Einleitung
Okay, doch noch ein COVID-Thema, aber nur so ein halbes. Ich halte es mal größtenteils COVID-frei, auch wenn die Tatsache, dass ich was dazu schreibe natürlich durch die Diskussion um Impfnebenwirkungen nach COVID-Schutzimpfungen getriggert ist. Ich werde mich mal auf das Thema neurologische Erkrankungen als Nebenwirkungen nach Impfungen konzentrieren, da ich davon am meisten verstehe, auch wenn bei den COVID-Impfungen sicherlich die kardiologischen Erkrankungen, v.a. die Perikarditis und Myokarditis das große Thema sind. Aber das Prinzip wie man an die Sache herangeht und wie man Impfnebenwirkungen bewertet bleibt sich gleich.
Die Sache mit den Nebenwirkungen
Impfreaktion vs. Impfnebenwirkung
Gemeinhin bezeichnet man als Impfreaktion die Dinge, die man nach einer Impfung als erwünschte Reaktion des Immunsystems auf die Aktivierung durch die Impfung werten kann, also Schmerzen an der Injektionsstelle, Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen. Impfnebenwirkungen sind Krankheitssymptome die erst einmal nicht zwanglos mit der Impfung zu tun haben und eine eigene Krankheit darstellen.
Unsere Toleranz gegenüber Nebenwirkungen divergiert
Die Begriffe Nebenwirkungen, Störwirkungen und auch unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) werden relativ deckungsgleich verwendet. Jede Behandlung – auch eine Placebobehandlung – hat immer UAW, d.h. es werden bei einem Teil der Behandelten Symptome auftreten, die mit der Behandlung assoziiert werden. Hier ist es natürlich so, dass durchaus Beschwerden zeitlich korreliert mit der Behandlung vorhanden sein können, die eigentlich mit der Behandlung gar nichts zu tun haben, das gute alte Korrelation vs. Kausalität-Thema. Wenn ich nach einer Placebo-Schmerzmittel-Behandlung Halsschmerzen bekomme, hat das vermutlich mehr mit den gerade bei meinen Kindern grassierenden Kita- und Schulseuchen zu tun als mit der Behandlung. Wenn ich jetzt aber Bauchschmerzen oder Herzrasen oder einen epileptischen Anfall bekäme, wüssten wir nur über die Tatsache, dass ich ja eine Placebo-Behandlung erhalten habe, dass das nichts mit der Behandlung zu tun hat. Wäre ich jetzt in der Verum-Gruppe, sähe das schon anders aus. Trotzdem könnte es ja immer noch sein, dass ich auf Grund ganz anderer Ursachen Herzrasen, Bauchschmerzen oder den epileptischen Anfall bekommen habe.
Der zweite generelle Punkt ist, dass wir gemeinhin bereit sind, bei einer Akut-Notfallbehandlung ganz andere Nebenwirkungsraten und auch eine ganz andere Schwere von Nebenwirkungen zu tolerieren, als in der Sekundär- oder Primärprävention. Das heißt, wenn es „um Leben oder Tod“ geht (schlimmer Begriff, ich weiß) nehmen wir durchaus Behandlungen mit hopp oder top-Ausgang in Kauf. Bei einer Thrombektomiebehandlung bei einem großen ischämischen Schlaganfall kann alles gut gehen und dem Patienten geht es extrem schnell wieder extrem viel besser, das Gefäß kann aber auch zu bleiben, es kann ein sogar größerer Schlaganfall als der ursprünglich entstandene resultieren oder eine Hirnbasisarterie kann ein- oder abreißen, was bei den Fällen die ich mitbekommen habe, immer zum Tod des Patienten geführt hat. Bei einer i.v.-Thrombolyse bei einem Schlaganfall kann das Gefäß wieder aufgehen, es können aber auch schwere und auch tödliche Blutungskomplikationen an Stellen, an denen wir machtlos sind etwas dagegen zu tun auftreten. Das sind – weil ich die Studie gerade zur Hand habe (Link) – bei eine Thrombolyse in einem erweiterten Zeitfenster nach mehr als 4,5 Stunden z.B. durchaus schwere Blutungskomplikationen bei 5% der Probanden gegenüber 1% in der Placebogruppe oder eine Mortalität von 14% in der Behandlungsgruppe gegenüber 9% in der Placebogruppe, aber eben mit der Chance eines sehr guten Outcomes von 36% in der Behandlungsgruppe gegenüber 29% in der Placebogruppe.
