Zu Fuß in die Notaufnahme: Warum es eine bessere Patienten-Steuerung braucht

Die Zahl der Notfallbehandlungen in Notaufnahmen nimmt in Deutschland – wie in anderen Ländern auch – seit Jahren kontinuierlich zu. Nach Angaben der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung (Link) wurden 2009 noch 24,9 Millionen Notfallbehandlungen durchgeführt, 2019 waren es schon 27,8 Millionen Behandlungen in Notaufnahmen und Notfallpraxen, ein Plus von 12% innerhalb von 10 Jahren. Das merken wir im klinischen Alltag alle, jeden Tag. Eine Studie der Ludwig-Maximilians-Universität München kommt da gerade zur rechten Zeit und stößt in den sozialen Medien durchaus auf Resonanz:

Das LMU-Paper

Sitter, K., Braunstein, M. & Wörnle, M. Beweggründe von Patienten, die sich selbständig in der Notaufnahme vorstellen – eine prospektive monozentrische Beobachtungsstudie. Med Klin Intensivmed Notfmed (2024). https://doi.org/10.1007/s00063-024-01106-2

Die Arbeit von Sitter et al. untersuchte dabei prospektiv die Gründe, warum sich Menschen fußläufig mit internistischen Krankheitsbildern in der Notaufnahme vorstellten und das über einen Zeitraum von Mai 2018 bis August 2019. Die ZNA-Patienten wurden dabei mittels Fragebogen befragt, bei einer eher mäßigen Rücklaufquote von 18% der 6.122 Patienten, die zu Fuß die Notaufnahme erreichten. Der Anteil der „Fußgänger“ (51%) und der per Rettungsdienst vorgestellten Patienten (49%) war dabei nahezu gleich groß.

Auf Grund der zur Vorstellung in der Notaufnahme führenden Beschwerden hatte sich ein Großteil der Probanden in den letzten vier Wochen (62%) und in den letzten drei Monaten (31%) in ärztlicher Behandlung befunden. Spannend ist die Frage nach den Vorbehandlungen. Hier waren Mehrfachnennungen möglich.

Vorverhandlungen der fußläufigen Pat. Mehrfachnennungen waren möglich. Nach Sitter et al.
Vorverhandlungen der fußläufigen Pat. Mehrfachnennungen waren möglich. Nach Sitter et al.

30% waren beim Hausarzt, 10% beim Facharzt gewesen. 45% der Patienten kamen auf eigenen Entschluss, 16% hatten eine Einweisung dabei, insgesamt 37% aber „nur“ eine ärztliche Empfehlung, sich im Krankenhaus vorzustellen. Bei der Aufschlüsselung nach Altersgruppen war der eigene Entschluss bei den jüngeren Patienten deutlich ausschlaggebender als bei den älteren. Dort waren es signifikant häufiger Vorverhandlungen in der Klinik und ärztliche Empfehlungen.

Empfehlung/Selbstmotivation für die Vorstellung in der ZNA, Merhfachnennungen möglich. Nach Sitter et al.
Empfehlung/Selbstmotivation für die Vorstellung in der ZNA, Merhfachnennungen möglich. Nach Sitter et al.

Hauptgründe für die Vorstellung in der ZNA statt in einer Praxis waren die empfundene Dringlichkeit der Beschwerden, die Vorstellung außerhalb von Praxisöffnungszeiten und in immerhin einem Drittel der Fälle eine ärztliche Einweisung oder Empfehlung.

Beweggründe für die Vorstellung in der ZNA und nicht in einer Arztpraxis. Mehrfachnennungen möglich. Nach Sitter et al.
Beweggründe für die Vorstellung in der ZNA und nicht in einer Arztpraxis. Mehrfachnennungen möglich. Nach Sitter et al.

Von den Patienten, die sich fußläufig vorstellten konnten 68% wieder aus der ZNA entlassen werden, nur 28% mussten stationär aufgenommen. Der Unterschied bei den Patienten mit und ohne ärztliche Einweisung / Empfehlung war dabei nicht sehr groß, 26% der Patienten mit eigenem Entschluss zur Vorstellung und 37% der Patienten mit Einweisung oder ärztlicher Empfehlung wurden stationär aufgenommen.

Krankenhausaufnahmen mit und ohne Einweisung oder ärztliche Empfehlung. Nach Sitter et al.
Krankenhausaufnahmen mit und ohne Einweisung oder ärztliche Empfehlung. Nach Sitter et al.

Im Verlauf des Studienzeitraums wurde in der Notaufnahme ein Triage-System etabliert, der Emergency Severity Index, ein fünftstufiges Modell bei der 1 die höchste und 5 die niedrigste Behandlungsdringlichkeit anzeigt. Von den Studienteilnehmern nach Einführung des Triagesystems wurden 0% der höchsten Behandlungsdringlichkeit, 16% der Stufe 2, 57% der Stufe 3, 21,5% der Stufe 4 und 5% der Stufe 5 zugeordnet.

