Ich lese (vor allem bei Twitter) immer wieder als Begründung für den Wunsch nach Beibehaltung der Corona-Maßnahmen (die ja eigentlich nicht-pharmazeutische Interventionen (NPI) heißen), dass man Angst oder Sorge vor Long Covid auch als geimpfter Mensch habe. Und ich frage mich dann (auch immer wieder), ob das eigentlich eine rationale Angst oder Sorge ist.
Disclaimer: Ich kenne eine geimpfte Person, die sich mit Omikron infiziert hat und nun Beschwerden hat, die ich unter Long Covid subsumieren würde. Von daher, abwegig ist der Gedanke Long Covid zu bekommen nicht.
Disclaimer 2: Ich hantiere hier mit absoluten Risiken, nicht mit relativen.
Ich hatte mir schon vor einiger Zeit überlegt, dass das sinnvollste für mich persönlich wäre, das Erkrankungsrisiko mit den Erkrankungen zu vergleichen, mit denen ich es tagtäglich zu tun habe und bei denen ich sicher bin, dass ich sie nicht haben will, weil sie einen relevanten Impact auf mein tägliches Leben hätten.
Hier ist also meine Recherche, wenn ihr sie lesen wollt nur zu, sonst lest lieber zum Beispiel diesen Beitrag über das Demenz-Risiko von Fußballprofis Link.
Das Long Covid-Risiko
Das Schwierigste war es, sich auf ein Long Covid-Erkrankungsrisiko festzulegen, da hier – bekanntermaßen – ja sehr heterogene Häufigkeitsangaben auftauchen. Auch ist Long Covid nicht gleich Long Covid (hier gibt es eine was die Studien betrifft leicht veraltete, aber in den Grundzügen immer noch aktuelle Beitragsserie dazu (Link)) und ein großer Teil der Betroffenen hat für einen gewissen Zeitraum nach der Infektion noch Beschwerden und ein deutlich kleinerer sehr viel länger bis dauerhaft. Auch weiß ich aus eigener Erfahrung, dass ich nach meiner COVID-Infektion Ende 2020 mehr als vier Wochen nicht richtig riechen und schmecken konnte (was formal Long Covid-Kriterien erfüllt hätte) und noch ewig einen fiesen Reizhusten hatte (den ich aber nach jedem Infekt ewig lang habe und irgendwann mit Cortison-Spray beende).
Was einem zudem auch niemand bislang verlässlich sagen kann ist, wie es sich mit dem Long Covid-Risiko nach den zu erwartenden Reinfektion 2-x verhält, einfach weil es recht wenig Reinfektionen gibt, mit denen man das untersuchen kann. Es gibt aber ein paar Hinweise, die man verwenden kann: Das Long Covid-Risiko scheint stark von der Krankheitsschwere abzuhängen, je schwerer der Verlauf war, umso wahrscheinlicher sind länger anhaltende Beschwerden. Und Reinfektionen verlaufen bei den meisten Betroffenen, gerade wenn sie geimpft sind, deutlich leichter als Primärinfektionen bei Ungeimpften. Prinzipiell kennen wir mittlerweile neben der initialen Krankheitsschwere auch weitere Hauptrisikofaktoren für Long Covid: Weibliches Geschlecht, komorbide psychiatrische Erkrankungen, erhöhter ANA-Titer als Ausdruck eines autoimmunologischen Geschehens, hoher BMI/Diabetes mellitus, EBV/CMV-Reaktivierung (z.B.: Su Y, Yuan D, Chen DG, et al. Multiple early factors anticipate post-acute COVID-19 sequelae. Cell. 2022;185(5):881-895.e20. doi:10.1016/j.cell.2022.01.014 oder Crook, H., Raza, S., Nowell, J., Young, M., & Edison, P. (2021). Long covid—mechanisms, risk factors, and management. iBMJ, n1648. https://doi.org/10.1136/bmj.n1648).
