Journal Club: ANNEXa-I: Abgesang auf Andexanet Alfa?

Das Vorgeplänkel

Andexanet alfa (Ondexxya) wurde 2019 als Antidot zur Behandlung lebensbedrohlicher Blutungen unter den direkten oralen Antikoagulanzien Apixaban (Eliquis) und Rivaroxaban (Xarelto) (beides Faktor Xa-Antagonisten) zugelassen. Während es mit Idarucizumab (Praxbind) schon seit 2015 ein hochwirksames spezifisches Gegenmittel für Dabigatran (Pradaxa) gab, nach dessen Gabe man auch Notfalleingriffe und auch Thrombolysen durchführen kann, klaffte bei den Faktor Xa-Antagonisten eine Lücke, bei Edoxaban (Lixiana) klafft sie bis heute.

Andexanet alfa ist im Grunde ein gentechnisch hergestellter Gerinnungsfaktor Xa, an welchen die Medikamente binden sollen, so nicht mehr an das körpereigene Xa binden können und dadurch die gerinnungshemmende Wirkung aufgehoben wird.

Zugelassen wurde Andexanet alfa mit den Daten der ANNEXA-4-Studie (Milling et al). Diese Studie untersuchte vor allem die hämostaselogische Wirksamkeit von Andexanet alfa an Patienten mit intrakraniellen (69%) aber auch gastrointestinalen Blutungen (23%). Endpunkte waren die Veränderung der Faktor Xa-Aktivität nach Gabe des Medikamentes und die Verhinderung eines Hämatomwachstums innerhalb von 12 Stunden nach Anwendung. Klinische Daten, die einen Einfluss auf Behinderungsgrad und Mortalität nach Blutungsantagonisierung zeigten, wurden seinerzeit nicht veröffentlicht, was verschiedentlich kritisiert wurde, v.a. weil dies bei Idarucizumab anders ist. Auflage der Zulassung war aber das Nachliefern weiterer prospektiv gewonnener Daten zur Gabe von Andexanet alfa bei Hirnblutungen im Vergleich zu einer üblichen Vergleichstherapie. Diese Studie wurde nun veröffentlicht.

Das Paper

Referenz:

Connolly SJ, Sharma M, Cohen AT, et al. Andexanet for Factor Xa Inhibitor–Associated Acute Intracerebral Hemorrhage. N Engl J Med. 2024;390(19):1745-1755.

Worum geht es?

In die ANNEXa-I-Studie wurden insgesamt 530 Patienten mit Hirnblutungen unter Apixaban oder Rivaroxaban eingeschlossene, das mittlere Alter lag bei 78,9 Jahren, 54% der Patienten waren männlich, 46% weiblich. Die Hirnblutungen mussten ein Volumen von mindestens 0,5 ml und maximal 60 ml aufweisen, die letzte Faktor Xa-Hemmer-Einnahme durfte maximal 15 Stunden zurückliegen. Die Patienten erhielten entweder Andexanet alfa oder eine „übliche Vergleichstherapie“ (in vielen Fällen Gerinnungsfaktoren wie PPSB). Da die Applikationsarten zu unterschiedlich waren erfolgte die Gabe unverblindet, die Auswertung der Studienergebnisse war aber verblindet.

Als primäre Endpunkte wurden die hämostatische Effizienz nach 12 Stunden gemessen an einem Hämatomwachstum < 20 % („exzellente Hämostase“) oder < 35 % („gute Hämostase), ein NIHSS-Anstieg < 7 Punkte nach 12 Stunden und die fehlende Notwendigkeit weiterer Notfalltherapien (z.B. OP, zusätzliche PPSB-Gabe usw..) nach 3 bis 12 Stunden festgelegt.

Die gerinnungstechnische Veränderung der Faktor Xa-Aktivität mit Erreichen des Nadirs nach zwei Stunden war der sekundäre Endpunkt, Sicherheitsendpunkte waren die Rate an thrombotischen Ereignissen 30 Tage nach Gabe von Andexanet alfa und die Mortalität ebenfalls nach 30 Tagen, zudem erfolgte eine Post Hoc-Analyse hinsichtlich des Behiderungsgrades an Tag 30 gemessen auf der modified Ranking Scale (mRS) und eingeteilt in ein gutes (mRS ≦ 3) und ein schlechtes (mRS > 3) Ergebnis.

Was kam raus?

Die primären Endpunkte wurden größtenteils erreicht, die Studie daher vorzeitig abgebrochen. Andexanet führte in 76,7% der Fälle zu einer guten oder exzellenten Hämostase, in der Vergleichsgruppe wurde dies nur in 64,6% erreicht. Allerdings gab es keinen Unterschied beim NIHSS und auch nicht bei der Notwendigkeit einer Rescue-Therapie.

Statistisch signifikant waren aber vermehrte thrombotische Ereignisse (10,3% vs. 5,6%) unter Andexanet alfa, dabei auch (statistisch nicht signifikant) ischämische Schlaganfälle (6,5% vs. 1,5%) und Todesfälle (27,8% bei Andexanet alfa vs. 25,5% in der Vergleichsgruppe). Die Autoren wenden hierzu ein, dass die Studie für statistisch belastbare Aussagen zur Mortalität nicht genug Probanden eingeschlossen hat („nicht genug gepowert“). Das Fazit der Studienautoren lautet also:

In patients with ICH who were receiving FXa inhibitors, treatment with andexanet resulted in better control of hematoma expansion than usual care but was associated with thrombotic events.

und

However, in the current trial, multiplicity unadjusted results for death and a good outcome on the modified Rankin scale did not differ appreciably between groups; the trial was not designed to have sufficient power to detect differences in these outcomes.

Aber ist das so? Einordnung der Studienergebnisse

Es gibt ein paar (wenige) weitere Arbeiten, die sich mit dem Outcome nach Gabe verschiedener Antidots bei Antikoagulanzienblutungen beschäftig haben, z.B. eine Metaanalyse von Chaudhary et al. Hier wurden 32 – meist kleine und retrospektive – Studien mit insgesamt 1.832 Teilnehmern eingeschlossen. Man kann und muss diese Daten sicherlich mit Vorsicht betrachten, aber wenn man sie neben die ANNEXa-I-Studie stellt, fallen schon deutliche Parallelen auf:

Nicht nur reproduzieren beide Arbeiten relativ gleiche Ergebnisse zur Mortalität und zur Rate thrombotischer Ereignisse, auch kann man feststellen, dass es zwischen PPSB und Andexanet kaum einen Unterschied zu geben scheint, wohl aber einen extremen zu Idarucizumab.

Die Elefanten im Raum

Es sind gleich zwei Elefanten, die da im Raum stehen.

Der eine ist die Frage, wie es passieren konnte, dass wenn man schon für die Zulassung die Ergänzung einer randomisierten Studie aufgetragen bekommt, diese keine klinische Endpunktstudie sein muss, sondern schlußendlich nur die Ergebnisse der schon bekannten ANNEXA-4-Studie reproduzieren soll. Ein. Erfolg des Pharmalobbyismus? Die Vermutung liegt zumindest nahe. Dass Andexanet alfa kein Gamechanger ist konnte man klinisch schon längst ahnen, nun hat man es schwarz auf weiß. Formal hat man nun aber die Zulassungsbedingungen erfüllt und die Wirksamkeit – im Rahmen der Auflagen – bewiesen. Es ist aber eine laborchemische Wirksamkeit und keine klinische.

Der zweite Elefant ist, ob denn PPSB eine Alternative zu Andexanet alfa wären. Das ist nicht so ganz leicht zu beantworten, weil es kaum Studien zur Gabe von PPSB bei NOAK-Blutungen gibt, vor allem nicht im Vergleich zu Placebo. Ein bisschen was findet man aber schon, z.B. die Arbeit von Gerner et al. In dieser retrospektiven Arbeit gab es bei einer Kohorte von 103 Blutungspatienten, die PPSB erhielten auch 43 Patienten, die nur nicht-medikamentös behandelt wurden. In dieser Arbeit schnitten die nicht mit PPSB behandelten Patienten nicht schlechter ab, als die mit PPSB behandelten, eine statistisch signifikante Wirksamkeit von PPSB konnte nicht gezeigt werden. Statistisch signifikant war nur die Senkung des systolischen Blutdrucks auf unter 160 mmHg.

Aus die Maus?

Eher nicht. Der Hype um Andexanet alfa hat in den Jahren seit der Zulassung merklich nachgelassen und auch der Preis ist gesunken, wenn er auch immer noch absurd hoch und deutlich höher als der von PPSB oder von Idarucizumab ist. Trotzdem wurde Andexanet alfa – auch schon vor der Veröffentlichung der Studienergebnisse – zuletzt immer zurückhaltender eingesetzt. Dies wird sich vermutlich weiter so fortsetzen und Andexanet da verwendet werden, wo das Verhinderung eines Hämatomwachstums wirklich eine entscheidende Rolle spielt, z.B. bei Blutungen in der hinteren Schädelgrube. Spannend werden die Reaktion und das Marketing von AstraZeneca, die Andexanet mittlerweile vertreiben, noch spannender die Positionierung von Fachgesellschaften und die Rolle die Andexanet in der im kommenden Jahr anstehenden Aktualisierung der DGN-Leitlinie Behandlung von spontanen intrazerebralen Blutungen (Link) spielen wird.

Wo man weiterlesen kann

Connolly SJ, Sharma M, Cohen AT, et al. Andexanet for Factor Xa Inhibitor–Associated Acute Intracerebral Hemorrhage. N Engl J Med. 2024;390(19):1745-1755.

Literatur

Chaudhary R, Singh A, Chaudhary R, et al. Evaluation of Direct Oral Anticoagulant Reversal Agents in Intracranial Hemorrhage: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Netw Open. 2022;5(11):e2240145.

Gerner ST, Kuramatsu JB, Sembill JA, et al. Association of prothrombin complex concentrate administration and hematoma enlargement in non-vitamin K antagonist oral anticoagulant-related intracerebral hemorrhage. Ann Neurol. 2018;83:186–196.

Milling TJ, Middeldorp S, Xu L, et al. Final Study Report of Andexanet Alfa for Major Bleeding With Factor Xa Inhibitors. Circulation. 2023;147(13):1026-1038. doi:10.1161/CIRCULATIONAHA.121.057844

Zwischenruf: Wenn der Gesundheitsminister (der Herzen) über wissenschaftliche Literatur twittert

Vielleicht ist es auch nur Psychohygiene, weil ich eigentlich diese Faktenchecker, Faktenfüchse, Volksverpetzer usw. ganz furchtbar finde, weil da meistens mehr Agenda als Faktencheck hintersteckt. Aber wenn wer Freude dran hat:


22.03.2021

Blog-Beitrag zu dem Thema (Link), bis zu „Oft zitiert und oft kritisiert: Die Studie mit dem Internetfragebogen“ scrollen.


08.05.2021

Blog-Beitrag zu dem Thema, das Thema VITT bei jungen mit AstraZeneca-Geimpften war da schon längst bekannt: Link.


12.05.2021


30.06.2021


18.07.2021

und ausführlicher hier: Link.


19.07.2021

und das hier:


13.08.2021


14.08.2021


16.08.2021


17.08.2021


20.08.2021


30.08.2021


30.08.2021


07.09.2021


08.09.2021


12.09.2021


26.09.2021


06.10.2021


06.10.2021


07.10.2021


14.10.2021


17.10.2021


19.10.2021


20.10.2021


21.10.2021


22.10.2021


28.10.2021


31.10.2021


03.11.2021

Das Paper hatten wir ähnlich unglücklich kommuniziert weiter oben schon mal:


11.11.2021


29.11.2021


01.12.2021

Corona-Paper-Bullshit-Bingo-Journal-Club Teil 1

Eigentlich wollte ich heute den lange verschobenen Beitrag zum Thema Schmerzen und Parkinson veröffentlichen, aber dann haben meine Lieblings-Twitterer Karl Lauterbach und Cornelius Römer folgendes Preprint gepostet:

Mlcochova, P., Kemp, S. A., Shanker Dhar, M., Papa, G., Meng, B., Mishra, S., Whittaker, C., Mellan, T., Ferreira, I., Datir, R., Collier, D., Singh, S., Pandey, R., Ponnusamy, K., Radhakrishnan, V. S., Sengupta, S., Brown, J., Marwal, R., Ponnusamy, K., … Gupta, R. K. (2021). SARS-CoV-2 B.1.617.2 Delta variant emergence, replication and immune evasion. BioRxiv, 2021.05.08.443253. https://doi.org/10.1101/2021.05.08.443253, was man hier runterladen kann. Bei Karl Lauterbach wurde das Paper in diesen Tweet eingebettet:

Vor allem die Aussage „weshalb Delta Variante so gefährlich auch für Geimpfte ist.“ hat mich stutzig gemacht und mal wieder furchtbar aufgeregt. Ich hatte ja schon im ersten Teil vom Artikel zu Bullshit-Corona-Papern (Link) erläutert, welche Schwierigkeiten ich mit der Verwendung wissenschaftlicher Literatur habe, gerade wie Karl Lauterbach sie oft betreibt. Und dann musste ich unbedingt nachschauen, was wirklich im Artikel steht und worum es darin eigentlich geht.

Preprint: SARS-CoV-2 B.1.617.2 Delta variant emergence, replication and immune evasion

Es handelt sich um eine Arbeit aus Indien, die verschiedene laborchemische Aspekte der Delta-Variante zusammenträgt und mit epidemiologischen Daten von sogenannten „Durchbruchsinfektionen“ bei zuvor Geimpften assoziiert. Die Daten der Infizierten stammen von Beschäftigten im indischen Gesundheitssystem, die in dem Artikel mit HCW (health care worker) abgekürzt werden.

Einleitung

Die Autoren beschreiben die Herkunft und die molekulargenetischen Unterschiede der Delta-Variante im Vergleich zum Wildtyp und der Alpha-Variante, insbesondere die Aspekte, die darauf hindeuten, warum die Delta-Variante sich so schnell und umfassend durchgesetzt hat (spezielle Mutationen im Spike-Protein). Außerdem findet sich eine (weitere) Kurzzusammenfassung der Kernaussagen des Artikels.

Ergebnisse

Wachstumsvorteile der Delta-Variante

Zunächst wird hier das Verfahren beschrieben, das mit einem mathematischen Modell (der bayesschen Statistik, Link Wikipedia, ich verstehe davon kein Wort) verschiedene molekulargenetische und epidemiologische Faktoren und Aussagen assoziiert wurden. Sie beschreiben auch die methodische Schwäche dieses statistischen Verfahrens, nämlich dass eine homogene Bevölkerungsstruktur besteht mit der gleichen Zahl von Kontakten und auch gleichem Expositionsrisiko. Daher wurden offenbar weitere stochastische Verfahren verwendet um diesen „Fehler“ auszubügeln. Ob es realistisch ist, von 50% nicht gemeldeten COVID19-Todesfällen auszugehen, kann ich für Indien nicht beurteilen, ein Übertrag für Deutschland ist es auf Grund der RKI-Zählweise der COVID-Todesfälle und der flächendeckenden Testung bei Krankenhausaufnahmen zumindest für die Krankenhäuser unplausibel (die ewige Diskussion an oder mit COVID gestorben). Auch werden weitere methodische Schwächen (u.a. die Generierung des Serumproben von sich freiwillig vorstellenden, nicht-repräsentativen, Probanden) benannt.