Triagierung der fußläufigen Patienten nach ESI. Nach Sitter et al.
Triagierung der fußläufigen Patienten nach ESI. Nach Sitter et al.

Interessant ist, dass die Selbsteinschätzung der Behandlungsdringlichkeit zwischen den Triagegruppen nicht stark divergierte, so schätzen 53% der Patienten mit der ESI-Stufe 5 ihre Beschwerden als sehr dringlich behandlungsbedürftig ein, bei den Patienten mit ESI-Stufe 2 waren es 44%.

Von den Patienten mit der Triagekategorie 5 konnten 83% wieder entlassen werden, 18% wurden aufgenommen, in den Kategorien 3 und 4 waren es ca. zwei Drittel Entlassungen und in Kategorie 2 immerhin ebenfalls 55% Entlassungen und nur 40% Aufnahmen.

Anteil der Aufnahmen und Entlassungen nach Triagekategorie. Nach Sitter et al.
Anteil der Aufnahmen und Entlassungen nach Triagekategorie. Nach Sitter et al.

Das Barmer-Paper

Ganz aktuell wurde zudem eine Studie mit einer Analyse von 2 Millionen Krankenhausaufnahmen von Patienten, die bei der Barmer Ersatzkasse veröffentlicht. Hier geht es primär um die Nutzung von Rettungsmitteln für die Krankenhausaufnahme, es lassen sich aber auch einige interessante Punkte zum Thema fußläufige Selbsteinweisungen und -vorstellungen ableiten.

Roessler M, Schulte C, Bobeth C, Wende D, Karagiannidis C. Hospital admissions following emergency medical services in Germany: analysis of 2 million hospital cases in 2022. Med Klin Intensivmed Notfmed. Published online April 23, 2024. doi:10.1007/s00063-024-01148-6

28% der Barmer-Versicherten, die im Studienzeitraum 2022 stationär aufgenommen wurden nutzten hierfür Rettungsmittel, 72% der Krankenhausaufnahmen fanden aber damit per Selbstvorstellung – mit und ohne Einweisung – statt. Hier sind natürlich aber auch geplante elektive Aufnahmen mit eingeschlossen. Der Charme der Studie ist, dass die Barmer Ersatzkasse nach der Techniker Krankenkasse die zweitgrößte gesetzliche Krankenkasse (Link) ist und mit ca. 8,7 Millionen Versicherten wiederum einen 10% Anteil der deutschen Bevölkerung abbildet. Eingeschlossen wurden alle stationären und teilstationären Fälle mit einer Aufenthaltsdauer > 1 Tag, ausgeschlossen Aufnahmen die durch Verlegungen aus einem anderen Krankenhaus entstanden, um wirklich nur Primärbehandlungen abzubilden. Die Aufnahmen wurden in zwei Schweregrade (niedrig/mäßig und hoch) unterteilt.

Die Patienten, die ohne Rettungsdienst zur stationären Aufnahme kamen waren deutlich jünger als der Durchschnitt (78 Jahre), kamen im Vergleich zu denen per Rettungsdienst nur sehr selten aus Pflegeheimen (1,2% vs 10-20% je nach bodengebundenem Rettungsmittel), hatten überwiegend einen niedrigen oder mäßigen Schweregrad (51,4%), mussten hierdurch bedingt nur selten auf Intensivstationen behandelt, beatmet oder reanimiert werden und hatten somit natürlich auch eine deutlich geringere Krankenhaussterblichkeit (1% vs. ca. 10%). Sie machten einen überwiegenden Teil der sehr kurzen (< 1 Tag) und kurzen (< 3 Tage) stationären Behandlungen aus. Bei den Erkrankungen mit hohem Schweregrad bei den Patienten ohne Rettungsdienstnutzung waren es v.a. Arthrosen, die zur Aufnahme führten (vermutlich also Gelenkersatz-Operationen), psychiatrische und kardiologische Erkrankungen. Die häufigsten Fußgänger-Diagnosen bei den leichten und mäßigen Schweregraden machten Geburten, kardiologische Erkrankungen und viszeralchirurgische Eingriffe aus. Auffallend – und das betonten auch die Studienautoren – war, dass es sich v.a. bei den kardiologischen Diagnosen der Fußgänger-Patienten um Diagnosen handelte, die prinzipiell nicht zwingend krankenhauspflichtig erscheinen (Vorhofflimmern, Herzinsuffizienz, Hypertonie).

Einordnung der Studienergebnisse

Wie kann man die Studienergebnisse im Vergleich zu anderen Arbeiten einordnen? Die „Fußgänger“ waren insgesamt deutlich jünger als die durchschnittlichen Krankenhauspatienten in Deutschland ( Eckdaten der Krankenhauspatientinnen und -patienten, Statistisches Bundesamt),

Altersverteilung der fußläufigen ZNA-Vorstellungen (nach Sitter et al.)
Altersverteilung der fußläufigen ZNA-Vorstellungen (nach Sitter et al.)