Nach vielem hin-und-her-Überlegen hab ich mich für dieses israelische Preprint entschieden, einfach weil es relativ aktuell ist, weil es relativ „großzügig“ mit der Long Covid-Diagnose umgeht und dementsprechend hohe Prävalenzen bietet (und so ein worst-case-Szenario darstellen könnte) und weil es geimpfte und ungeimpfte Probanden mit COVID-19 mit einer Kontrollgruppe ohne COVID-19 vergleicht:
Kuodi P, Gorelik Y, Zayyad H, et al. Association between Vaccination Status and Reported Incidence of Post-Acute COVID-19 Symptoms in Israel: A Cross-Sectional Study of Patients Tested between March 2020 and November 2021. Epidemiology; 2022. doi:10.1101/2022.01.05.22268800
Von den COVID-Infizierten ohne Impfung gaben 35% in der Studie anhaltende Beschwerden nach der Infektion an. Am häufigsten wurde eine anhaltende Müdigkeit, also Fatigue angegeben (26%), diese wurde aber auch von 18% der Nicht-Infizierten berichtet. 22% der Infizierten und 16% der Nicht-Infizierten berichteten von Kopfschmerzen, 16% (8% Kontrollgruppe) von einem Schwächegefühl der Beine, 11% (4%) von Muskelschmerzen, 12% (6%) von Konzentrationsstörungen, 13% (4%) von Haarausfall, 10% (8%) von Schlafstörungen, 8% (6%) von Husten und 8% (3%) von Kurzatmigkeit.
Das bedeutet, dass das absolute Risiko Long Covid-Beschwerden im Vergleich zu einer nicht-infizierten Kontrollgruppe zu entwickeln, ungefähr 9% mehr nach Infektion auftraten, als in der Normalbevölkerung eh vorhanden. Bei vollständig Geimpften mit einer COVID-Infektion (im Studienzeitraum waren das noch zwei Impfungen) waren die Symptome zwischen 54% und 82% seltener (CAVE, das ist jetzt ein relatives Risiko) als bei Ungeimpften und – merkwürdigerweise – bei allen Symptomen bis auf Muskelschmerzen, anhaltendem Husten und Kurzatmigkeit sogar seltener als bei Nicht-Infizierten.

Über den Daumen gepeilt muss ich also als geimpfter, übergewichtiger Mann mittleren Alters mit einem Long Covid-Risiko von so 5% nach einer COVID-Infektion rechnen.
Die Vergleichs-Erkrankungen
Wie ich oben schon geschrieben habe, habe ich mal die neurologischen Erkrankungen mit denen ich es am häufigsten zu tun habe herausgesucht, die einen relevanten Impact auf mein tägliches Leben hätten. Ich habe zusätzlich noch den Diabetes mellitus hinzugenommen, da ich als kleiner Dicker da sicherlich ein relevantes Risiko für habe und weil ein Diabetes im Vergleich z.B. zu Bluthochdruck deutlich mehr Lebensstilveränderungen erfordert.
Ich habe hier – wenn es ging – nach den Lebenszeitprävalenzen gesucht, also dem Risiko irgendwann im Leben diese Erkrankung zu bekommen. Der Vergleich mit Long Covid haut dann nicht hin, wenn man jetzt mehrfach im Leben Long Covid bekommen sollte. Aber ob das überhaupt ein realistisches Szenario ist, weiß wirklich niemand (siehe oben).
Schlaganfall
Die Lebenszeitprävalenz einen Schlaganfall zu erleiden, liegt ungefähr bei 25%:
The GBD 2016 Lifetime Risk of Stroke Collaborators. Global, Regional, and Country-Specific Lifetime Risks of Stroke, 1990 and 2016. N Engl J Med. 2018;379(25):2429-2437. doi:10.1056/NEJMoa1804492
Diabetes mellitus
Das Risiko an einem Diabetes mellitus zu erkranken hängt extrem von den Lebensumständen, dem Körpergewicht, Geschlecht, Alter und der ethnischen Zugehörigkeit ab, liegt aber zwischen 20% und 40% Lebenszeitprävalenz.
Narayan KMV. Lifetime Risk for Diabetes Mellitus in the United States. JAMA. 2003;290(14):1884. doi:10.1001/jama.290.14.1884
Epilepsie
Die Lebenszeitprävalenz für eine Epilepsie liegt nach einer aktuellen Studie bei 7,6/1.000 Personen:
Fiest KM, Sauro KM, Wiebe S, Patten SB. Prevalence and incidence of epilepsy. Published online 2016:8.
Hirntumore
4-5/1.000 beträgt das Lebenszeit-Erkrankungsrisiko für einen bösartigen hirneigenen Tumor, also ein Gliom oder ein Astrozytom. Für Krebserkrankungen ganz allgemein gibt es Daten zur 10-Jahres-Prävalenz (also, wie viele Menschen innerhalb von 10 Jahren an einem bösartigen Tumor erkranken). Diese liegt bei Männern bei 0,1% und bei Frauen bei 0,04% (Link), insgesamt leben in Deutschland 1,9% der Bevölkerung mit einer Krebsdiagnose (Link).
