einem Kostengewicht von 0,795
  • Die Behandlung des selben Patienten auf einer Stroke Unit mit einer Dauer der Behandlung von mindestens 72 Stunden führt zur DRG B39C mit einem Kostengewicht von 2,122

Wenn man jetzt wissen will, wie viel Geld das Krankenhaus für den Fall bekommt, so muss man wissen, wieviel so ein Kostengewicht wert ist. 1,0 Kostengewichte sind gleichgesetzt mit dem Landesbasisfallwert. Der beträgt z.B. 2021 in Hamburg 3.743,70 EUR (Link). Das bedeutet, dass

  • in Beispiel 1 das Krankenhaus eine Summe von 2.976,24 EUR (0,795 x 3.743,70 EUR) abrechnen kann, zuzüglich der Kosten für das Pflegepersonal (die wurden ab 2020 aus den DRG „rausgerechnet“ und werden gesondert abgerechnet, siehe unten),
  • in Beispiel 2 das Krankenhaus 7.944,13 EUR (2,122 x 3.743,70 EUR) abrechnen kann, zuzüglich der Kosten für das Pflegepersonal.

Wie werden DRG überhaupt ermittelt?

In Deutschland gibt es ca. 250 (2020 272) sogenannte Kalkulationskrankenhäuser. Diese übermitteln einen erweiterten Datensatz an das InEK (das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus). Hierin sind alle Behandlungskosten für jede Fallpauschale aufgeschlüsselt. Daraus berechnet sich dann ein Durchschnitt der Aufwendungen, die ein Krankenhaus für eine Behandlung hat. Und hieraus berechnet sich dann die DRG.

Probleme des DRG-Systems

DRG funktionieren für Krankenhäuser nur über die Menge, weil nur so die ständigen Infrastruktur- und Personalkosten (die Vorhaltekosten, um die es gleich noch ganz viel gehen wird) ausgeglichen und gegenfinanziert werden können. Und sie funktionieren somit am besten bei einer gleichmäßigen Auslastung, z.B. im elektiven operativen Bereich und besonders schlecht in der nicht planbaren Notfallmedizin.

Der Mechanismus mit den Stufen in den Prozedurencodes führt tendenziell dazu, dass Patienten möglichst hochbewertete Prozeduren (OPS-Codes) erhalten und auch bei der Kodierung des Falls versucht wird, möglichst viele die Fallpauschale erhöhende Begleiterkrankungen zu finden. Das wiederum intendiert, dass mittelfristig nach diesen Nebendiagnosen gesucht wird, was ein Mehraufwand an Diagnostik und ggfs. Therapie bedeutet welcher durchaus auch ohne Mehrwert für den Patienten bleiben kann und was dann eine Art von Überversorgung ist.

Die Komplexbehandlungen (die ja zu den Prozeduren gehören) sind wiederum fast immer in verschiedene Zeiträume unterteilt, in welchen sie erbracht werden und in welchen sie verschieden viel Erlös generieren. Je länger sie erbracht werden, desto höher ist die Vergütung, was ja auch logisch ist. Das bedeutet aber, dass es „Stufen“ in der Erlösstruktur z.B. der Schlaganfallversorgung gibt, nach 24 Stunden auf der Stroke Unit gibt es mehr Geld, nach 72 Stunden noch deutlich mehr usw. Patienten werden dementsprechend eher 24,5 Stunden auf der Stroke Unit behandelt und möglichst nie 23,5 Stunden usw. Und dann „macht man die 24 Stunden noch voll“ (oder die 72 Stunden usw.), auch wenn die Behandlung auf der Stroke Unit vielleicht nicht mehr notwendig wäre, hier kein spezifisches Therapieziel mehr besteht. Auch das ist natürlich Überversorgung. DRG begünstigen somit Überversorgung.

Ein weiteres Problem des bisherigen DRG-Systems erklärt sich durch seine Simplizität. Um Erlössteigerungen zu realisieren, können Krankenhäuser neben der geschilderten Erlösoptimierung eigentlich nicht viel tun, außer die Zahl der Behandlungen zu erhöhen oder ihre Sach- und Personalkosten zu drücken, um unter den Durchschnitt, den die Kalkulationskrankenhäuser aufwenden müssen zu kommen. Denn die DRG sind ja eigentlich so kalkuliert, dass am Ende eine schwarze 0 stehen sollte.

Diese Erlössteigerungen können aus Gewinnstreben geschehen, sind aber oft auch nötig, weil z.B. Gehaltserhöhungen (oder aktuell die Entwicklung Energiekosten) über die Steigerungsraten des Landesbasisfallwertes hinausgehen (Link) oder eben weil die Bundesländer ihren Investitionsaufwendungen nicht nachkommen und Krankenhäuser notwendige Anschaffungen / Renovierungen / Sanierungen selber stemmen müssen. Dies führt zu dem viel zitierten Hamsterradeffekt, bei dem mit dem selben Personalschlüssel Jahr um Jahr 10-15% mehr Patienten behandelt werden sollen.

Herausnahme der Pflegepersonalkosten aus den DRG

Ab 2020 – wurden die Personalkosten für das Pflegepersonal, allerdings nicht für das ärztliche oder medizinisch-technische (MTAs) oder therapeutische Personal und auch nicht für z.B. OP-Pflege aus den DRG herausgelöst und gesondert – im Grunde nach tatsächlichen Unkosten – vergütet. Wie immer im Gesundheitssystem geschieht das nicht direkt, d.h. die Krankenhäuser stellen nicht ihre Lohnkosten für das Pflegepersonal den Krankenkassen direkt in Rechnung, sondern es werden verschiedene Scores gebildet, die miteinander verrechnet werden (ähnlich wie bei den DRG mit Kostengewichten und Landesbasisfallwert). Grundsätzlich sind aber die Pflegepersonalkosten, die auf den Bettenstationen anfallen damit in der tatsächlich entstandenen Höhe gegenfinanziert.

Die DRG die nach Abzug der – wie geschildert gesondert vergüteten – Pflegepersonalkosten übrig bleiben nennt man übrigens aDRG, wobei das a für ausgegliedert steht.

Der Reformvorschlag der Krankenhauskommission

Der Reformvorschlag der Krankenhauskommission beschreibt aber keine Überwindung der DRG, sondern deren (dringend erwartete) Überarbeitung, mit einer (aber gewichtigen) Ausnahme, wo die DRG tatsächlich abgeschafft werden sollen.

Wenn man die Medienberichte zur Bundespressekonferenz gelesen hat, dann besteht die vorgeschlagene Reform aus folgenden drei Punkten :

  • Schaffung von vergleichbaren Krankenhausleveln mit definierten Mindeststandards
  • Definition von Leistungsgruppen, die das System der Fachabteilungen bzw. Einzel-DRG ablösen sollen
  • Einführung einer Vorhaltefinanzierung

Was hat das nun mit DRG zu tun? Die Punkte klingen erst einmal wenig intuitiv, sind es aber eigentlich gar nicht. Um in die Materie – abseits dieses Blogbeitrags einzutauchen – empfiehlt es sich den Reformvorschlag selber zu lesen (Link pdf):

Oder man schaut sich die Bundespressekonferenz vom 06.12. einfach an:

Besonders empfehlenswert ist aber das dreiteilige Webinar der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) mit Christian Karagiannidis und Reinhard Busse zu dem Thema:

Teil 1 (Ausgangslage, warum ist eine Reform nötig?)

Teil 2 (Reformvorschläge der Kommission)

Teil 3 (Weitere Erläuterungen zum Thema Vorhaltefinanzierung)

Die Grundidee

Grundidee des Reformvorschlags ist, dass zukünftig Krankenhausleistungen nur noch von dafür qualifizierten Krankenhäusern (entsprechend der Krankenhauslevel) mit bundesweit vergleichbaren Qualitätsstandards (in den Leistungsgruppen) erbracht werden dürfen. Das heißt, dass das zuletzt in der COVID-Pandemie beim Thema ECMO desaströs gescheiterte Konzept der Markt regelt das und alle dürfen alles machen aufgegeben wird. Das soll zu einer höheren Behandlungsqualität, einer besseren Steuerung von Patientenströmen und darüber zu einer Umorganisation der Krankenhauslandschaft führen.

Zudem wird eine DRG-unabhängige Grundversorgung in kleinen Kliniken eingeführt und für Kliniken, die weiter am DRG-System teilnehmen dem Wesen der Notfallmedizin Rechnung getragen und eine Vorhaltevergütung eingeführt, so dass alleine das Bereithalten von Infrastruktur und Personal für eine Krankenversorgung schon vergütet wird.

Schauen wir uns die Punkte etwas detaillierter an:

Krankenhauslevel

Die Kommission schlägt vor, dass bundesweit fünf Krankenhauslevel eingeführt werden, welche von den Bundesländern (die ja die Hoheit über die Krankenhausplanung haben) und dem Medizinischen Dienst (MD, ex MDK) nach fest vorgegebenen Kriterien vergeben werden.

Diese Level sind:

  • Level Ii (i = integrierte ambulante und stationäre Versorgung)
  • Level In (n Notaufnahme der Notfallstufe I)
  • Level II
  • Level III
  • Level IIIU (Unikliniken)

Zudem gibt es eine eigene Definition und Mindestanforderung an Fachkrankenhäuser, die in das Modell sonst nicht so richtig integrierbar wären.

Ziel ist es, die bislang bundesländerunterschiedlichen „Versorgungsstufen“, die Einteilung in Regel-, Schwerpunkt- und Maximalversorgung usw. zu normieren und damit vergleichbar zu machen.

Geplante Krankenhauslevel
Geplante Krankenhauslevel. Aus der Stellungnahme der Krankenhauskommission (Link).

Die Stufen erinnern – nicht ohne Grund – an das G-BA-Stufenmodell der Notfallversorgung (Link), wie man an dieser Tabelle aus der verschriftlichen Stellungnahme der Kommission erkennen kann:

Übersicht über das geplante Stufenmodell
Übersicht über das geplante Stufenmodell. Aus der Stellungnahme der Krankenhauskommission (Link).

Dass das Stufensystem pyramidenartig aufgebaut ist, ist durchaus gewollt und ist auch jetzt schon so. So gab es derzeit (lt. Prof. Busse im DGIIN-Webinar, Link) in Deutschland 2020 1730 Krankenhausstandorte, von denen

  • 164 (9%) die G-BA-Stufe 3 erfüllen und 5,0 Millionen stationäre Fälle (31% aller stationären Behandlungen) abgerechnet haben
  • 261 (15) der G-BA-Stufe 2 mit 4,3 Millionen Fällen (26%)
  • 650 (38%) der G-BA-Stufe 1 mit 5,3 Millionen Fällen (33%) und
  • 660 ohne G-BA-Stufe (39%), die 1.7 Millionen stationäre Fälle (10%) behandelt haben.

Das heißt, das auch jetzt schon 24% der Krankenhäuser (G-BA-Stufe 2+3) 57% der stationären Fälle behandeln.

Neu sind – wie erwähnt – die umfangreichen Strukturvorgaben, die ein Krankenhaus neben den Erfordernissen der Notfallversorgung vorhalten muss, um in die Krankenhauslevel eingestuft zu werden:

Durch den MD zu prüfende Mindeststandards der Krankenhauslevel
Durch den MD zu prüfende Mindeststandards der Krankenhauslevel. Aus der Stellungnahme der Krankenhauskommission (Link).

Auffällig – und total wichtig – ist, dass zum ersten Mal in jedem Level ein Krankenhaus-Sozialdienst gefordert wird.

Level Ii-Kliniken

Die Definition der Level Ii-Kliniken ist eigentlich am interessantesten, weil hier tatsächlich etwas neues entstehen soll. Zum Einen können die Level Ii-Kliniken unter fachpflegerischer Leitung betrieben, zum Anderen Ärzte entweder aus dem ambulanten Sektor im Sinne von Belegärzten oder als angestellte Ärzte im Kollegialsystem eingebunden werden, also wirkliche integrierte ambulant/stationäre Versorgung anbieten (daher auch das i). Die Krankenhäuser des Level Ii sind die, die aus den DRG komplett herausgelöst werden, dort soll die Vergütung nach Tagessätzen, welche mit zunehmender Aufenthaltsdauer kleiner werden, erfolgen. Hauptaufgabe der Level Ii-Kliniken soll sein eine Grundstruktur, in der es möglich ist

wohnortnah zumeist allgemeine und spezialisierte ambulante fachärztliche Leistungen mit Akutpflegebetten, in denen Patientinnen und Patienten z. B. zur Beobachtung und Basistherapie oder nach der Verlegung aus einem Haus der Regel-/Schwerpunkt- oder Maximalversorgung stationär überwacht und gepflegt werden können.

anzubieten. Und weiter:

Um die regionalen Gegebenheiten angemessen berücksichtigen zu können, sind gerade für diese Versorgungsstufe flexible Möglichkeiten entscheidend. Je nach Bedarf sollte es daher möglich sein, Level Ii auch als regionales Gesundheitszentrum mit ambulanten Behandlungsmöglichkeiten, jedoch zwingend mit Akutpflegebetten ohne Fachabteilungszuordnung zu planen.

Das sind tatsächlich Big News, da man hier zum Konzept von Gesundheitszentren mit kleinen stationären Behandlungseinheiten kommt, wie man es aus skandinavischen Ländern kennt. Die Organisationsstruktur der Level Ii-Kliniken kann man sehr schlank halten, insbesondere wenn sie – wie es die Kommission es fordert – organisatorisch an Level III-Kliniken angeschlossen werden und sozusagen als Außenstellen funktionieren.

Mögliche Struktur einer Level Ii-Klinik. Aus dem DGIIN-Webinar-Vortrag von Christian Karagiannidis
Mögliche Struktur einer Level Ii-Klinik. Aus dem DGIIN-Webinar-Vortrag von Christian Karagiannidis (Link).

Level In-Kliniken

Die Level In-Kliniken sollen dort entstehen, wo

das nächstgelegene Krankenhaus der Regel- und Schwerpunktversorgung bzw. der Maximalversorgung weiter als 30 Minuten Pkw-Fahrzeit entfernt ist oder bei denen das Bundesland einen besonderen Versorgungsauftrag sieht.

und eine Basisnotfallversorgung vorhalten (daher das n). Die Level In-Kliniken werden anders als die Level Ii-Häuser nach DRG vergütet. Aufgabenbereiche der Level In-Häuser sollen

die stationäre internistische und chirurgische Basisversorgung, Basis-Notfall- versorgung und je nach Bedarf auch Geriatrie oder Palliativmedizin

sein. Auch die Level In-Kliniken sollen fest an eine Level III-Klinik angebunden sein. Die Krankenhauskommission stellt es sich so vor, dass auch die medizinische Ausbildung im Rahmen der Facharztweiterbildung eine Rotation zwischen Level I und Level III-Kliniken vorsieht, um eine wirklich effektive Verzahnung und umfassende Ausbildung möglich zu machen.

Leistungsgruppen

Mit den Krankenhausleveln soll die Versorgungstruktur normiert und eine Strukturqualität sicher gestellt werden, mit den Leistungsgruppen die Behandlungsqualität. Damit Schluss mit alle machen alles ist, sollen Behandlungen für bestimmte Erkrankungen an ein Mindest-Krankenhauslevel geknüpft werden. Da die klassischen Fachabteilungen (also Kardiologie, Neurologie usw.) inhaltlich nicht definiert sind und die einzelnen DRG-Codes zu zahlreich (derzeit gibt es 1.300 DRG-Codes) und zu kleinteilig sind, hat die Kommission 128 Leistungsgruppen definiert, z.B. in der Herzmedizin Kardiologie, interventionelle Kardiologie, EPU/Ablation, kardiale Devices und minimalinvasive Herzklappenintervention. Hierunter kann man sich durchaus was vorstellen unter den neurologischen Leistungsgruppen Basisbehandlung Neurologie, allgemeine Neurologie, komplexe Neurologie und Neuro-Frühreha bis auf die Frührehabilitation deutlich weniger.

Hier ist der Reformvorschlag der Kommission aber auch noch nicht fertig, vielmehr soll die Definition der einzelnen Leistungsgruppen innerhalb von 12 Monaten erfolgen und dann neben den konkreten Erkrankungsbildern, die sie beinhalten auch die personellen und technischen Mindestvoraussetzungen für die Erfüllung der Leistungsgruppen festgelegt werden, ebenso welche Leistungsgruppen ein Krankenhaus noch vorhalten muss. Die Kommission macht hier folgendes Beispiel:

Zum Beispiel sollte die Pankreaschirurgie (LG 2.7.4) sowohl die allgemeinere Viszeralchirurgie (LG 2.7) als auch die Gastroenterologie (LG 1.3) sowie Hämatologie und Onkologie (LG 1.4) voraussetzen .