Das sind Größenordnungen und -schwere von Nebenwirkungen die niemand von uns akzeptieren würde, wenn es um die Sekundärprävention ginge. Wenn ich nach einem Herzinfarkt oder bei einer Hypertonie einen Betablocker einnehme und mir schwindelig wird und ich Potenzprobleme bekomme, werde ich den ziemlich sicher nicht mehr nehmen, auch wenn mich beides nicht umbringen wird, im Gegensatz zu einem neuen Herzinfarkt. Und noch strenger – das macht aber auch Sinn – ist unsere Nebenwirkungsbereitschaft in der Primärprävention, also wenn ich ein Medikament nehme, um die Krankheit gar nicht erst zu bekommen. Das ist z.B. beim ASS so, was einen festen Stellenwert in der Sekundärprävention nach Herzinfarkt und Schlaganfall hat, was aber in der Primärprävention nicht empfohlen wird (Link), weil sich die geringe Risikoreduktion von 0,06 % pro Jahr mit dem erhöhten Risiko schwerer Blutungskomplikationen von 0,03% in ein nicht mehr signifikantes Maß verschlechtert, so dass die number needed to treat sich auf 270-330 (Männer/Frauen) verschlechtert, welche über sechs Jahre ASS einnehmen müssten um jeweils einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu verhindern. Impfungen sind Primärprävention par excellence. Das heißt, wir müssen einen viel besseren primärprophylaktischen Effekt als den von ASS bei einem möglichst geringen (aber eben nicht nicht-existenten) Nebenwirkungsprofil haben, damit die Impfung sinnvoll ist.
In der Summe heißt das aber auch, irgendwer wird nach einer Impfung auch UAW bekommen, auch wenn die Rate auf die Grundgesamtheit der Geimpften sehr niedrig ist. Und wenn diese schwer verlaufen ist es für den jeweiligen Betroffenen und seine Angehörigen und Freunde total tragisch, bezogen auf „das große Ganze“ sind es dann aber Einzelfälle oder „Kollateralschäden“.
Last but not least – aber das ist vermutlich allen klar – gibt es natürlich ganz unterschiedliche Schweregrade von UAW, diese können naturgemäß von sehr leicht und klinisch kaum relevant bis sehr schwer und potentiell tödlich reichen. Da eine Impfung wie gesagt Primärprävention in Reinform ist, werden wir als Gesellschaft schwere Nebenwirkungen durch eine Impfung nicht bis nur in ganz geringem Maße tolerieren. Wirkstoffe mit schweren Nebenwirkungen nicht als Impfstoff zu verwenden, ist zum Einen die Aufgabe der Zulassungsbehörden, wenn ein neuer Impfstoff auf den Markt kommen soll, zum Anderen der Institutionen, die sich um das Thema Pharmakovigilanz kümmern.
Überwachung von Impfnebenwirkungen
Das Thema Überwachung von Impfnebenwirkungen und auch die Frage, wer das in welcher Art und Weise machen sollte und was die optimale Form der Kommunikation ist, um bei größtmöglicher Transparenz dennoch auch impfskeptische Menschen von einer Impfung zu überzeugen ist weder neu noch Corona-spezifisch noch „was sehr deutsches“. Das wurde auch in der Prä-COVID-Ära intensiv z.B. in den USA diskutiert (Spencer et al.). In Deutschland ist das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) für das Thema Pharmakovigilanz und damit auch für die Impfstoffsicherheit zuständig. Hier werden regelmäßig die berühmten Rote-Hand-Briefe über wichtige Medikamentennebenwirkungen oder Kontraindikationen veröffentlicht. Man kann sich da interessehalber mal durchklicken: Link. Zum Thema COVID-Impfstoffe gibt es gesonderte Sicherheitsberichte, die man hier findet: Link. Wichtig ist, die Zahlen, die dem PEI gemeldet werden sind Verdachtsfälle, also in der Regel Fälle, welche durch die zeitliche Assoziation einer Erkrankung mit der Impfung gegen COVID-19 entstehen. Der aktuelle Sicherheitsbericht schließt gemeldete Verdachtsfälle bis Ende September ein und findet sich hier: Link. Weiter unten gehen wir da noch einmal auf ein paar Punkte ein.