Die Autoren gehen von einer 1,1-1,4-fach erhöhten Übertragbarkeit der Delta-Variante gegenüber der alpha-Variante und einer um 16-55% vermindert effektiven Immunantwort gegenüber Delta auf Grund ihrer mathematischen Modelle aus.

Geringere Effektivität von neutralisierenden Antikörpern in Genesenen-Seren

Es wurden Serumproben von 12 an COVID19 erkrankten und mittlerweile genesenen Probanden aus der ersten Erkrankungswelle (Wildtyp) untersucht. Es wurde gemessen, in wiefern diese Seren Delta-Varianten Nasen-Rachen-Abstrich-Proben im Vergleich zu einer Alpha-, einer Beta- und einer Wildtyp-Probe neutralisieren konnten. Die Alpha-Variante konnte 2,3-fach schlechter, die Delta-Probe 5,7-fach und die Beta-Variante 8,2-fach schlechter neutralisiert werden.

Geringere Effektivität von Impfstoff-induzierten Antikörpern

In meinen Augen der schwächste Punkt in dem Paper: Es wurde ein Delta-Varianten-„Lebend-Isolat“ auf Seren von mit AstraZeneca und BionTech Geimpften losgelassen. Für beide Impfstoffe wurde eine 8-fach verringerte Wirksamkeit gezeigt, allerdings ohne statistische Signifikanz zu erreichen. Das ganze wurde noch mal für ein sogenanntes Pseudovirus gemacht (das ist grob gesagt ein mikrobiologisches Analog-Modell zum echten Virus), wohl mit ähnlichem Ergebnis.

Erhöhte Reproduktivität im Nasen-Rachen-Raum der Delta-Variante

In einem Zellexperiment mit menschlichem Atemwegs-Epithel und in „primary 3D airway organoids“ (was immer auch das genau ist) konnte eine erhöhte Reproduktionszahl der Delta-Variante gegenüber der Alpha-Variante gefunden werden.

Zudem wurde bei der Delta-Variante eine höhere Viruslast im Rachen gefunden als beim Wildtyp (gemessen an der Reproduktionszahl der PCR-Tests, dem CT-Wert) mit einem CT-Wert von 16,5 gegenüber 19 bei Nicht-Delta-Infektionen (niedriger heißt höhere Viruslast), zum anderen gab es auch mehr „Superspreading“, im Schnitt wurden 3,3 weitere Personen angesteckt, gegenüber 1,1 bei Nicht-Delta-Varianten.

Vorteile der Delta-Variante durch Spike-Protein-Mutationen

In den nächsten beiden Abschnitten geht es um die molekulargenetischen Veränderungen am Spike-Protein, die der Delta-Variante ein einfacheres Eindringen in die menschlichen Zellen ermöglichen, im Vergleich zur Alpha-Variante (und dem Wildtyp) und die Impfstoffe schlechter wirken lässt. Dies ist derart komplex, das es für nicht molekulargenetisch arbeitende Mikrobiologen und Virologen kaum verständlich ist.

Durchbruchinfektionen bei mit AstraZeneca-Geimpften

Aus meiner klinischen Sicht der interessanteste Abschnitt. Die Autoren beschreiben eine relativ geringe Zahl von Impfdurchbrüchen (30 von 3800) unter der zunächst in Indien grassierenden Alpha-Variante. Ab April 2021 habe sich dann die Delta-Variante durchgesetzt, mit nun höherer Zahl an Impfdurchbrüchen. Untersucht wurde offenbar zunächst ein Krankenhaus. Von den dort beobachteten „Durchbruchsinfektionen“ seien alle mild verlaufen, ein Betroffener habe Sauerstoff erhalten müssen, niemand sei beatmet worden. Alle Mitarbeiter seien mit dem AstraZeneca-Impfstoff geimpft gewesen, im Mittel hätten sie die zweite Dosis 27 Tage vor der Infektion erhalten. Es sei eine auffallend hohe Anzahl an sehr ähnlichen oder sogar exakt gleichen Virus-RNA-Sequenzierungen beobachtet worden, die auf ein Superspreader-Event hindeuten würden.

Es wurden dann noch zwei weitere Krankenhäuser mit 1100, bzw. 4000 Beschäftigten untersucht. Im Krankenhaus mit 1100 Mitarbeitern seien 106 Durchbruchinfektionen aufgetreten, von denen 66 einem Superspreader-Event zugeordnet werden konnten; im Krankenhaus mit 4000 Mitarbeitern 65 Infektionen, davon 52 derart ähnliche Proben, dass man bei diesen von einem Superspreader-Event ausgehen würde.

Serologische Unterschiede zwischen Beschäftigten, die eine Durchbruchsinfektion erlitten hätten und denen, die keine Infektion erlitten hätten, habe man nicht finden können.

Methodisch sehr aufwändig wurde versucht, die Wirksamkeit einer (AstraZeneca-)Impfung gegen die Delta- und andere Varianten bei Beschäftigten im Gesundheitssystem zu ermitteln. Mangels nicht geimpfter Kontrollgruppe hat man sich bei Daten des britischen Gesundheitssystems bedient und eine Odds Ration von 5,14 einer Delta-Durchbruchsinfektion gegenüber anderen Virusvarianten-Durchbruchsinfektionen ermittelt.

Drei Einwände:

Die Infektionszahlen erscheinen mir aus persönlicher Erfahrung außergewöhnlich hoch (habe im Januar die Kontaktnachverfolgung positiv getesteter Mitarbeiter mit neustrukturiert und eine zeitlang noch begleitet). Unser Krankenhaus hat ca. 1900 Mitarbeiter, seit der flächendeckenden Impfung (zeitlich naturgemäß seit Anfang des Jahres und damit analog zum Anfluten der Alpha-Variante) hatten wir keine 15 Fälle bei vollständig Geimpften (was analog zu 30 von 3800 Mitarbeitern wäre), sondern unter 10 und davon mindestens 4 falsch positive PCR-Befunde mit sehr hohen CT-Werten und negativem Zweitabstrich.

Auch die Superspreading-Events mit 52-66 Betroffenen unter den Mitarbeitern erscheinen mir in einem deutschen Krankenhaus-Arbeitsalltag schwerlich reproduzierbar. Und auch da schöpf ich aus eigener Erfahrung, ich habe im Dezember 2020 selber so eine schöne Kontaktnachverfolgungs-Liste ausfüllen dürfen und es waren 28 Kontakte (von denen ich keinen infiziert hab) und es wurde mir mitgeteilt, dass es „beeindruckend viele“ Kontakte waren.

Ein sehr interessanter Punkt findet sich weit unten im Anhang des Preprints. Hier werden die klinischen und demographischen Daten der „Durchbruch-Infektionen“ angegeben. Abgesehen von der extrem niedrigen (und damit auch statistisch nicht signifikanten) Rate an Hospitalisierungen auf Grund der Infektion fällt auch die mittlere Symptomdauer von 1,5, bzw. 1,0 Tagen auf. Im Klartext und vielleicht etwas überspitzt heißt das, da hatte jemand einen Tag lang Erkältungssymptome und einen positiven PCR-Test. Hieraus eine verminderte Wirksamkeit der Impfstoffe abzuleiten, finde ich schon sehr mutig, Seren-Laborergebnisse hin oder her.

Zusammenfassung des Artikels

Die Autoren beschreiben verschiedene Faktoren, die die Delta-Variante ihrer Ansicht nach durchsetzungsfähiger gegenüber den anderen SARS-CoV2-Varianten, insbesondere der alpha-Variante machen. Sie nehmen an, dass die Delta-Variante zum Einen bei zuvor Infizierten und mit AstraZeneca geimpften Personen teilweise die Immunantwort umgehen kann und parallel auch noch infektiöser ist.

In der Studie wurden Delta-Varianten-Infektionen bei mit AstraZeneca-Geimpften Beschäftigten im Gesundheitssystem untersucht, bei denen diese Durchbruchinfektionen sehr mild und kurz verliefen. Die Autoren weisen zwar auf diese milden Verläufe hin, betonen aber, dass in Krankenhäusern durchaus Patienten mit schwacher oder nicht vorhandener Immunreaktion auf die Impfung behandelt werden, welche durch eine Ansteckung durch die Beschäftigten vital gefährdet seien. Zudem sehen sie es als notwendig an, dass die Impfstoffe weiter an die Virusvarianten angepasst werden müssen und, dass auch bei Geimpften die berühmten nicht-medikamentösen Maßnahmen (AHA-L) weiter gelten müssten:

Therefore strategies to boost vaccine responses against variants are warranted in HCW and attention to infection control procedures should be continued even in the post vaccine era.

Das ist in sofern interessant, da das sehr danach klingt, als gelte es für Krankenhäuser und Krankenhaus-Beschäftigte, so auch im Abstract zu Beginn des Artikels:

Whilst severe disease in fully vaccinated HCW was rare, breakthrough transmission clusters in hospitals associated with the Delta variant are concerning and indicate that infection control measures need continue in the post-vaccination era.

Fazit

Karl Lauterbach hat (mal wieder) eine steile These hingelegt, die er mit der zitierten Quelle nicht belegen kann. Ich glaube mittlerweile, dass das System hat und kein Versehen oder Schludrigkeit ist. Vielmehr wird nur ein verschwindend geringer Anteil der Leser seines Tweets die Originalquelle lesen und ein noch geringerer Anteil ausreichend genau. So scheint er eine politische Forderung (überspitzt „Masken für immer“ und „Delta ist ganz schlimm“) wissenschaftlich zu belegen, ohne es wirklich zu tun. Für jemanden der derart in der Öffentlichkeit steht (bzw. sich dort hinstellt oder sich selber als Gesundheitsminister ins Spiel bringt) und den Anschein des Experten aufrecht erhält finde ich das unerträglich. Irgendwer (ich hab vergessen wer es war) hat Karl Lauterbach mal als „wissenschaftlichen Populisten“ beschrieben, vermutlich trifft es das ganz gut.

Das Paper selber erscheint mir sehr aufwändig gemacht und zumindest im laborchemischen Teil unglaublich komplex. Ob die Analogie zu den „real world“-Durchbruchsinfektionen wirklich so stehen gelassen werden kann und ob sie in den westeuropäischen oder zumindest deutschen Krankenhausalltag übertragbar ist, weiß ich nicht. Ob man von den reinen Labordaten zum BionTech-Impfstoff ohne klinische Daten eine verminderte Impfstoffwirksamkeit gegenüber der Delta-Variante schließen kann, bezweifle ich sogar. Allerdings gibt es da ja die israelischen Daten, die das zu belegen scheinen. Was ich schwierig finde, ist die Deutung der Ergebnisse, so wie sie gemacht wird. In meinen Augen sind die Durchbruchsinfektionen allesamt extrem mild verlaufen. Es gab keinen einzigen schweren Krankheitsverlauf. Die Krankheitsdauer hat offenbar nur bei wenigen Tagen gelegen, im Mittel gerade mal bei 1-1,5 Tagen. Das spricht in meiner Wahrnehmung für eine exzellente Wirkung der Impfstoffe auch gegen die Virusvarianten. Ob man tatsächlich eine Impfung gegen Husten, Schnupfen und Heiserkeit erwarten kann und konnte, glaube ich nicht. Das führt übrigens noch einmal zu Karl Lauterbachs Aussagen zurück und der „Gefährlichkeit“ der Delta-Variante auch für Geimpfte. Das ist schlicht und ergreifend Bullshit.

Etwas schwieriger ist das Thema Übertragbarkeit des Virus auch durch Geimpfte im Krankenhaus oder in anderen Risikobereichen. Auch da kann man in meinen Augen nicht die gleichen Maßstäbe anlegen, wie im öffentlichen Leben und eine „Maske für immer“-Politik kann man kaum mit den hier veröffentlichten Daten begründen. Und anders herum wurden in Bereichen mit immunsupprimierten Patienten schon immer besondere Schutzmaßnahmen wie Mund-Nase-Schutz getragen. Ob man daraus eine generelle unbeschränkte Maskenpflicht in Krankenhäusern oder Pflegeheimen ableiten kann, weiß ich nicht. Ich würde aus persönlicher Erfahrung eher nein sagen und zwar aus folgendem Grund: Gerade bei den hochaltrigen Patienten leidet ein ganz großer Teil an einer Presbyakusis. Lippenlesen ist hierbei ein häufiger Kompensationsmechanismus. Das fällt bei dem ständigen Maskentragen ersatzlos weg und führt zu noch mehr Deprivation, als wir sie eh im Krankenhaus sehen. Meiner Erfahrung nach sehen wir seit Beginn der Pandemie und der Schutzmaßnahmen eine erhöhte Rate von Delirien. Ich finde es relativ plausibel, dass das (neben den Besuchsverboten) unter anderem an der schlechteren non-verbalen Kommunikation und dem schlechteren Erkennen einzelner Bezugspersonen hinter der Uniformität der Masken liegen kann. Da wir alle von der erhöhten Mortalität im und nach einem Delir wissen (vergleiche auch den allerersten brainpainblog-Artikel, Link), muss man das meines Erachtens durchaus berücksichtigen, wenn man so etwas wie eine ständige Maskenfplicht erwägen sollte.

Wo man weiterlesen kann

Mlcochova, P., Kemp, S. A., Shanker Dhar, M., Papa, G., Meng, B., Mishra, S., Whittaker, C., Mellan, T., Ferreira, I., Datir, R., Collier, D., Singh, S., Pandey, R., Ponnusamy, K., Radhakrishnan, V. S., Sengupta, S., Brown, J., Marwal, R., Ponnusamy, K., … Gupta, R. K. (2021). SARS-CoV-2 B.1.617.2 Delta variant emergence, replication and immune evasion. BioRxiv, 2021.05.08.443253. https://doi.org/10.1101/2021.05.08.443253, Link

Zerebrale Sinus- und Hirnvenenthrombosen nach AstraZeneca-Impfung: Das Impfrisiko

Was bisher geschah

Kurz zusammengefasst, für die, die den ersten (Link) und zweiten Teil (Link) nicht gelesen haben: Im ersten Teil ging es um das grundsätzliche Phänomen HIT Typ 2-artiger Thrombozytenabfälle in Verbindung mit thrombotischen venösen Komplikationen, in erster Linie Sinus- und Hirnvenentrhombosen. Es wurden beide Krankheitsbilder (HIT und Sinusthrombose) kurz vorgestellt. Im zweiten Teil ging es um die Pathogenese, die Klinik und die vorgeschlagenen Behandlungsoptionen der Impfstoff-bedingten Thrombozytopenien mit Thrombosekomplikationen, die man auch VITT (vaccine-induced immune thrombotic thrombocytopenia) nennt.