Die Altersverteilung in der Münchner Studie und auch der Fußgänger aus der Barmer-Studie ist aber vergleichbar mit anderen Studien zu fußläufigen Patienten, die in Notaufnahmen kommen (z.B. Seeger et al., Scheerer et al., Somasundaram et al.). Ebenfalls deckungsgleich war der eher höhere Bildungsstand der fußläufig die ZNA erreichenden Patienten (das wurde nur in der Münchner Studie untersucht). Hinsichtlich des Versicherungsstatus der eingeschlossenen Patienten scheint die Münchner Studie ein repräsentatives Bild abzugeben. In der Studie waren 86% der Teilnehmer gesetzlich versichert, 13% privatversichert und 1% hatte keine Krankenversicherung. Bundesweit sind 88% der versicherten Bevölkerung gesetzlich und 12% privat versichert (Krankenversicherungsschutz, Statistisches Bundesamt. Auch die Selbsteinschätzung der Patienten als eher dringliche Notfälle deckt sich mit anderen Arbeiten, auch aus anderen Fachrichtungen wie der Neurologie (Harenberg et al.). Zusammenfassend spricht viel dafür, dass die Ergebnisse der Münchner Studie für die Notfallversorgung in Deutschland repräsentativ sein dürfen.

Aus anderen Studien, wie der Arbeit von Lange et al. weiß man, dass Patientenaufkommen – gerade durch die fußläufigen Patienten getrieben – erst in den späten Vormittagsstunden zunimmt und der Patientenzustrom bis zum späten Nachmittag/frühen Abend anhält, ebenfalls dass Montags traditionell die meisten Vorstellungen in den Notaufnahmen erfolgen.

Durchschnittliches Patientenaufkommen je Stunde. Nach Lange et al.
Durchschnittliches Patientenaufkommen je Stunde. Nach Lange et al.
Durchschnittliches Patientenaufkommen nach Wochentag. Nach Lange et al.
Durchschnittliches Patientenaufkommen nach Wochentag. Nach Lange et al.

Als ein Hauptproblem in der stationären Notfallversorgung gilt der Patientenrückstau in der Notaufnahme, das sogenannte Crowding. Dies führt – gerade bei älteren und multimorbiden Patienten ( Roussel et al.) zu vermehrten Komplikation und einer deutlich erhöhten Mortalität. Als Hauptursache für das Crowding wurde lange der vermehrte Zustrom nicht dringlicher Patienten in die Notaufnahmen diskutiert, dies konnte in mehreren wissenschaftlichen Arbeiten aber so nicht bestätigt werden (z.B. Morley et al. und Kenny et al.). In aktuelleren Arbeiten werden typischerweise jeweils mehrere Faktoren in den Themenfeldern Input, Throughput und Output der Notaufnahmen adressiert, wobei nur beim Thema Input die Problemursache im wesentlichen außerhalb der Notaufnahme und des Krankenhauses liegt, ansonsten die wesentliche Faktoren aber in der Ablauforganisation in den Notaufnahmen und Bettenstationen begründet sind. Fußläufige, nicht dringliche Patienten gelten mittlerweile daher als ein Faktor im Themenfeld Input, wesentlicher das Crowding mitzuverursachen scheint aber der zunehmende Anteil von meist älteren Patienten mit komplexen und chronischen Erkrankungen zu sein, der zu einer Überforderung der Notaufnahmestrukturen führt.