Und zu guter letzt soll über die Leistungsgruppen festgelegt werden, welcher Anteil der Vergütung als Vorhaltevergütung erfolgen soll. Schematisch soll das dann so aussehen, dass auch Level II- und -III-Krankenhäuser Basisleistungen erbringen,

Vergütung nach Leistungsgruppen und Krankenhausleveln. Aus der Stellungnahme der Krankenhauskommission (Link).

idealerweise aber weniger als bisher:

Vorhaltevergütung

Neben der Abschaffung der DRG in den Level Ii-Kliniken ist dies der zweite Punkt, der bei der Krankenhausvergütung eine grundlegende Änderung erbringen soll. Wie oben erläutert finanzieren sich bislang die Kosten, die ein Akutkrankenhaus, welches an der Notfallversorgung teilnimmt für die 24/7-Mindestbesetzung von ZNA, Stationen, Funktionsbereichen und für die technische Infrastruktur allein über die Masse der erbrachten DRG. D.h., behandele ich jährlich 2.000 Patienten auf der Stroke Unit „lohnt“ sich diese viel mehr, als wenn es nur 200 sind, da sich dann diese Kosten, die Vorhaltekosten auf mehr Fälle aufteilen und somit pro Fall geringer sind. Dieses Konzept funktionierte eine Zeit lang recht gut, nämlich in der Phase, in der jährlich steigende Fallzahlen zu verzeichnen waren, also in dem Zeitraum ca. 2005 bis 2015.

Entwicklung der KH-Leistungszahlen. Aus dem DGIIN-Webinar-Vortrag von Reinhard Busse
Entwicklung der KH-Leistungszahlen. Aus dem DGIIN-Webinar-Vortrag von Reinhard Busse (Link).

Bei stagnierenden oder einbrechenden Fallzahlen (z.B. COVID-Pandemie) aber weiter steigenden Infrastruktur- und Personalkosten funktioniert diese Art von Vergütung aber nicht mehr. Zudem macht sie die ausreichende Vorhaltung von Personal und Infrastruktur unattraktiv. Die Idee der Kommission ist es, einen Teil der bisherigen DRG-Leistungen schon im Voraus, für die Erbringen der Vorhalteleistungen auszuzahlen. Das Ganze soll an die Erbringung von Mindeststandards (Krankenhauslevel und Leistungsgruppen-Voraussetzungen) geknüpft werden.

Laut dem Paper der Kommission liegen typische Vorhaltekosten (bei einem Betrachtungszeitraum von 3 Jahren) bei ca. 35% der DRG-Vergütung, in bestimmten Bereichen wie Notfall-, Intensiv- und Kindermedizin, sowie der Geburtshilfe aber höher. Die Gesamtvergütung der Krankenhäuser soll nicht steigen, für die bereits ausgegliederten Pflegebudgets kann man nach den Angaben von Christian Karagiannidis im DGIIN-Webinar ca. 20% der DRG-Summe veranschlagen. Ziel soll es sein, diese ja schon jetzt fallunabhängig ausgeschütteten 20% auf ca. 40%, bzw. 60% in den geschilderten Ausnahmefällen zu erweitern und die Rest-DRG, die dann auch rDRG heißen auf 60%, bzw. 40% der ursprünglichen Summe abzusenken.

Schematisch sieht das dann so aus, die Vorhaltevergütung würde pro Leistungsgruppe ausgeschüttet werden (was noch wichtig werden wird):

Geplantes 3-Säulen-Modell der stationären Vergütung. Aus der Stellungnahme der Krankenhauskommission (Link).

Idealerweise würde laut Kommission die Vorhaltevergütung knapp unter den tatsächlichen Vorhaltekosten liegen, um nicht Nichtstun zu belohnen, aber nur geringe Behandlungszahlen für einen auskömmliche Vergütung zu benötigen.

Für die Pädiatrie soll es auf Grund des dort höheren personellen Aufwandes, der sich in den bisherigen DRG nicht ausreichend abgebildet hat einen 20%-Aufschlag auf die bisherige DRG-Erlössumme geben.

Soweit die Darstellung der Reformvorschläge. Würden diese so umgesetzt, würden sie aber einen durchaus gewollten Impact auf die bisherige Krankenhausstruktur haben.

Implikationen der Vergütungsreform auf die Krankenhausstruktur

Zentrenbildung

Offensichtlich gewollt – und auch meines Erachtens sehr sinnvoll – ist in den Reformvorschlägen das Bestreben eine Verlagerung von komplexeren medizinischen Behandlungen aus der Breite in Zentren zu erreichen. Wir wissen schon seit Jahren, das die Zahl von durchgeführten Behandlungen mit am besten mit einem guten Behandlungsergebnis korreliert und Komplikationen seltener macht. Mehrfach wird in den Reformvorschlag die Möglichkeit betont, dass Krankenhäuser Leistungsgruppen austauschen und sich so Behandlungszentren bilden.

Auch, dass die Vorhaltevergütung je Leistungsgruppe ausgeschüttet wird, macht es für die Krankenhäuser attraktiver, wenn es möglichst wenige Häuser gibt, die die jeweilige Leistungsgruppe anbietet, da dann das Budget pro Haus höher ist.

Standortschließungen

Zusammenlegung von Standorten ist mit netteren Worten das selbe wie Krankenhausschließungen. Im Webinar der DGIIN präsentierte Professor Busse folgende Grafik mit einem Vergleich von Krankenhausstandorten in Deutschland und Dänemark:

Anzahl der Krankenhäuser in Dänemark und Deutschland 2018. Aus dem DGIIN-Webinar-Vortrag von Reinhard Busse (Link).

Der Vergleich hinkt zwar durchaus etwas, weil Dänemark auch vor seiner Strukturreform des Gesundheitswesens im Jahr 2005 nur 45 Krankenhäuser hatte, einfach weil es dünner besiedelt ist und weil Dänemark mittlerweile 10-20 neue Polikliniken/Gesundheitszentren, bzw. dem LevelIi-Konzept ähnliche Einrichtungen plant (Link), weil die Zentralisierung doch zu stark war, wird die Botschaft deutlich: Es gibt in den Augen der Kommission in Deutschland zu viele Kliniken und selbst bei aller nachvollziehbaren Kritik an Schließungsplänen, Bertelsmann-Studie usw., so ganz von der Hand zu weisen ist das nicht, v.a. wenn man die weiter oben aufgeführte Versorgungsrealität betrachtet, nach der ein Großteil der stationären Behandlungen auch jetzt schon in den relativ wenigen G-BA-Stufen 2 und 3-Kliniken stattfindet.

Ein weiterer Punkt – ebenfalls aus dem Webinar mit Professor Busse – ist, dass die Zahl der stationären Behandlungen in Deutschland im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn sehr hoch ist, auch wenn Bevölkerungsstruktur, v.a. hinsichtlich Alter und Multimorbidität ähnlich ist. Hier hat er folgende Grafik präsentiert:

Stationäre Behandlungen im internationalen Vergleich. Aus dem DGIIN-Webinar-Vortrag von Reinhard Busse (Link).

Im internationalen Vergleich müssten wir also theoretisch deutlich mehr Behandlungen ambulant anbieten, welche bislang stationär erfolgen. Dann würden wir auch weniger Krankenhausbetten benötigen und weniger Kliniken.

In meinen Augen ist es schade, dass die Kommission nur einmal kurz den Elefanten im Raum erwähnt: Die Trennung des ambulanten nicht-hausärztlichen-Facharztsystem von den im Krankenhaus tätigen Fachärzten, welches – so wie es derzeit in Deutschland gelebt wird – dazu führt, dass viele Untersuchungen und Behandlungen, die einen höheren Zeit- oder Personalaufwand benötigen im stationären Setting durchgeführt werden, auch wenn eigentlich eine stationäre Aufnahme gar nicht notwendig gewesen wäre. Die Antwort der Kommission sind die Tages-DRG, welche in der zweiten Stellungnahme (Link) (dies hier ist die dritte) vorgeschlagen wurden. Vielleicht ist es auch der nötige Realismus den die Kommission an den Tag legt, zu wissen, dass sich diese Doppelstruktur in Deutschland – so unsinnig sie auch sein mag – nicht auflösen lassen wird.

Verlierer der Reform

Was man bei solchen Reformvorschlägen nie machen sollte ist, die Vorschläge daran zu bemessen, ob sie für den eigenen Arbeitsplatz/Arbeitgeber vorteilhaft sind oder nicht. Denn so sind sie nicht konzipiert. Hier geht es um das Gesamtsystem stationäre Krankenversorgung. Wenn es hier zu – notwendigen – Umstrukturierungen kommt, werden in jedem Fall Arbeitsplätze verlagert werden, vielleicht sogar verloren gehen. Dass das System aber nicht so bleiben kann wie bisher dürfte mindestens jedem und jeder, der oder die darin arbeitet klar sein. Trotzdem gibt es zwei klare Verlierer der Reformvorschläge und zwar zum Einen die Fachkrankenhäuser, deren Sonderstellung zwar gesehen und beschrieben wird, die aber mit der Formulierung

Die Regierungskommission regt trotzdem an, dass diese hochqualifizierten Kliniken zukünftig baulich und inhaltlich in Kliniken der Stufe II und III integriert werden.

angezählt sein dürften. Zum Anderen sind es Fachabteilungen, die sehr leistungsstark sind und sehr viele Behandlungen durchführen. Durch die Einführung der Vorhaltevergütung – die für diese Abteilungen auf Grund ihrer Behandlungszahlen ggfs. gar nicht so wichtig ist – verringert sich der Mehrerlös je durchgeführter Behandlung, eben weil die rDRG geringer ausfallen als die alten aDRG. Das kann man sehr schön an dieser Grafik nachvollziehen:

Erlösentwicklung je Fallmenge. Aus der Stellungnahme der Krankenhauskommission (Link).

Das bedeutet, dass in diesen Abteilungen der Erlös, darüber das Personal und darüber die Behandlungskapazitäten und -zahlen schrumpfen dürften. Als Beispiel fallen mir große kardiologische Abteilungen ein, die viele Herzkatheter- und ggfs. minimalinvasive Klappenbehandlungen durchführen.

Warum keine Revolution? Was die geplante Reform nicht ist

Drei wiederkehrende alternative Vorschläge zur Behandlungsvergütung hat die Krankenhauskommission sehr bewusst nicht berücksichtigt und geht in den verschiedenen Stellungnahmen auch darauf ein, warum sie das nicht tut:

Mehr Geld

Die Kommission stellt fest, dass wir in Deutschland im internationalen Vergleich sehr viel Geld für unser Gesundheitssystem bereits ausgeben, insgesamt ca. 13% des Bruttoinlandsprodukts, und für die stationäre Krankenversorgung im Jahr 2020 3,4% des Bruttoinlandsprodukts, was im europäischen Vergleich ebenfalls sehr viel ist. Nur Österreich gibt mehr aus (3,7% des BIP). Zudem ist es in Deutschland innerhalb von 10 Jahren zu einer Steigerung von 0,4% des BIP gekommen, da es 2010 noch 3,0% des BIP waren. Auch das ist im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn sehr viel, kaum ein Land hat eine derartige Steigerung der Gesundheitsausgaben zu verzeichnen. Sie folgert, dass eigentlich mehr als Genug Geld im System sein sollte, dass das DRG-System aber zu einer hohen Effizienz der Krankenhäuser, aber nicht zu einer hohen Effizienz des Gesamt-Gesundheitssystems geführt hat. Deswegen und angesichts der zu erwartenden unvermeidlichen Kostensteigerungen durch eine immer älter und multimorbider werdende Gesellschaft, immer teurere weil bessere Therapien und der notwendigen Anpassungen der Gehaltsstrukturen im Gesundheitssystem (siehe auch #Medizin brennt) sollte nicht noch mehr Geld ins System Krankenhaus gepumpt werden.

Mehr Personal

Die Kommission erläutert, warum die Hoffnung auf mehr Personal im Gesundheitswesen absehbar unrealistisch ist und sich der Fachkräftemange nicht abstellen lassen wird: Die Babyboomer gehen jetzt in Rente, in den nächsten Jahren werden insgesamt bis zu 500.000 Arbeitskräfte weniger dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Diese können nicht ersetzt werden. Die Grafik aus der schriftlichen Stellungnahme illustriert diesen Effekt sehr schön.

Renteneintritt der Babyboomer. Aus der Stellungnahme der Krankenhauskommission (Link).

Keine Ökonomie

Vor allem in der BPK und dem Webinar wurde erläutert, warum die Kommission die alternativ immer wieder vorgeschlagenen Modelle Tagessätze für alle Krankenhäuser und 100%-Finanzierung der tatsächlichen Kosten nicht für sinnvoll hält:

Beide Modelle gab es schon in Deutschland, erst die 100%-Finanzierung und dann die Tagessätze. Bei beiden Modellen wurde die stationäre Medizin langsam, ineffizient, die Patienten waren lange stationär aufgenommen, die Behandlungskosten uferten immer weiter aus.

Bei der 100%-Finanzierung und den Vorhaltekosten wird – auch von Herrn Karagiannidis – der Feuerwehr-Vergleich bemüht. Die Feuerwehr bekommt ja tatsächlich ihrer entstandenen Kosten ohne Abrechnungssystem erstattet. Nun ist es auch hier so wie mit vielen Vergleichen: Er hinkt. Denn die Feuerwehr löscht zwar einen Brand, betreibt aber nicht auch noch die Brandschadensanierung. Und hier unterscheidet sich die Krankenversorgung dann doch, weil es bei der eben nicht nur um den akuten Notfall, sondern auch um die Restitution geht. Und hier muss man Grenzen ziehen, da sonst die Ansprüchlichkeiten, die auch von Patienten- und Angehörigenseite nahezu täglich angemeldet werden („wenn ich schon mal hier bin, können wir dann nicht auch ein MRT vom Knie machen“, „Mutti muss nur mal ordentlich bei Ihnen aufgepäppelt werden“) nicht begrenzt werden können.

An dem Begriff Ökonomie, bzw. der Formulierung „ohne Ökonomie wird es nicht gehen“ haben sich verschiedene Diskussionen entzündet. Wenn man Ökonomie mit Effizienz und Zielgerichtetheit gleichgesetzt hätte, hätten vermutlich weniger Ärztinnen und Ärzte ein Problem mit der Begrifflichkeit gehabt.

Ein ganz kurzes Fazit

Mir geht es genauso wie Marc Bota: Ich verspüre angesichts der Vorschläge der Kommission Zuversicht, nachdem ich bei der Ankündigung zunächst sehr sehr skeptisch war.

Ich sehe auch keine grundlegenden Fehler / Probleme usw., aber ich persönlich konnte in den vergangenen Jahren auch meinen Frieden mit dem DRG-System machen. Was man aber meines Erachtens bedenken muss: Die Reform der Krankenhausvergütung löst ganz viele Probleme nicht, die ich im #Medizin brennt-Beitrag zusammengetragen habe, von der Entlohnung der Pflegekräfte bis hin zur Fehlinanspruchnahme der Notaufnahmen durch Pseudo-Notfälle bzw. strukturelle Probleme in der ambulant-ärztlichen Versorgung.

#Medizinbrennt

Im Gesundheitswesen brodelt es. Die Diskussion zum Thema Versorgungsrealität und Personalmangel ist extrem spannend, weil immer wieder sehr kluge Dinge geschrieben werden, bei Twitter z.B. unter dem Hashtag #Medizinbrennt. Ich möchte ein paar Gedanken, die mich in den letzten Monaten dazu umgetrieben haben aufschreiben und weil das die Twitter-Thread-Länge sprengt, mach ich das hier, freu mich aber über eine lebhafte Diskussion, egal auf welchem Kanal.

Eine Klarstellung vorweg:

Wir brauchen eine Entlastung des Personals im Gesundheitswesens, zu allererst des Pflegepersonals, aber generell auch der anderen Berufsgruppen. Und wir werden die Strukturen, in und mit denen wir arbeiten ändern müssen, denn so fährt der ganze Laden einfach vor die Wand. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass die Maßnahmen, die der Gesetzgeber bislang ergriffen hat das Problem nicht wirklich entschärfen und dass es am Ende zu einer Verschlimmbesserung kommt. Und damit fangen wir an.

PpUGV, PPR 2.0 und Herausnahme der Pflegepersonalkosten aus den DRG.: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.

Ende 2018 wurde das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz vom Bundestag beschlossen. In dieser Gesetzesänderung waren zwei Maßnahmen verankert, mit denen der Gesetzgeber versucht, den zunehmenden und eklatanten Mangel an Pflegepersonal und die immer stärker werdende Abwanderung von Beschäftigten in der Pflege (Pflexit) abzuwenden:

  • Die Erweiterung von Pflegepersonaluntergrenzen auf bestimmte Fachrichtungen/Stationen
  • Die Herausnahme der Pflegepersonalkosten aus den DRG

Pflegepersonaluntergrenzen (PpUG)

Pflegepersonaluntergrenzen gab es auch schon vor dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz nämlich im Rahmen einer Verordnung. Mit dem Gesetz wurden sie aber für die Intensivmedizin, Herzchirurgie, Kardiologie, Unfallchirurgie, Geriatrie und in der Neurologie jeweils unterschiedlich für neurologische Normalstationen, neurologische Frührehabiliation und Stroke Units festgelegt. Konkret heißt das für eine neurologische Normalstation, dass tagsüber (6 bis 22 Uhr) eine Pflegekraft für maximal 7 Patienten zuständig sein darf, nachts (22 bis 6 Uhr) für 15 Patienten, Hilfspersonal darf tagsüber 10% und nachts 8% des eingesetzten Personals ausmachen. Dabei ist wichtig zu wissen, dass es sich bei den PpUG um zu bestimmten Stichtagen zu ermittelnde Durchschnitts-Personalbesetzungen handelt. Auf der Stroke Unit ist tagsüber eine 3:1- und nachts eine 5:1-Betreuung vorgeschrieben, auf der Frühreha tagsüber eine 5:1- und nachts eine 12:1-Betreuung. Fachrichtungen mit ebenfalls hochaltrigen, aber meist etwas weniger hilfsbedürftigen Patienten (Geriatrie, Unfallchirurgie, Kardiologie) müssen tagsüber eine 10:1 und nachts eine 20:1-Besetzung auf Station aufweisen. Und in der Intensivmedizin git tagsüber 2:1- und nachts 3:1-Besetzung.