Updates (Changelog):

04.07.2021: Ich habe den neuesten Sicherheitsbericht vom Paul-Ehrlich-Institut in den Blogbeitrag mit einbezogen und ein kleines Fazit hinzugefügt.

Wie häufig passiert das überhaupt?

Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) veröffentlicht regelmäßig sogenannte Sicherheitsberichte zu den COVID19-Impfstoffen, die man hier abrufen kann. Diese Sicherheitsberichte sind nicht tagesaktuell, sondern werden in Intervallen bereitgestellt und beleuchten dann einen einige Tage zurückliegenden Zeitraum. Der letzte Sicherheitsbericht (Link) stammt vom 10.06.2021 und schließt Impfkomplikationen ein, die bis 31.05.2021 berichtet wurden. Nach diesem Sicherheitsbericht ist es bis zum 31.05.2021 zu 60 Fällen einer Sinus- oder Hirnvenenthrombose in Verbindung mit einer Thrombozytopenie gekommen (insgesamt 106 Fälle einer VITT), 15 SVT-Fälle (21 von 106 „Gesamt-VITT-Fällen“) verliefen tödlich. 43 der SVT haben Frauen erlitten und 17 wurden bei Männern berichtet. Verimpft wurden bis zu diesem Zeitpunkt in Deutschland 9.230.103 Impfdosen des AstraZeneca-Impfstoffes. Wenn man es sich einfach macht, kann man folgende Rechnung aufmachen:

60 SVT / 9.230.103 Impfdosen = 0,00065% Risiko einer SVT pro Impfung.

Was eine Halbierung des Risikos gegenüber 0,0012% bei dem letzten Update dieses Artikels im Juni bedeuten würde. Doch so einfach ist es nicht. Es gibt – wie die meisten ja wissen – einen geschlechtsspezifischen und einen altersabhängigen Faktor, welcher erheblich ist. Der größte Teil der SVT ist bei Frauen aufgetreten und hiervon wieder der größte Teil bei jüngeren Frauen unter 60 Jahren.

Wenn man jetzt eine spezifischere Risikoberechnung machen will, stößt man auf das Problem, dass es kein umfassendes Impfmonitoring in Deutschland gibt. Wir wissen also nicht bundesweit, wer welchen Impfstoff erhalten hat, wie alt sie oder er war, welches Geschlecht sie oder er hatte usw. Alles was es gibt, ist das Impfdashboard des Gesundheitsministeriums (Link) und diese Übersicht vom Robert-Koch-Institut (Link). An dieser Problematik scheitert übrigens auch der Sicherheitsbericht des Paul-Ehrlich-Instituts. Was kann man also machen?

Option 1: Britische Daten verwenden

Folgende Grafiken von Alexandra Freeman von der Universität von Cambridge vom Winton Centre for Risk and Evidence Communication, die mit ihrer Arbeitsgruppe Nutzen und Risiko der AstraZeneca-Impfung nach Altersgruppen aufgeschlüsselt hat und zwar sowohl bei niedrigen, moderaten und hohen COVID19-Inzidenzen wurden in der letzten Zeit viel zitiert:

Hier zeigt sich nur bei der niedrigen Inzidenz (2/10.000 Einwohner, in „unserer“ Rechnung 20/100.000 Einwohner) für die jüngste Altersgruppe kein Benefit der Impfung mit einem höheren Risiko einer Intensivstationsaufnahme durch die Impfung. In allen anderen Fällen gibt es einen klaren Vorteil der Impfung. Diese Grafiken wurden auch in der Stellungnahme der Medicines and Healthcare products Regulatory Agency (MHRA) in Großbritannien (das ist sowas ähnliches wie das Paul-Ehrlich-Institut bei uns) vom 07.04.2021 zum AstraZeneca-Impfstoff verwendet (Link, Link Präsentation). Die MHRA empfiehlt den AstraZeneca-Impfstoff diesen Berechnungen folgend nur für unter 30-Jährige nicht.

Die Grafiken wurden auch ins Deutsche übersetzt und z.B. von Quarks (der WDR-Wissensendung) verwendet:

Eine Trennung nach Geschlechtern findet hier sowohl in der englischen als auch in der deutschen Version nicht.

Option 2: Selber rechnen:

Hier kommt man schnell an das selbe Problem wie das Paul-Ehrlich-Insitut, das fehlende „richtige“ Impfmonitoring. Dort wird etwas geraten und die Autoren schreiben folgendes:

Unter Berücksichtigung der Vaxzevria-Impfdosen ergibt sich eine Gesamtmelderate von 1,24 Fällen eines TTS auf 100.000 Erstimpfungen mit Vaxzevria. Allerdings stellt diese Melderate vermutlich eine deutliche Unterschätzung des Risikos dar, da nicht alle Fälle eines TTS gemeldet werden (Dunkelzifferrate). Außerdem beträgt die Zeit zwischen Impfung, Auftreten erster Symptome, Krankenhauseinweisung, Meldung und Bewertung der Meldung durch das Paul-Ehrlich-Institut zuweilen mehrere Wochen. Beispielsweise wurden ca. 80 % der TTS Fälle vor dem 11.04.2021 geimpft, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Anzahl verimpfter Dosen noch wesentlich geringer war. Würde als Data-lock-point (DLP) beispielsweise der 11.04.2021 betrachtet, so würde die Melderate 2,1 auf 100.000 Vaxzevria-Impfdosen betragen.

Etwas behelfen kann man sich, wenn man die etwas älteren Daten aus dem Risikobericht des Paul-Ehrlich-Instituts von Anfang April verwendet (Link). So kann man dort recht einfach nachlesen, dass bis zum 02.04.2021 2.945.125 Dosen des AstraZeneca-Impfstoffs verimpft wurden, 86% der Dosen gingen beim AstraZeneca-Impfstoff auf Grund der Zulassungshistorie in Deutschland (erst nur junge Impflinge, dann Impfstop, dann wieder junge Impflinge, jetzt ältere Impflinge) an Impflinge unter 60 Jahren. Das wären nach Adam Riese und Siri 2.532.808 Dosen, die Menschen unter 60 Jahre erhalten haben. Über alle COVID19-Impfstoffe lag der Anteil der weiblichen Impflinge bei 64%. Rechnen wir also:

42 SVT / 2.945.125 Impfdosen = 0,00142608548% Risiko einer SVT pro Impfung

Man kann das auch umrechnen: Dann kommt man auf 1,43 SVT / 100.000 Impfungen über alle Altersgruppen hinweg nach Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff in Deutschland. Für unter 60-Jährige wären das dann wie folgt:

42 SVT / 2.532.808 Impfdosen = 0,0016582386% Risiko einer SVT pro Impfung

Umgerechnet bedeutet dies 1,66 SVT/100.000 Impfungen bei unter 60-jährigen Impflingen nach Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff in Deutschland. Ist das jetzt viel oder wenig? Gefühlt nicht so wenig, auf Hamburg bezogen wären das (alle, incl. Kinder, durchgeimpft) immerhin 25,74 SVT.

Es gibt aktuelle Arbeiten, die bei ausreichend großer Datenbasis sowohl Angaben zur Mortalität nach Altersgruppen und Geschlecht für den COVID19-Wildtyp und die B.1.1.7-Mutation aufführen. Wenn man das dann tabellarisch aufarbeitet, sieht das Risiko wie folgt aus:

GeschlechtAlterRisiko ImpfungRisiko C19-WildtypVerhältnisRisiko B.1.1.7Verhältnis
weiblich0-340,00166%0,00069%2,4 : 10,0011%1,5 : 1
35-540,00166%0,033%1 : 200,05%1 : 30
55-690,00143%0,18%1 : 1260,28%1 : 196
70 – 840,00143%2,9%1 : 20284,4%1 : 3077
> 850,00143%13%1 : 909119%1 : 13287
männlich0-340,00166%0,0031%1 : 1,90,0047%1 : 2,8
35-540,00166%0,064%1 : 390,099%1 : 60
55-690,00143%0,56%1 : 3910,86%1 : 601
70 – 840,001434,7%1 : 32877,2%1 : 5035
> 850,0014317%1 : 1188825%1 : 17483
Mortalität-Daten COVID19 nach Altersgruppen und Geschlecht nach: Davies, N. G., Jarvis, C. I., Edmunds, W. J., Jewell, N. P., Diaz-Ordaz, K., & Keogh, R. H. (2021). Increased mortality in community-tested cases of SARS-CoV-2 lineage B.1.1.7. Nature. https://doi.org/10.1038/s41586-021-03426-1

Demnach sollten sich Frauen unter 34 Jahren auf jeden Fall nicht mit AstraZeneca impfen lassen, bei Männern unter 34 Jahren gibt es einen kleinen Benefit der Impfung, alle anderen Altersgruppen unter 69 Jahren profitieren deutlich. Die darüber erst recht.

Option 3: Die aktuelleren Daten der DGN nehmen:

Das Studiendesign

Eine Studiengruppe der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) hat am 04.05.2021 ein Preprint veröffentlicht Link Pressemitteilung, Link Preprint, in welchem alle neurologischen Kliniken hinsichtlich VITT-Fällen bis zum 11. April 2021 abgefragt wurden. Es wurden 62 überwiegend neurovaskuläre Impfkomplikationen gemeldet, davon 45 Sinus- und Hirnvenenthrombosen, neun ischämische Schlaganfälle und vier Hirnblutungen, sowie vier „sonstige Ereignisse“. 11 der Fälle seien tödlich verlaufen. 37 der Sinus- und Hirnvenenthrombosen seien nach Impfung mit AstraZeneca aufgetreten, acht nach Impfung mit BioNTech. 78% der Komplikationen betrafen Frauen, 22% wurden bei Männern gemeldet. 80% der Komplikationen traten bei Impflingen unter 60 Jahren auf, 20% aber auch bei über 60-Jährigen. Die Autoren der Studie haben sich die Mühe gemacht, die verfügbaren Impfmonitoring-Daten aus neun Bundesländern (Baden-Württemberg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, and Schleswig- Holstein), die umfassender als die bundesweit erhältlichen sind zu benutzen und so eine genauere Aussage über die Inzidenzen in verschiedenen Alters- und Geschlechtsgruppen zu erzielen. Außerdem wurden nur Erstimpfungen berücksichtigt, da es bei AstraZeneca auf Grund des längeren Abstandes zwischen den beiden Impfungen deutlich weniger Zweitimpfungen bislang gibt und so bei der ausschließlichen Betrachtung der Erstimpfungen eine bessere Vergleichbarkeit besteht.

Die DGN-Studie ist zudem insofern interessant, da sie eine Risikostratifizierung vorgenommen hat, indem sie die gemeldeten Nebenwirkungen danach eingeteilt hat, wie wahrscheinlich eine VITT als Ursache der Impfkomplikation ist. Hierzu wurde ein Punktwert aus den vier Kernsymptomen der VITT (Impfkomplikation 1-16 Tage nach Impfung, Thrombozytopenie < 150/nl, positiver anti-PF4-AK-ELISA und positiver VITT-Bestätigungstest) gebildet, der folglich von 0 bis 4 reichen konnte. Ab > 2 Punkten wurde eine VITT als wahrscheinlich erachtet.

Die Ergebnisse nach verschiedenen Impfstoffen aufgeschlüsselt

Bei der Impfung mit dem BioNTech-Impfstoff kam es bei 1,3 Impfungen/100.000 Personenjahre zu einer Sinusthrombose. Das deckt sich ziemlich genau mit dem statistischen Risiko einer Sinus- und Hirnvenenthrombose in Deutschland, vergleiche auch Teil 1 der Mini-Serie. In keinem der Fälle wurde ein VITT-Risikoscore von 2 oder größer ermittelt. Bei den Impfungen mit Moderna wurde kein einziger Fall einer SVT berichtet, das liegt aber vermutlich an der relativ kleinen Grundgesamtheit der Moderna-Geimpften, die in die Studie eingeflossen sind. Für den Johnson & Johnson-Impfstoff lagen gar keine Daten vor (da er bislang kaum verimpft wurde und im Studienzeitraum gar nicht), eine kurze Anmerkung zu diesem Impfstoff findet sich weiter unten.

Beim AstraZeneca-Impfstoff kam es bei 17,9 Impfungen zu einer SVT, der Risiko-Score war in 62% der Fälle positiv.

Die Ergebnisse nach Alter und Geschlecht aufgeschlüsselt

Das wird als Tabelle übersichtlicher:

Frauen Männer
BioNTech
alle Altersgruppenkeine Angabekeine Angabe
unter 60 Jahren3,63,5
über 60 Jahren0,760
AstraZeneca
alle Altersgruppen23,56,2
unter 60 Jahren24,248,86
über 60 Jahren20,520
Alle Angaben beziehen sich auf SVT / 100.000 Personenjahre. Nach: Schulz, J. B., Berlit, P., Diener, H.-C., Gerloff, C., Greinacher, A., Klein, C., Petzold, G., Poli, S., Piccininni, M., Kurth, T., Roehrig, R., Steinmetz, H., & Thiele, T. (2021). COVID-19 vaccine-associated cerebral venous thrombosis in Germany: a descriptive study. MedRxiv, 2021.04.30.21256383. https://doi.org/10.1101/2021.04.30.21256383

Das bedeutet, dass Frauen ein 9,68-fach erhöhtes Risiko einer SVT nach Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff gegenüber einer Impfung mit dem BioNTech-Impfstoff haben, ein 3,14-fach erhöhtes Risiko gegenüber Männern, die mit AstraZeneca geimpft wurden und ein 2,14-fach erhöhtes Risiko für unter 60-jährige Frauen gegenüber über 60-jährigen Frauen.

Die Sache mit Johnson & Johnson

Beim Impfstoff von Johnson & Johnson, der ja auch ein Vektorimpfstoff (Link Wikipedia) ist (er benutzt ein Adenovirus statt des Schimpansen-Virus von AstraZeneca als Vektor) hat die EMA am 09.04.2021 bekannt gegeben, dass sie den Impfstoff auf Grund von fünf Fällen von schweren Thrombosen in Verbindung mit einer Thrombozytopenie, welche nach Impfungen in den USA aufgetreten seien, genauer untersuchen werde (Link). Die FDA in den USA berichtete am 13.04.2021 von sechs Sinus- und Hirnvenenthrombosen nach Verimpfung von 6,8 Millionen Dosen Johnson und Johnson-Impfstoff (Link). Ähnliche, insgesamt sehr niedrige, Fallzahlen einer VITT wurden auch offenbar in zwei nicht frei erhältlichen Studien publiziert: Link DGN JournalClub.