Fazit

Die Münchner Studie zeigt, dass Simplifizierungen wie „wer zu Fuß in die Notaufnahme kommt, hat doch eh nichts“ und muss durch „Abschreckungsmaßnahmen“ wie Notfallgebühren usw. von der Vorstellung abgehalten werden zu kurz greifen. Auch ein zwingendes Primärarzt- und Zuweisungssystem (entweder zunächst hausärztliche oder fachärztliche Vorstellung oder Kontaktaufnahme mit dem kassenärztlichen Notdienst) reicht alleine nicht aus. Zum Einen wurde ein erheblicher Anteil der fußläufig die ZNA erreichenden Patienten in Triagekategorien mit höherer Dringlichkeit eingestuft, zum Anderen stellt sich ein erheblicher Teil mit ärztlicher Einweisung oder auf ärztliche Empfehlung vor. Einwenden kann man hier, dass sich höhere Triagekategorien in den gängigen Triagesystemen durch die Angabe von Schmerzen oder durch auffällige Vitalparameter ergeben und dass dies nicht zwingend mit der Notwendigkeit einer stationären Aufnahme korreliert, was man auch an den niedrigen Aufnahmeraten in der Münchner Studie und den kurzen Aufenthaltsdauern in der Barmer-Arbeit sieht. Bei den ärztlichen Einweisungen muss man zudem zwischen dem Anliegen von allgemeinärztlichen und fachärztlichen Zuweisungen unterscheiden. Erfahrungsgemäß (sicher nicht immer) sind hausärztliche Einweisungen eher durch fehlende ambulante fachärztliche Behandlungskapazitäten und/oder durch unterlagerte Versorgungsproblematiken begründet, fachärztliche Zuweisungen durch (tatsächlichen oder vermeintlichen) Bedarf „der besonderen Mittel des Krankenhauses“ wie es so schön in der Sozialgesetzgebung heißt. Zumindest für die Kardiologie (siehe Barmer-Studie) und für die Neurologie (meine anekdotische Evidenz) (und sicher auch für andere Disziplinen) bedeutet das, dass hier aber auch häufig Fälle dabei sind, bei denen es mehr der zeitliche Aufwand als der inhaltliche ist, der eine ambulante Versorgung nicht möglich, bzw. nicht finanziell auskömmlich möglich erscheinen lässt und zur Zuweisung führt.

Daraus resultieren verschiedene Verbesserungsmöglichkeiten:

Patienten mit einer ärztlichen, gerade mit einer fachärztlichen, Einweisung/Behandlungsempfehlung sind in einer Notaufnahme inhaltlich in der Regel falsch aufgehoben. Notaufnahmen sind strukturell auf die Versorgung akut bis kritisch kranker, immobiler Patienten ausgerichtet. Fachärztliche Expertise (außer notfallmedizinische) ist hingegen eher rar gesät, Vordergrunddienste in Notaufnahmen werden in der Regel von Ärzten in Weiterbildung zum Facharzt besetzt. Patienten, die mit einer konkreten (und teilweise hochspezialisierten und komplexen) Fragestellung zugewiesen werden, brauchen in der Regel fachärztlichen Rat und Behandlung. Das derzeitige Vorgehen führt dazu, dass diese Patienten zum Einen sehr lange in der Notaufnahme warten, dann inhaltlich schlechter als eigentlich möglich behandelt werden, ggfs. aus Verlegenheit oder weil es organisatorisch nicht anders zu realisieren ist aufgenommen werden und dann rasch wieder entlassen werden oder die ZNA nach vielen Stunden (häufig > 12) wieder verlassen.

Eine Zuweisungssteuerung z.B. mittels medizinischer Messenger-Dienste, die unkompliziert Zuweiser-Netzwerk-Bildung und Kontaktaufnahme der verschiedenen Akteure miteinander ermöglichen in Kombination mit einem Ausbau der vielerorts vorhandenen prästationären Sprechstunden könnte hier Abhilfe schaffen. Dann könnten derartige Patienten „auf kurzem Dienstweg“ besprochen werden und dann zielgerichtet im Krankenhaus fachärztlich gesehen werden. Dies wäre ein Punkt, der keine weitere gesundheits- und ordnungspolitische Vorarbeit benötigen würde, sondern mit den vorhandenen Mitteln regional sofort umgesetzt werden könnte, wenn denn genug Eigeninitiative bei den lokalen Akteuren besteht.

Der Elefant im Raum – und das adressiert ja auch die Barmer-Arbeit – ist dabei sicherlich das Nebeneinander ambulant und stationär behandelnder Fachärzte mit strenger Trennung der Sektoren, die erst überhaupt das Phänomen der fachärztlichen Einweisung möglich macht. Eine Änderung hier ist – ohne z.B. demographisch begründete Not, so dass ohne Verschmelzung der Sektoren die Versorgung nicht gewährleistet werden kann – berufs- und gesundheitspolitisch derzeit aber absolut unrealistisch.

Für Patienten, die sich auf Grund von Eigenmotivation in der Notaufnahme vorstellen erscheint die im Vorschlag der Regierungskommission vorgesehene Steuerung über eine verpflichtende Konsultation der Notrufnummer 116 117, deren Kompetenzen aber ausgebaut werden müssen hingegen sehr sinnvoll.

Vorgesehene Reform der Leitstellenstrukturen zur besseren Patientensteuerng. Aus der vierten Stellungnahme und Empfehlung der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung Reform der Notfall- und Akutversorgung in Deutschland.
Vorgesehene Reform der Leitstellenstrukturen zur besseren Patientensteuerng. Aus der vierten Stellungnahme und Empfehlung der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung Reform der Notfall- und Akutversorgung in Deutschland.