Idee dahinter ist es mit einer Mindestbesetzung an Pflegepersonal (andernfalls drohen saftige Strafen) den wirtschaftlichen Anreiz Geld durch Reduktion von Pflegepersonal zu sparen abzustellen. Um den Hintergrund zu verstehen muss man – wenn man sich bislang noch nicht damit beschäftigt hat – einmal eine Mini-Einführung zum Thema DRG absolvieren, z.B. hier (bis zu „Crashkurs DRG“ scrollen). Ganz, ganz grob gesagt kann man sich eine Fallpauschale (DRG) wie eine Pauschalreisen-Buchung vorstellen. Für Krankheit XY mit den und den Begleitumständen gibt es soundsoviele Euros. Spart man jetzt ganz viel Personal und andere Fixkosten ein, so steigt die Gewinnmarge, beschäftigt man viel Personal, so wird sie eher klein sein (oder man arbeitet sogar defizitär). Dieser „Anreiz“ zum wirtschaftlichen Arbeiten war und ist politisch gewollt und war Hauptgrund für die Einführung der DRG in Deutschland. Jetzt versucht man ihn also durch Pflegepersonaluntergrenzen beim Pflegepersonal zu korrigieren.

Als es haarig wurde, zu Beginn der COVID-Pandemie wurden die PpUG flux ausgesetzt und erst zum 01.08.2020, bzw. 31.12.2020 wieder „scharf geschaltet“. Politisch-kommunikativ war das übrigens – zusammen mit den Verrenkungen um COVID-Prämien und für wen sie nun eingeschüttet werden und für wen „leider“ nicht – ein ziemliches Desaster, da vermehrt der Eindruck aufkam, es handele sich um eine Schönwetter-Regel, die man mit ein bisschen Klatschen auf dem Balkon ausgleichen könne.

Die zuletzt vom Gesundheitsminister thematisierte „weitere Entlastung des Pflegepersonals“ bezieht sich auf die aktualisierte Pflegepersonalregelung, die mit PPR 2.0 abgekürzt wird und die im Grunde eine überbrückende Ausdehnung der PpUG auf alle bettanführenden Stationen (exklusive Psychiatrie) ist, aber über eine Pflegebedarfsermittlung für einzelne Patienten unterschieden in Grund- und Spezialpflege abgebildet werden soll (Link). Halten sich die Krankenhäuser nicht daran ist die Konsequenz – wie bei den PpUG – eine finanzielle Sanktionierung. Allerdings gibt es mittlerweile den Kompromiss, dass durch das Finanzministerium mit festgelegt werden soll, wie die Bemessung konkret ausfällt – damit das ganze nicht zu teuer wird (Link).

Herausnahme der Pflegepersonalkosten aus den DRG

Zeitlich etwas später – ab 2020 – wurden die Personalkosten für das Pflegepersonal, allerdings nicht für das ärztliche oder medizinisch-technische (MTAs) oder therapeutische Personal und auch nicht für z.B. OP-Pflege aus den DRG herausgelöst und gesondert – im Grunde nach tatsächlichen Unkosten – vergütet. Wie immer im Gesundheitssystem geschieht das nicht direkt, d.h. die Krankenhäuser stellen nicht ihre Lohnkosten für das Pflegepersonal den Krankenkassen direkt in Rechnung, sondern es werden verschiedene Scores gebildet, die miteinander verrechnet werden (ähnlich wie bei den DRG mit Kostengewichten und Landesbasisfallwert). Grundsätzlich sind aber die Pflegepersonalkosten, die auf den Bettenstationen anfallen damit in der tatsächlich entstandenen Höhe gegenfinanziert.

Der Plan geht sich nicht aus

Auf dem Papier klingt das alles sinnvoll und richtig und trotz garantierter Gegenfinanzierung gelingt es den Krankenhäusern in der Breite nicht offene Stellen nachzubesetzen. Wer mal einen Eindruck von dem Ausmaß der ausgeschriebenen Pflegepersonalstellen bekommen möchte, kann exemplarisch in den Stellenanzeigen verschiedener Hamburger Krankenhäuser und Krankenhausbetreiber schauen (UKE, Asklepios, Albertinen, Marienkrankenhaus). Es ist also kein böser Wille, kein vom kaufmännischen Geschäftsführer identifiziertes Einsparpotential oder ähnliches, der derzeitige Arbeitsmarkt für Pflegepersonal ist komplett leergefegt. Die bislang ergriffenen Maßnahmen haben offenkundig keinen signifikanten Einfluss auf die Personalsituation. Das spricht dafür, dass man bislang die Ursachen des Pflexit nicht ausreichend erfasst, bzw. bekämpft hat.

Über das tatsächliche Ausmaß des Pflexit kann man durchaus kontrovers diskutieren (Link, Link, Link), wobei man nicht außer acht lassen sollte, dass es zum Einen eine Abwanderung von Fachkräften aus der Pflege in andere Berufszweige und zum Anderen aus der Akut- und Notfallmedizin und der Altenpflege in jeweils „ruhigere“ Arbeitsbereiche gibt. Die Fachabteilungen mit PpUG (vielleicht mit Ausnahme der Intensivmedizin und der Geriatrie, die durch ihre strukturellen Besonderheiten, bzw. bei der Intensivmedizin durch den besonderen Stellenwert/Wertschätzung, bei denen das langsamer passiert) sind aber besonders von dem internen Fachkräfte-Shift betroffen (sonst gäbe es die PpUG hier aber auch nicht). Bei uns in der Akutneurologie und der neurologischen Frührehabilitation kann man den Pflexit aber tagtäglich am eigenen Leib spüren und beobachten. Die üblichen Gründe, die in Umfragen und Analysen für den Pflexit aufgeführt werden sind (Link, Link, Link:

  1. Mangelnde Wertschätzung
  2. Dem Job nicht angemessene Vergütung
  3. Kein verlässlicher Dienstplan, häufiges Einspringen
  4. Arbeitszeiten mit Schichtdienst, Wochenend-, Feiertags- und Nachtarbeit
  5. Unzureichender Personalschlüssel
  6. Fehlende Zeit um Pausen machen zu können, regelhafte Überstunden
  7. Fehlende Zeit um die Patienten adäquat versorgen zu können
  8. Pflegefremde Tätigkeiten, die ausgeübt werden müssen
  9. Zu starke körperliche und psychische Belastung durch den Beruf
  10. Zunehmende Verdichtung von Arbeit durch kürzere Liegezeiten und Fachkräftemangel
  11. Zunehmender Anteil an multimorbiden, hochaltrigen, vollkompensatorisch zu versorgender Patienten
  12. Verlust der Sinnhaftigkeit der Arbeit durch Überversorgung, hierzu hatte ich schon mal hier etwas aufgeschrieben (bis zu „Überversorgung verstärkt den Pflexit“ scrollen).

Zusammenfassend beruhen 3., 5., 6., 7. und 8. auf dem Punkt Fachkräftemangel. Nach meinem Verständnis greifen die Personaluntergrenzen allein deshalb nicht, weil 1. und 2. fehlen. Und ich denke, nur so wird ein Schuh draus, man wird die Vergütung für das Pflegepersonal massiv erhöhen müssen (vermutlich mindestens um ca. 30%), damit die Personaluntergrenzen überhaupt in ihrer eigentlichen Intention greifen können.

Die Kehrseite der Personaluntergrenzen

Seit Einführung der Pflegepersonaluntergrenzen wird immer wieder und bis heute (Link) angemahnt, dass diese in Zeiten von Fachkräftemangel auch ein Mittel zur Reduktion von Krankenhausbetten sind. Das mag auch ein bisschen daran liegen, dass die Bertelsmann-Studie zur Krankenhausstruktur in Deutschland, welche das Ziel ausgab mit der Hälfte an Krankenhäusern eine qualitativ bessere Versorgung zu ermöglichen, in der Zeit der Einführung / Ausweitung der PpUG erschien (Link). Das Problem aber ist, dass diese Verknappung von Krankenhausbetten – die bundespolitisch ja durchaus gewollt ist – eben nicht strukturiert und geplant geschieht, sondern im Umfeld von DRG-finanziertem Krankenhauswesen und PpUG über Verdrängung / Abwerbung von Personal passiert.

Kliniken, die an der Notfallversorgung teilnehmen sind dabei aber besonders benachteiligt, da es mehrere Punkte gibt, die sie besonders vulnerabel für Fachkräftemangel machen:

  • Sie haben per se höhere Infrastruktur- und Personalkosten, da sie rund um die Uhr Notfallversorgung sicher stellen müssen, egal wie diese nachgefragt ist
  • Ambulant bleibende Notfallpatienten werden dabei finanziell unattraktiv über eine Notfallpauschale (ca. 32 EUR) vergütet bei umgerechneten Fallkosten von durchschnittlich 126 EUR durch die Vorhaltungskosten (Link), sind also ein „Minusgeschäft“, das Geld fehlt dann an anderer Stelle
  • Auch Patienten, die mit finanziell unattraktiv vergüteten DRG bei relativ hohem Personalaufwand abgerechnet werden (z.B. Infekt mit Delir bei hochaltrigen, multimorbiden Pat.) müssen natürlich behandelt werden, während Fachkliniken sich auf die Behandlung für sie kostendeckend umzusetzender Erkrankungen spezialisiert haben
  • Durch die Notfallzuführungen sind sie zuständig für die (offiziell nicht existierenden) Versorgungsproblematiken
  • Die meisten PpUG betreffen die Akut- und Notfallmedizin

Jetzt kann man einwenden, wen kümmert’s, das Pflegepersonal ist ja gesondert gegenfinanziert. Das stimmt, die Punkte 9., 11. und 12. von oben betreffen aber besonders Kliniken mit Notfallaufnahme. Und diese Punkte lassen sich nicht einfach ändern, da sie in erster Linie von demographischer Struktur und gesellschaftlichem Verhältnis zu Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Tod bestimmt werden.

In der Summe heißt das, allein mit Maßnahmen die am Themenkomplex Pflexit ansetzen werden wir nicht auskommen.

Was man sinnvolles tun könnte

Krankenhausbetten werden also ein knappes Gut bleiben mit denen wir sorgsam umgehen und unnötige Belegungen vermeiden müssen. Grundsätzlich kann man dabei an zwei Punkten ansetzen, um Bettenbelegungen „einzusparen“, bei der Aufnahme und der Entlassung (soweit so banal). Doch was ist damit gemeint?

Notwendige stationäre Behandlungen?

Fangen wir mit der Aufnahme ins Krankenhaus an. Dort lautet die Hauptfrage: Ist eine stationäre Krankenhausbehandlung überhaupt notwendig? Rein formal ist eine Krankenhausaufnahme indiziert, wenn „die besonderen Mittel des Krankenhauses“ benötigt werden, wobei dann noch nicht gesagt ist, ob die Behandlung tatsächlich stationär oder teilstationär oder ambulant erfolgen muss oder kann. Aber hier liegt eines der Probleme und mit dem fangen wir an:

Notfallvorstellungen in Notaufnahmen

Hier gab es in den letzten Wochen mehrere sehr schöne Twitter-Threads, von denen ich drei, aus denen die wesentlichen Punkte herausgehen, hier verlinke:

Das Hauptthema sind demnach Notfallvorstellungen, die keine wirklichen Notfälle sind und die fehlende/nicht praktikabel ausgestaltete Verzahnung zwischen ambulantem und stationären Versorgungssystem. Hier braucht es m.E.

  • eine „Abwehrbarriere“ vor den Notaufnahmen um überall alltägliche medizinische Probleme, mit denen sich Menschen in Notaufnahmen vorstellen angemessen behandeln zu können, also Vorstellungen wegen fieberhafter Infekte, Gastroenteritiden, Harnwegsinfektionen, Bauchschmerzen usw. Helfen könnten hier ganz wesentlich Portalpraxen, die m.E. aber nicht nur nach Feierabend der niedergelassenen Ärzte, sondern rund um die Uhr betrieben werden müssten. Hier ist der größte Streitpunkt tatsächlich ein Gerangel zwischen Krankenhäusern und kassenärztlichen Vereinigungen, in dem es um Pfründe und Einfluss und nicht um die eigentliche medizinische Versorgung geht (z.B. hier nachzulesen).
  • eine Option für Fälle, bei denen zwar Großgerätediagnostik, bzw. zeit- und personalaufwändige Untersuchungsverfahren wie in dem Thread von Marc Bota benötigt werden, aber eigentlich keine stationäre Aufnahme erforderlich ist. Und zwar auch außerhalb der Kernarbeitszeiten, also Abends, am Wochenende und Feiertags. In der derzeitigen Realität ist diese Verzahnung – die ja über das eh schon strittige Thema Portalpraxen hinausgeht – überhaupt nicht in Sicht.
  • klare Aufnahmekriterien, wann eine stationäre Aufnahme notwendig ist und wann nicht, an denen sich auch unerfahrene Ärztinnen und Ärzte orientieren können.
Beispiel für stationäre Aufnahmekriterien (hier in die Neurologie)
Beispiel für stationäre Aufnahmekriterien (hier in die Neurologie)

Zeitnah statt sofort und teilstationär statt stationär

Viele Notfallvorstellungen erfolgen wegen Problemen, die sich über eine gewisse Zeit entwickelt haben und dann exazerbiert sind, z.B. in der Neurologie Gangstörungen mit Stürzen. Natürlich erwarten viele Patienten, dass sie jetzt, wo sie es „nicht mehr aushalten“ auch aufgenommen werden, aber ehrlich gesagt ist es fast immer möglich die Aufnahme um einige Tage zu verschieben. Das heißt, wenn es regulär die Option gäbe zu sagen, „alles klar, wir gucken uns das an. Aber nicht heute, dafür aber übermorgen, da haben wir ein Bett und die Untersuchungs-Kapazitäten für Sie“, das ganze noch in Verbindung mit einer unkomplizierten Fall- und Untersuchungsplanung, wäre schon viel gewonnen.

Die elektiven Patienten die wir in der Neurologie sehen, bedürfen ganz überwiegend zwar „der besonderen Mittel des Krankenhauses“, müssten aber streng genommen nicht im Krankenhaus schlafen. Ich mach ein paar Beispiele um das zu verdeutlichen: Standard-Zuweisungen bei uns sind Demenz-, Polyneuropathie- und Multiple Sklerose-Abklärungen, zusätzlich Gang- und Bewegungsstörungen (bei denen das Bett und die Übernachtung aber oft notwendig ist). Die erstgenannten drei Krankheitsbilder zur Abklärung können wir – ein Anamnese- und Planungsvorgespräch vorausgesetzt – innerhalb kurzer Zeit abklären. Für eine Demenzabklärung veranschlage ich 2 Behandlungstage (1 Nacht im Krankenhaus schlafen), dann schaffen wir MRT, EEG, Liquorpunktion mit Bestimmung der neurodegenerativen Marker und ausführliche neuropsychologische Testung (z.B. CERAD). Für eine MS-Abklärung 1-2 Nächte, je nachdem ob schon eines der beiden erforderlichen MRT (Kopf und Rückenmark) ambulant erfolgt ist, wir ergänzen zusätzlich Liquorpunktion, Labordiagnostik und elektrophysiologische Testungen (VEP und SEP). Bei einer Polyneuropathieabklärung gilt das selbe. Ausführliche elektrophysiologische Untersuchung (ENG und EMG), Labordiagnostik, kleine Tumorsuche und ggfs. Liquordiagnostik kann ich geplant in 2 Behandlungstagen (1 x schlafen) durchführen, benötigen wir noch weiterführende MRT-Untersuchungen, z.B. weil eine Spinalkanalstenose differentialdiagnostisch erwogen werden muss, können es auch 2 Nächte (also 3 Behandlungstage) werden.

Diese Patienten kommen – in der Regel – zugewiesen durch niedergelassene Neurologen zu uns. Sie kommen, weil einzelne Teile der erforderlichen Diagnostik im ambulanten Versorgungssystem nicht adäquat oder einigermaßen zeitnah realisierbar sind, die neuropsychologische Testung bei der Demenz-Diagnostik, das ENG bei der PNP-Abklärung und teilweise die Liquorpunktionen, v.a. wenn hier Spezial-Labordiagnostik gewünscht wird. Natürlich könnten wir diese Untersuchungen auch teilstationär oder ambulant durchführen, wenn es denn einen Rahmen dafür gebe, über den das finanziert würde. Natürlich könnte man sich auch hinstellen und sagen, wir renovieren das ambulante Facharzt-System so, dass diese Untersuchungen auch dort durchführbar (und finanziell abbildbar) sind. Hier gibt es insofern einen kleinen Lichtblick, als dass das Thema „Hybrid-DRG“ kommen wird (hier ein paar Erläuterungen dazu), die diese „Ambulantisierung“ erlauben werden. Und hier wird man konsequent sein und diese Hybrid-DRG nicht nur für operative Leistungen, sondern auch für die konservative Medizin ausrollen müssen.