Kleines Fazit

Insgesamt scheint es beim Thema VITT nach Impfung mit einem Vektor-Impfstoff – und dabei v.a. dem von AstraZeneca – eine gewisse Stabilität und Konstanz in den Daten zum jeweiligen Erkrankungsrisiko zu geben. Ich glaube, man lehnt sich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man feststellt, dass junge Frauen in keinem Fall und Frauen unter 60-Jahren ziemlich sicher nicht mit dem AstraZeneca-Impfstoff geimpft werden sollten, analog zur derzeitigen STIKO-Empfehlung. Nicht ganz verkehrt wäre m.E. sogar die Maßgabe, Frauen überhaupt nicht mit dem AstraZeneca-Impfstoff zu impfen und bei Männern unter 60 Jahren vorsichtig und bei über 60 Jahren großzügig mit dem Impfstoff zu sein.

Wo man weiterlesen kann

Davies, N. G., Jarvis, C. I., Edmunds, W. J., Jewell, N. P., Diaz-Ordaz, K., & Keogh, R. H. (2021). Increased mortality in community-tested cases of SARS-CoV-2 lineage B.1.1.7. Nature. https://doi.org/10.1038/s41586-021-03426-1

Greinacher, A., Thiele, T., Warkentin, T. E., Weisser, K., Kyrle, P. A., & Eichinger, S. (2021). Thrombotic Thrombocytopenia after ChAdOx1 nCov-19 Vaccination. New England Journal of Medicine, NEJMoa2104840. https://doi.org/10.1056/NEJMoa2104840

Schulz, J. B., Berlit, P., Diener, H.-C., Gerloff, C., Greinacher, A., Klein, C., Petzold, G., Poli, S., Piccininni, M., Kurth, T., Roehrig, R., Steinmetz, H., & Thiele, T. (2021). COVID-19 vaccine-associated cerebral venous thrombosis in Germany: a descriptive study. MedRxiv, 2021.04.30.21256383. https://doi.org/10.1101/2021.04.30.21256383

Stellungnahme der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH): Link Originalversion und Link aktualisierte Version

Zerebrale Sinus- und Hirnvenenthrombosen nach AstraZeneca-Impfung: vaccine-induced immune thrombotic thrombocytopenia (VITT)

Was bisher geschah

Kurz zusammengefasst, für die, die den ersten Teil (Link) nicht gelesen haben: Eine Arbeitsgruppe um Transfusionsmediziner aus der Uniklinik in Greifswald hat sehr schnell nach den ersten Berichten zu Sinus- und Hirnvenenthrombosen (SVT) nach Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff ein Preprint (Link, Link pdf) und 09.04.2021 das peer reviewd-Paper hierzu im New England Journal of Medicine (NEJM) veröffentlicht (Link). Hier konnte gezeigt werden, dass der Mechanismus der Thrombosekomplikationen mit gleichzeitigem Abfall der Thrombozyten offenbar in vielen Punkten einer Heparin-induzierten Thrombozytopenie Typ 2 (HIT Typ 2) ähnelt. Was das ist habe ich übrigens im ersten Teil der Reihe erklärt. In der Arbeit aus Greifswald wurde eine Fallserie von 11 Patienten aus Deutschland und Österreich mit schweren Impfkomplikationen nach Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff vorgestellt, wobei davon neun Frauen und zwei Männer waren, das Alter zwischen 22 und 49 Jahren lag. Von diesen 11 Patienten litten 9 an einer Sinus- oder Hirnvenenthrombose, drei an einer Pulmonalarterien-Embolie, drei an einer Thrombose des Pfortaderkreislaufes und fünf an einer disseminierten intravasalen Gerinnungsstörung. Die Fälle verliefen schwer, sechs der 11 Patienten sind verstorben. In den zunächst von vier Patienten verfügbaren Blutproben fanden sich in drei Fällen anti-PF4/Heparin-Antikörper (also wie bei einer Heparin-induzierten Thrombozytopenie Typ 2), ohne dass diese zuvor Heparin erhalten hatten.

Updates (Changelog):

12.05.2021: Die American Heart Association und die American Stroke Association haben eine gemeinsame Stellungnahme mit Handlungsempfehlungen zur Behandlung der VITT veröffentlicht.

Vaccine-induced immune thrombotic thrombocytopenia (VITT), was ist das eigentlich und wie entsteht es?

Nach dem ersten Nachweis von HIT Typ 2-typischen Antikörpern wurden weitere Blutproben (insgesamt 24, also demnach auch noch weitere Blutproben von Patienten, die in der Fallserie nicht auftauchen) untersucht, welche ebenfalls von Patienten mit schweren thrombotischen Komplikationen nach Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff stammten. Von diesen kam es bei 22 Patienten zu einer starken Thrombozytenaktivierung nach Gabe von PF4 und nach Gabe des AstraZeneca-Impfstoffes. Es gab eine Kontrollgruppe mit 20 Patientenseren von mit AstraZeneca-Geimpften, welche keine Komplikationen entwickelt hatten, bei denen diese Thrombozytenaktivierung nicht gezeigt werden konnte.

Bei allen Patienten-Serumproben konnte die Thrombozytenaktivierung durch die Gabe von intravenösen Immunglobulinen (IVIG) gehemmt werden und durch einen monoklonalen Antikörper gegen CD32 (Monoklonaler Antikörper IV.3). CD32 (Link englische Wikipedia) als Oberflächenprotein kommt auf einer Menge von Immunzellen vor und bindet u.a. an IgG-Antikörper, insbesondere aber an Immunkomplexe. Im Umkehrschluss heißt das, dass bei den Serumproben die Thrombozytenaktivierung aufhörte, wenn zirkulierende Immunkomplexe aus IgG-Antikörpern gebunden wurden (was wiederum zu dem passt, was bei einer Heparin-induzierten Thrombozytopenie Typ 2 passiert).

Die Autoren betonen, dass sowohl das klinische Bild, als auch die serologischen Befunde dem ähneln, was man bei einer Heparin-induzierten Thrombozytopenie Typ 2 beobachten kann. Sie erwähnen, dass in den letzten Jahren verschiedene Chemikalien und Medikamente, virale und bakterielle Infekte, aber auch Kniegelenksersatz-Operationen beschrieben wurde, bei denen es zu einem Bild einer Heparin-induzierten Thrombozytopenie Typ 2 gekommen sei, ohne dass zuvor (so wie bei den mit AstraZeneca-Geimpften) Heparin gegeben worden sei. Hierfür sei der Begriff autoimmun Heparin-induzierte Thrombozytopenie geprägt worden. Im Gegensatz zu Patienten mit klassischer Heparin-induzierter Thrombozytopenie würden Patienten mit autoimmuner Heparin-induzierter Thrombozytopenie oft eine ungewöhnlich schwere Thrombozytopenie, eine erhöhte Häufigkeit einer disseminierten intravasalen Gerinnungsstörung und atypische thrombotische Ereignisse zeigen. Anders als bei der klassischen Heparin-induzierten Thrombozytopenie würde niedrig dosiertes niedermolekulares Heparin eher protektiv wirken und den Immunprozess nicht noch weiter antreiben. Hinsichtlich der Nomenklatur dieser autoimmunen Heparin-induzierten Thrombozytopenien wurde der Begriff „vaccine-induced immune thrombotic thrombocytopenia (VITT)“ vorgeschlagen. Das Paul-Ehrlich-Institut nennt die VITT in seinen Veröffentlichungen übrigens Thrombosen mit Thrombozytopenie-Syndrom (TTS).

Am 20. April 2021 wurde von der selben Arbeitsgruppe, erweitert um Forscher u.a. aus dem UKE, ein Preprint (also entsprechend müssen die Aussagen noch unter Vorbehalt verstanden werden) veröffentlicht (Link), welches sich genauer mit den Mechanismen der Entstehung der VITT beschäftigt. Hier wurde in einem recht aufwändigen experimentellen Setting ein mehrstufiger Prozess beschrieben, der direkt nach der Injektion des Impfstoffes beginnt und durch die Art des Impfstoffes, seine Zusatzstoffe und die starke Entzündungsreaktion, die er auslöst, bedingt ist.

Nach der Injektion kommen Impfstoffbestandteile und Thrombozyten unweigerlich in Kontakt, was zu einer Aktivierung der Thrombozyten führt. Im Rahmen der Aktivierung exprimieren die Thrombozyten Plättchenfaktor 4 (PF4). PF4 wiederum bindet an verschiedene Impfstoffbestandteile, u.a. das als Vektor verwendete Adenovirus, aber auch an menschliche Proteine, die im Impfstoff enthalten sind und die offenbar bei der Impfstoffherstellung verwendet wurden. So entstehen erste Komplexe aus Thrombozyten und Impfstoffbestandteilen. Dadurch, dass im Impfstoff geringe Mengen EDTA (Link Wikipedia) enthalten sind, welches zu einer vermehrten Durchlässigkeit insbesondere der Kapillaren führt, kommen zum Einen der Impfstoff und seine Bestandteile, zum Anderen aber auch die PF4-Impstoff-Komplexe in den Blutkreislauf. An diese binden natürlich vorkommende IgG-Antikörper, so dass „klassische“ Immunkomplexe entstehen, die jetzt eine immunologische Reaktion auslösen: Die Aktivierung des Komplementsystems (Link Wikipedia) und eine B-Zell-vermittelte Immunantwort. Spätestens das führt mit zu der systematischen Entzündungsreaktion, die ja insbesondere jüngere Menschen 8 bis 24 Stunden nach der Injektion erleiden.

Und: Wie wir bei dem HIT-Exkurs in Teil 1 gelernt haben, begünstigen systemische Entzündungsreaktionen und Gewebetraumen (die Muskulatur an der Injektionsstelle) die Entstehung einer HIT. Warum das so ist scheint ein unglaublich komplexer Prozess zu sein, den ich nur so halb verstehe, deshalb kürze ich ihn ab. Am Ende kommt es hier zu noch mehr Thrombozytenaktivierung und PF4-Freisetzung und zu einer Aktivierung neutrophiler Granulozyten, Monozyten und Endothelzellen mit der Entstehung von Thrombosen. In dieser Konstellation bilden sich dann Antikörper gegen PF4, was wiederum zu einer weiteren Immunreaktion führt, der HIT-ähnlichen VITT.

Klinische Merkmale der Patienten mit VITT

Im Paper wird eine Tabelle mit den 11 beschriebenen Fällen aufgeführt, in der auf verschiedene Laborparameter, aber auch auf die Erkrankungsart und das Outcome eingegangen wird. Ich habe hier mal die wichtigsten Parameter aufgeführt:

Fall1234567891011
Thrombozyten min. (/nl)1310760923752916138??
D-Dimer max. (mg/ml)1421,813????2,633??2135??
Ort der ThrombosePfortader, Aorta, LAE, SVTLAESVTSVTSVT, Pfortader, LAE, VCI, RVSVTSVTSVT, disseminiert im ganzen KörperSVT, multiple OrganeSVT, PfortaderSVT, ICB
Symptombeginn nach Impfung569713788161112
Gerinnungsstörungneinneinneinneinjaneinneinneinneinneinnein
OutcomeletalBesserungunklarletalBesserungBesserungBesserungletalletalletalletal
nach: nach: Greinacher, A., Thiele, T., Warkentin, T. E., Weisser, K., Kyrle, P. A., & Eichinger, S. (2021). Thrombotic Thrombocytopenia after ChAdOx1 nCov-19 Vaccination. New England Journal of Medicine, NEJMoa2104840. https://doi.org/10.1056/NEJMoa2104840, Link pdf

Auffällig ist, dass die Patienten, die an den Komplikationen nach der Impfung verstorben sind, alle extrem niedrige Thrombozytenwerte (um 20/nl) hatten und die mit gutem Outcome deutlich höhere. Auffällig ist auch, dass das Auftreten der schweren Impfreaktionen mindestens fünf Tage gedauert hat, was nahelegt, dass die thrombotischen Komplikationen nicht direkt durch den Impfstoff, sondern durch die immunologische Reaktion auf die Impfung ausgelöst werden.

Empfehlung für das Management von Impfreaktionen

Die Autoren des Papers führen an, dass die Kombination aus einer Thrombozytopenie und thrombotischen Komplikationen nach einer Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff unbedingt an eine vaccine-induced immune thrombotic thrombocytopenia (VITT) denken lassen sollte. Sie betonen, dass der Nachweis von anti-PF4/Heparin-Antikörpern in vielen Krankenhäusern geführt werden kann, da es überall Konzepte und Abläufe zur Detektion von Heparin-induzierten Thrombozytopenien gibt, weisen aber auch darauf hin, dass eben nicht alle der Patienten mit schlechtem Outcome anti-PF4/Heparin-Antikörper hatten. In diesen Fällen sollten auch andere immunvermittelte Ursachen einer Thrombozytopenie wie ein hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS, Link Wikipedia) (das war das von EHEC, Link Wikipedia) oder ein Antiphospholipid-Syndrom (Link Wikipedia) bedacht werden. Zudem kann in der Universitätsklinik Greifswald ein spezieller Thrombozytenaktivierungs-Test mit „PF4-Verstärkung“ angefordert werden.

Die Autoren empfehlen zum Einen den Einsatz von intravenösen Immunglobulinen (IVIG) (1 g/kg Körpergewicht) zum Stoppen der Immunreaktion, sowie eine Antikoagulation mit direkten oralen Antikoagulanzien wie Rivaroxaban oder Apixaban (also Faktor Xa-Antagonisten) oder Argatroban oder Fondaparinux, deren Einsatz auch bei der Heparin-induzierten Thrombozytopenie empfohlen wird.

Ende April 2021 erschien in Stroke ein Konsensuspaper von der American Heart Association und der American Stroke Association, in dem die Behandlungsempfehlungen der VITT noch einmal zusammengefasst wurden. Einzig relevante Ergänzung zu der Greifswalder Arbeit ist die Empfehlung der IVIG-Gabe über zwei Tage. Die restlichen Handlungsempfehlungen sind im wesentlichen deckungsgleich.