Rice T, Lachance DH, Molinaro AM, et al. Understanding inherited genetic risk of adult glioma – a review. Neuro-Oncology Practice. 2016;3(1):10-16. doi:10.1093/nop/npv026
Multiple Sklerose
Bei der MS wissen wir ja seit kurzem, dass eine durchgemachte EBV-Infektion kausal mit der Erkrankung zusammenhängt und nach EBV das MS-Erkrankungsrisiko bei ca. 1:900 liegt und nach durchgemachter infektiöser Mononukleose (also dem Pfeiffer’schen Drüsenfieber) bei 1:240. Da die Durchseuchung bei EBV bei 95% liegt, korreliert es mit der Prävalenzangabe aus anderen Studien von 0,1% Lebenszeitrisiko. Das ist natürlich deutlich seltener als Long Covid, ist (für mich) aber der Prototyp für eine lebenslang vorhandene, nicht kausal heilbare Erkrankung.
Bjornevik K, Cortese M, Healy BC, et al. Longitudinal analysis reveals high prevalence of Epstein-Barr virus associated with multiple sclerosis. Science. Published online January 21, 2022:1-10. doi:10.1126/science.abj8222
Wallin MT, Culpepper WJ, Nichols E, et al. Global, regional, and national burden of multiple sclerosis 1990–2016: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2016. The Lancet Neurology. 2019;18(3):269-285. doi:10.1016/S1474-4422(18)30443-5
Neurodegenerative Erkrankungen
Diese laufen für mich ein wenig außer Konkurrenz, da sie ja vor allem im höheren Lebensalter auftreten. Dennoch liegt die Lebenszeitprävalenz für eine Alzheimer-Erkrankung bei US-Bürgern zwischen 11,6% und 21,1% (Link) oder bei älteren Daten aus der Framingham Heart Study ab einem Lebensalter von 65 Jahren zwischen 25,5 % bis 28,1% Rest-Lebenszeitprävalenz.
Seshadri S, Wolf PA, Beiser A, et al. Lifetime risk of dementia and Alzheimer’s disease: The impact of mortality on risk estimates in the Framingham Study. Neurology. 1997;49(6):1498-1504. doi:10.1212/WNL.49.6.1498
Das idiopathische Parkinson-Syndrom ist seltener, hier liegt die Lebenszeitprävalenz zwischen 3,7% bei Frauen und 4,4% bei Männern, zumindest nach den Daten dieser auch schon 20 Jahre alten Studie:
Elbaz A, Bower JH, Maraganore DM, et al. Risk tables for parkinsonism and Parkinson’s disease. Journal of Clinical Epidemiology. 2002;55(1):25-31. doi:10.1016/S0895-4356(01)00425-5
Fazit
In der Welt der neurologischen Erkrankungen lautet das Ergebnis der Recherche für mich also: Es ist wahrscheinlicher, dass ich an einem Schlaganfall, einem Diabetes mellitus oder einer neurodegenerative Erkrankung im Alter erkranke als an Long Covid. Anders herum ist eine MS-Diagnose, eine Epilepsie und ein hirneigener bösartiger Tumor unwahrscheinlicher als Long Covid. Mein ganz persönliches Fazit ist, dass ich keine Sorge und keine Angst vor Long Covid habe, aber auch nicht aus allen Wolken fallen werde, wenn ich daran erkranke. Da ich aber mit den anderen hier zitierten Erkrankungsrisiken auch vor der COVID-19-Ära schon umgegangen bin, werde ich mich wegen des Long Covid-Risikos in meinem Privat- und Sozialleben nicht einschränken. Ganz im Gegenteil.
Das ist aber nur mein Fazit, das muss nicht eures sein. Zudem bin ich auch nicht der Typ, der große Teile seines Monatseinkommens für Versicherungen und Absicherungen zurücklegt, sondern da eher mit einem „Rumpf-Programm“ arbeitet. Außerdem kann es gut sein, dass die Berechnung, die ich für mich aufgemacht habe, am Ende „nicht richtig“ ist, aber am Ende machen für mich persönlich ein paar Prozent mehr oder weniger nicht den den Unterschied.
Vielen Dank für die Veröffentlichung deiner Ansichten(?), deines Wissens und deiner Gedanken!
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