Entlassmanagement und Versorgungsprobleme

Damit neue Patienten aufgenommen werden können, müssen vorhandene entlassen werden. Dies kann man in der Regel – mit ein bisschen Lust am Mikromanagement – gut planen und voraussagen, für die nächsten 24 Stunden (zumindest in der Neurologie) nahezu 100% genau, in den nächsten 48 Stunden ebenfalls noch sehr genau und innerhalb der nächsten 3 Tage zumindest einigermaßen, am Ende also ähnlich wie wir das von einem handelsüblichen Wetterbericht kennen.

Kurz- und Langlieger

Ich plaudere noch mal ein bisschen aus dem Nähkästchen meiner Bettenbelegung: Im letzten halben Jahr ist bei uns die durchschnittliche Verweildauer von 5,2 auf 5,6 Tage angestiegen, parallel haben wir aber die Elektivaufnahmen komplett – wie oben skizziert – durchgeplant und bei den erwähnten drei Symptombildern auch in der Liegezeit reduziert. Was sich aber extrem verlängert hat sind die Wartezeiten auf Reha-Plätze, Betten in geriatrischen Kliniken und Pflegeheim-Plätze, selbst auf Pflegedienst-Valenzen. Die Gründe hierfür sind die „übliche“ Mischung des Personalmangels, Pflexit, COVID-Ausbrüche und hoher Krankenstand und – so hört man immer wieder, ist bei uns im Krankenhaus hingegen nicht spürbar – die einrichtungsbezogene Impfpflicht. Dazu kommen die „Langlieger“, bei denen sich der Aktenstau in den Amtsgerichten bemerkbar macht: Patienten die richtig gestrandet sind, z.B. weil sie nicht krankenversichert sind und nun – bei uns oft auf Grund eines Schlaganfalls – nicht in der Lage sind die entsprechenden Formulare auszufüllen, noch aussichtsloser wird es wenn sie auch wohnungslos sind und kein eigenes Konto haben. Und nein, wir reden hier nicht von Flüchtlingen, illegalen Einwanderern usw., sondern in der Regel von 50-70-jährigen deutschsprachigen Menschen, die irgendwie „durch das Raster gefallen“ sind, zuletzt scheinselbstständig waren, bei Freunden auf der Couch geschlafen haben usw. Diese Patienten benötigen einen gesetzlichen Betreuer, der aber erst richterlich eingesetzt werden muss, bevor überhaupt ein Aufnahmeantrag bei den Krankenkassen gestellt werden kann, bevor irgendeine Art von Weiterversorgung planbar ist.

Gründe für eine institutionelle Weiterversorgung

Ein Grundproblem des Themas Entlassung aus dem Krankenhaus ist dabei die Institutionalisierung von Pflege. Zum einen haben wir eine zunehmend alternde, multimorbide werdende Bevölkerung mit einem immer größeren Anteil an hilfs- und pflegebedürftigen Personen, einem zunehmenden Anteil an Demenzerkrankungen (Link). Zum anderen ist in den modernen Arbeits- und Familienleben eigentlich gar keine Zeit und kein Platz für die Pflege von Angehörigen. Das führt regelhaft zu Situationen, dass Patienten ins Krankenhaus stationär aufgenommen werden, dann aber nach eigenen Aussagen oder dem Willen der Angehörigen nicht mehr entlassen werden können. Dabei gibt es grob gesagt zwei Szenarien:

  • Eine akute Erkrankung, die das bisherige Lebensmodell komplett „umkrempelt“, wie ein akuter Schlaganfall. Hier ist die Notwendigkeit einer Schaffung einer Weiterversorgung aus dem Krankenhaussetting heraus sicherlich unstrittig.
  • Eine Verschlechterung einer chronischen Erkrankung, z.B. einer Demenz, einer Gangstörung, einer zunehmenden Dekompensation in der Häuslichkeit bei Multimorbidität. Hier wird der Wunsch/die Aufforderung nach Organisation einer institutionellen Versorgung oft an das Krankenhaus herangetragen, man muss sich aber durchaus hinterfragen, ob man dem nachkommen kann und will. Schlussendlich kann man auch argumentieren, dass die Situation auch vor Hospitalisierung schwierig gewesen ist und dass es Aufgabe der Familie ist, sich um eine Versorgung ihrer Angehörigen zu kümmern. Hierfür gibt es – analog zu „Kind krank“ – sogar eine staatliche Unterstützungsleistung, die aber kaum jemand kennt und in Anspruch nimmt, das Pflegeunterstützungsgeld (Link), welches man für 10 Tage beziehen kann. Ich bin mittlerweile fest davon überzeugt – und setze das auch durch – dass man das von Angehörigen einfordern kann, genau wie die Beantragung eines Pflegegrades.

Wenn man davon ausgeht, dass auch in der Altenpflege die Gehälter der Beschäftigten massiv erhöht werden müssten, damit überhaupt genug Menschen längerfristig bereit sind dort zu arbeiten, werden sich die gesamtgesellschaftlichen Kosten für Pflege massiv erhöhten. Bei gleichzeitig knappen Plätzen in Pflegeinstitutionen und bei Pflegediensten bleibt uns als Gesellschaft gar nicht viel anderes übrig, als unsere Konzepte, wie wir uns und unsere Angehörigen im Alter versorgt haben wollen zu überdenken und Pflege wieder in die Familien zu integrieren. Das Problem dabei ist, dass dort wo es bislang so stattfindet, z.B. wenn Angehörige Pflegegeld erhalten, es eigentlich immer die Frauen sind, die Pflege leisten (an dieser Stelle Danke an Franziska Briest, die diesen Input beigetragen hat). Wenn das nicht in so einer One-Woman-Show enden soll, bei der Frauen – wie in der Pandemie – aus dem Beruf zurück in den Haushalt gedrängt werden, wird es mehr Lösungen wie Mehrgenerationenhäuser brauchen.

Mobilisation und Sozialdienst: Sparen am falschen Ende

Während die Pflegepersonalkosten aus den DRG herausgelöst wurden (siehe oben), zumindest die des Personals auf den Bettenstationen, gilt das für andere Personalkosten nicht. Hier geht der Trend – dem Grundwesen des DRG-Systems folgend – dazu, nicht „produktive“, den Case-Mix-Index erhöhende Berufe weiter zu reduzieren, z.B. Therapeuten in „nicht erlösrelevanten“ Bereichen oder auch das Personal des Sozialdienstes/Case Managements. Das ist allerdings ein fataler Fehler, wenn man bedenkt, dass es genau zwei Gründe gibt, warum Patienten länger als medizinisch notwendig im Krankenhaus bleiben:

  • Fehlende Mobilität, bzw. fehlende Eigenständigkeit in den Aufgaben des täglichen Lebens (ADL)
  • Fehlende Anschlussversorgung

Daher bin ich fest überzeugt, dass Stations-Physiotherapeuten (und in der Neurologie auch Ergotherapeuten und Logopäden) auch bei den „normalen“ Patienten notwendig sind, ebenso wie eine möglichst üppige personelle Ausstattung des Sozialdienstes. Am Ende ist dies eine Investition in kürzere Liegezeiten.

Ein faules Ei: Die Übergangspflege

Nahezu als Analogie zum Pflegeunterstützungsgeld und erstmals als „Anerkennung“ von Versorgungsproblemen durch die Kostenträger wurde Ende 2021 die Übergangspflege eingeführt (Link). Hier bekommen die Krankenhäuser für maximal 10 Tage Geld für die Weiterbetreuung und Pflege von Menschen mit Versorgungsproblemen, um in dieser Zeit die Weiterversorgung zu sichern und zu organisieren. Aber: Die Patienten in der Übergangspflege unterliegen nicht der PpUG und hier wird es makaber: Wenn man davon ausgeht, dass die Patienten, für die Übergangspflege in Frage kommt, in der Regel multimorbide, immobil oder demenzkrank sein werden (weil es sonst die Übergangspflege nicht bräuchte) und damit genau die Patienten sind, warum es PpUG auf Normalstationen gibt, beißt sich hier die Katze in den Schwanz.

Mal abgesehen davon, dass ich persönlich aktuell kein Krankenhaus kenne, welche Übergangspflege anbietet.

Der Nachteil der Maßnahmen

Alle hier vorgeschlagenen Maßnahmen würden zu einer Konzentration von multimorbiden, hochaltrigen und schwer kranken Patienten in den Krankenhausbetten führen, da die „Aufsteher“ entweder gar nicht oder in erster Linie teilstationär oder ambulant behandelt werden würden. Das beutetet aber, dass das Thema PpUG noch wichtiger würde und die Betreuungsschlüssel sogar weiter verschafft werden müssten.

Ein kurzes Fazit

Das waren jetzt viele Worte, daher noch einmal eine kurze Synopsis: PpUG ohne parallele kräftige Gehaltserhöhung der Pflegegehälter ändern nichts am Pflexit, da sich der Fachkräftemangel so nicht ändern wird, sondern verstärken die Knappheit von Krankenhausbetten sogar noch. Sie sind eher ein verdecktes Instrument der Krankenhausbettenreduktion. Um perspektivisch mit den eher knapper werdenden stationären Betten zurecht zu kommen bedarf es einer Ambulantisierung von derzeit stationär durchgeführten Krankenhausbehandlungen, einer Vermeidung von unnötigen Notfallaufnahmen durch Stärkung der ambulanten Versorgung auch in Randzeiten mit Möglichkeit der Durchführung von personal- oder zeitintensiven Diagnostiken und Großgeräteeinsatz und einer Neustrukturierung von Entlassmanagement und Weiterversorgung von pflegebedürftigen Menschen nach der stationären Behandlung. Dabei werden die Familien wieder mehr in die Betreuung ihrer Angehörigen mit einbezogen werden müssen.

Hirntod und Hirntod-Diagnostik

Heute geht es um ein wichtiges Neurologie-Weiterbildungsthema, aber auch um eine wichtige medizinethische Frage, nämlich den Hirntod. Unmittelbar mit dem Thema Hirntod ist das Thema Organspende verbunden. Bevor wir also über Hirntod reden, reden wir kurz über Organspende.

Hirntod und Organspende

Etwa 8.700 Patienten benötigen in Deutschland derzeit ein Spenderorgan (Link), gut 933 Organspender gab es 2021 in Deutschland.

Quelle: DSO, https://dso.de/DSO-Infografiken/Organspender.png
Quelle: DSO, Link.

Diesen 933 Organspendern konnten im letzten Jahr 2.905 Organe entnommen und transplantiert werden.

Quelle: DSO, https://dso.de/DSO-Infografiken/Gespendete%20Organe.png
Quelle: DSO, Link.

Da ist also noch deutlich Luft nach oben, wir können in Deutschland seit Jahren unseren Bedarf an Spenderorganen nicht selber decken. Grundvoraussetzung für die allermeisten Organtransplantationen (Ausnahme sind Lebendspenden bei Nieren und manchmal Lebersegmenten) ist die Feststellung des Hirntodes des potentiellen Organspenders. Um das Thema ranken sich viele Mythen, Missverständnisse, Ängste und im ärztlichen Bereich durchaus auch Unsicherheiten. Und dann hat auch noch zu allem Überfluss ECMO_doc diesen Thread vor einigen Tagen gepostet, höchste Zeit also sich dem Thema zu widmen:

Irreversibler Hirnfunktionsausfall (IHA)

Die Sache mit dem Namen

Der Hirntod heißt gar nicht mehr Hirntod, schon seit ein paar Jahren nicht mehr, sondern irreversibler Hirnfunktionsausfall, abgekürzt IHA. Dieser Begriff ist zwar etwas umständlicher, beschreibt aber das entscheidende Detail nämlich die Irreversibilität des Hirnfunktionsausfalls besser, berücksichtigt, dass beim IHA nicht zwingend das ganze Gehirn und jede einzelne Hirnzelle abgestorben sein muss, aber das Gesamtorgan Gehirn so geschädigt ist, dass es seinen Funktionen nicht mehr nachkommen kann und dass wir Menschen mit dem Begriff Tod optisch einen anderen Zustand verbinden. Darauf bezieht sich auch ECMO_doc in seinem Thread. Menschen mit einem IHA kann man nämlich rein optisch nicht von anderen intubierten, und beatmeten (und oft medikamentös kreislaufunterstützten) Intensivpatienten unterscheiden. Den Anblick, den wir mit einem Toten verbinden ist sehr geprägt vom Atem- und Kreislaufstillstand.

Im DSO Leitfaden für die Organspende (Link) ist der IHA wie folgt formal beschrieben:

Der irreversible Hirnfunktionsausfall wird definiert als Zustand der unumkehrbar erloschenen Gesamtfunktion des Gehirns (Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm). Dabei wird durch kontrollierte Beatmung und andere intensivmedizinische Maßnahmen die Herz- und Kreislauffunktion künstlich aufrechterhalten.

Immer wieder wird über das Konzept Hirntod gestritten und diskutiert, auch und insbesondere über vermeintliche und (deutlich weniger) tatsächliche Hirntod-Fehldiagnosen. Einen guten Überblick über die Kontroversen beim Thema IHA gibt der Wikipedia-Artikel Hirntod. Dabei stammen nahezu alle berichteten Fälle aus den USA und von Fällen, in denen die Hirntod-Diagnostik nicht komplett oder nicht richtig durchgeführt wurde. In Deutschland existiert ein sehr deutsches, formalistisches und strukturiertes Verfahren bei der IHA-Diagnostik, das aber zu einer sehr großen Sicherheit bei der Korrektheit der Diagnosestellung IHA führt.

Was führt zum Hirntod?

Ein irreversibler Hirnfunktionsausfall entsteht dann, wenn es zu einem Kreislaufstillstand im Gehirn kommt. Dies passiert in der Regel im Rahmen von Hirndruck. Der Schädel hat nur ein begrenztes Fassungsvolumen. Alle Dinge, die zu einer massiven Erhöhung des intrakraniellen Drucks führen, können einen IHA verursachen, da der Druck nicht nach außen entweichen kann. Intrakranielle Blutungen, vor allem Subarachnoidalblutungen, sind Hauptursache für die Entwicklung eines IHA.

Quelle: DSO, https://dso.de/DSO-Infografiken/Todesursachen.png
Quelle: DSO, Link.

Deutlich weniger Fälle entstehen bei schweren hypoxischen Hirnschäden nach Reanimation. Auch hier kommt es zu einer intrakraniellen Druckerhöhung durch die großflächigen Schlaganfälle durch eine Minderdurchblutung des Gehirns beim Kreislaufstillstand und der Reanimation.

Immer wenn dann der intrakranielle Druck den Perfusionsdruck, den der Kreislauf aufbauen kann und mit welchem arterielles Blut ins Gewebe gepresst wird übersteigt, resultieren noch mehr Minderdurchblutungen und noch mehr Schlaganfälle. Bis irgendwann der Druck so hoch ist, dass gar keine effektive Hirndurchblutung mehr stattfinden kann.

IHA-Diagnostik

Wer darf IHA-Diagnostik durchführen?

Jede Ärztin und jeder Arzt darf bei einem Patienten mit Herz-Kreislauf-Stillstand anhand der sicheren Todeszeichen den Tod feststellen und im Totenschein entsprechend dokumentieren. Beim IHA ist dies insofern anders, als dass spezielle Qualifikationsanforderungen bestehen. IHA-Feststellungen kann und darf man nie alleine machen, es bedarf immer zweier Fachärzte. Davon muss einer Facharzt für Neurologie oder Neurochirurgie sein (wobei in dem Maximalversorger, in dem ich zwischenzeitlich gearbeitet habe, IHA-Diagnostik stets durch die Neurologie und nicht durch die Neurochirurgie erfolgte). Der andere ist dann in der Regel Anästhesist, bzw. Internist mit der Zusatzbezeichung spezielle Intensivmedizin. Die beteiligten Ärzte dürfen nicht an der Entnahme, bzw. Transplantation der Organe beteiligt sein, wenn es zu einer Organspende kommt. Bei Kindern bis zum 14. Lebensjahr muss ein Facharzt für Pädiatrie beteiligt sein. Und man muss ausreichend qualifiziert sein. Wortwörtlich heißt es:

Dies beinhaltet unter Berücksichtigung des Lebensalters des Patienten insbesondere die Fähigkeit, zerebrale von spinalen und von peripher neurogenen Reaktionen zu unterscheiden,

die Erfahrung bei der Beurteilung von Medikamenteneffekten auf den klinischen und auf den neurophysiologischen Befund,

die Erfahrung bei der Beurteilung der Pharmakokinetik zentral dämpfender Medikamente unter Beachtung potentieller Interaktionen sowie der Körpertemperatur des Patienten,

die Erfahrung bei der Beurteilung der Auswirkungen von Vorerkrankungen, aktuellen Organschäden, metabolischen Störungen etc. auf die klinischen Symptome,

die Kenntnis der Indikationen und der Limitationen der ergänzenden Untersuchungen.

Richtlinie gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 TPG für die Regeln zur Feststellung des Todes nach § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG und die Verfahrensregeln zur Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG, Vierte Fortschreibung. Deutsches Ärzteblatt. Published online 2015:31

Neurologische Weiterbildung und IHA-Diagnostik

Die Handlungskompetenz eine IHA-Diagnostik durchführen zu können, gehört zu den Inhalten der Weiterbildungsordnung für angehende Fachärztinnen und Fachärzte für Neurologie (Link WBO HH). Und dennoch ist es für viele Weiterbildungsassistenten gar nicht so leicht diese Handlungskompetenz zu erwerben, da es in 2021 in Deutschland gerade mal 933 IHA-Feststellungen gab und diese sich in erster Linie bei den Krankenhäusern mit großen Abteilungen für Neurochirurgie und Traumatologie ballen.