In einer am 28.04.2021 veröffentlichten Arbeit in Blood (Link) aus Hannover mit einer Fallserie mit fünf Patienten mit einer VITT nach AstraZeneca-Impfung werden einige ergänzende – fundierte – Anmerkungen zum Thema VITT-Management gemacht. So weisen die Autoren dieser Arbeit darauf hin, dass niedermolekulare, aber auch umfraktionierte, Heparine bei den von ihnen berichteten fünf Patienten keine negative Wirkung gehabt hätten, vermutlich weil der Trigger einer VITT anders sei, als der einer HIT. Allerdings sei der Effekt der Gabe von IVIG „uncertain“, also ungewiss. Die Empfehlung für IVIG sei von der HIT Typ 2 abgeleitet worden, es gebe aber keine Evidenz, dass die IVIG-Gabe auch bei der VITT helfe. In ihrer Fallserie hätten zwei von drei mit IVIG behandelten Patienten zwar eine Zunahme der Thrombozytenzahl gehabt, allerdings auch neue thrombembolische Ereignisse entwickelt. Die Autoren dieser Arbeit weisen auch darauf hin, dass die VITT-assoziierten anti-PF4-Antikörper nicht mit jedem HIT-Panel detektiert werden könnten, so z.B. nicht mit dem „HIT IgG CLIA“, wohl aber mit einem anti-PF4-Antikörper-ELISA.

Durchgemachte Thrombose, Thrombophilie und AstraZeneca-Impfung:

Eine durchgemachte Thrombose sollte eigentlich kein Problem darstellen, da der Mechanismus der Entstehung „normaler“ Thrombosen und auch „normaler“ SVT ein ganz anderer ist als bei der überschießenden Impfreaktion. Eine andere Frage ist, ob eine durchgemachte Heparin-induzierte Thrombozytopenie nicht eine absolute Kontraindikation für die Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff darstellt. Hier gibt es ja zwei Möglichkeiten: Entweder bestehen schon präformierte anti-PF4/Heparin-Antikörper und es kommt sehr rasch zu einer schweren Immunreaktion oder es passiert gar nichts, weil der Weg der Induktion der Heparin-induzierten Thrombozytopenie ein ganz anderer ist (einmal Heparin, einmal Impfstoff). Die Aussagen der Arbeit von Tiede et al. Deuten ja eher in Richtung Version 2.

Menschen, die auf Grund einer Thrombophilie schon eine orale Antikoagulation einnehmen, nehmen ja sozusagen schon die Therapie der möglichen Impfnebenwirkung ein.

Wo man weiterlesen kann

Greinacher, A., Thiele, T., Warkentin, T. E., Weisser, K., Kyrle, P. A., & Eichinger, S. (2021). Thrombotic Thrombocytopenia after ChAdOx1 nCov-19 Vaccination. New England Journal of Medicine, NEJMoa2104840. https://doi.org/10.1056/NEJMoa2104840

Greinacher, A., Selleng, K., Wesche, J., Handtke, S., Palankar, R., Aurich, K., Lalk, M., Methling, K., Völker, U., Hentschker, C., Michalik, S., Steil, L., Schönborn, L., Beer, M., Franzke, K., Rangaswamy, C., Mailer, R. K., Thiele, T., Kochanek, S., … Renné, T. (2021). Towards Understanding ChAdOx1 nCov-19 Vaccine-induced Immune Thrombotic Thrombocytopenia (VITT). Research Square. https://doi.org/10.21203/rs.3.rs-440461/v1

American Heart Association/American Stroke Association Stroke Council Leadership. (2021). Diagnosis and Management of Cerebral Venous Sinus Thrombosis with Vaccine-Induced Thrombotic Thrombocytopenia. Stroke, STROKEAHA.121.035564. https://doi.org/10.1161/STROKEAHA.121.035564

Tiede, A., Sachs, U. J., Czwalinna, A., Werwitzke, S., Bikker, R., Krauss, J. K., Donnerstag, F. G., Weißenborn, K., Höglinger, G. U., Maasoumy, B., Wedemeyer, H., & Ganser, A. (2021). Prothrombotic immune thrombocytopenia after COVID-19 vaccine. Blood. https://doi.org/10.1182/blood.2021011958

Zerebrale Sinus- und Hirnvenenthrombosen nach AstraZeneca-Impfung: Die Grundlagen

Worum geht es überhaupt?

Nach COVID19-Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff (und offenbar auch bei dem Johnson & Johnson-Impfstoff) kommt es selten und vor allem bei jüngeren und weiblichen Geimpften 3 bis 16 Tage nach der Impfung zu schweren Thrombosekomplikationen, meist in Verbindung mit einem massiven Abfall der Thrombozyten (also der Blutplättchen, Link Wikipedia). In den meisten Fällen ist es zu einer Hirnvenen- und Sinusthrombose gekommen, vereinzelt auch zu Thrombosen im Pfortadersystem.

Bevor man jetzt weiter macht, muss man als erstes einmal rekapitulieren, was eine Sinus- und Hirnvenenthrombose überhaupt ist.


Exkurs: Die „normale“ Sinus- und Hirnvenenthrombose

Neuroanatomie

Das venöse Blut des Gehirns wird in den sogenannten Hirnvenen gesammelt und über die Brückenvenen (das sind die, die beim Subduralhämatom (Link) einreißen) in die Sinus in der harten Hirnhaut (der Dura mater) abgeleitet, von wo aus es in die großen Halsvenen und dann zurück zum Herzen fließt.

In blau sind die duralen venösen Sinus dargestellt, Quelle: Link.

Klugscheißerei vorweg

Der korrekte Name der Erkrankung lautet Sinus- oder Hirnvenenthrombose und wenn doch zerebrale Sinus- und Hirnvenen betroffen sind, dann Sinus- und Hirnvenenthrombose. Man sagt nicht Sinusvenenthrombose, da die Sinus keine Gefäßwand haben und somit keine Venen sind. Für den Begriff Sinusvenenthrombose werden Assistenzärzte in der Neurologie in der Regel in der Röntgenbesprechung aus der ersten Reihe heraus gemaßregelt (same bei Apoplex und Krampfanfall).

Der englischsprachige Begriff der Erkrankung (wenn man mal googeln muss) lautet „cerebral venous thrombosis (CVT)“.

Epidemiologie und Klinik

Die spontane Sinus- und Hirnvenenthrombose (SVT) ist mit einer Prävalenz von 1,3-1,6/100.000 Einwohner eine seltene Erkrankung, aber doch ungefähr 3-4 x häufiger, als man noch vor wenigen Jahren angenommen hat. Die meisten SVT verlaufen mild, die Mortalität liegt unter 5% und die Rate an Betroffenen mit vollständiger Erholung bei mindestens 75%.

Abhängig vom Ort der Thrombose und dem Durchmesser der betroffenen Hirnvene oder des betroffenen Sinus reichen die Beschwerden von leicht und unspezifisch bis hin zu schwer und lebensbedrohlich. Klassische Symptome einer (schweren) SVT sind lageabhängige Kopfschmerzen (im Liegen stärker durch einen erhöhten Hindruck durch den gestörten venösen Abfluss), Sehstörungen (durch eine Stauungspapille (Link Wikipedia), ebenfalls durch den Hirndruck) und dann Komplikationen, die durch den fehlenden venösen Abfluss entstehen, insbesondere eine Ödembildung um das verschlossene Gefäß, aber auch Stauungsblutungen (sozusagen die Steigerung des Ödems mit Einblutung in das Gehirngewebe). Hierdurch kommt es häufig zu neurologischen Ausfallserscheinungen und epileptischen Anfällen.

Bei mindestens 20-35% der SVT lässt sich keine Ursache identifizieren, bei ca. 10% der Erkrankungen besteht eine orale Kontrazeption (also die Antibabypille) als möglicher Risikofaktor. Auch wenn es naheliegend scheint, besteht keine sichere Assoziation zu vermehrten SVT bei genetischen oder erworbenen Thrombophilien (Gerinnungsstörungen Link Wikipedia). Dies betrifft maximal 10% der Fälle, in wenigen Arbeiten werden auch 25% angenommen. Wohl aber kommt es in der Schwangerschaft zu vermehrten SVT. Hier schätzt man die Häufigkeit auf 12/100.000 Schwangerschaften, also als ca. 10 x häufiger als in der Gesamtbevölkerung.

Diagnostik

Die Bildgebung per CT und MRT insbesondere in Verbindung mit einer venösen Angiographie (Gefäßdarstellung) kann mit hoher Sensitivität relevante Hirnvenen- oder Sinusthrombosen detektieren. Bei jüngeren Patienten wird zur Reduktion der Strahlenbelastung die MRT angeraten. Auch wenn es formal anders empfohlen wird, kann man auch mit einer nativen MRT ohne Angiographie schon die allermeisten (und in jedem Fall größere) SVT ausschließen. Laborchemisch kommt – analog zur tiefen Beinvenenthrombose – die Bestimmung der D-Dimere (Link Wikipedia) zum Einsatz. Hier ist es – wie immer bei den D-Dimeren – so, dass negative D-Dimere in Verbindung mit einer klar umrissenen Klinik (in diesem Fall isolierte Kopfschmerzen ohne objektivierbares neurologisches Defizit) mit einer Spezifität von 99,8% eine SVT ausschließen können. Anders herum liegt die Spezifität für ein relevantes thrombotisches Ereignis bei positiven D-Dimeren nur bei 33% und man muss dann auf jeden Fall ein weiteres diagnostisches Verfahren anwenden, um eine SVT nachweisen oder ausschließen zu können. Kurz gesagt, negative D-Dimere schließen eine relevante Thrombose mit hoher Sicherheit aus, positive belegen diese aber eben nicht.

Therapie

Die Therapie leitet sich (auf Grund der schlechten Studienlage) von der Behandlung der tiefen Bein- und Beckenvenenthrombosen (Link Wikipedia) ab und besteht aus einer Antikoagulation (Gerinnungshemmung) zunächst mit Heparinen (Link Wikipedia). Hier kommt es im praktischen Alltag immer wieder zu erbitterten Diskussionen, ob nun ein Heparin-Perfusor mit unfraktioniertem Heparin angewendet oder die Gabe von niedermolekularen Heparinen in therapeutischer Dosis erfolgen sollte. Hierzu muss man wissen, dass es insgesamt nur zwei brauchbare klinische Studien mit insgesamt 79 eingeschlossenen Patienten zu der Fragestellung gibt und man daher kaum belastbare Aussagen treffen kann. Insgesamt konnte immer wieder die Überlegenheit von niedermolekularen Heparinen gegenüber einem Heparin-Perfusor gezeigt werden, allerdings haben alle Studien kleinere bis größere methodische Schwächen (z.B. wurden in einer Studie die schwerer betroffenen Patienten v.a. mit Heparin-Perfusoren behandelt). Zugelassen ist weiterhin nur die Gabe von unfraktioniertem Heparin. Im klinischen Alltag wird meist mit einem Heparin-Perfusor begonnen und wenn dann – erwartbar – die PTT immer zwischen unter- und übertherapeutisch pendelt – irgendwann auf die Gabe von 2 x tgl. niedermolekularen Heparinen umgestellt.

Im Verlauf erfolgt dann klassischerweise eine orale Antikoagulation mit Vitamin K-Antagonisten (also Marcumar, Link Wikipedia) und zwar auch, wenn eine Stauungsblutung vorliegt. Es gibt eine neuere Studie, die den Einsatz von Dabigatran (Link Wikipedia) als besser steuerbares Antikoagulanz im Vergleich zu Vitamin K-Antagonisten getestet hat (mit etwas uneindeutigem Ergebnis). Zugelassen sind aber weiterhin nur Vitamin K-Antagonisten. Die Dauer der Antikoagulation wird von den Empfehlungen zur Beinvenenthrombose abgeleitet, in der Regel antikoaguliert man für ein halbes Jahr, bei wiederholten Thrombosen oder einer nachgewiesenen Thrombophilie lebenslang.

Bei schweren Verläufen kann – bei schlechter Evidenzlage – eine mechanische Thrombektomie und ggfs. lokale Lysebehandlung und bei raumfordernden Blutungen eine Kraniotomie erwogen werden.

Wo man weiterlesen kann:

Ferro, J. M., Coutinho, J. M., Dentali, F., Kobayashi, A., Alasheev, A., Canhão, P., Karpov, D., Nagel, S., Posthuma, L., Roriz, J. M., Caria, J., Frässdorf, M., Huisman, H., Reilly, P., & Diener, H.-C. (2019). Safety and Efficacy of Dabigatran Etexilate vs Dose-Adjusted Warfarin in Patients With Cerebral Venous Thrombosis. JAMA Neurology, 76(12), 1457. https://doi.org/10.1001/jamaneurol.2019.2764

Weimar, C., Holzhauer, S., Knoflach, M., Koennecke, H., Masuhr, F., Mono, M.-L., Niederstadt, T., Nowak-Göttl, U., Schellong, S. M., & Kurth, T. (2019). Zerebrale Venen- und Sinusthrombose. Der Nervenarzt, 90(4), 379–387. https://doi.org/10.1007/s00115-018-0654-6

Kowoll, C. M., & Dohmen, C. (2020). Sinus‑/Hirnvenenthrombose: wann Therapie eskalieren? DGNeurologie, 3(3), 198–205. https://doi.org/10.1007/s42451-020-00178-6


Wie entstehen die Sinus- und Hirnvenenthrombosen nach Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff?

Nachdem es zunächst ein Preprint aus der Transfusionsmedizin der Uniklinik in Greifswald gab (Link, Link pdf), ist am 09.04.2021 das peer reviewd-Paper hierzu im New England Journal of Medicine (NEJM) veröffentlicht worden (Link). Im Vergleich zum Preprint ist dies noch mal ausführlicher und aufschlussreicher. Der Erstautor scheint sich schwerpunktmäßig mit dem Thema Heparin-induzierte Thrombozytopenien zu beschäftigen (und ist dementsprechend auch Erstautor des verlinkten Papers beim Exkurs Heparin-induzierte Thrombozytopenie unten).

In der Arbeit wird eine Fallserie von 11 Patienten aus Deutschland und Österreich mit schweren Impfkomplikationen nach Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff berichtet, wobei davon neun Frauen und zwei Männer waren, das Alter zwischen 22 und 49 Jahren lag. Von diesen 11 Patienten litten 9 an einer Sinus- oder Hirnvenenthrombose, drei an einer Pulmonalarterien-Embolie (Lungenarterienembolie, Link Wikipedia), drei an einer Thrombose des Pfortaderkreislaufes (einer seltenen internistischen Erkrankung, welche normalerweise in Kombination mit einer Leberzirrhose auftritt, Link Wikipedia) und fünf an einer disseminierten intravasalen Gerinnungsstörung (Link Wikipedia). Die Fälle verliefen schwer, sechs der 11 Patienten sind verstorben.

In den zunächst von vier Patienten verfügbaren Blutproben fanden sich in drei Fällen anti-PF4/Heparin-Antikörper (also wie bei einer Heparin-induzierten Thrombozytopenie Typ 2; siehe unten), ohne dass diese zuvor Heparin (was ja ansonsten die Voraussetzung für eine Heparin-induzierte Thrombozytopenie ist) erhalten hatten.