Hiernach wäre es möglich, dass die neuen integrierten Leitstellen ein differenziertes Angebot von telemedizinischer Beratung über Terminvermittlung bei niedergelassenen Ätzten, Verweis auf Notfallpraxen, Aktivierung des KV-Bereitschaftsdienstes für einen Hausbesuch, ambulanter pflegerischer Versorgung, Aktivierung eines Sozialdienstes bei Versorgungsproblemen oder eines palliativen Pflegedienstes bei entsprechender Behandlungsindikation bis hin zum Stellen der Indikation für ein Aufsuchen der Notaufnahme anbieten. Auch hier dürfte mit der Nutzung von Messenger-Diensten eine inhaltlich bessere Steuerung der Patienten und Absprache möglich werden.

Wo man weiterlesen kann

Roessler M, Schulte C, Bobeth C, Wende D, Karagiannidis C. Hospital admissions following emergency medical services in Germany: analysis of 2 million hospital cases in 2022. Med Klin Intensivmed Notfmed. Published online April 23, 2024. doi:10.1007/s00063-024-01148-6

Sitter, K., Braunstein, M. & Wörnle, M. Beweggründe von Patienten, die sich selbständig in der Notaufnahme vorstellen – eine prospektive monozentrische Beobachtungsstudie. Med Klin Intensivmed Notfmed (2024). https://doi.org/10.1007/s00063-024-01106-2

Vierte Stellungnahme und Empfehlung der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung Reform der Notfall- und Akutversorgung in Deutschland. Integrierte Notfallzentren und Integrierte Leitstellen. Link.

Weitere Literatur

Harenberg, L., Oßwald, H. M., Jaschonek, H., & Nagel, S. (2019). Selbsteinschätzung der Behandlungsdringlichkeit bei Vorstellung in einer neurologischen Notfallambulanz. Der Nervenarzt, 90(2), 175–182. https://doi.org/10.1007/s00115-018-0623-0

Kenny JF, Chang BC, Hemmert KC. Factors Affecting Emergency Department Crowding. Emergency Medicine Clinics of North America. 2020;38(3):573-587. doi:10.1016/j.emc.2020.04.001

Lange, R., Popp, S., & Erbguth, F. (2016). Brennpunkt Notaufnahme. Der Nervenarzt, 87(6), 592–602. https://doi.org/10.1007/s00115-016-0116-y

Morley C, Unwin M, Peterson GM, Stankovich J, Kinsman L. Emergency department crowding: A systematic review of causes, consequences and solutions. Bellolio F, ed. PLoS ONE. 2018;13(8):e0203316. doi:10.1371/journal.pone.0203316

Pérez de la Ossa N, Abilleira S, Jovin TG, et al. Effect of Direct Transportation to Thrombectomy-Capable Center vs Local Stroke Center on Neurological Outcomes in Patients With Suspected Large-Vessel Occlusion Stroke in Nonurban Areas: The RACECAT Randomized Clinical Trial. JAMA. 2022;327(18):1782–1794. doi:10.1001/jama.2022.4404

Roussel M, Teissandier D, Yordanov Y, et al. Overnight Stay in the Emergency Department and Mortality in Older Patients. JAMA Intern Med. 2023;183(12):1378-1385. doi:10.1001/jamainternmed.2023.5961

Seeger, I., Thate, S., Ansmann, L. et al. Inanspruchnahme der Notfallversorgung im Nordwesten Deutschlands. Notfall Rettungsmed (2022). https://doi.org/10.1007/s10049-022-01083-z

Scherer M, Lühmann D, Kazek A, Hansen H, Schäfer I. Patients Attending Emergency Departments. Deutsches Ärzteblatt international. Published online September 29, 2017. doi:10.3238/arztebl.2017.0645

Somasundaram R, Geissler A, Leidel BA, Wrede CE. Beweggründe für die Inanspruchnahme von Notaufnahmen – Ergebnisse einer Patientenbefragung Reasons for Emergency Department Visits: Results of a Patient Survey. Gesundheitswesen. 2018;80(7):621-627. doi:10.1055/s-0042-112459

Fotoquelle

Foto von Mufid Majnun auf Unsplash

Neuroradiologie 101: MRT für Neurologen

Vorwort

Ja, wir sind keine Radiologen. Ja, in der heutigen Zeit, in der es immer mehr um medikolegale Konsequenzen unseres Tuns geht, sollten wir uns nicht überschätzen und selbst radiologische Befunde erheben ohne die formale Qualifikation dafür zu haben. Ja, auch fachärztliche radiologische Befunde sind oft falsch (oder mindestens diskutabel). Ja, ich erwarte von allen Ärzten in Weiterbildung, dass sie sich die radiologischen Bilder unserer Patienten selbst anschauen.

Das MRT gilt dabei als besonders kompliziert. Das schöne ist aber – anders als Röntgenaufnahmen des Thorax – ist es das eigentlich gar nicht, und jede und jeder kann sich MRT-Aufnahmen orientierend anschauen.