Die in jedem Krankenhaus vorkommenden schweren hypoxischen Hirnschäden nach Reanimation machen gerade mal ein knappes Viertel der IHA-Fälle aus. Zudem werden IHA-Diagnostiken auch weiterhin vor allem dann durchgeführt, wenn eine Organspende angestrebt wird. In den meisten anderen Fällen wird im klinischen Alltag – wenn es auf einen IHA hinausläuft – nämlich sonst in der Regel mit Familie und Angehörigen eine Therapielimitierung besprochen (siehe auch hier).

Durchführung der IHA-Diagnostik

Prämisse der IHA-Diagnostik ist, dass fehlerhafte IHA-Feststellungen ausgeschlossen sein müssen. Dafür ist die IHA-Diagnostik in Deutschland extrem stark formalisiert und strukturiert worden. Dadurch wirkt der ganze Prozess manchmal umständlich.

Durchgeführt wird die IHA-Diagnostik mit Hilfe eines Protokollbogens, welchen es in zwei Ausfertigungen (einmal für Kleinkinder unter 2 Jahren und einmal für alle ab dem 3. Lebensjahr gibt) (Link). Ich gehe hier auf den Bogen ab dem 3. Lebensjahr ein:

Ein- oder zwei Untersuchungsgänge?

Die IHA-Feststellung ist so strukturiert, dass zunächst immer ein klinischer Untersuchungsgang zur Feststellung des Hirnfunktionsausfalls durchgeführt wird. In einem zweiten Schritt wird dann die Irreversibilität des Hirnfunktionsausfalls bestätigt. Dies kann man entweder durch die Wiederholung der klinischen Untersuchung nach einem festgelegten zeitlichen Mindestabstand tun oder durch eine ergänzende apparative Untersuchung. Bei primär infratentorieller Hirnschädigung (z.B. schwere Kleinhirnblutung) ist immer ein obligates apparatives Verfahren erforderlich. Das hat den Hintergrund, dass bei infratentoriellen Hirnschädigungen ein Locked In-Syndrom entstehen kann, bei dem die Patienten bei Bewusstsein sind, aber durch die Schädigung von Hirnstamm und Pons nicht mit der Außenwelt kommunizieren kann. Bei kleinen Kindern herrschen noch einmal strengere Auflagen:

Im klinischen Alltag wird in der Regel wo immer möglich eine ergänzende apparative Diagnostik zur Vermeidung der Wartezeit durchgeführt. Dies geschieht aus mehreren Gründen:

  • Um für die Angehörigen Klarheit zu schaffen. „Wir vermuten, dass Ihr … hirntot ist“ ist für die allermeisten Menschen sehr schwer auszuhalten.
  • Da IHA-Diagnostik – wie erwähnt – vor allem bei angestrebter Organspende durchgeführt wird und IHA-Patienten nicht unbedingt kreislaufstabil sind, um eine erfolgreiche Organspende realisieren zu können.
  • Ganz banal aus Platz- und Kapazitätsgründen.

Der Protokollbogen

Die IHA-Diagnostik wird anhand des Protokollbogens durchgeführt, den ich hier Schritt für Schritt erläutern möchte.

Seite 1 des Protokollbogens für über 2-Jährige
Seite 1 des Protokollbogens für über 2-Jährige
Die Sache mit der Nummerierung

Erster Stolperstein: Jeder beteiligte Arzt füllt einen Protokollbogen aus, der durchnummeriert wird. Beim ersten Untersuchungsgang gibt es also Protokollbogen 1 und 2. Macht man einen zweiten Untersuchungsgang, dann braucht man auch noch Protokollbogen 3 und 4.

Patientenidentifizierung, Klinik und Untersucher-Daten

Diese Dinge sind eigentlich selbsterklärend. Es gelten die selben Vorraussetzungen wie beim Ausfüllen des Totenscheins. Im Zweifelsfall vergleicht man noch mal die Patientendaten mit der Versichertenkarte, dem Personalausweis usw. damit man den Patienten zweifelsfrei identifizieren kann.

1. Vorraussetzungen

In die erste Zeile trägt man die Diagnose ein. Dann muss man sich entscheiden, ob es sich um eine primäre Hirnschädigung (z.B. Blutung) handelt und ob diese supra- oder infratentoriell lokalisiert ist oder ob eine sekundäre (z.B. hypoxischer Hirnschaden nach Reanimation) Hirnschädigung vorliegt. Zur besseren Illustration hier noch mal die drei Klassiker der zum IHA führenden Diagnosen:

Der nächste Schritt ist, sich gemeinsam die Gewissheit zu verschaffen, dass der Patient nicht intoxikiert ist, keine dämpfende Medikamente erhalten hat, die noch in wirksamer Konzentration im Körper vorhanden sein könnten, der Patient nicht muskelrelaxiert ist, nicht hypotherm, im metabolischen oder endokrinen Koma und nicht im Kreislaufschock ist. Zudem trägt man den systolischen Blutdruck und die Temperatur des Patienten ein. Diese Dinge bedürfen in der Regel eine gemeinsame Durchsicht der Patientenkurve oder des PDMS, der laufenden Perfusoren und die Überprüfung der Vitalparameter.

2. Klinische Symptome des Ausfalls der Hirnfunktion

Jetzt kommt der originär neurologische Teil der Untersuchung. Grob muss man sich die Systematik dahinter als Nicht-Neurologe wie folgt vorstellen: Bedingung für die IHA-Diagnostik ist ein komatöser Patient, bei dem alle Hirnstammreflexe als relativ stabile und ischämieresistente Funktionen ausgefallen sind. Man arbeitet sich von oben nach unten durch den Hirnstamm vor.

Das bedeutet im Einzelnen: Überprüfen, ob der Patient komatös ist. Pupillen und Lichtreaktion beurteilen (und dokumentieren, wenn das nicht geht, z.B. bei schweren Augenverletzungen, Glasauge, Katarakt-OP usw.). Vestibulo-okulären-Reflex (Puppenkopf-Phänomen) beurteilen, dabei Tubus nicht dekonektieren und nicht über die beiden Kästchen (rechts/links) zum Ankreuzen wundern (ja, eines würde reichen). Kornealreflex überprüfen. Schmerzreiz im Gesicht setzen (z.B. Nasenscheidewand) und Überprüfen, ob es zu einer Herzfrequenzzunahme oder einem Blutdruckanstieg kommt. Pharyngeal- und Trachealreflex überprüfen, dazu am Tubus rütteln und tief endotracheal absaugen und auf Hustenreiz achten.

Und dann kommt der aufwändigste Teil des klinischen Untersuchungsganges. Der Apnoe-Test. Hierzu muss man wissen, dass bei Lungengesunden der Anstieg von CO2 im Blut der stärkste Atemantrieb ist. Was man also macht ist, dass man die Beatmung unterbricht, daraufhin steigt der CO2-Spiegel im Blut kontinuierlich an. Gefordert wird ein Anstieg des arteriellen pCO2 von 35-45 mmHg auf über 60 mmHg (2. Stolperstein: temperaturkorrigiert). Um eine schnelle Sauerstoffentsättigung und damit einen Kreislaufeinbruch zu vermeiden muss der Patient in der Regel präoxygeniert werden. Beim eigentlichen Apnoe-Test wird das Dekonektieren vom Beatmungsgerät immer mehr verlassen und meistens das für die Patienten weniger stressbehaftete Verfahren der apnoischen Oxygenation gewählt. Dies kann man entweder – wenn man doch dekonektiert – durch Sauerstoff-Gabe direkt in den Tubus oder durch Einstellen des Beatmungsgerätes auf CPAP-Modus, und Hochstellen des Triggers auf maximale Unempfindlichkeit erreichen. Dann wird meistens alle 30 Sekunden ein maschineller Atemzug erfolgen, in der Zwischenzeit aber nicht. Aufgabe der Untersucher ist es, auf spontane Atemexkursionen zu achten und den richtigen Zeitpunkt für BGA-Kontrollen (die ja immer eine gewisse Zeit brauchen, bis das Ergebnis vorliegt) zu wählen.

Es gibt zum klinischen Untersuchungsgang – aber auch zu den apparativen Verfahren – viele Anmerkungen und Konkretisierungen für den jeweiligen Einzelfall, die man in der unten verlinkten Richtlinie nachlesen kann.

3. Stolperstein: Die bis hierhin dokumentierten Befunde müssen einmal direkt über dem schwarzen Strich per Unterschrift bestätigt werden, direkt darunter aber mit zusätzlicher Uhrzeit-Angabe und erneuter Unterschrift quittiert werden, dass man sich bewusst ist, dass es sich hierbei um den ersten Untersuchungsgang gehandelt hat und man einen zweiten Untersuchungsgang, bzw. apparative Verfahren ergänzen wird.

Seite 2 beginnt wieder mit dem Ankreuzen der richtigen Protokollbogen-Nummer und mit den Patientendaten:

Seite 2 des Protokollbogens für über 2-Jährige
3. Irreversibilitätsnachweis

Hier geht es darum zu bestätigen, dass der auf der ersten Seite dokumentierte Hirnfunktionsausfall irreversibel ist. Das kann man entweder mit einem zweiten Untersuchungsgang machen oder mit ergänzenden apparativen Untersuchungsverfahren.

Entscheidet man sich für einen zweiten Untersuchungsgang, so muss man alle Feststellungen und Untersuchungen auf Seite 1 des Protokollbogens inklusive Apnoe-Test noch mal wiederholen und den Protokollbogen bis oberhalb der schwarzen Linie vor „Bei den hier dokumentierten Feststellungen …“ erneut ausfüllen. Diese zusätzlichen Protokollbögen werden mit 3 und 4 nummeriert.

Auf Protokollbogen 1 und 2 (4. Stolperstein) dokumentiert man dann bei 3.1 die Durchführung des zweiten Untersuchungsganges.

Wird ein apparatives Verfahren ergänzt, so greift 3.2. Hier spielen im klinischen Alltag das EEG, die CT-Angiographie und die Doppler-, bzw. Duplexsonographie die entscheidende Rolle, die anderen Untersuchungsverfahren kommen praktisch nicht (mehr) in diesem Kontext vor.

Beim EEG ist die korrekte Durchführung entsprechend den in der Richtlinie hinterlegten Bedingungen und eine Befundung, in der die wesentlichen Punkte erwähnt werden, entscheidend. Da die meisten EEG-Befunder eh Befundvorlagen benutzen, kann man sich auch eine IHA-Vorlage erstellen, die in etwa so lauten könnte:

Befund

In dem EEG nach den Richtlinien der Bundesärztekammer über xx Minuten von xx.xx Uhr bis xx.xx Uhr lässt sich auch bei maximal sensitiven Filtereinstellungen keine hirneigene elektrische Aktivität ableiten. Es finden sich lediglich einzelne EKG- und Elektrodenartefakte.

Beurteilung

EEG nach den Richtlinien der Bundesärztekammer über xx Minuten vereinbar mit einem irreversiblen Ausfall aller Hirnfunktionen (IHA).

Ort, xx.xx.20xx, xx:xx Uhr

Unterschrift

Wichtig ist die Befund-Uhrzeit (5. Stolperstein) und dass wirklich mindestens 30 Minuten abgeleitet wurden.

Bei der Doppler-, bzw. Duplexsonographie ist entscheidend, dass das Verfahren zwei Mal im Abstand von mindestens 30 Minuten angewendet werden muss. Belegt werden soll ein zerebraler Kreislaufstillstand, der sich entweder durch biphasische Strömungssignale (mit gleichem Ein-, bzw. Ausstrom) oder sogenannte frühsystolische Spitzen (kleinen systolischen Flusssignalen unter 50 cm/s und unter 200 ms Dauer ohne weiteren detektierbaren Fluss) an den Hirnbasisarterien zeigt. Extrakraniell finden sich meistens hochpulsatile Widerstandssignale, da ja effektiv kein Blut mehr ins Gehirn fließt.

Auch hier muss der Befunder auf die Angabe einer Untersuchungsuhrzeit (für beide Untersuchungsgänge) und auf eine Befunduhrzeit achten.

Das selbe gilt für das radiologische Pendant, die CT-Angiographie.

6. Stolperstein: In die Namenszeile bei 3.2 muss der Name des befundenden Arztes der Zusatzuntersuchung eingetragen werden, zudem das Befund-Datum und die Befund-Uhrzeit (deswegen braucht man die auf dem Befund, den man dem Protokoll beilegt).

4. Feststellung des Todes

7. Stolperstein: Man bestätigt, dass sein Protokoll mit den anderen Protokollen übereinstimmt. Das bedeutet, wenn man zwei Protokolle hat (da eine apparative Zusatzuntersuchung durchgeführt wurde) trägt der Protokollant mit dem Protokoll Nr. 1 hier eine 2 ein (da Protokoll 1 mit Protokoll 2 übereinstimmt) und Protokollant Nr. 2 eine 1. Hat man zwei Untersuchungsgänge durchgeführt muss hier bei Protokollbogen 1 „2, 3, 4“ stehen und bei Protokollbogen 2 „1, 3, 4“.

Datum und Uhrzeit die man hier einträgt sind der offizielle Todeszeitpunkt, die auch auf dem Totenschein genauso anzugeben sind (nicht wann die Beatmung beendet wurde oder der Kreislaufstillstand eingetreten ist). Ab diesem dokumentierten Zeitpunkt gilt der Patient als verstorben, mit allen juristischen Implikationen. Findet keine Organspende statt, so ist die Intensivtherapie umgehend zu beenden.

Protokoll 1 und 2 werden abschließend gegenseitig unterschrieben (3 und 4 nicht, diese sind ja nur Zusatz-Befunddokumentation).

Klitzekleines Fazit

Ich habe das mit Absicht hier so detailliert vorgestellt, für alle angehenden Neurologinnen und Neurologen als „Anleitung“ und für alle interessierten Laien um falsche Vorstellungen, Vorurteile und ggfs. Befürchtungen auszuräumen.

Es gibt unglaublich viele „was ist, wenn“-Situationen, auf die die Richtlinie überraschend oft eine konkrete Antwort liefert. Und wenn man sich ein wenig intensiver mit dem Thema beschäftigen möchte, kann man sich dem Thema Spinalisationsphänomene widmen (siehe Artikel unten, leider kein open access, aber aufschlussreiche Videos).

Und noch was: Wenn ihr ärztlich tätig seid, sucht euch ein kleines Team zusammen, dass die IHA-Diagnostik regelhaft zusammen macht. Wenn man ein bisschen eingespielt ist und sich die Zeit nimmt, die man dafür braucht, kann man sogar ein wenig Gefallen an IHA-Diagnostik gewinnen. Ich mache es tatsächlich sogar recht gerne. Und man tut – wenn die IHA-Diagnostik zur Organspende führt – auch was richtig Gutes.

Wo man weiterlesen kann

Richtlinie gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 TPG für die Regeln zur Feststellung des Todes nach § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG und die Verfahrensregeln zur Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG, Vierte Fortschreibung. Deutsches Ärzteblatt. Published online 2015:31.

Förderreuther, S. (2016). Die neue Richtlinie zur Hirntoddiagnostik. InFo Neurologie & Psychiatrie, 18(1), 36–41. https://doi.org/10.1007/s15005-016-1130-0

Janzen, R. W. C., Lambeck, J., Niesen, W., & Erbguth, F. (2021). Irreversibler Hirnfunktionsausfall – Teil 2. Spinalisationsphänomene. iDer Nervenarzt, 92(2), 169–180. https://doi.org/10.1007/s00115-020-01048-y

Überversorgung in der Medizin

Heute soll es um ein Thema gehen, was mir schon länger im Kopf rumschwirrt, um Überversorgung in der Medizin. Das hat jetzt nur so halb mit Neurologie und auch nur so halb mit COVID-19 zu tun, aber es gibt mehrere Gründe, warum ich mich damit ein wenig beschäftigen möchte. Der Beitrag schließt sich thematisch an den Blogbeitrag zur medizinischen Versorgung am Lebensende an, wenn ihr den noch nicht kennt, lest ihn gerne zuerst.

Was ist eigentlich Überversorgung?

Anlass und Motivation: Das DIVI-Thesenpapier

Im Frühjahr 2021 irgendwo zwischen der zweiten und dritten COVID-19-Krankheitswelle erschien dieses Thesenpapier der DIVI, also der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin:

Michalsen, A., Neitzke, G., Dutzmann, J., Rogge, A., Seidlein, A.-H., Jöbges, S., Burchardi, H., Hartog, C., Nauck, F., Salomon, F., Duttge, G., Michels, G., Knochel, K., Meier, S., Gretenkort, P., & Janssens, U. (2021). Überversorgung in der Intensivmedizin: erkennen, benennen, vermeiden. Medizinische Klinik – Intensivmedizin Und Notfallmedizin, 116(4), 281–294. https://doi.org/10.1007/s00063-021-00794-4

Es ist ein sehr umfassende Paper, open access, was sich mit verschiedenen Aspekten von Überversorgung in der Intensivmedizin beschäftigt. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung ist in so fern spannend, weil die DIVI zu diesem Zeitpunkt vor allem mit der Warnung vor mangelnden Intensivkapazitäten in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde und es hier ganz wesentlich darum geht, dass und warum Intensivmedizin aus verschiedenen Gründen zu viel und unnötigerweise in Anspruch genommen wird. Und vielleicht schließt sich hier der Kreis, wenn es aktuell in den Medien (auch von Seiten der DIVI) wieder um das Thema Triage geht.