Exkurs: Heparin-induzierte Thrombozytopenie

Prinzipiell lässt sich – v.a. bei der Gabe von unfraktioniertem Heparin – bei gut 25% der damit behandelten Patienten in den ersten Tagen ein Abfall der Thrombozyten um 30 bis maximal 50% beobachten, bevor die Thrombozytenwerte wieder ansteigen. Dieses Phänomen nennt man Heparin-induzierte Thrombozytopenie (HIT) Typ I (Link Wikipedia). Die HIT Typ 1 entsteht, da unfraktioniertes Heparin stark negativ geladen ist und Thrombozyten stark positiv und das Heparin so an die Thrombozyten bindet und diese aktiviert. Bei der HIT Typ 1 handelt es sich eher um ein Phänomen als eine Erkrankung, eine Behandlung ist in der Regel nicht notwendig.

Bei der Heparin-induzierte Thrombozytopenie Typ II ist das anders. Hier entsteht durch das eben beschriebene Binden der Thrombozyten mit dem Heparin eine Immunreaktion bei den Patienten, in deren Folge vier bis fünf Tage nach Erstgabe Antikörper gegen ein Oberflächenprotein der Thrombozyten, den Plättchenfaktor 4 (PF4) gebildet werden. Diese Antikörper binden an die Thrombozyten und verklumpen diese, weshalb dann Thrombosen sowohl im venösen als auch im arteriellen System entstehen. Parallel fällt die Zahl der Thrombozyten stark ab (diese werden ja auch gerade immunologisch bekämpft), so dass neben den Thrombosen durch den Thrombozytenmangel auch Blutungskomplikationen entstehen können.

Systemische Entzündungen und Gewebetraumata sind wichtige Risikofaktoren, die die Entstehung einer HIT Typ 2 wahrscheinlicher machen.

Wichtigste präventive Maßnahme ist das Verwenden niedermolekularer Heparine, die eben nicht so stark negativ geladen sind und daher auch weniger an Thrombozyten binden und dadurch auch weniger wahrscheinlich (und weniger stark) eine derartige Immunreaktion auslösen. Zweite präventive Maßnahme ist die möglichst kurze und niedrig dosierte Heparin-Gabe.

Oft können bei der HIT Typ 2 Antikörper gegen den Plättchenfaktor 4 nachgewiesen werden. Schon beim Verdacht auf eine HIT Typ 2 muss die Heparin-Gabe umgehend beendet werden und alternativ Präparate, die eben nicht Plättchenfaktor 4-Antikörper induzieren, gegeben werden. Dies sind in der Regel Argatroban oder Fondaparinux. Bis zu einem Drittel der Fälle einer HIT Typ 2 verlaufen schwer, durchaus auch mit letalem Ausgang.

Wo man weiterlesen kann:

Greinacher, A. (2003). Heparininduzierte Thrombozytopenie. Dtsch Arztebl International, 100(34–35), A-2220. https://www.aerzteblatt.de/int/article.asp?id=38178

Greinacher, A., Thiele, T., Warkentin, T. E., Weisser, K., Kyrle, P. A., & Eichinger, S. (2021). Thrombotic Thrombocytopenia after ChAdOx1 nCov-19 Vaccination. New England Journal of Medicine, NEJMoa2104840. https://doi.org/10.1056/NEJMoa2104840


COVID-19 und Impfungen


COVID-Impfungen bei Kindern und Jugendlichen

Warum wir unsere Kinder gegen COVID-19 haben impfen lassen

Mir ist die Diskussion um die COVID-19-Impfung von Kindern- und Jugendlichen zwischen 5 und 11 Jahren – gerade bei Twitter – viel zu unsachlich, zu sehr von Vorurteilen und vorgefestigten Meinungen geprägt und in die eine und die andere Richtung zu alarmistisch. Ich habe mir daher überlegt, hier aufzuschreiben, weshalb wir zu der Entscheidung gekommen…


Impfnebenwirkungen in der Neurologie

Ein Twitter-Drama in drei Akten: Myokarditis ohne Corona, mit Corona und nach COVID-Impfung

von Christian Schöps, ECMO_Doc, Eike Gröne und Kardioklick Vorweg Es gab bei Twitter – mal wieder – etwas Streit. Es ging – mal wieder – um das Thema COVID-Impfung und das Myokarditis-Risiko durch die Impfung und durch die Infektion und darum, welche Konstellation risikoreicher ist: Klar, der Twitter-User narkosedoc polarisiert, klar, die echten Impfgegner wird…

Neurologische Erkrankungen nach Impfungen: Fakt oder Fiktion?

Einleitung Okay, doch noch ein COVID-Thema, aber nur so ein halbes. Ich halte es mal größtenteils COVID-frei, auch wenn die Tatsache, dass ich was dazu schreibe natürlich durch die Diskussion um Impfnebenwirkungen nach COVID-Schutzimpfungen getriggert ist. Ich werde mich mal auf das Thema neurologische Erkrankungen als Nebenwirkungen nach Impfungen konzentrieren, da ich davon am meisten…


Genesen von COVID-19

Die RKI-Begründung zur Verkürzung des Genesenenstatus

Die Verkürzung des Genesenenstatus von sechs auf drei Monate, bzw. eigentlich auf den Zeitraum 28. bis 90. Tag nach positivem PCR-Befund schlägt in den klassischen und den sozialen Medien große Wellen. Vielen erscheint sie unverständlich und ungerecht, vielen auch willkürlich. Die offizielle Argumentationslinie ist, die Kommunikation sei „unglücklich“ gelaufen, aber inhaltlich entspreche es dem Stand…


Mini-Serie: Zerebrale Sinus- und Hirnvenenthrombosen nach AstraZeneca-Impfung

Durch die Freigabe des AstraZeneca-Impfstoffes für alle Impfwilligen am 06.05.2021 bleibt das Thema zerebrale Sinus- und Hirnvenenthrombosen nach Impfung doch weiter aktuell. Durch Aussagen wie diese

wird die Frage, ob sich auch unter 60-Jährige mit dem AstraZeneca-Impfstoff gegen die Empfehlung der STIKO impfen lassen sollten noch einmal wichtiger. Damit die Übersichtlichkeit nicht immer mehr verloren geht, habe ich den bisherigen (sehr, sehr langen) Beitrag in eine Mini-Serie verwandelt. So kommen die verschiedenen Zielgruppen (ambitionierte und interessierte Nicht-Mediziner, aber auch Ärzte und Neurologen) hoffentlich mehr auf ihre jeweiligen Kosten und es wird alles übersichtlicher und auch besser aktualisierbar.


Wo finde ich was?

Grundlagen

Daher gibt es jetzt ein Grundlagenkapitel

VITT

Ein Kapitel zum Thema Pathogenese, Klinik und Behandlung der VITT

Impfrisiko

Und ein Kapitel zum Thema individuelles Risiko einer VITT bei Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff


Und hier geht’s zum alten Beitrag: Link


Die Originalversion: Zerebrale Sinus- und Hirnvenenthrombosen nach AstraZeneca-Impfung

Vorab (Vorwort zur Version vom 05. April):

Ja, ich wollte auf keinen Fall, niemals und überhaupt gar nicht hier was zu COVID19 schreiben, aber das regt mich alles so auf, dass ich jetzt doch nicht anders kann. Und bevor ich weiter auf Twitter Leute anpöbel, schreib ich mal ein wenig was auf. Und die Sinus- und Hirnvenenthrombosen nach Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff sind zumindest ein sehr neurologisches COVID-Thema.
Bislang hab ich ja sehr stark Nischenblog-Beiträge für ein sehr kleines Fachpublikum geschrieben, da ich befürchte (und natürlich wegen der Klickzahlen auch hoffe), dass das auch Nicht-Neurologen und Nicht-Ärzte interessiert, werde ich versuchen die Wage zu halten, so dass das für möglichst alle verständlich wird, aber für „mein“ eigentliches Publikum auch nicht zu lame.

Updates (Changelog):

07.04.2021: Die europäische Arzneimittelagentur (EMA) hat ihre Stellungnahme zum AstraZeneca-Impfstoff aktualisiert, zeitgleich hat die britische Zulassungsbehörde Medicines and Healthcare products Regulatory Agency (MHRA) Stellung zum Auftreten von Sinus- und Hirnvenenthrombosen nach Impfung mit AstraZeneca genommen.

10.04.2021: Die bislang nur als Preprint verfügbare Arbeit aus Greifswald wurde im New England Journal of Medicin (NEJM) nach durchlaufendem Peer-Review-Prozess veröffentlicht (und ist gegenüber dem Preprint noch mal deutlich erweitert), das Paul-Ehrlich-Institut hat seinen Sicherheitsbericht aktualisiert und ausführlich Stellung zur Häufigkeit von Hirnvenen- und Sinusthrombosen genommen. Die EMA berichtet von einzelnen Fällen von vier Fällen von Thrombosen nach Impfung mit dem Vektorimpfstoff von Johnson & Johnson.

20.04.2021: In einem Preprint um die Greifswalder Arbeitsgruppe, die auch den prinzipiellen Mechanismus der Entstehung von Hirnvenenthrombosen nach Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff beschrieben hat, werden erste Erkenntnisse zur genaueren Pathogenese dieser seltenen, aber schweren Impfnebenwirkung beschrieben.

Was ist passiert?

Nach COVID19-Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff sind bei einigen jüngeren Geimpften 5 bis 16 Tage nach der Impfung schwere Thrombosekomplikationen aufgetreten, meist in Verbindung mit einem massiven Abfall der Thrombozyten (also der Blutplättchen, [Link Wikipedia]). In den meisten Fällen ist es zu einer Hirnvenen- und Sinusthrombose gekommen, vereinzelt auch zu Thrombosen im Pfortadersystem.
Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) veröffentlicht regelmäßig sogenannte Sicherheitsberichte zu den COVID19-Impfstoffen, die man [hier] abrufen kann. Diese Sicherheitsberichte sind nicht tagesaktuell, sondern werden in Intervallen bereitgestellt und beleuchten dann einen einige Tage zurückliegenden Zeitraum. Der letzte Sicherheitsbericht ([Link]) stammt vom 09.04.2021 und schließt Impfkomplikationen ein, die bis 02.04.2021 berichtet wurden. Nach diesem Sicherheitsbericht ist es bis zum 02.04.2021 zu 42 Fällen einer Sinus- oder Hirnvenenthrombose und bei 23 Betroffenen auch zu einem Abfall der Blutplättchen gekommen. Laut Paul-Ehrlich-Institut seien acht der Fälle tödlich verlaufen. Die Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH) ([Link]) berichtete am 01.04.2021 ([Link pdf] ) von 31 Fällen mit neun tödlichen Verläufen. Eine Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) nannte am 30.03.2021 die Zahl von „mehr als 30 Fällen“, welche „6-16 Tage nach der Impfung“ aufgetreten sein ([Link Stellungnahme]).

Bevor man jetzt weiter macht, muss man als erstes einmal rekapitulieren, was eine Sinus- und Hirnvenenthrombose überhaupt ist.

Exkurs: Die „normale“ Sinus- und Hirnvenenthrombose

Neuroanatomie

Das venöse Blut des Gehirns wird in den sogenannten Hirnvenen gesammelt und über die Brückenvenen (das sind die, die beim Subduralhämatom (Link) einreißen) in die Sinus in der harten Hirnhaut (der Dura mater) abgeleitet, von wo aus es in die großen Halsvenen und dann zurück zum Herzen fließt.

In blau sind die duralen venösen Sinus dargestellt, Quelle: Link.
Klugscheißerei vorweg

Der korrekte Name der Erkrankung lautet Sinus- oder Hirnvenenthrombose und wenn doch zerebrale Sinus- und Hirnvenen betroffen sind, dann Sinus- und Hirnvenenthrombose. Man sagt nicht Sinusvenenthrombose, da die Sinus keine Gefäßwand haben und somit keine Venen sind. Für den Begriff Sinusvenenthrombose werden Assistenzärzte in der Neurologie in der Regel in der Röntgenbesprechung aus der ersten Reihe heraus gemaßregelt (same bei Apoplex und Krampfanfall).
Der englischsprachige Begriff der Erkrankung (wenn man mal googeln muss) lautet „cerebral venous thrombosis (CVT)“.

Epidemiologie und Klinik

Die spontane Sinus- und Hirnvenenthrombose (SVT) ist mit einer Prävalenz von 1,3-1,6/100.000 Einwohner eine seltene Erkrankung, aber doch ungefähr 3-4 x häufiger, als man noch vor wenigen Jahren angenommen hat. Die meisten SVT verlaufen mild, die Mortalität liegt unter 5% und die Rate an Betroffenen mit vollständiger Erholung bei mindestens 75%.

Abhängig vom Ort der Thrombose und dem Durchmesser der betroffenen Hirnvene oder des betroffenen Sinus reichen die Beschwerden von leicht und unspezifisch bis hin zu schwer und lebensbedrohlich. Klassische Symptome einer (schweren) SVT sind lageabhängige Kopfschmerzen (im Liegen stärker durch einen erhöhten Hindruck durch den gestörten venösen Abfluss), Sehstörungen (durch eine Stauungspapille ([Link Wikipedia]), ebenfalls durch den Hirndruck) und dann Komplikationen, die durch den fehlenden venösen Abfluss entstehen, insbesondere eine Ödembildung um das verschlossene Gefäß, aber auch Stauungsblutungen (sozusagen die Steigerung des Ödems mit Einblutung in das Gehirngewebe). Hierdurch kommt es häufig zu neurologischen Ausfallserscheinungen und epileptischen Anfällen.

Bei mindestens 20-35% der SVT lässt sich keine Ursache identifizieren, bei ca. 10% der Erkrankungen besteht eine orale Kontrazeption (also die Antibabypille) als möglicher Risikofaktor. Auch wenn es naheliegend scheint, besteht keine sichere Assoziation zu vermehrten SVT bei genetischen oder erworbenen Thrombophilien (Gerinnungsstörungen [Link Wikipedia]). Dies betrifft maximal 10% der Fälle, in wenigen Arbeiten werden auch 25% angenommen. Wohl aber kommt es in der Schwangerschaft zu vermehrten SVT. Hier schätzt man die Häufigkeit auf 12/100.000 Schwangerschaften, also als ca. 10 x häufiger als in der Gesamtbevölkerung.