Klassische neurologische UAW nach Impfungen
Klassischerweise erwartet man drei verschiedene neurologische Impfnebenwirkungen, die alle aber den selben Hintergrund haben: Durch die Impfung kommt es zu einer Aktivierung des Immunsystems mit dann teilweise überschießender Immunantwort, bzw. zu einer Überlappung der gegen die Erkrankung gegen die geimpft wurde gebildeten Antikörper mit körpereigenen Eiweißketten, welche von den Antikörpern fälschlicherweise als körperfremd erkannt werden (molekulares Mimikry, Link Wikipedia). Dementsprechend handelt es sich um autoimmun vermittelte Entzündungen an den drei verschiedenen Stellen des Nervensystems:
- Die akute demyelinisierende Enzephalomyelitis (ADEM), die ich schon mal im SSPE-Artikel beschrieben hatte
- Die häufigste postvaccinale Entzündung, die Myelitis, also die Entzündung des Rückenmarks
- Die Entzündung peripherer Nerven und/oder der Nervenwurzeln, häufig als fulminant und generalisiert verlaufendes Guillain-Barré-Syndrom (Link Wikipedia), durchaus aber auch als Entzündung einzelner Nervenwurzeln (Radikulitis) oder einzelner Hirnnerven (Neuritis cranialis)
Akute demyelinisierende Enzephalomyelitis (ADEM)
Als ADEM versteht man eine monophasisch verlaufende Entzündung des Marklagers des Gehirns, welche spontan, nach einem Infekt oder auch nach einer Impfung auftreten kann (Stüve et al.). Die ADEM verursacht – anders als die Multiple Sklerose – in der Regel großflächige multifokale Entzündungen. Je nach Lokalisation variieren die neurologischen Ausfälle, zudem werden enzephalopathische Symptome wie Bewusstseinsstörungen und epileptische Anfälle beschrieben.
Eine ADEM nach Impfung scheint eher ein Phänomen des jüngeren Lebensalters zu sein (Torisu et al.), allerdings werden natürlich Kinder und Jugendliche auch viel mehr und gegen viel verschiedenere Erreger geimpft als Erwachsene.
Behandelt wird die ADEM – wie andere autoimmun-vermittelte ZNS-Entzündungen auch – zunächst einmal mit Steroiden. Die Letalität der ADEM liegt unbehandelt bei ungefähr 30%, behandelt deutlich niedriger. Die Prognose gilt gemeinhin als gut, wenn auch durchaus neurologische Residualsymptome nach durchgemachter ADEM beschrieben werden. Die MRT-Auffälligkeiten bilden sich meistens innerhalb von drei Monaten zurück.
Allerdings besteht hier ein deutliches Korrelations-Kausalitäts-Problem und in verschiedenen Studien und Metaanalysen konnte keine klare Kausalität hergestellt werden, auch weil die Fallzahlen bei parallel sehr hohen Zahlen geimpfter eingeschlossener Probanden sehr niedrig waren (z.B. Baxter et al., Huynh et al.).
Myelitis
In verschiedenen Papern wird die Rückenmarksentzündung, die Myelitis als „kleine Schwester“ der ADEM verstanden, halt nur im Rückenmark statt im Gehirn. Ganz unplausibel ist es nicht, auch da auch die postvaccinalen Myelitiden in der Regel monophasisch und unter Steroidbehandlung recht gutartig verlaufen. Die Symptomatik ist entsprechend der Lokalisation eine meist inkomplette Querschnittslähmung.
Die Myelitis nach Impfung ist deutlich häufiger als eine ADEM, insbesondere nach Influenza-Impfungen sieht man immer mal wieder eine. Auch in der Zulassungsstudie des AstraZeneca-Impfstoffes gegen COVID-19 trat eine derartige Myelitis auf (Link), die in diesem Zusammenhang immer in den Medien etwas unbeholfen „Transverse Myelitis genannt wurde.
Auch bei der Myelitis gibt es ein Problem mit der Kausalitäts-Attributierung (Agmon-Levin et al.), da die Fallzahl klein ist und es eben ganz verschiedene Gründe für eine Myelitis gibt.