Ich werde das Paper hier nicht komplett wiedergeben (wie gesagt, es ist absolut lesenswert), aber möchte im Folgenden immer wieder Punkte aus dem Paper aufgreifen, auf die Nicht-Intensivmedizin übertragen und an der ein oder anderen Stelle ergänzen.

Wie ist Überversorgung definiert?

Überversorgung bezeichnet Behandlungsmaßnahmen, die nicht angemessen sind, weil sie zu keiner für die Patienten bedeutsamen Verbesserung der (Über‑)Lebensdauer oder Lebensqualität führen, mehr Schaden als Nutzen verursachen und/oder von Patient:innen nicht gewollt werden.

So schreiben die Autoren des DIVI-Thesenpapiers. Im ersten Teil (Link) der kleinen Blog-Serie ging es ja darum, wann eine medizinische Behandlung zulässig ist. Nämlich dann, wenn sie medizinisch indiziert ist und wenn sie dem Willen des Patienten entspricht. Ist einer der beiden Faktoren nicht erfüllt und führt man trotzdem eine Behandlung durch, begeht man ein Körperverletzungsdelikt. Grob gesagt ist Überversorgung somit die Stufe unter „nicht indiziert“, pauschal gesagt sowas wie „nicht wirklich indiziert“.

Überversorgung ist unglaublich häufig, dem DIVI-Artikel nach geht die OECD davon aus, dass ungefähr 20% der Gesundheitskosten durch Überversorgung entstehen. Es gibt Überversorgung von ganz klein und unspektakulär bis ganz groß und spektakulär. Die kleine, unspektakuläre Überversorgung ist naturgemäß viel häufiger als die spektakuläre große und alle, die ärztlich tätig sind haben schon ganz oft Überversorgung betrieben. Zu konkreten Beispielen komm ich weiter unten.

Überversorgung entsteht ganz grob eingeteilt in den zwei Themenkomplexen, die wir schon kennen: Bei der medizinischen Indikationsstellung und bei der Interpretation, bzw. Ausführung des Patientenwillens. Dazu kommen wir gleich noch einmal genauer. Vorher müssen wir die Frage beantworten, was das Problem an Überversorgung eigentlich ist.

Na und? Warum ist Überversorgung überhaupt schlimm?

Es sind zwei Punkte, die Überversorgung – abseits davon, dass es ja eine nicht angemessene Therapie ist – problematisch machen. Der erste ist das liebe Geld, beim zweiten geht es um die Frage Personalnot im Gesundheitswesen.

Money Money Money

Wie gerade weiter oben schon geschrieben geht die OECD davon aus, dass ungefähr 20% der Gesundheitsausgaben in ihren Mitgliedsländern für Überversorgung aufgewendet werden. In Deutschland betrugen die Gesundheitsausgaben im Prä-Corona-Jahr 2019 411 Milliarden Euro, das sind knapp 12% des Bruttoinlandsproduktes (Link). 20% davon sind 82,2 Milliarden Euro. Davon könnte man viele Corona-Prämien zahlen, Löhne erhöhen, Arbeitsbedingungen verbessern usw. ohne dass durch die medizinische Versorgung der Patienten in irgendeiner Weise schlechter werden würde.

Viel entscheidender ist aber meines Erachtens der zweite Punkt:

Überversorgung verstärkt den Pflexit

Überversorgung kann mit hohen Belastungen und Risiken für die betroffenen Patientinnen, ihre Familien und die Behandlungsteams verbunden sein; sie kann Leiden und Trauer verursachen oder verlängern sowie zu Gewissensnot, „moral distress“, Burn-out und Personalabwanderung beitragen

So lautet ein Absatz im DIVI-Papier. Insbesondere der letzte Punkt ist in meiner Wahrnehmung extrem wichtig und wird immer bedeutsamer. Dabei ist er ganz und gar nicht neu, hat sich aber mit der Corona-Pandemie noch einmal extrem zugespitzt und ist dann mit dem Thema Intensivkapazitäten zur Behandlung von COVID-19-Patienten endlich in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt:

Nur findet der Pflegepersonalmangel aber nicht nur auf den Intensivstationen statt sondern – und zwar ganz besonders – auf den Normalstationen in den Krankenhäusern mit hochaltrigen, multimorbiden und pflegebedürftigen Patienten, insbesondere, wenn ein hoher Belegungsdruck und dadurch Zeitmangel herrscht, also in der Inneren Medizin, der Unfallchirurgie und der Neurologie, auch – wenn ggfs. etwas weniger durch die längeren Liegezeiten – in der Geriatrie. Es gibt Untersuchungen darüber, dass Überversorgung deutlich mehr vom Pflegepersonal als von Ärzten wahrgenommen und als belastend empfunden wird (Hartog et al.), insbesondere auf Grund der oft intensiveren Interaktion mit den Patienten und ihren Angehörigen im Vergleich zu uns Ärzten.

Defizite in der interdisziplinären Zusammenarbeit, eine subjektiv zu hohe Arbeitsintensität sowie eine höhere Anzahl der Wochenendarbeitstage/Monat erhöhen das Risiko für die Wahrnehmung von Übertherapie. Emotionale Erschöpfung wird durch Stresserleben im Kontakt mit Angehörigen und zu hohe Arbeitsintensität verstärkt.

schreiben Hartog et al. Diese emotionale Erschöpfung führt zu Frustration und Überforderungserleben und befeuert neben der monetären Vergütung das Phänomen Plexit. Die mittlere Verweildauer im Beruf beträgt in der Krankenpflege (bei einer 3-jährigen Ausbildung) in Deutschland nur noch gerade mal 7,5 Jahre und in der Altenpflege 8,4 Jahre (Quelle: Link).

Dies zeigt, dass die Vermeidung von Überversorgung nicht nur gesundheitspolitisch mit Blick auf die entstehenden Kosten, sondern insbesondere was das Thema Pflegenotstand betrifft eigentlich extrem wichtig ist.

Wie und wo Überversorgung entsteht

Will man Überversorgung vermeiden muss man sie da verhindern, wo sie entsteht. Ich hatte ja weiter oben schon geschrieben, dass Überversorgung einmal auf der Ebene der medizinischen Indikationsstellung und einmal auf der Ebene der Interpretation und Umsetzung des Patientenwillens generiert werden kann. Und das schauen wir uns jetzt einmal genauer an, insbesondere den Teil mit der Indikationsstellung. Das mit dem Patientenwillen haben wir ja schon im ersten Blogbeitrag beleuchtet.

Medizinische Indikation und Überversorgung

Therapieeskalation

Ob eine medizinische Behandlung indiziert ist, ist zunächst eine ärztliche Entscheidung. Aber auch diese entsteht interindividuell unterschiedlich vor dem Hintergrund der jeweiligen Sozialisation, ethischen und religiösen Moralvorstellungen und auch der medizinischen „Schule“, durch die man gegangen ist. Daher kommt es durchaus vor, dass ich zum Beispiel eine Behandlung für medizinisch sinnvoll halten könnte, ein anderer Arzt, bzw. eine andere Ärztin aber nicht. Oder umgekehrt. Eine längere Berufserfahrung und eine dadurch kritischere Reflexionsfähigkeit führen dabei statistisch eher zu zurückhaltenderen Therapieentscheidungen, jüngere und unerfahrenere Behandlungsteams neigen dagegen eher zu Therapieeskalationen. Ob das wirklich so ist, da bin ich mir gar nicht so sicher.

rule of rescue, sunk cost effect und omission bias

Bei dem Thema Therapieeskalation spielt die sogenannte rule of rescue eine wichtige Rolle, das Retten um jeden Preis, die sich in der Praxis oft beobachten lässt. Die DIVI-Autoren schreiben:

Es fällt oft leichter, alle zur Verfügung stehenden Mittel unreflektiert anzuwenden, als differenziert und individuell nach Therapiezielen und Erfolgsaussicht zu fragen.

Dies ist umso wahrscheinlicher, je klarer Eskalationsstrategien festgelegt sind, was sie für viele schwere Erkrankungen nun mal sind und was auch eigentlich sehr sinnvoll ist.

Eine weiterer Faktor ist der sogenannte sunk cost effect, bei der eine einmal getroffene Behandlungsentscheidung im Verlauf nicht mehr hinterfragt wird, weil man ja schon „so viel gegeben“ hat und diese „Investition“ nicht umsonst gewesen sein soll. In der Folge wird dann die Therapie immer weiter eskaliert. Der gegenteilige Effekt ist der omission bias, die Wahrnehmung dass ein Versterben von Patienten nach Therapielimitierung oft subjektiv schlimmer wahrgenommen wird, als unter laufender Maximaltherapie, bei der man „ja alles gegeben“ hat.

Die vielen Facetten der Prognosebestimmung

Der dritte Punkt ist folgender:

Die Tabuisierung von Sterben und Tod auch innerhalb der Behandlungsteams und das Erleben von Tod als persönliches Versagen können diesen Effekt verstärken. Eine „schöngeredete“ Einschätzung der Prognose führt in diesen Fällen zu letztlich sinnlosen Therapiebemühungen.

In meiner Wahrnehmung ist die Tabuisierung des Themas Tod und Sterben im medizinischen Setting in den letzten Jahren deutlich rückläufig, aber nicht im gesamtgesellschaftlichen Kontext (wie man aktuell an den Diskussionen um COVID-19 nachvollziehen kann). Der Punkt „schöngeredete“ Prognose bleibt aber. Ich hatte das schon im ersten Teil gegen Ende des Beitrags beschrieben, dass Alter und männliches Geschlecht mit die besten Prädiktoren für ein schlechtes Outcome von frührehabilitativen Behandlungen sind, auch wenn die Abschätzung einer Prognose bei einer schweren Erkrankung immer schwierig ist und wird natürlich von vielen Variablen bestimmt wird.

Exkurs: Was ist denn eine gute Prognose?

Auch das hängt natürlich extrem von der jeweiligen Erkrankung und ihrer Schwere ab, aber auch von den persönlichen Wertvorstellungen des Patienten, ihrer Angehörigen, aber auch des medizinischen Personals ab: Patienten mit einem schweren Schlaganfall oder einer Hirnblutung, welche in der neurologischen Frührehabilitation behandelt werden müssen werden sich in nahezu allen Fällen nicht soweit erholen, dass „wieder alles wie früher“ werden wird. Leider wird das oft nicht kommuniziert, sondern so eine Vorstellung vermittelt, mit genug Therapieeinheiten könne man jedes funktionelle relevante Defizit beheben, was einfach nicht der Realität entspricht. Dabei müsste das Behandlungsziel eigentlich gar nicht zu hoch gesteckt werden:

Aus Studien zur Hemikraniotomie nach schwerem Schlaganfall wissen wir, dass Betroffene ihre Lebensqualität als „gar nicht so schlecht“ wahrnehmen, während medizinisches Personal sich eine Hemikraniotomie für sich selber nicht vorstellen kann (Schwarz 2012), weil eine komplette Abhängigkeit von Pflege uns als sehr schlechte Prognose vorkommt. Anders herum wissen wir, dass ein gewisser Grad an Selbstständigkeit Grundvorraussetzung für die soziale Teilhabe auch in einer Pflegeeinrichtung ist und dass in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation ein Alter > 80 Jahre oder vorbestehende kognitive Defizite wichtige Faktoren sind, die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit einhergehen, dass diese Teilhabefähigkeit eben nicht mehr erreicht werden kann (Seidel 2016).

Diese komplexe Grundgemengelage führt oft zu unkonkreten und euphemistischen Formulierungen der Prognose von schwer betroffenen Patienten gegenüber (vorsorgebevollmächtigten) Angehörigen mit dann oft schmerzhafter Krankheitsverarbeitung im weiteren Behandlungsverlauf, wenn deutlich wird, dass viel zu hoch gesteckten Erwartungen nicht erfüllt werden können.

Unsicherheit im Behandlungsteam

Der vermutlich entscheidendste Punkt außerhalb von ökonomischen Interessen, warum Überversorgung entsteht, ist das Thema Unsicherheit. Hieraus resultiert wohl auch die oben zitierte Feststellung, dass junge und unerfahrenere Behandlungsteams eher zur Überversorgung neigen. Die Unsicherheit entsteht ganz oft an der Frage, ob eine medizinische Behandlung überhaupt indiziert ist, wird aber nur ganz selten auch so benannt. Oft finden sich Euphemismen, wie „aus medikolegalen Erwägungen“ oder „bei unklarem Patientenwillen“ oder in Übergaben „erst mal alles machen“. Dabei spielt die Angst vor rechtlichen Folgen ärztlichen Handelns eine große Rolle, insbesondere wenn man eine ärztliche Entscheidung nicht mehr revidieren kann (z.B. weil der Patient zwischenzeitlich verstorben ist). Dieses Phänomen, welches durchaus dem Zeitgeist der Absicherungsmedizin geschuldet sein dürfte, findet sich übrigens auch in die andere Richtung: Auch „mutige“ Therapieentscheidungen, die zu eher risikobehafteten Handlungen führen, finden sich tendenziell zunehmend seltener.

Was man tun kann

Die Antwort, wie man diese Arten von Überversorgung auf Ebene des Behandlungsteams am Besten minimieren kann, ist in der Theorie relativ einfach:

Es braucht bei jedem Patienten ein realistisches, dem Patienten nutzendes, Therapieziel. Grundvorraussetzung hierfür ist die bestehende medizinische Indikation für die Behandlung und der vorliegende Patientenwille. Dieses Therapieziel muss regelmäßig, bei kritisch kranken Patienten ggfs. sogar mehrfach täglich, hinsichtlich seiner weiter vorhandenen Sinnhaftigkeit und Erreichbarkeit reevaluiert werden.

Es gibt in dem DIVI-Papier dafür sogar einen Merkspruch: Nämlich TRIKK

T: Formuliere das Therapieziel.

R: Reevaluiere das Therapieziel regelmäßig und kritisch.

I: Stelle sicher, dass für jede geplante und laufende Therapie eine Indikation besteht und diese geeignet ist, um das Therapieziel zu erreichen.

K: Stelle sicher, dass jede geplante diagnostische Prozedur eine Konsequenz hat, die den Patienten/die Patientin und das Behandlungsteam dem Therapieziel näher bringt.

K: Stelle sicher, dass weiterhin mutmaßlicher, vorausverfügter oder definitiver Konsens des Patienten/der Patientin für alle laufenden und geplanten diagnostischen und therapeutischen Prozeduren besteht.

In der Praxis ist das viel komplizierter als es zuerst anmutet. Das mit dem Therapieziel braucht nämlich Zeit und die ist oft knapp, insbesondere wenn das Personal knapp ist. Das hatten wir oben schon beim Thema Pflexit. Der zweite Punkt ist, dass Überversorgung am Besten minimiert wird, wenn das Therapieziel und seine Erreichbarkeit mindestens in einem Visitensetting, besser noch interdisziplinär im ganzen Behandlungsteam besprochen und reevaluiert wird. Das gilt natürlich auch für die Angehörigenkommunikation, Dokumentation usw. Schneller und “einfacher“ ist es, Diagnostik und Therapien nach den jeweiligen Standards immer weiter zu eskalieren.

Ein Weg dies zu durchbrechen kann sein, existierende Strukturen, wie Übergaben / Teambesprechungen (in vielen OPS-Codes, siehe unten, vorgeschrieben) hierzu zu nutzen.

Ökonomische Aspekte und Überversorgung

Das Gesundheitssystem – so wie es ist – begünstigt neben den erwähnten medizinischen Aspekten das Auftreten von Überversorgung. Ich kann hier nur für die stationäre Krankenversorgung schreiben, da ich von der Abrechnung der ambulanten Medizin viel zu wenig verstehe, aber da wird es ähnliche Mechanismen geben. Überversorgung wurde auch schon vor der Einführung der DRG 2003 durch das damalige Abrechnungssystem der Tagessätze getriggert, aber anders als jetzt. Damals gab es grob gesagt mehr Geld, je länger die Patienten da waren, also waren sie tendenziell zu lange da.

Crashkurs DRG

Diagnosis Related Groups (DRG) gibt es als Grundlage für Verteilung von Versicherungsleistungen schon ganz lange. In Deutschland wurde 2003 jedoch das damals bestehende System so geändert, dass seither jede stationäre Krankenhausbehandlung (mit Ausnahme der Psychiatrie) mit einer Fallpauschale vergütet wird, deren Höhe sich an der Diagnose und verschiedenen Schweregraden und Begleiterkrankungen bemisst. Grob gesagt kann man sich das wie einen Pauschalurlaub mit all inclusive vorstellen.

Jede Diagnose findet sich in einer Fallpauschale wieder, die in einer bestimmten Systematik durchnummeriert sind. Jeder Fallpauschale ist ein Kostengewicht (andere Begriffe sind Bewertungsrelation und Relativgewicht) zugeordnet, ein Zahlenwert, der den Schweregrad und den Behandlungsaufwand der Fallpauschale darstellen soll.