Was technisches

Das müssen wir kurz halten. Ich versteh nämlich erschreckend wenig von der Technik hinter der MRT-Bildgebung (okay, sie ist auch ziemlich kompliziert und auch die meisten Radiologen können einem die technischen Hintergründe nicht wirklich erklären). Der Wikipedia-Artikel zur Kernspintomographie ist zumindest weitestgehend unverständlich (für einen mäßig begabten Mediziner), aber ein ganz klein wenig habe ich dann aber doch verstanden.

Die Grundidee der Kernspintomographie besteht darin, die Magnetisierbarkeit von Atomen zu nutzen, insbesondere von Wasserstoffatomen (Protonen). Durch das Anlegen verschiedener Magnetfelder geraten die Protonen in unterschiedliche Schwingungszustände, die genutzt werden können, um den Ort der Protonen zu bestimmen und Schnittbilder zu erzeugen.

Spin- und Gradienten-Echo-Sequenzen

Bei der MRT werden im Wesentlichen zwei Techniken angewendet: Spin-Echo- und Gradienten-Echo-Aufnahmen. Diese bilden die Grundlage für die verschiedenen MRT-Sequenzen, die wir kennen.

Spin EchoGradienten Echo
T2 TSET1
FLAIRT1 mit Kontrastmittel
STIRTOF
T2*
DWI

Aus der Tabelle geht hervor, dass T1-Sequenzen im Wesentlichen Gradienten-Echo-Aufnahmen sind, T2-Wichtungen eigentlich immer Spin-Echo-Sequenzen (bis auf die T2*-Wichtung). Was ist nun aber der Unterschied?

Beim Spin-Echo-Verfahren besteht der Schlüssel darin, dass zwei RF-Impulse mit verschiedenen Winkeln (90°/180°) gesendet werden, um die Protonen in einen Spin zu versetzen. Die Zeit zwischen dem ersten Impuls und dem Eintreffen des Signals ist einstellbar und wird als Echozeit (TE) bezeichnet. Auch die Zeit bis zur nächsten Sequenz, also bis zum nächsten 90°-Impuls, kann eingestellt werden. Dies ist die Relaxationszeit (TR). Beim Gradienten-Echo-Verfahren bleibt der Winkel des RF-Impulses konstant, und insgesamt sind TE und TR bei den T1-Sequenzen deutlich kürzer als bei den T2-Aufnahmen. Durch diese variablen (Zeit-)Einstellungen entstehen letztendlich die unterschiedlichen Kontraste und Bildcharakteristika.

Was Tempo-Taschentücher und MRT-Sequenzen gemeinsam haben

Die Bezeichnungen der Sequenzen, die wir täglich verwenden, variieren von MRT-Gerätehersteller zu MRT-Gerätehersteller leicht. Daher wird das, was die meisten von uns als FLAIR-Sequenz kennen, manchmal auch TIRM genannt, und die dünnschichtige T2-Sequenz, mit der der Kleinhirnbrückenwinkel gut dargestellt werden kann, trägt je nach Hersteller den Namen CISS, DRIVE oder FIESTA.

Mit 8 MRT-Sequenzen durchs Neurologen-Leben kommen

Um die allermeisten Bildgebungs-Fragestellungen beantworten zu können, reicht es, acht MRT-Sequenzen zu kennen und mit ihnen umgehen zu können.

T2-Wichtungen

Bei den T2-Sequenzen sind dies die T2 TSE, die FLAIR und die T2* (oder bei unserem Gerät T2 FFE).

T2 TSE (T2 Turbo Spin Echo) und FLAIR (Fluid-attenuated inversion recovery) (Link Doccheck) zeigen ähnliches Signalverhalten bei Gliosen und Gewebeödemen: Diese erscheinen hyperintens (also weiß). Ein Hauptunterschied besteht darin, dass in der T2 TSE auch der Liquor weiß erscheint, während er in der FLAIR „genullt“ wurde und somit schwarz erscheint. Dies erleichtert die Abgrenzung von Gewebeschäden und Liquorraum. Allerdings ist die Auflösung der T2 TSE deutlich besser. Die T2* ist – wie bereits erwähnt – eine Gradienten-Echo-Sequenz und dient zum Nachweis von Eisenablagerungen (also altem Blut). Frisches Blut hingegen zeigt sich besser in den T1-gewichteten Sequenzen.

T1-Wichtungen

Es gibt drei T1-Wichtungen, die es sich zu merken lohnt: Die T1 mit und ohne Kontrastmittel und die TOF-Angiographie.

Die T1 ohne Kontrastmittel wird hauptsächlich verwendet, um frisches Blut zu erkennen. Ansonsten dient sie als Substraktions-Sequenz für T1-Aufnahmen mit Kontrastmittel. Die T1 ist – wie häufig zu lesen ist – die einzige Sequenz, die die Anatomie des Gehirns korrekt wiedergibt: Die graue Substanz erscheint grau, die weiße Substanz weiß. Dies ist im klinischen Alltag jedoch nur bedingt relevant. Nach der Gabe von MRT-Kontrastmittel können in T1-Sequenzen gut frische entzündliche Läsionen und Raumforderungen abgegrenzt werden.