Guillain-Barré-Syndrom / Radikulitis / Neuritis cranialis
Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) bekommt noch einmal einen eigenen Blogbeitrag, so lange behelfe ich mir mit dem oben schon verlinkten Wikipedia-Eintrag (Link Wikipedia). Das GBS ist sicherlich eine schwere und auch lebensbedrohliche Erkrankung, die es – wie die anderen beiden Erkrankungen auch – spontan, nach Infekt oder eben nach Impfung geben kann. Beim GBS wird besonders stark das molekulare Mimikry (siehe oben) vermutet, bei dem es dann zu einer autoimmun vermittelten Entzündung der Nervenwurzeln und des ganz körperfernen Anteils der peripheren Nerven kommt. Radikulitis und Neuritis cranialis muss man als „kleine Geschwister“ verstehen, bei der eben nur eine oder wenige Nervenwurzeln oder Hirnnerven betroffen sind.
Die Behandlung von GBS-Patienten ist aufwändig, häufig werden sie intensivpflichtig, benötigen eine Therapie mit intravenösen Immunglobulinen (IVIG), teilweise auch einen Blutplasma-Austausch (Plasmapherese), die Erholungszeiten lang und häufig nur inkomplett.
Und wen wundert es – untersucht man es explizit – gibt es auch hier ein Problem mit dem Thema Assoziation vs. Korrelation (Principi et al.)
Die Behandlung autoimmunvermittelter Radikulitiden oder Hirnnervenneuritiden ist einfacher, meistens reichen Steroide, die Klinik ist in der Regel weniger schwer, die Erholung rascher und besser. Eine Hirnnervenneuritis wurde nach BionTech-Impfung gegen COVID-19 beschrieben (Narasimhalu et al.). Eine zeitlang galten periphere Fazialisparesen als mögliche Impfnebenwirkung nach mRNA-Impfstoff-Impfung, diese tauchen in den PEI-Sicherheitsberichten aber nicht mehr auf.
Ungewöhnliche Nebenwirkungen
Deutlich schwieriger in der Identifikation als Impfnebenwirkung ist das Auftreten von Erkrankungen, mit denen keiner vorher als Impf-UAW gerechnet hat. Berühmtes Beispiel sind die vermehrten Narkolepsie-Fälle nach der Impfung gegen die Schweinegrippe (Edwards et al.) oder die Sinus- und Hirnvenenthrombosen nach AstraZeneca-Impfung bei jüngeren Impflingen (VITT), der Blogartikel dazu kommt mir mittlerweile schon uralt vor: Link. Weil keiner damit gerechnet hat, dauert die Zeit bis zur Identifikation als Impf-UAW in der Regel länger als bei den „erwartbaren“ UAW.
Spätfolgen einer Impfung
Gerade bei dem Thema COVID-Impfstoffe, die es halt einfach noch nicht so lange gibt, kommt immer wieder der Aspekt von Spätfolgen einer COVID-Impfung auf. Gemeint ist damit, dass man jetzt geimpft wird und dann in 20 Jahren oder so vielleicht ein erhöhtes Krebserkrankungsrisiko oder eine gesteigerte kardiovaskuläre Mortalität oder – das höre ich beim Thema Kinderimpfung immer wieder – an Unfruchtbarkeit leiden könnte. Das typische – und m.E. auch richtige – Gegenargument ist, das Impfstoffe sich ja erheblich von anderen Medikamenten, die wir regelmäßig einnehmen unterscheiden, eben weil sie nur ein paar Mal im Leben (oder maximal einmal jährlich) appliziert werden und damit eben nicht mit z.B. Immunsuppressiva – für die derartige Dinge ja beschrieben sind – vergleichbar sind. Immer wieder betont wird, dass die typischen „Langzeitfolgen“ einer Impfung in den ersten Wochen bis Monaten nach Impfung auftreten, auch die gerade erwähnten seltenen Erkrankungen. Ich verlinke hier mal den Thread von Carsten Watzl, der das exemplarisch noch mal erklärt:
(1) Nachdem ich mich heute bei der dpa zu Langzeitfolgen bei Impfungen geäußert habe, fühlen sich viele Menschen dazu berufen, mir per Email die 'Wahrheit' mitzuteilen. Daher hier mal ein 🧵
Spoiler: Vor Langzeitfolgen der COVID-19 Impfung muss man keine Angst haben!
(2) Was sind Langzeitfolgen bei Impfungen? Dazu habe ich schon im Januar in der ersten Watzl Weekly Folge aufgeklärt.
Watzl Weekly 1 [20.01.2021]: Immunologie-Updates für beruflich Pflegende…
(3) Viele Menschen verstehen darunter Nebenwirkungen, die erst viele Monate oder Jahre nach einer Impfung auftreten. Und bei der schnellen Entwicklung der Impfstoffe wäre das natürlich ein Problem. Aber das ist falsch!