Bestimmte Prozeduren, also Operationen, aber auch Komplexbehandlungen (also interdisziplinäre Behandlungsmodelle, z.B. bei einem Schlaganfall, in der Frührehabilitation auf der Intensivstation usw. mit definierten ärztlichen, pflegerischen aber auch therapeutischen Leistungen) erhöhen die Bewertungsrelation (und damit den Abrechnungsbetrag).

Zwei Beispiele (Link):

  • Die Behandlung eines Patienten mit einem Schlaganfall ohne eine Komplexbehandlung auf einer Stroke Unit führt zur DRG B70F mit einem Kostengewicht von 0,795
  • Die Behandlung des selben Patienten auf einer Stroke Unit mit einer Dauer der Behandlung von mindestens 72 Stunden führt zur DRG B39C mit einem Kostengewicht von 2,122

Wenn man jetzt wissen will, wie viel Geld das Krankenhaus für den Fall bekommt, so muss man wissen, wieviel so ein Kostengewicht wert ist. 1,0 Kostengewichte sind gleichgesetzt mit dem Landesbasisfallwert. Der betrug z.B. 2021 in Hamburg 3.743,70 EUR (Link). Das bedeutet, dass

  • in Beispiel 1 das Krankenhaus eine Summe von 2.976,24 EUR (0,795 x 3.743,70 EUR) abrechnen kann, zuzüglich der Kosten für das Pflegepersonal (die wurden 2021 aus den DRG „rausgerechnet“ und werden gesondert abgerechnet),
  • in Beispiel 2 das Krankenhaus 7.944,13 EUR (2,122 x 3.743,70 EUR) abrechnen kann, zuzüglich der Kosten für das Pflegepersonal.

Nebendiagnosen, Prozeduren und Überversorgung

Das führt tendenziell dazu, dass Patienten möglichst hochbewertete Prozeduren (OPS-Codes) erhalten und auch bei der Kodierung des Falls versucht wird, möglichst viele die Fallpauschale erhöhende Begleiterkrankungen zu finden. Das wiederum intendiert, dass mittelfristig nach diesen Nebendiagnosen gesucht wird, was durchaus ein Mehraufwand an Diagnostik und ggfs. Therapie bedeutet, durchaus auch ohne Mehrwert für den Patienten (was dann wieder Überversorgung wäre).

Die Komplexbehandlungen (die ja zu den Prozeduren gehören) sind wiederum fast immer in verschiedene Zeiträume unterteilt, in welchen sie erbracht werden und in welchen sie verschieden viel Erlös generieren. Je länger sie erbracht werden, desto höher ist die Vergütung, was ja auch logisch ist. Das bedeutet aber, dass es „Stufen“ in der Erlösstruktur z.B. der Schlaganfallversorgung gibt, nach 24 Stunden auf der Stroke Unit gibt es mehr Geld, nach 72 Stunden noch deutlich mehr usw. Patienten werden dementsprechend eher 24,5 Stunden auf der Stroke Unit behandelt und möglichst nie 23,5 Stunden usw. Und dann „macht man die 24 Stunden noch voll“ (oder die 72 Stunden usw.), auch wenn die Behandlung auf der Stroke Unit vielleicht nicht mehr notwendig wäre, hier kein spezifisches Therapieziel mehr besteht.

Auch das ist Überversorgung.

Etwas offensichtlicher ist es, wenn eine Behandlung offenkundig unnötig ist und dennoch durchgeführt wird. Aber auch hier gibt es Graubereiche, wie diesen:

Versorgungsprobleme

Zum Abschluss noch ein aktuelles (wie immer leicht verfremdetes) Beispiel von Station: Es wird ein 92-jähriger Mann aufgenommen, bei dem Patienten besteht seit längerem eine Demenzerkrankung. Bislang wurde dies von der Ehefrau kompensiert, allerdings ist die Ehefrau vor einem Monat recht plötzlich verstorben. Seither kümmerte sich der ebenfalls hochaltrige Bruder des Patienten, dieser musste aber nun selber auf Grund eines kardiologischen Problems stationär aufgenommen werden. Übrig blieb der alte Herr, der nun nicht mehr versorgt war. Um einen Pflegedienst u.ä. hatte sich die Familie – in erster Linie die berufstätige Tochter und Nichte – bislang noch nicht bemüht. Nun kommt der alte Herr in die Notaufnahme, weil es „zu Hause einfach nicht mehr geht“.

Was machen wir? Nach Hause schicken und sagen: „Liebe Familie, euer Problem, kümmert euch!“? Das wäre die offiziell richtige Lösung, aber fast nie die realistische und auch fast nie die menschlich vertretbare. Also wird der Patient aufgenommen mit folgendem Konzept:

  • Plan A: Wir organisieren einen Pflegedienst, der den Patienten zu Hause betreut.
  • Plan B: Wir organisieren einen Kurzzeitpflegeplatz.

Akut-medizinisch ist eigentlich gar nichts zu tun. Die Demenz ist mindestens mittelgradig, klinisch eher Alzheimer-typisch, bildmorphologisch a.e. eine gemischte Demenz mit erheblicher vaskulärer Komponente. Das ganze ist demnach ein klassisches Versorgungsproblem.

Das dumme an Versorgungsproblemen ist, dass es sie offiziell nicht gibt. Denn für die rein pflegerische Versorgung eines Menschen benötigt es nicht „die besonderen Mittel eines Krankenhauses“. Ergo ist der Aufenthalt nicht indiziert, ergo gibt es kein Geld, ergo zahlen wir Kost und Logis. Tun wir? Nein, die Lösung lautet Überversorgung. Wir machen einfach eine Demenzabklärung. Die bringt dem Patienten zwar nichts, aber wir haben den Aufenthalt gerechtfertigt. Vielleicht nicht alle Tage, die der Patienten schlussendlich da ist, aber zumindest gibt es eine Gegenfinanzierung eines gewissen Teils des Aufenthalts.

Ist das verwerflich? Ich weiß nicht, eher schlecht vom Gesetzgeber her konzipiert. Von der Größenordnung her kann man sich das wie folgt vorstellen: Von den 30 neurologischen Betten bei uns auf Normalstation sind in der Regel immer 2-3 von Patienten mit derartigen Versorgungsproblemen und der dadurch intendierten Überversorgung belegt.

Ein Fazit

Überversorgung ist häufig, wir alle haben schon Überversorgung betrieben und werden es – aus verschiedenen Gründen – auch weiter tun. Überversorgung ist trotzdem ein relevantes Problem, monetär, aber insbesondere da sie zur Personalabwanderung im Gesundheitswesen beiträgt. Wenigstens deshalb sollte es uns ein Anliegen sein Überversorgung zu vermeiden.

Einfach ist es nicht, manchmal auch nicht vermeidbar. Aber ohne Problembewusstsein hierfür wird sich nicht tun.

Wo man weiterlesen kann

Michalsen, A., Neitzke, G., Dutzmann, J., Rogge, A., Seidlein, A.-H., Jöbges, S., Burchardi, H., Hartog, C., Nauck, F., Salomon, F., Duttge, G., Michels, G., Knochel, K., Meier, S., Gretenkort, P., & Janssens, U. (2021). Überversorgung in der Intensivmedizin: erkennen, benennen, vermeiden. Medizinische Klinik – Intensivmedizin Und Notfallmedizin, 116(4), 281–294. https://doi.org/10.1007/s00063-021-00794-4

Neitzke, G., Burchardi, H., Duttge, G., Hartog, C., Erchinger, R., Gretenkort, P., Michalsen, A., Mohr, M., Nauck, F., Salomon, F., Stopfkuchen, H., Weiler, N., & Janssens, U. (2016). Grenzen der Sinnhaftigkeit von Intensivmedizin. Medizinische Klinik – Intensivmedizin Und Notfallmedizin, 111(6), 486–492. https://doi.org/10.1007/s00063-016-0202-8

Literaturangaben (explizit keine Weiterlese-Tips)

Hartog, C. S., Hoffmann, F., Mikolajetz, A., Schröder, S., Michalsen, A., Dey, K., Riessen, R., Jaschinski, U., Weiss, M., Ragaller, M., Bercker, S., Briegel, J., Spies, C., & Schwarzkopf, D. (2018). Übertherapie und emotionale Erschöpfung in der „end-of-life care“. Der Anaesthesist, 67(11), 850–858. https://doi.org/10.1007/s00101-018-0485-7

Schwarz, S., & Kühner, C. (2012). Prognose und Lebensqualität nach Entlastungstrepanation. Der Nervenarzt, 83(6), 731–740. https://doi.org/10.1007/s00115-011-3402-8

Seidel, G., Eggers, L., Kücken, D., Zukunft, E., Töpper, R., Majewski, A., Klose, K., Terborg, C., Klass, I., Wohlmuth, P., & Debacher, U. (2016). Prognosefaktoren in der Frührehabilitation nach schwerem Schlaganfall. Aktuelle Neurologie, 43(09), 541–547. https://doi.org/10.1055/s-0042-118957

Medizinische Versorgung am Lebensende

Vorweg

Schon länger schwebt mir eine kleine Reihe über das Thema Medizin am Lebensende vor und ich hatte schon mal im Sommer angefangen, was zum Thema Überversorgung zu schreiben, dann aber wieder abgebrochen. Durch den Tweet von doc_ecmo

bin ich jetzt aber wieder angefixt. Ich hab mir überlegt, dass ich mit dem Thema end-of-life care anfange und dann was zu Überversorgung schreibe.

Patientenwillen und Multimorbidität

Mit zunehmender Lebenserwartung und damit auch zunehmender Multimorbidität unserer Patienten kommt dem Thema medizinische Entscheidungen am Lebensende immer mehr Bedeutung zu. Das betrifft einmal die unmittelbare Versorgung (ambulant und stationär) im Krankheitsfall, aber auch die Planung und Konzeption der jeweils medizinisch indizierten und gewünschten Behandlung. Das Phänomen der immer älter und kränker werdenden Patienten gibt es in der Medizin schon ganz lange. Fangen wir daher mit einem Klassiker der Ärzte-Literatur an:

Gomer und House of God

House of God (Link Wikipedia) ist 1978 erschienen und hat schon mehrere Ärztegenerationen (vor der meinigen) geprägt. Das liegt unter anderem an der expliziten, aber realistischen Schilderung des Krankenhausalltages in den USA in den späten 1970er Jahren, vor allem aber an den 10 Regeln des House of God und den Begriffen Gomer (für alle, die House of God nicht kennen, das heißt Get Out of My Emergency Room) und turfen (für strategische Verlegung undankbarer Patienten in eine andere Fachabteilung). In der deutschen Übersetzung von House of God werden Gomer wie folgt definiert:

Ein menschliches Wesen, das, oft durch Alter, verloren hat, was einen Menschen ausmacht.

Ja, das ist zynisch. Aber House of God ist vor 43 Jahren erschienen und Überalterung und Multimorbidität der Gesellschaft haben seither massiv zugenommen. 1978 betrug die mittlere Lebenserwartung für Männer 77,5 Jahre und für Frauen 81 Jahre, heute sind es knapp 83 Jahre bei Männern und 86 Jahre bei Frauen (Quelle: Link), das macht ein Plus von 5,5 Jahren bei Männern und 5 Jahren bei Frauen. Die Prävalenz der Alzheimer-Demenz beträgt bei > 80 Jährigen in Europa 12,1% und bei > 85-jährigen 21,8% (Quelle: Link). In selektionierten Bevölkerungsanteilen (wie den stationär behandlungsbedürftigen Patienten) sind sicherlich deutlich höhere Prävalenzen anzunehmen. Und so wundert es dann auch nicht, dass es für Gomer mittlerweile im Krankenhaus-Slang weitere, durchaus bösartigere bis offenkundig menschenverachtende Begriffe gibt, vom harmlosen internistischen Polytrauma, oder kein Hoffnungsträger über Dementor (für die Harry Potter-Generation), Ei und Vollei bis hin zu Trümmer- oderSchrotthaufen. Und es wird vermutlich keinen von uns geben, der nicht schon mal an der einen oder anderen Stelle derartige zynische und sarkastische Bezeichnungen verwendet hat, insbesondere in Phasen von Überforderungserleben und Frustration.

Sterbeort Krankenhaus

Jährlich sterben in Deutschland (die Daten sind aus der Prä-COVID-19-Ära) ungefähr 820.000-920.000 Menschen, das heißt 2.400-2.500 jeden Tag. Gute 45% der Gesamtbevölkerung versterben dabei in Krankenhäusern, von denen wiederum ein Viertel auf der Intensivstation, in absoluten Zahlen macht das ungefähr 400.000 Todesfälle in Krankenhäusern jedes Jahr, davon ca. 100.000 auf Intensivstationen (Fleischmann-Struzek et al.). Wir wissen, dass knapp 3/4 aller Pflegeheimbewohner in ihrem letzten Lebensjahr mindestens einmal in stationärer Behandlung sind, mit einem deutlichen Peak in den letzten Wochen vor Versterben (dort allein 52% im letzten Lebensmonat), 31% aller Hamburger Pflegeheimbewohner versterben im Krankenhaus (Hoffmann und Allers). Diese Rate ist im internationalen Vergleich sehr hoch, auffällig ist zudem, dass es in Deutschland keinen signifikanten Unterschied zwischen Pflegeheimbewohnern mit und ohne Demenzerkrankung gibt. Auch das ist in anderen Ländern anders.

Das Problem mit dem Patientenwillen

Aus Befragungen von „Überlebenden“ nach Intensivstationsbehandlung bei lebensbedrohlichen Erkrankungen weiß man, dass knapp 25% der Betroffenen hinterher sagen, die Behandlung sei nicht in oder sogar gegen ihren Willen erfolgt. Bei den Patienten, den wir in den Fachbereichen Innere Medizin, Neurologie, Unfallchirurgie und Geriatrie sehen ist es häufig so, dass auf Grund von vorbestehenden schweren Demenzerkrankungen (und in der Neurologie besonders auch durch Sprachstörungen nach Schlaganfall) die Patienten nicht mehr hinsichtlich ihrer Behandlungswünsche befragt werden können. Der Anteil dieser Patienten schwankt sehr, so dass über die genaue Rate keine Aussage zu treffen ist. Anekdotische Evidenz ist aber, dass insbesondere nach den großen Feiertagen Weihnachten / Ostern bis zu der Hälfte der Patienten auf einer neurologischen Normalstation nicht anamnestizierbar ist und an keinem Visitengespräch teilnehmen kann.

Ein weiteres Problem ist, dass die Patientenverfügungen, wie man sie als Standard-Vordruck zum Ankreuzen herunterladen kann (z.B. hier) oft Formulierungen stehen wie

Die folgende Verfügung soll gelten für den Fall, dass ich meinen Willen nicht mehr bilden oder verständlich äußern kann und ich infolge einer Gehirnschädigung meine Fähigkeit, Einsichten zu gewinnen, Entscheidungen zu treffen und mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, nach Einschätzung zweier erfahrener Ärztinnen oder Ärzte aller Wahrscheinlichkeit nach unwiederbringlich erloschen ist, selbst wenn der Todeszeitpunkt noch nicht absehbar ist. Dies gilt für direkte Gehirnschädigung, z.B. durch Unfall, Schlaganfall oder Entzündungen, ebenso wie für indirekte Gehirnschädigung, z.B. nach Wiederbelebung, Schock oder Lungenversagen. Es ist mir bewusst, dass in solchen Situationen die Fähigkeit zu Empfindungen erhalten sein kann und dass ein Aufwachen aus diesem Zustand nicht ganz sicher auszuschließen, aber unwahrscheinlich ist.