Mit der TOF (time of flight)-Angiographie können Protonen, die sich in einem bestimmten Geschwindigkeitsbereich in eine Richtung bewegen detektiert werden, so dass sich hieraus Kontrastmittel- und interventionsfreie Gefäßdarstellungen ableiten lassen.

Diffusionswichtungen

Zuletzt sind zwei Diffusionswichtungen von wesentlicher Bedeutung: Die B1000-Wichtung und die ADC-Map.

Es gibt eine Vielzahl von Diffusionswichtungen (Link Doccheck). Diese werden nach der Stärke der Signalabschwächung durch die Diffusion der Protonen durch das Gewebe benannt. B gibt dabei die Stärke der Signalabschwächung an. Für die meisten von uns ist die B1000 die geläufigste Sequenz. In den Diffusionswichtungen leuchtet das Signal dort weiß, wo eine Diffusionsstörung durch das Gewebe vorliegt, und erscheint schwarz, wo die Protonen ungehindert diffundieren können (z.B. im Liquor). Ein weißer Fleck in der Diffusionskarte bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass es sich um einen akuten Hirninfarkt handelt, sondern lediglich, dass hier eine Diffusionsstörung vorliegt. Diffusionsstörungen können durch zytotoxische Ödeme (wie bei Infarkten, aber auch bei Entzündungen) und durch sehr zellreiche Läsionen entstehen (z.B. Lymphome oder Abszesse). Der klinische Kontext ist neben dem bildgebenden Muster also äußerst wichtig, um eine Diffusionsstörung richtig einzuschätzen.

Technisch gesehen sind Diffusionswichtungen eine Art Hybrid zwischen T1- und T2-Sequenzen. Starke T2-Signale (z.B. durch größere Narben oder Ödeme) können auch zu einer Signalanhebung in der Diffusionswichtung führen (T2-Durchscheineffekt), ohne dass eine tatsächliche Diffusionsstörung vorliegt. Hier kommt die ADC-Karte (Apparent Diffusion Coefficient) ins Spiel. Die ADC-Karte wird aus den Messwerten der Diffusionsmessungen berechnet und muss überall dort, wo eine „echte“ Diffusionsstörung vorliegt, abgesenkt und somit schwarz sein.

Usecases

Wie geht man nun praktisch vor? Ich habe mal die häufigsten Fragestellungen aufgeschrieben.

Hirninfarkt

Das, was uns alle am allermeisten interessiert ist, hat unser Patient/unsere Patientin „was frisches“. Also werden wir in der Regel in die B1000-Sequenz gucken (und idealerweise auch in die ADC-Karte).

Dann interessiert uns, ob es bereits ältere Hirninfarkte gibt und wie diese verteilt sind (und beim wake up-Schlaganfall, ob es ein Diffusions-FLAIR-Mismatch gibt). Die TOF-Angiographie bietet eine hochauflösende intrakranielle Angiographie. Stolperfallen hierbei sind Stellen mit Richtungswechseln (Carotis-Siphon) und höhergradige Stenosen. Durch die Einstellung eines Geschwindigkeitskorridors, in dem Protonenbewegungen gemessen werden, werden sehr schnelle und sehr langsame Flussgeschwindigkeiten nicht angezeigt, was zu falschen Schlussfolgerungen über Gefäßverschlüsse führen kann. Mit der T2*-Wichtung kann man schauen, ob es alte Blutungsresiduen gibt und natürlich, ob ein akuter Infarkt eingeblutet hat.

Entzündung / Tumor

Bei der Fragestellung Entzündung/Tumor benötigen wir im Wesentlichen drei Sequenzen: FLAIR, T1 mit und T1 ohne Kontrastmittel. Die FLAIR-Wichtung zeigt uns Ödeme und Gliosen, während T1-KM-Aufnahmen frische entzündliche Läsionen und Neoplasien gut darstellen können. Die Diffusionswichtung spielt – meiner Meinung nach zu Unrecht – eine Nischenrolle. Wie oben beschrieben, ist die Diffusionswichtung bei der Frage nach Abszessen und Lymphomen äußerst hilfreich.

Neurodegeneration

Bei der Abklärung neurodegenerativer Erkrankungen kommen wir hauptsächlich mit T2-Wichtungen aus. Während bei Schlaganfällen und Tumor/Entzündung die FLAIR aufgrund ihrer Liquorsättigung der T2 überlegen ist, verhält es sich hier umgekehrt. Bei neurodegenerativen Erkrankungen geht es hauptsächlich um die Detektion fokaler Atrophiemuster. Hier ist es oft einfacher, derartige Muster mithilfe der hochauflösenden T2 und dem starken Kontrast zwischen grauem Hirngewebe und weißem Liquor zu erkennen.