(4) Langzeitfolgen bei Impfungen sind seltene Nebenwirkungen, die häufig erst nach längerer Zeit mit der Impfung in Zusammenhang gebracht werden. ABER: Diese Nebenwirkungen treten innerhalb weniger Wochen nach der Impfung auf!
(5) Denn die Impfung erzeugt ein Immunreaktion. Diese ist nach wenigen Wochen abgeschlossen und der Impfstoff ist aus dem Körper verschwunden. Daher passieren Nebenwirkungen immer recht kurz nach der Impfung!
(6) Beispiel Narkolepsie nach Impfung gegen Schweinegrippe.
https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0033536
Auch hier traten die Nebenwirkungen innerhalb weniger Wochen nach der Impfung auf! Es hat aber länger gedauert, bis man das einem der Grippeimpfstoffe zugeordnet hatte.

(7) Beispiel Dengue Impfung. Hier haben sich krankheitsverstärkende Antikörper erst nach 3 Jahren gezeigt? NEIN! Diese sind direkt nach der Impfung aufgetreten, es hat nur 3 Jahre gedauert, bis man den Zusammenhang hergestellt hatte.
(8) Also: Nebenwirkungen treten sehr bald nach der Impfung auf. So auch die Myokarditis, die innerhalb von 5 Tagen nach der zweiten mRNA Impfung auftreten kann. Warum dauert es dann so lange, bis manchmal der Zusammenhang hergestellt ist? Weil es seltene Ereignisse sind!
(9) Beispiel Myokarditis. Diese tritt auch ohne Impfung recht häufig gerade bei männlichen Kindern und Jugendlichen auf. Würden wir bei dieser Gruppe nur 1 Mio COVID-19 Impfungen pro Jahr machen, würde es Jahre brauchen, bis man die Nebenwirkung erkannt hätte.
(10) Aber genau hier ist der Vorteil, dass wir bei den COVID-19 Impfungen >100 Mio Dosen in Deutschland und >6 Mrd. Impfungen weltweit in relativ kurzer Zeit verabreicht haben: Auch die seltensten Nebenwirkungen werden rasch erkannt! Wir kennen die Langzeitfolgen!
(11) Worauf wollen Leute, die Langzeitstudien abwarten wollen, also noch warten? Auf eine noch seltenere Nebenwirkung, die nur bei einer bestimmten Bevölkerungsgruppe bei einem in 1 Mio Geimpften auftritt? So etwas kann man nie ausschließen.
(12) Aber das jetzt noch eine häufige Nebenwirkung auftritt, die erst in 1 Jahr erkannt wird, ist ausgeschlossen! Die Geimpften werden nicht nächstes Jahr alle unfruchtbar und bekommen alle Krebs! Dagegen kennen wir die 'Langzeitfolgen' von COVID-19 recht gut.
(13) Aufgrund eines Fehlers musste ich die erste Version dieses Treads löschen!
Originally tweeted by Carsten Watzl (@CarstenWatzl) on 24. Oktober 2021.
Durch die hohe Zahl an durchgeführten Impfungen haben wir eine sehr große Zahl an geimpften „Personenjahren“ und müssten nach allem medizinischen Sachverstand alle relevanten UAW bereits kennen (oder haben das Muster in den vorliegenden Daten schlimmstenfalls noch nicht erkannt).
Besonderheiten der COVID-Impfungen
Die Grundgesamtheit der Impflinge
Bei der Betrachtung möglicher Impf-UAW nach COVID-19-Impfung muss man eine ganz wichtige Besonderheit beachten: Wir impfen gerade die gesamte Bevölkerung (bzw. bis auf wenige Altersgruppen und Impfgegner) auf einmal. Sonst reden wir bei Impfungen von Kleinkindern, die geimpft werden (das ist im Vergleich zur Gesamtbevölkerung eine überschaubare Kohorte) oder über so Dinge wie Tetanus-Auffrischimpfungen, die man alle 10 Jahre mal bekommt. Selbst bei der jährlichen Grippeimpfung lag die Impfquote unter Gesundheitspersonal in Prä-Corona-Zeiten meist um 30% der zur Impfung aufgerufenen Personen.