Diagnostik

Die Bildgebung per CT und MRT insbesondere in Verbindung mit einer venösen Angiographie (Gefäßdarstellung) kann mit hoher Sensitivität relevante Hirnvenen- oder Sinusthrombosen detektieren. Bei jüngeren Patienten wird zur Reduktion der Strahlenbelastung die MRT angeraten. Auch wenn es formal anders empfohlen wird, kann man auch mit einer nativen MRT ohne Angiographie schon die allermeisten (und in jedem Fall größere) SVT ausschließen. Laborchemisch kommt – analog zur tiefen Beinvenenthrombose – die Bestimmung der D-Dimere ([Link Wikipedia]) zum Einsatz. Hier ist es – wie immer bei den D-Dimeren – so, dass negative D-Dimere in Verbindung mit einer klar umrissenen Klinik (in diesem Fall isolierte Kopfschmerzen ohne objektivierbares neurologisches Defizit) mit einer Spezifität von 99,8% eine SVT ausschließen können. Anders herum liegt die Spezifität für ein relevantes thrombotisches Ereignis bei positiven D-Dimeren nur bei 33% und man muss dann auf jeden Fall ein weiteres diagnostisches Verfahren anwenden, um eine SVT nachweisen oder ausschließen zu können. Kurz gesagt, negative D-Dimere schließen eine relevante Thrombose mit hoher Sicherheit aus, positive belegen diese aber eben nicht.

Therapie

Die Therapie leitet sich (auf Grund der schlechten Studienlage) von der Behandlung der tiefen Bein- und Beckenvenenthrombosen ([Link Wikipedia]) ab und besteht aus einer Antikoagulation (Gerinnungshemmung) zunächst mit Heparinen ([Link Wikipedia]). Hier kommt es im praktischen Alltag immer wieder zu erbitterten Diskussionen, ob nun ein Heparin-Perfusor mit unfraktioniertem Heparin angewendet oder die Gabe von niedermolekularen Heparinen in therapeutischer Dosis erfolgen sollte. Hierzu muss man wissen, dass es insgesamt nur zwei brauchbare klinische Studien mit insgesamt 79 eingeschlossenen Patienten zu der Fragestellung gibt und man daher kaum belastbare Aussagen treffen kann. Insgesamt konnte immer wieder die Überlegenheit von niedermolekularen Heparinen gegenüber einem Heparin-Perfusor gezeigt werden, allerdings haben alle Studien kleinere bis größere methodische Schwächen (z.B. wurden in einer Studie die schwerer betroffenen Patienten v.a. mit Heparin-Perfusoren behandelt). Zugelassen ist weiterhin nur die Gabe von unfraktioniertem Heparin. Im klinischen Alltag wird meist mit einem Heparin-Perfusor begonnen und wenn dann – erwartbar – die PTT immer zwischen unter- und übertherapeutisch pendelt – irgendwann auf die Gabe von 2 x tgl. niedermolekularen Heparinen umgestellt.

Im Verlauf erfolgt dann klassischerweise eine orale Antikoagulation mit Vitamin K-Antagonisten (also Marcumar, [Link Wikipedia]) und zwar auch, wenn eine Stauungsblutung vorliegt. Es gibt eine neuere Studie, die den Einsatz von Dabigatran ([Link Wikipedia]) als besser steuerbares Antikoagulanz im Vergleich zu Vitamin K-Antagonisten getestet hat (mit etwas uneindeutigem Ergebnis), zugelassen sind aber weiterhin nur Vitamin K-Antagonisten. Die Dauer der Antikoagulation wird von den Empfehlungen zur Beinvenenthrombose abgeleitet, in der Regel antikoaguliert man für ein halbes Jahr, bei wiederholten Thrombosen oder einer nachgewiesenen Thrombophilie lebenslang.

Bei schweren Verläufen kann – bei schlechter Evidenzlage – eine mechanische Thrombektomie und ggfs. lokale Lysebehandlung und bei raumfordernden Blutungen eine Kraniotomie erwogen werden.

Wo man weiterlesen kann:

Ferro, J. M., Coutinho, J. M., Dentali, F., Kobayashi, A., Alasheev, A., Canhão, P., Karpov, D., Nagel, S., Posthuma, L., Roriz, J. M., Caria, J., Frässdorf, M., Huisman, H., Reilly, P., & Diener, H.-C. (2019). Safety and Efficacy of Dabigatran Etexilate vs Dose-Adjusted Warfarin in Patients With Cerebral Venous Thrombosis. JAMA Neurology, 76(12), 1457. https://doi.org/10.1001/jamaneurol.2019.2764

Weimar, C., Holzhauer, S., Knoflach, M., Koennecke, H., Masuhr, F., Mono, M.-L., Niederstadt, T., Nowak-Göttl, U., Schellong, S. M., & Kurth, T. (2019). Zerebrale Venen- und Sinusthrombose. Der Nervenarzt, 90(4), 379–387. https://doi.org/10.1007/s00115-018-0654-6

Kowoll, C. M., & Dohmen, C. (2020). Sinus‑/Hirnvenenthrombose: wann Therapie eskalieren? DGNeurologie, 3(3), 198–205. https://doi.org/10.1007/s42451-020-00178-6

Wie entstehen die Sinus- und Hirnvenenthrombosen nach Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff?

Nachdem es zunächst ein Preprint aus der Transfusionsmedizin der Uniklinik in Greifswald gab ([Link], [Link pdf]), ist am 09.04.2021 das peer reviewd-Paper hierzu im New England Journal of Medicine (NEJM) veröffentlicht worden ([Link]). Im Vergleich zum Preprint ist dies noch mal ausführlicher und aufschlussreicher. Der Erstautor scheint sich schwerpunktmäßig mit dem Thema Heparin-induzierte Thrombozytopenien zu beschäftigen (und ist dementsprechend auch Erstautor des verlinkten Papers beim Exkurs Heparin-induzierte Thrombozytopenie unten).

In der Arbeit wird eine Fallserie von 11 Patienten aus Deutschland und Österreich mit schweren Impfkomplikationen nach Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff berichtet, wobei davon neun Frauen und zwei Männer waren, das Alter zwischen 22 und 49 Jahren lag. Von diesen 11 Patienten litten 9 an einer Sinus- oder Hirnvenenthrombose, drei an einer Pulmonalarterien-Embolie (Lungenarterienembolie, [Link Wikipedia]), drei an einer Thrombose des Pfortaderkreislaufes (einer seltenen internistischen Erkrankung, welche normalerweise in Kombination mit einer Leberzirrhose auftritt, [Link Wikipedia]) und fünf an einer disseminierten intravasalen Gerinnungsstörung ([Link Wikipedia]). Die Fälle verliefen schwer, sechs der 11 Patienten sind verstorben.

In den verfügbaren Blutproben von zunächst vier Patienten fanden sich in drei Fällen anti-PF4/Heparin-Antikörper (also wie bei einer Heparin-induzierten Thrombozytopenie Typ 2; alle in Hämatologie nicht so Sattelfesten schauen einfach unten beim nächsten Exkurs nach), ohne dass diese zuvor Heparin (was ja ansonsten die Voraussetzung für eine Heparin-induzierte Thrombozytopenie ist) erhalten hatten.

Exkurs: Heparin-induzierte Thrombozytopenie

Prinzipiell lässt sich – v.a. bei der Gabe von unfraktioniertem Heparin – bei gut 25% der damit behandelten Patienten in den ersten Tagen ein Abfall der Thrombozyten um 30 bis maximal 50% beobachten, bevor die Thrombozytenwerte wieder ansteigen. Dieses Phänomen nennt man Heparin-induzierte Thrombozytopenie (HIT) Typ I (Link Wikipedia). Die HIT Typ 1 entsteht, da unfraktioniertes Heparin stark negativ geladen ist und Thrombozyten stark positiv und das Heparin so an die Thrombozyten bindet und diese aktiviert. Bei der HIT Typ 1 handelt es sich eher um ein Phänomen als eine Erkrankung, eine Behandlung ist in der Regel nicht notwendig.

Bei der Heparin-induzierte Thrombozytopenie Typ II ist das anders. Hier entsteht durch das eben beschriebene Binden der Thrombozyten mit dem Heparin eine Immunreaktion bei den Patienten, in deren Folge vier bis fünf Tage nach Erstgabe Antikörper gegen ein Oberflächenprotein der Thrombozyten, den Plättchenfaktor 4 (PF4) gebildet werden. Diese Antikörper binden an die Thrombozyten und verklumpen diese, weshalb dann Thrombosen sowohl im venösen als auch im arteriellen System entstehen. Parallel fällt die Zahl der Thrombozyten stark ab (diese werden ja auch gerade immunologisch bekämpft), so dass neben den Thrombosen durch den Thrombozytenmangel auch Blutungskomplikationen entstehen können.

Wichtigste präventive Maßnahme ist das Verwenden niedermolekularer Heparine, die eben nicht so stark negativ geladen sind und daher auch weniger an Thrombozyten binden und dadurch auch weniger wahrscheinlich (und weniger stark) eine derartige Immunreaktion auslösen. Zweite präventive Maßnahme ist die möglichst kurze und niedrig dosierte Heparin-Gabe.

Oft können bei der HIT Typ 2 Antikörper gegen den Plättchenfaktor 4 nachgewiesen werden. Schon beim Verdacht auf eine HIT Typ 2 muss die Heparin-Gabe umgehend beendet werden und alternativ Präparate, die eben nicht Plättchenfaktor 4-Antikörper induzieren, gegeben werden. Dies sind in der Regel Argatroban oder Fondaparinux. Bis zu einem Drittel der Fälle verlaufen schwer, durchaus auch mit letalem Ausgang.

Wo man weiterlesen kann:

Greinacher, A. (2003). Heparininduzierte Thrombozytopenie. Dtsch Arztebl International, 100(34–35), A-2220. https://www.aerzteblatt.de/int/article.asp?id=38178

Zurück zum AstraZeneca-Impfstoff

Nach dem ersten Nachweis von HIT Typ 2-typischen Antikörpern wurden weitere Blutproben (insgesamt 24, also damit noch weitere Blutproben von Patienten, die in der Fallserie nicht auftauchen) untersucht, welche ebenfalls von Patienten mit schweren thrombotischen Komplikationen nach Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff stammten. Von diesen kam es bei 22 Patienten zu einer starken Thrombozytenaktivierung nach Gabe von PF4 und nach Gabe des AstraZeneca-Impfstoffes. Es gab eine Kontrollgruppe mit 20 Patientenseren von mit AstraZeneca-Geimpften, welche keine Komplikationen entwickelt hatten, bei denen diese Thrombozytenaktivierung nicht gezeigt werden konnte.

Bei allen Patienten-Serumproben konnte die Thrombozytenaktivierung durch die Gabe von intravenösen Immunglobulinen (IVIG) gehemmt werden und durch einen monoklonalen Antikörper gegen CD32 (Monoklonaler Antikörper IV.3). CD32 ([Link englische Wikipedia]) als Oberflächenprotein kommt auf einer Menge von Immunzellen vor und bindet u.a. an IgG-Antikörper, insbesondere aber an Immunkomplexe. Im Umkehrschluss heißt das, dass bei den Serumproben die Thrombozytenaktivierung aufhörte, wenn zirkulierende Immunkomplexe aus IgG-Antikörpern gebunden wurden (was wiederum zu dem passt, was bei einer Heparin-induzierten Thrombozytopenie Typ 2 passiert).

Die Autoren betonen, dass sowohl das klinische Bild, als auch die serologischen Befunde dem ähneln, was man bei einer Heparin-induzierten Thrombozytopenie Typ 2 beobachten kann. Sie erwähnen, dass in den letzten Jahren verschiedene Chemikalien und Medikamente, virale und bakterielle Infekte, aber auch Kniegelenksersatz-Operationen beschrieben wurde, bei denen es zu einem Bild einer Heparin-induzierten Thrombozytopenie Typ 2 gekommen sei, ohne dass zuvor (so wie bei den mit AstraZeneca-Geimpften) Heparin gegeben worden sei. Hierfür sei der Begriff autoimmun Heparin-induzierte Thrombozytopenie geprägt worden. Im Gegensatz zu Patienten mit klassischer Heparin-induzierter Thrombozytopenie würden Patienten mit autoimmuner Heparin-induzierter Thrombozytopenie oft eine ungewöhnlich schwere Thrombozytopenie, eine erhöhte Häufigkeit einer disseminierten intravasalen Gerinnungsstörung und atypische thrombotische Ereignisse zeigen. Anders als bei der klassischen Heparin-induzierten Thrombozytopenie würde niedrig dosiertes niedermolekulares Heparin eher protektiv wirken und den Immunprozess nicht noch weiter antreiben. Hinsichtlich der Nomenklatur dieser autoimmunen Heparin-induzierten Thrombozytopenien wird der Begriff „vaccine-induced immune thrombotic thrombocytopenia (VITT)“ vorgeschlagen.

Am 20. April 2021 wurde von der selben Arbeitsgruppe, erweitert um Forscher u.a. aus dem UKE, ein Preprint (also entsprechend müssen die Aussagen noch unter Vorbehalt verstanden werden) veröffentlicht ([Link]), welches sich genauer mit den Mechanismen der Entstehung der VITT beschäftigt. Hier wurde in einem recht aufwändigen experimentellen Setting ein mehrstufiger Prozess beschrieben, der direkt nach der Injektion des Impfstoffes beginnt und durch die Art des Impfstoffes, seine Zusatzstoffe und die starke Entzündungsreaktion, die er auslöst, bedingt ist.
Nach der Injektion kommen Impfstoffbestandteile und Thrombozyten unweigerlich in Kontakt, was zu einer Aktivierung der Thrombozyten führt. Im Rahmen der Aktivierung exprimieren die Thrombozyten Plättchenfaktor 4 (PF4). PF4 wiederum bindet an verschiedene Impfstoffbestandteile, u.a. das als Vektor verwendete Adenovirus, aber auch an menschliche Proteine, die im Impfstoff enthalten sind und die offenbar bei der Impfstoffherstellung verwendet wurden. So entstehen erste Komplexe aus Thrombozyten und Impfstoffbestandteilen. Dadurch, dass im Impfstoff geringe Mengen EDTA ([Link Wikipedia]) enthalten sind, welches zu einer vermehrten Durchlässigkeit insbesondere der Kapillaren führt, kommen zum Einen der Impfstoff und seine Bestandteile, zum Anderen aber auch die PF4-Impstoff-Komplexe in den Blutkreislauf. An diese binden natürlich vorkommende IgG-Antikörper, so dass „klassische“ Immunkomplexe entstehen, die jetzt eine immunologische Reaktion auslösen: Die Aktivierung des Komplementsystems ([Link Wikipedia]) und eine B-Zell-vermittelte Immunantwort. Spätestens das führt mit zu der systematischen Entzündungsreaktion, die ja insbesondere jüngere Menschen 8 bis 24 Stunden nach der Injektion erleiden. Und: Wie wir gerade bei dem HIT-Exkurs gelernt haben, begünstigen systemische Entzündungsreaktionen und Gewebetraumen (die Muskulatur an der Injektionsstelle) die Entstehung einer HIT. Warum das so ist scheint ein unglaublich komplexer Prozess zu sein, den ich nur so halb verstehe, deshalb kürze ich ihn ab. Am Ende kommt es hier zu noch mehr Thrombozytenaktivierung und PF4-Freisetzung und zu einer Aktivierung neutrophiler Granulozyten, Monozyten und Endothelzellen mit der Entstehung von Thrombosen. In dieser Konstellation bilden sich dann Antikörper gegen PF4, was wiederum zu einer weiteren Immunreaktion führt, der HIT-ähnlichen VITT.