Das trifft natürlich wortwörtlich nur in ganz wenigen Fällen zu, viel öfter handelt es sich – in der Neurologie – um schwere (linkshirnige) Schlaganfälle oder Hirnblutungen, bei denen z.B. von einer anhaltenden hochgradigen Halbseitenlähmung, einer Sprech- und einer anhaltenden Schluckstörung auszugehen ist, manchmal auch von einer fehlenden Mobilisierungsfähigkeit, so dass das Szenario eher wie folgt skizziert werden muss:

  • Vollständige Pflegebedürftigkeit, voraussichtlich in einem Pflegeheim, Ernährung über eine PEG-Sonde, Mobilisation in einen Pflegerollstuhl möglich.
  • Und in Fall zwei: Bettlägerigkeit, vollständige Pflegebedürftigkeit, voraussichtlich in einem Pflegeheim, Ernährung über eine PEG-Sonde

Es stellt sich dann die Frage, ob ein Überleben dieser Situation im Sinne des Patienten ist, oder eben nicht. Und das geht aus vielen Patientenverfügungen nicht dezidiert hervor. Der Textbaustein-Vordruck vom Bundesjustizministerium ist da etwas diffiziler und schließt auch Demenzerkrankungen ein (Link). Behelfen kann man sich oft, wenn man die Patientenverfügung als Orientierung nimmt und wenn die Patientenverfügung in Kombination mit einer Vorsorgevollmacht ausgefüllt wurde (was häufig der Fall ist) und man die vorsorgebevollmächtigten Angehörigen hinsichtlich des Patientenwillens befragen kann.

advanced care planning

Aus der Behandlung chronischer, zum Tod, bzw. zu schwerer Pflegebedürftigkeit bzw. Abhängigkeit von externer Hilfe und damit zum Verlust von medizinischer Entscheidungsfähigkeit führender Erkrankungen wie Tumorleiden oder COPD ist das Konzept des advanced care planning bekannt (Dingfield und Kayser). Dabei geht es darum, frühzeitig im Krankheitsprozess Informationen über Diagnose und Prognose zu kommunizieren, mit den Betroffenen Werte, Ziele und Ängste zu besprechen und auch die Meinung über lebenserhaltende oder -verlängernde Behandlungen und die Pflege am Ende des Lebens zu erfragen. Zudem gehört zum advanced care planning auch die Benennung von Vorsorgebevollmächtigten. In der Neurologie ist mir das seit Anbeginn meiner Tätigkeit von der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS, Link Wikipedia) bekannt, wo das – meiner Erfahrung nach – überall sehr vorbildlich und gründlich besprochen uns geplant wird. Besser sind wir Krankenhausärzte in den letzten Jahren beim Thema Demenzerkrankungen geworden, wobei den Löwenanteil immer noch Institutionen wie die Alzheimer-Gesellschaft übernehmen. Aber natürlich kann man solche Vorkehrungen und Gedanken über „den worst case“, bzw. das Lebensende „einfach so“ (Lum et al.), bzw. aktuell auf Grund der COVID-19-Pandemie treffen und dokumentieren. Darauf zielt auch die Autorengruppe um Priesemann et al. in ihrem aktuellen Strategiepapier in dem kurzen Abschnitt zum Thema advanced care planning ab (Link). Zu Beginn der COVID-Pandemie gab es immer wieder Berichte über eine „stille Triage“, z.B. hier. Mich hat das sehr geärgert, da oft nicht klar war, ob nicht eigentlich was sehr gutes passiert ist, nämlich, dass sich Menschen im Vorhinein Gedanken zu möglichen Verläufen von COVID-19 gemacht haben und sich (oder ihre Vorsorgebevollmächtigten) bewusst gegen Hospitalisierungen entschieden haben, was häufig nicht differenziert dargestellt wurde.

Spannungsfeld medizinische Indikation, Patientenwillen und Wünsche von Angehörigen

Jetzt kommen wir auf den Eingangs zitierten Tweet von doc_ecmo zurück. Eigentlich ist es ganz einfach: Eine medizinische Behandlung ist indiziert,

  • wenn sie medizinisch sinnhaft ist, da sie hilft das jeweilige Therapieziel zu erreichen
  • und sie dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen entspricht.

Das A und O ist dabei das Therapieziel. Das braucht es als Grundvorraussetzung. Fehlt einer der Punkte ist die Behandlung nicht indiziert.

Wie so oft, wenn es eigentlich ganz einfach scheint, ist es im wahren Leben dann unendlich komplizierter. Nähren wir uns dem mal an:

„Die Angehörigen wollen aber das alles gemacht wird“

Ein ganz reales Beispiel: Es wird eine 84-jährige Patientin mit einer schweren Hirnblutung links aufgenommen. Die Patientin war bislang selbstversorgend, lag nun hilflos in ihrer Wohnung und wurde durch Feuerwehr und Rettungsdienst geborgen. Klinisch ist die Patientin flach komatös, auf Schmerzreize wehrt sie mit der linken Körperhälfte ungezielt ab. In der CT-Untersuchung sieht man einen Einbruch der Hirnblutung in das Ventrikelsystem und einen beginnenden Liquoraufstau.

CT mit großer ICB linkshemisphäriell mit Einbruch in das Ventrikelsystem

Rasch nach Aufnahme kommt es zu einer weiteren klinischen Verschlechterung, die Patientin beginnt sich zu erbrechen, ist psychomotorisch unruhig, wirkt gequält. Eine erneute CT zeigt eine große Zunahme der Blutung. Es ist klar, die Patientin wird an der Blutung versterben. Die Stationsärztin spricht mit den Angehörigen und kommt aus dem Gespräch mit der Aussage zurück „die Angehörigen wollen aber das alles gemacht wird“. Der Fall hat sich so ähnlich wirklich zugetragen (hab ihn etwas verfremdet) und ich war bei dem Gespräch nicht dabei, aber hier ist offenbar einiges schief gelaufen.

Fangen wir mal vorne an: Wir brauchen immer ein Therapieziel, müssen also die Frage beantworten, was wir mit unseren Maßnahmen bewirken können und wollen. In diesem Fall können wir die Hirndrucksymptomatik und anzunehmenden Kopfschmerzen lindern, die Prognose der Blutung ist infaust, es gibt außer Palliation kein übergeordnetes Therapieziel mehr. Dementsprechend ist auch eine Intubation und Hirndrucktherapie nicht mehr indiziert.

Damit sind die anderen Punkte hinfällig, sowohl die Frage nach dem in diesem Fall nicht mehr zu ermittelnde Willen der Patientin, als auch der Wunsch der Angehörigen nach einer Maximaltherapie. Damit kommen wir zum nächsten Punkt.

Patienten- oder Angehörigenwille?

Besteht eine medizinische Indikation muss die Behandlung zudem dem Patientenwillen entsprechen. Das ist immer dann einfach, wenn Patienten auskunfts- und einwilligungsfähig sind, oder wenn im Rahmen eines advanced care planning Therapieverfahren vorbesprochen sind. Es ist immer dann schwierig, wenn Patienten nicht (mehr) auskunftsfähig sind. Die Aufgabe der Vorsorgebevollmächtigten – und auch von gesetzlichen Betreuern – ist dann, im Sinne des Patienten zu entscheiden. Und das ist ein Thema bei dem es oft viel Fingerspitzengefühl bedarf, vor allem wenn es um Familienangehörige geht, die die Vorsorgevollmacht haben. Hier mischt sich nämlich sehr schnell ein dokumentierter tatsächlicher oder mutmaßlicher Patientenwille mit Trauer und Krankheitsverarbeitung von Angehörigen. Die Aufgabe im Sinne seines Angehörigen und nicht den eigenen Gefühlen nach zu entscheiden – vor allem, wenn sie plötzlich und unerwartet kommt – ist für viele Menschen sehr herausfordernd. Helfen können hier ruhige, auch wiederholte Gespräche, die Herausnahme von Druck („wir müssen das heute nicht entscheiden, aber es wäre gut, wenn Sie im Familienrat sich noch einmal dazu besprechen“) und auch Ethik-Konsile, wie es sie in vielen Krankenhäusern gibt.

Therapielimitierungen

Nehmen wir den Fall von vorhin noch einmal und ändern die Geschichte etwas: Die Patientin ist wach, aber neurologisch weiterhin schwerst betroffen. Es kommt zu keiner Nachblutung, die Blutung bleibt stabil. Es existiert die Standard-Vordruck-Patientenverfügung, die den konkreten Fall nicht hinreichend genau beschreibt. Die vorsorgebevollmächtigten Angehörigen tun sich mit einer Entscheidung, welche Therapien erfolgen sollen, extrem schwer. Sicher ist, dass eine Behandlung auf der Intensivstation, eine Reanimation oder eine Dialyse angesichts der Schwere der Grunderkrankung nicht im Patientensinne seien. Zudem geht aus der Patientenverfügung hervor, dass die Patientin eine dauerhaft künstliche Ernährung in einem Zustand völliger Pflegeabhängigkeit nicht gewünscht hätte. Es wird daher besprochen, dass die Patientin auf der Stroke Unit verbleibt, die Therapielimitierungen (keine Intensivstation, keine Reanimation, keine Dialyse, keine PEG-Sonde) werden besprochen. Es findet die übliche frührehabilitative multimodale Behandlung auf der Stroke Unit statt. Im Verlauf gelingt eine Mobilisation der Patientin in den Pflegerollstuhl, sie kann eine angepasste Dysphagie-Kost zu sich nehmen, nach 10 Tagen erfolgt die Verlegung in eine geriatrische Klinik. Dennoch wird die Patientin auch nach der geriatrischen Behandlung schwer betroffen in eine Pflegeeinrichtung entlassen.

Derartige Therapielimitierungen stellen einen guten Mittelweg – zwischen Maximaltherapie und reiner Palliation – in nicht hochakuten Phasen kritischer Krankheiten dar, gerade wenn der weitere Genesungs- oder Krankheitsweg hochbetagter Patienten noch nicht absehbar sind.

Reevaluation von Therapieentscheidungen

Eine einmal getroffene Therapielimitierung, aber auch die Entscheidung zu einer Maximaltherapie kann man jederzeit revidieren. Dies ist in Gesprächen mit Angehörigen von Patienten ebenfalls wichtig zu vermitteln. Nehmen wir noch mal die Patientin aus dem Fallbeispiel. Im Pflegeheim kommt es nach kurzer Zeit zu einer Verweigerung der Nahrungsaufnahme durch die Patientin, auch lehnt sie die dort angebotenen physiktherapeutischen und logopädischen Therapieeinheiten zunehmend ab, lässt sich kaum noch in den Pflegerollstuhl mobilisieren. In Reevaluation der Gesamtsituation wird entschieden, etwaige Komplikationen im weiteren Krankheitsverlauf nicht mehr zu behandeln. Die Patientin entwickelt eine Lungenentzündung und verstirbt.

Das geht genausogut in die andere Richtung, auch wenn es erfahrungsgemäß bei hochaltrigen Patienten selten vorkommt, dass sich im Verlauf zu einer Ausweitung der therapeutischen Bemühungen entschieden wird.

Gesetzlich betreute Patienten und das BGH-Urteil von 2019

Kommen wir zum worst case Szenario für alle Beteiligten. Gibt es keine Vorsorgevollmacht und ist ein Patient nicht einwilligungsfähig, muss ein gesetzlicher Betreuer bestellt werden. Da Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten sehr oft zusammen ausgestellt werden, gibt es in solchen Fällen meist keinen dokumentierten Patientenwillen.

Das bedeutet aber auch, dass nichts darüber bekannt ist, welche medizinischen Maßnahmen der Patient gewünscht hätte und welche nicht. Formal-juristisch gilt dann – spätestens seit dem schon erwähnten BGH-Urteil – meistens, dass eine Maximaltherapie durchgeführt wird, selbst in relativ aussichtslosen Fällen, nicht aber in absolut aussichtslosen Fällen, doch dazu gleich noch mal.

Kurz zum BGH-Urteil (Link). Dabei ging es um eine Konstellation, in der ein schwerst dementer Mann per PEG-Sonde ernährt wurde, da über seinen Willen nichts bekannt war. Jahre später klagte dann sein Sohn gegen den Hausarzt des Patienten, der die Sondenkost verordnet hatte auf Schmerzensgeld, da seit mehreren Jahren keine Indikation zur PEG-Behandlung bestanden hatte. Die Juristerei dahinter ist komplex, höchstrichterliche Rechtsprechung ist aber nun folgende Formulierung:

Das menschliche Leben ist ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Das Urteil über seinen Wert steht keinem Dritten zu. Deshalb verbietet es sich, das Leben – auch ein leidensbehaftetes Weiterleben – als Schaden anzusehen (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Auch wenn ein Patient selbst sein Leben als lebensunwert erachten mag mit der Folge, dass eine lebenserhaltende Maßnahme gegen seinen Willen zu unterbleiben hat, verbietet die Verfassungsordnung aller staatlichen Gewalt einschließlich der Rechtsprechung ein solches Urteil über das Leben des betroffenen Patienten mit der Schlussfolgerung, dieses Leben sei ein Schaden.

Über das Urteil ist viel und kontrovers diskutiert worden. Im klinischen Alltag kommt es vielen entscheidungsvermeidend und mutlos vor und als mehr Leiden als Linderung verschaffend. Ich denke, man muss es auch im Kontext der Historie Deutschlands und die Anmaßung über lebenswertes und unwertes Leben im dritten Reich sehen. Schwierig kommt es mir dennoch oft vor. Aber es beschreibt einen sehr speziellen Fall, bei dem es rückwirkend um Schadensersatzansprüche geht. Parallel existiert ein Urteil des BGH von 2010, wo es um die unmittelbare Fortführung von Therapieverfahren in aussichtslosen Situationen geht. Erbguth und Erbguth fassen es wie folgt zusammen:

Die Beendigung von lebenserhaltenden Therapien wie Beatmung, Ernährung, Dialyse und Kreislaufstützung ist erlaubt, wenn keine Indikation und/oder Einwilligung (mehr) besteht. Ihre Fortführung ohne Indikation oder Einwilligung entspräche sogar dem Tatbestand der Körperverletzung.

Es ist demnach durchaus möglich, auch bei gesetzlich betreuten Patienten Therapiemaßnahmen einzuschränken, wenn keine medizinische Sinnhaftigkeit besteht. Und es ist nicht so, dass das nicht auch passiert. Es ist nur deutlich aufwändiger, bedarf viel Kommunikation mit dem Betreuungsgericht und dem gesetzlichen Betreuer und häufig auch externen ärztlichen Gutachten und damit ist es dann auch langwieriger.

Spezielle Fragestellungen

PEG bei Demenzerkrankungen

Soll Patienten mit einer Demenz und einer Schluckstörung eine PEG-Sonde gelegt werden? Oder ist es der Weg einer Demenzerkrankung, dass die Betroffenen irgendwann das Bedürfnis zu Essen und zu Trinken verlieren? Über diese Frage gibt es im klinischen Alltag immer mal wieder Streit, aber eigentlich ist es ziemlich sinnvoll interdisziplinär vereinbart worden. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft hat hierzu ein überschaubares Merkblatt erstellt (Link), zudem lohnt sich diese ethische Fallbesprechung im Ärzteblatt zu lesen: Link.

Zusammenfassend kann man sagen, besteht eine leicht- oder mittelschwere Demenz und die Schluckstörung resultiert aus einer anderen Ursache, z.B. einem Schlaganfall, wird bei sonst guter Lebensqualität eine PEG-Sonde in der Regel als indiziert angesehen.

Besteht eine fortgeschrittene Demenzerkrankung und die PEG-Sonde ergibt sich ausschließlich aus dieser Indikation (wie bei dem Patienten aus dem BGH-Urteil von 2019), wird von einer PEG-Anlage abgeraten.

Prognose hochaltriger Menschen in der neurologischen Frührehabilitation

Nehmen wir noch einmal die Patientin aus dem Fallbeispiel mit der schweren Hirnblutung. Wenn sie derart schwer betroffen ist, stellt sich bei der Planung der Weiterversorgung die Frage, ob nicht eine Frührehabilitationsbehandlung durchgeführt werden soll. Oft wird das von den Angehörigen gewünscht und von den Kollegen auf der Stroke Unit unterstützt. Was dabei schnell in Vergessenheit gerät ist, dass Alter (OR pro Dekade 1,5) neben männlichem Geschlecht einer der wichtigsten Prädiktoren für ein schlechteres Outcome in der Frührehabilitation sind (Pohl und Bertram, Seidel et al.).

Kurz gesagt, die Chancen der Patientin mit einer Frührehabilitation ein signifikant anderes Funktionsniveau als ohne Frühreha zu erreichen sind relativ schlecht, das Outcome (Versorgung in einer Pflegeeinrichtung, überwiegend vollkompensatorische pflegerische Versorgung) kann auch schon in der akuten Erkrankungsphase sicher vorausgesagt werden. Dies begründet dann die Altersgrenzen, die es in manchen Frührehabilitationseinrichungen gibt (z.B. keine Patienten > 80 Jahre), genau wie es derartige Grenzen auch bei vielen neurochirurgischen Eingriffen aus eben der selben Überlegung und Datenlage gibt.

Wo man weiterlesen kann

Lum, H. D., Sudore, R. L., & Bekelman, D. B. (2015). Advance Care Planning in the Elderly. Medical Clinics of North America, 99(2), 391–403. https://doi.org/10.1016/j.mcna.2014.11.010

Erbguth, F., & Erbguth, L. (2016). Therapieentscheidungen am Ende des Lebens. DMW – Deutsche Medizinische Wochenschrift, 141(20), 1484–1496. https://doi.org/10.1055/s-0042-114087

Pohl, M., & Bertram, M. (2016). Wirksamkeit der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation. Der Nervenarzt, 87(10), 1043–1050. https://doi.org/10.1007/s00115-016-0183-0

Dingfield, L. E., & Kayser, J. B. (2017). Integrating Advance Care Planning Into Practice. Chest, 151(6), 1387–1393. https://doi.org/10.1016/j.chest.2017.02.024

Fleischmann-Struzek, C., Mikolajetz, A., Reinhart, K., Curtis, J. R., Haase, U., Thomas-Rüddel, D., Dennler, U., & Hartog, C. S. (2019). Hospitalization and Intensive Therapy at the End of Life. Deutsches Aerzteblatt Online, 116(39), 653–660. https://doi.org/10.3238/arztebl.2019.0653

Seidel, G., Röttinger, A., Lorenzen, J., Kücken, D., Majewski, A., Klose, K., Terborg, C., Klass, I., Wohlmuth, P., Zukunft, E., & Debacher, U. (2019). Lebensqualität und Behinderung nach schwerem Schlaganfall und neurologischer Frührehabilitation. Der Nervenarzt, 90(10), 1031–1036. https://doi.org/10.1007/s00115-019-0740-4

Hoffmann, F., & Allers, K. (2021). Krankenhausaufenthalte von Pflegeheimbewohnern in der letzten Lebensphase: eine Analyse von Krankenkassenroutinedaten. Zeitschrift Für Gerontologie Und Geriatrie, 54(3), 247–254. https://doi.org/10.1007/s00391-020-01716-3