Das heißt aber, dass auch alle Erkrankungen, die so in der Normalbevölkerung auftreten bei COVID-Geimpften auftreten. Und nur, wenn sich die Häufigkeit der Erkrankung nach Impfung von der in der Normalbevölkerung unterscheidet oder die Symptomatik sehr eindeutig mit der Impfung zu tun hat, bekommen wir in der derzeitigen Situation eine Ahnung davon, dass es sich um eine Impfnebenwirkung handeln dürfte. Und anders herum können wir noch weniger als sonst jede Erkrankung, die nach einer Impfung auftritt mit dieser assoziieren. Das ist für das Thema kardiovaskuläre Mortalität z.B. wichtig, welches immer wieder durch Corona-Twitter geistert und wo man sagen muss, erst einmal sollten die wahrscheinlicheren Assoziationen abgeklopft werden, z.B. eine Verknüpfung zu Bewegungsmangel, Fehlernährung und vermehrtem psychosozialen Stress durch Lockdown und Homeoffice.
Themen im aktuellen PEI-Sicherheitsbericht
Wenn man sich die Sicherheitsberichte anschaut, so sieht man, dass ein Großteil der gemeldeten Impfnebenwirkungen nach obiger Definition Impfreaktionen sind. Das was wir alle eigentlich mit dem Thema assoziieren sind die Events of special interest (AESI). Relativ präsent ist das Thema Perikarditis/Myokarditis, sowohl beim Abschnitt Impfung von Jugendlichen ab 12 Jahre (1 Fall auf 12.000-13.000 Zweitimpfungen bei Jungen und 1 Fall auf 210.000-250.000 Zweitimpfungen bei Mädchen, Daten bis 30.09.2021 erfasst), als auch bei der Impfung von Erwachsenen. Folgende dem Sicherheitsbericht entnommene Tabelle, aus der die starke Alters- und Geschlechtsabhängigkeit deutlich wird, finde ich sehr hilfreich:
Comirnaty | Spikevax | |||
Alter | M | F | M | F |
12-17 | 4,81 | 0,49 | 11,41 (nur 2 Fälle) | / |
18-29 | 4,68 | 0,97 | 11,71 | 2,95 |
30-39 | 1,88 | 1,11 | 4,67 | 1,12 |
40-49 | 1,12 | 0,93 | 2,13 | 0,80 |
50-59 | 0,71 | 0,77 | 0,99 | 0,91 |
60-69 | 0,38 | 0,29 | 0,31 | / |
70-79 | 0,47 | 0,25 | 0,50 | 0,45 |
> 89 | 0,18 | 0,13 | 0,47 | / |
Gesamt | 1,57 | 0,65 | 3,78 | 1,09 |
Auch zum Outcome finden sich hilfreiche Angaben, wichtig – auch angesichts der teilweise grassierenden Falschinformationen ist noch dieser Abschnitt:
Es wurden neun Todesfälle im zeitlichen Zusammenhang mit der COVID-19- Impfung und einer Myo-/Perikarditis gemeldet: sechs Männer und drei Frauen im Alter von 35 bis 84 Jahren. Fünf Meldungen bei drei Frauen und zwei Männern mit einem mittleren Alter von 70 Jahren (58 -84 Jahre) bezogen sich auf Comirnaty, davon ein Fall, bei dem histologisch eine Myokarditis verifiziert wurde, die vom meldenden Arzt im Zusammenhang mit der Impfung gesehen wurde. In den vier anderen Meldungen stehen noch weitere Informationen aus, sodass eine abschließende Bewertung derzeit nicht möglich ist. Als nicht todesursächlich wurde die Myokarditis bei zwei Männern nach Spikevax bewertet. In beiden Fällen führten wahrscheinlich andere Erkrankungen, die nicht mit der Impfung assoziiert sind, zum Tode. Jeweils ein Todesfall ist nach Vaxzevria und einer nach COVID- 19 Vaccine Janssen berichtet worden. In beiden Fällen stehen weitere Informationen noch aus.
Zweiter Themenkomplex sind allergische Reaktionen (wen wundert es, die gibt es natürlich immer) und dritter das Thema Guillain-Barré-Syndrom. Hierzu schreibt das PEI:
Insgesamt wurden dem Paul-Ehrlich-Institut 255 Fälle eines GBS/MFS berichtet, davon zwei Fälle nach Vaxzevria, drei Fälle nach Comirnaty und ein Fall nach Moderna mit einem tödlichen Verlauf. 17 Patienten (n=8 Vaxzevria, n=7 Comirnaty, n=1 Spikevax, n=1 Janssen) mussten intensivmedizinisch behandelt und teils invasiv beatmet werden. … Für beide mRNA-Impfstoffe ist die Melderate eines GBS deutlich niedriger und nicht höher als statistisch zufällig zu erwarten wäre.