Wo man weiterlesen kann

Greinacher, A., Selleng, K., Wesche, J., Handtke, S., Palankar, R., Aurich, K., Lalk, M., Methling, K., Völker, U., Hentschker, C., Michalik, S., Steil, L., Schönborn, L., Beer, M., Franzke, K., Rangaswamy, C., Mailer, R. K., Thiele, T., Kochanek, S., … Renné, T. (2021). Towards Understanding ChAdOx1 nCov-19 Vaccine-induced Immune Thrombotic Thrombocytopenia (VITT). Research Square. https://doi.org/10.21203/rs.3.rs-440461/v1

Klinische Merkmale der Patienten mit schwerer Impfreaktion

Im Paper wird eine Tabelle mit den 11 beschriebenen Fällen aufgeführt, in der auf verschiedene Laborparameter, aber auch auf die Erkrankungsart und das Outcome eingegangen wird. Ich habe hier mal die wichtigsten Parameter aufgeführt:

Fall1234567891011
Thrombozyten min. (/nl)1310760923752916138??
D-Dimer max. (mg/ml)1421,813????2,633??2135??
Ort der ThrombosePfortader, Aorta, LAE, SVTLAESVTSVTSVT, Pfortader, LAE, VCI, RVSVTSVTSVT, disseminiert im ganzen KörperSVT, multiple OrganeSVT, PfortaderSVT, ICB
Symptombeginn nach Impfung569713788161112
Gerinnungsstörungneinneinneinneinjaneinneinneinneinneinnein
OutcomeletalBesserungunklarletalBesserungBesserungBesserungletalletalletalletal
nach: nach: Greinacher, A., Thiele, T., Warkentin, T. E., Weisser, K., Kyrle, P. A., & Eichinger, S. (2021). Thrombotic Thrombocytopenia after ChAdOx1 nCov-19 Vaccination. New England Journal of Medicine, NEJMoa2104840. https://doi.org/10.1056/NEJMoa2104840, Link pdf

Auffällig ist, dass die Patienten, die an den Komplikationen nach der Impfung verstorben sind, alle extrem niedrige Thrombozytenwerte (um 20/nl) hatten und die mit gutem Outcome deutlich höhere. Auffällig ist auch, dass das Auftreten der schweren Impfreaktionen mindestens fünf Tage gedauert hat, was nahelegt, dass die thrombotischen Komplikationen nicht direkt durch den Impfstoff, sondern durch die immunologische Reaktion auf die Impfung ausgelöst werden.

Empfehlung für das Management von Impfreaktionen

Die Autoren des Papers führen an, dass die Kombination aus einer Thrombozytopenie und thrombotischen Komplikationen nach einer Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff unbedingt an eine vaccine-induced immune thrombotic thrombocytopenia (VITT) denken lassen sollte. Sie betonen, dass der Nachweis von anti-PF4/Heparin-Antikörpern in vielen Krankenhäusern geführt werden kann, da es überall Konzepte und Abläufe zur Detektion von Heparin-induzierten Thrombozytopenien gibt, weisen aber auch darauf hin, dass eben nicht alle der Patienten mit schlechtem Outcome anti-PF4/Heparin-Antikörper hatten. In diesen Fällen sollten auch andere immunvermittelte Ursachen einer Thrombozytopenie wie ein hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS, [Link Wikipedia]) (das war das von EHEC, [Link Wikipedia]) oder ein Antiphospholipid-Syndrom ([Link Wikipedia]) bedacht werden. Zudem kann in der Universitätsklinik Greifswald ein spezieller Thrombozytenaktivierungs-Test mit „PF4-Verstärkung“ angefordert werden.

Die Autoren empfehlen zum Einen den Einsatz von intravenösen Immunglobulinen (IVIG) (1 g/kg Körpergewicht) zum Stoppen der Immunreaktion, sowie eine Antikoagulation mit direkten oralen Antikoagulanzien wie Rivaroxaban oder Apixaban (also Faktor Xa-Antagonisten) oder Argatroban oder Fondaparinux, deren Einsatz auch bei der Heparin-induzierten Thrombozytopenie empfohlen wird.

Durchgemachte Thrombose, Thrombophilie und AstraZeneca-Impfung:

Eine durchgemachte Thrombose sollte eigentlich kein Problem darstellen, da der Mechanismus der Entstehung „normaler“ Thrombosen und auch „normaler“ SVT ein ganz anderer ist als bei der überschießenden Impfreaktion. Eine andere Frage ist, ob eine durchgemachte Heparin-induzierte Thrombozytopenie nicht eine absolute Kontraindikation für die Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff darstellt. Hier gibt es ja zwei Möglichkeiten: Entweder bestehen schon präformierte anti-PF4/Heparin-Antikörper und es kommt sehr rasch zu einer schweren Immunreaktion oder es passiert gar nichts, weil der Weg der Induktion der Heparin-induzierten Thrombozytopenie ein ganz anderer ist (einmal Heparin, einmal Impfstoff). Das ist auf jeden Fall noch unklar.

Menschen, die auf Grund einer Thrombophilie schon eine orale Antikoagulation einnehmen, nehmen ja sozusagen schon die Therapie der möglichen Impfnebenwirkung ein.

Aber bei den anderen Impfstoffen gibt es doch auch Thrombosen, auch Sinus- und Hirnvenenthrombosen

Das stimmt, man muss das aber differenzieren:

Beim Impfstoff von Johnson & Johnson, der ja auch ein Vektorimpfstoff ([Link Wikipedia]) ist (er benutzt ein Adenovirus statt des Schimpansen-Virus von AstraZeneca als Vektor) hat die EMA am 09.04.2021 bekannt gegeben, dass sie den Impfstoff auf Grund von fünf Fällen von schweren Thrombosen in Verbindung mit einer Thrombozytopenie, welche nach Impfungen in den USA aufgetreten seien, genauer untersuchen werde ([Link]). Das klingt natürlich ziemlich sehr nach einer vaccine-induced immune thrombotic thrombocytopenia.

In dem selben Bericht wird auch erwähnt, dass zudem fünf Fälle des sonst extremst seltenen Kapillar-Leck-Syndroms ([Link Wikipedia]) nach Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff untersucht werden.
Für den BioNTech-Impfstoff wurden laut dem oben erwähnten Risikobericht des Paul-Ehrlich-Instituts ([Link]) bis zum 02.04.2021 17 Fälle einer Thrombozytopenie und sieben SVT berichtet, allerdings nie in Kombination auftretend. Angesichts von 10.722.876 bis dahin verimpften Dosen entspräche dies aber dem statistisch Erwartbaren in der Bevölkerung.

Die Frage nach dem Risiko Impfung mit AstraZenaca-Impfstoff vs. COVID19-Infektion

Sicher der Elefant im Raum, aber auch ein schwieriges Thema, so dass ich lange überlegt habe, ob ich überhaupt was dazu schreibe. Zum Einen ist es ein extrem emotionsbehaftetes Thema, wenn ich Pech habe, sammeln sich hierunter laute unschöne Kommentare. Zweitens hatte ich in den bisherigen Versionen dieses Artikels noch große Schwierigkeiten gute Daten für eine Risikoberechnung zu bekommen und Drittens kann das auch nicht besonders gut.

Das mit den Daten hat sich mit dem letzten Risikobericht des Paul-Ehrlich-Instituts ([Link]) deutlich gebessert. So kann man dort recht einfach nachlesen, dass bis zum 02.04.2021 2.945.125 Dosen des AstraZeneca-Impfstoffs verimpft wurden, 86% der Dosen gingen beim AstraZeneca-Impfstoff auf Grund der Zulassungshistorie (erst nur junge Impflinge, dann Impfstop, dann wieder junge Impflinge, jetzt ältere Impflinge) an Impflinge unter 60 Jahren. Das wären nach Adam Riese und Siri 2.532.808 Dosen, die Menschen unter 60 Jahre erhalten haben. Über alle COVID19-Impfstoffe lag der Anteil der weiblichen Impflinge bei 64%.

42 / 2.945.125 ergibt ein Risiko von 0,00142608548% einer SVT, bzw. 1,43 SVT/100.000 Impfungen über alle Altersgruppen hinweg nach Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff in Deutschland,.

42 / 2.532.808 dann ein Risiko von 0,0016582386% einer SVT, bzw. 1,66 SVT/100.000 Impfungen bei unter 60-jährigen Impflingen nach Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff in Deutschland.

Ist das jetzt viel oder wenig? Gefühlt nicht so wenig, auf Hamburg bezogen wären das (alle, incl. Kinder, durchgeimpft) immerhin 25,74 SVT.

Es gibt sehr aktuelle Arbeiten, die bei ausreichend großer Datenbasis sowohl Angaben zur Mortalität nach Altersgruppen und Geschlecht für den COVID19-Wildtyp und die B.1.1.7-Mutation aufführen. Wenn man das dann tabellarisch aufarbeitet, sieht das Risiko wie folgt aus:

GeschlechtAlterRisiko ImpfungRisiko C19-WildtypVerhältnisRisiko B.1.1.7Verhältnis
weiblich0-340,00166%0,00069%2,4 : 10,0011%1,5 : 1
35-540,00166%0,033%1 : 200,05%1 : 30
55-690,00143%0,18%1 : 1260,28%1 : 196
70 – 840,00143%2,9%1 : 20284,4%1 : 3077
> 850,00143%13%1 : 909119%1 : 13287
männlich0-340,00166%0,0031%1 : 1,90,0047%1 : 2,8
35-540,00166%0,064%1 : 390,099%1 : 60
55-690,00143%0,56%1 : 3910,86%1 : 601
70 – 840,001434,7%1 : 32877,2%1 : 5035
> 850,0014317%1 : 1188825%1 : 17483
Mortalität-Daten COVID19 nach Altersgruppen und Geschlecht nach: Davies, N. G., Jarvis, C. I., Edmunds, W. J., Jewell, N. P., Diaz-Ordaz, K., & Keogh, R. H. (2021). Increased mortality in community-tested cases of SARS-CoV-2 lineage B.1.1.7. Nature. https://doi.org/10.1038/s41586-021-03426-1

Demnach sollten sich Frauen unter 34 Jahren auf jeden Fall nicht mit AstraZeneca impfen lassen, bei Männern unter 34 Jahren gibt es einen kleinen Benefit der Impfung, alle anderen Altersgruppen unter 69 Jahren profitieren deutlich. Die darüber erst recht.

Nimmt man Daten aus der ganzen EU und dem Vereinigten Königreich, wie das die EMA in ihrem Bericht vom 07.04.2021 ( [Link]) gemacht hat, kommt man ( in einer Fußnote bis zum 04.04.2021 aufsummiert) auf 169 Sinusthrombosen und 53 Pfortaderthrombosen bei insgesamt 34 Millionen mit dem AstraZeneca-Impfstoff geimpften Personen. Rechnerisch beim worst case scenario (keine parallelen Fälle einer SVT und einer Pfortaderthrombose) ergäbe das ein Risiko von

222 / 34.000.000 = 0,0006529411765%, bzw. 0,65 Thrombosen/100.000 Impfungen über alle Altersgruppen.

Das Risiko ist vermutlich deshalb noch mal kleiner als bei den deutschen Daten, da in Großbritannien ja eine ähnliche Impfreihenfolge wie bei uns gilt, der AstraZeneca-Impfstoff von Anfang an aber auch und vor allem älteren Impflingen verabreicht wurde, so dass hier das durchschnittliche Risiko über alle Altersgruppen kleiner erscheint.

Deutlich interessanter und aussagekräftiger finde ich aber folgende Grafiken von Alexandra Freeman von der Universität von Cambridge vom Winton Centre for Risk and Evidence Communication, die mit ihrer Arbeitsgruppe Nutzen und Risiko der AstraZeneca-Impfung nach Altersgruppen aufgeschlüsselt hat und zwar sowohl bei niedrigen, moderaten und hohen COVID19-Inzidenzen. Und hier zeigt sich nur bei der niedrigen Inzidenz (2/10.000 Einwohner, in „unserer“ Rechnung 20/100.000 Einwohner) für die jüngste Altersgruppe kein Benefit der Impfung mit einem höheren Risiko einer Intensivstationsaufnahme durch die Impfung. In allen anderen Fällen gibt es einen klaren Vorteil der Impfung:

Diese Grafik wurde auch in der Stellungnahme der Medicines and Healthcare products Regulatory Agency (MHRA) in Großbritannien (das ist sowas ähnliches wie das Paul-Ehrlich-Institut bei uns) vom 07.04.2021 zum AstraZeneca-Impfstoff verwendet ([Link], [Link Präsentation]). Die MHRA empfiehlt den AstraZeneca-Impfstoff diesen Berechnungen folgend nur für unter 30-Jährige nicht. Damit decken sich die britischen Berechnungen im Wesentlichen mit meinen, was mich ja irgendwie freut.

Abschließendes

Wenn sich hier ein grober Fehler eingeschlichen haben sollte, sagt mir bitte Bescheid. Wenn Ihr bessere Zahlen habt, ebenso (gerne unten in die Kommentare). Wenn Ihr den Beitrag kommentieren / ergänzen wollt, gerne. Wenn Ihr kundtun wollt, dass es COVID19 nicht gibt oder dass Ihr Impfungen generell doof findet, mach das bitte woanders (die Kommentare werde ich nicht freigeben). Wenn Ihr mal pöbeln wollt und müsst, lasst uns das auf Twitter verlegen, da mach ich das auch. Das bietet sich dafür mehr an. Danke!

Wo man weiterlesen kann:

Praktiknjo, M., Meyer, C., Strassburg, C. P., & Trebicka, J. (2017). Frische venöse Thrombose splanchnischer Gefäße: Zwei Fallberichte zur kathetergestützten lokalen Thrombolyse und -aspiration. Internist, 58(1), 82–89. https://doi.org/10.1007/s00108-016-0120-0

Davies, N. G., Jarvis, C. I., Edmunds, W. J., Jewell, N. P., Diaz-Ordaz, K., & Keogh, R. H. (2021). Increased mortality in community-tested cases of SARS-CoV-2 lineage B.1.1.7. Nature. https://doi.org/10.1038/s41586-021-03426-1

Greinacher, A., Thiele, T., Warkentin, T. E., Weisser, K., Kyrle, P. A., & Eichinger, S. (2021). Thrombotic Thrombocytopenia after ChAdOx1 nCov-19 Vaccination. New England Journal of Medicine, NEJMoa2104840. https://doi.org/10.1056/NEJMoa2104840

Stellungnahme der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH): Link Originalversion und Link aktualisierte Version