Der letzte Satz ist wichtig, weil wir ja gerade die gesamte Bevölkerung impfen und das GBS in der Gesamtbevölkerung mit einer Inzidenz von 0,9-1,8/100.000 Einwohner auftritt. Die GBS-Inzidenzen nach mRNA-Impfstoffen lagen jedoch bei 0,11-0,13/100.000 Impfungen und für die Vektor-Impfstoffe bei 0,84-1,1/100.000 Impfungen.
Im letzten Themenkomplex geht es um die embolischen Komplikationen, v.a. in Verbindung mit einem Abfall der Blutplättchen (also der VITT), was ja in erster Linie ein AstraZeneca-Thema (und ein bisschen ein Johnson & Johnson-Thema) ist und wo ich seinerzeit mal was dazu geschrieben hatte (aber seit dem Sommer auch die Artikel nicht mehr aktualisiert habe): Link.
Fazit
Natürlich gibt es durch Impfungen und damit auch durch die COVID-Impfung Nebenwirkungen und wer was anderes behauptet ist und bleibt ein Populist:
Aber, es gibt nur wenig schwere Nebenwirkungen und nur sehr wenige, die wir wirklich unzweifelhaft auf die Impfung beziehen können. Beim Thema mRNA-Impfstoffe sind das vor allem die Peri- und Myokarditiden, beim Thema Vektor-Impfstoffe die VITT. Bei den klassischen neurologischen Impfnebenwirkungen ist eine sichere Kausalität oft nur schwer bis gar nicht herzustellen.
Wo man weiterlesen kann
Agmon-Levin, N., Kivity, S., Szyper-Kravitz, M., & Shoenfeld, Y. (2009). Transverse myelitis and vaccines: a multi-analysis. Lupus, 18(13), 1198–1204. https://doi.org/10.1177/0961203309345730
Baxter, R., Lewis, E., Goddard, K., Fireman, B., Bakshi, N., DeStefano, F., Gee, J., Tseng, H. F., Naleway, A. L., & Klein, N. P. (2016). Acute Demyelinating Events Following Vaccines: A Case-Centered Analysis. Clinical Infectious Diseases, 63(11), 1456–1462. https://doi.org/10.1093/cid/ciw607
Edwards, K., Lambert, P. H., & Black, S. (2019). Narcolepsy and Pandemic Influenza Vaccination: What We Need to Know to be Ready for the Next Pandemic. Pediatric Infectious Disease Journal, 38(8), 873–876. https://doi.org/10.1097/INF.0000000000002398
Huynh, W., Cordato, D. J., Kehdi, E., Masters, L. T., & Dedousis, C. (2008). Post-vaccination encephalomyelitis: Literature review and illustrative case. Journal of Clinical Neuroscience, 15(12), 1315–1322. https://doi.org/10.1016/j.jocn.2008.05.002
Principi, N., & Esposito, S. (2019). Vaccine-preventable diseases, vaccines and Guillain-Barre’ syndrome. Vaccine, 37(37), 5544–5550. https://doi.org/10.1016/j.vaccine.2018.05.119
Spencer, J. P., Trondsen Pawlowski, R. H., & Thomas, S. (2017). Vaccine Adverse Events: Separating Myth from Reality. American Family Physician, 95(12), 786–794. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/28671426
Torisu, H., & Okada, K. (2019). Vaccination-associated acute disseminated encephalomyelitis. Vaccine, 37(8), 1126–1129. https://doi.org/10.1016/j.vaccine.2019.01.021
Literaturangaben (keine Weiterlese-Tips)
Narasimhalu, K., Lee, W. C., Salkade, P. R., & De Silva, D. A. (2021). Trigeminal and cervical radiculitis after tozinameran vaccination against COVID-19. BMJ Case Reports, 14(6), e242344. https://doi.org/10.1136/bcr-2021-242344
Stüve, O., Nessler, S., Hartung, H. P., Hemmer, B., Wiendl, H., & Kieseier, B. C. (2005). Akute disseminierte Enzephalomyelitis. Der Nervenarzt, 76(6), 701–707. https://doi.org/10.1007/s00115-004-1842-0