Besonders wichtig ist es, bei neurodegenerativen Erkrankungen eine sagittale T2-gewichtete Sequenz zu haben. Zum einen, um bei atypischen Parkinson-Syndromen Mittelhirnatrophien besser abgrenzen zu können, und zum anderen, um bei der Frage nach einem Normaldruckhydrocephalus einen flow void über dem vierten Ventrikel darstellen zu können.

Spinale Bildgebung

Bei der Betrachtung der Bildgebung von Wirbelsäule und Rückenmark gibt es eine Grundregel: Bildbetrachter immer in zwei Spalten teilen, auf der einen Seite die sagittale T2 laden, auf der anderen Seite die axialen Bilder. Es ist viel einfacher, sich anhand der sagittalen Darstellung zu orientieren (da man Wirbelkörper zählen kann), als dies mit den axialen Bildern zu versuchen. Wenn dann sagittal eine Auffälligkeit gefunden wurde, kann diese Höhe in den axialen Schnitten eingestellt werden, um bei z.B. Bandscheibenvorfällen oder Myelitiden eine eventuelle Seitenbetonung zu erkennen. Genauso geht man bei den KM-Sequenzen vor.

Die STIR-Sequenz ist ebenfalls eine T2-Wichtung, zeigt aber besonders gut Knochenödeme. Bei der Frage nach Wirbelkörperfrakturen ist dies besonders hilfreich.

Fazit

Auch Nicht-Radiologen wie Neurologen (und solche in Weiterbildung) sollten sich regelmäßig die Schnittbildgebung ihrer Patienten anschauen, auch wenn sie formell keine abschließenden Befunde erstellen dürfen. Die MRT-Bildgebung ist viel unkomplizierter, als man zunächst denken mag. Um einen guten Überblick zu erhalten, genügt es, einigermaßen sicher mit gerade mal acht Sequenzen umgehen zu können.


Titelbild by KasugaHuang, CC BY-SA 3.0

Journal Club: Diese eine Sache mit den Fallschirmen

Ein weiterer Klassiker unter den BMJ-Weihnachtspaper ist die Fallschirm-Metaanalyse von Smith et al. aus dem Jahr 2003. Knapp 20 Jahre vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie zeigten die Autoren einen fast schon prophetischen Blick für das kommende Paper-Bullshit-Bingo. Oder waren die Probleme wissenschaftlicher Veröffentlichungen im Jahr 2003 und zwischen 2020 und 2023 am Ende doch recht ähnlich?

Referenz:

Smith GCS. Parachute use to prevent death and major trauma related to gravitational challenge: systematic review of randomised controlled trials. BMJ. 2003;327(7429):1459-1461.

Worum geht es?

Eigentlich um Studien-, bzw. Metanalysen-Kritik und um (ein bisschen) EBM-Schelte. Die Autoren untersuchen im Stil einer gängigen Metanalyse die seinerzeit verfügbare Evidenz für die Wirksamkeit von Fallschirmen bei einem Sprung aus großer Höhe Verletzungen und Tod zu vermeiden. Sie umreißen den Zweck der Studie damit, dass es bis dato nur anekdotische Evidenz für die Schutzwirkungen von Fallschirmen und dass es eben auch Beispiele für glimpflich ausgegangene Stürze aus großer Höhe gäbe.

Was kam raus?

Die Autoren konnten in einer Datenbankrecherche mit den Suchworten „parachute“ und „trial“ keine Studien identifizieren, die Stürze aus großer Höhe (>100 m) mit und ohne Verwendung eines Fallschirms untersucht hätten, also über eine Kontrollgruppe verfügten.

Gegen die Annahme der anekdotischen Evidenz – dass Fallschirme vor Verletzungen und Tod schützen würden – sprächen folgende Punkte:

Fazit der Fallschirm-Metaanalyse von 2003. Aus: Smith GCS. Parachute use to prevent death and major trauma related to gravitational challenge: systematic review of randomised controlled trials. BMJ. 2003;327(7429):1459-1461.
Fazit der Fallschirm-Metaanalyse von 2003
  • der healthy cohort effect: Personen, die ohne Fallschirm aus einem Flugzeug aus großer Höhe springen würden, seien vermutlich signifikant öfter psychiatrisch relevant erkrankt (suizidal), als die, die einen Fallschirm benutzen
  • ein bias durch Ärzte, die die weitverbreitete Verwendung von Fallschirmen unterstützen würden, um ihre Obsession in Prävention weiter ausleben zu können
  • ein systemischer bias durch die Interessen der Fallschirm-Industrie, die kein erkennbares Interesse zeige ihre Produkte einer systematischen Überprüfung zu unterziehen.
  • Die Autoren schließen mit der Feststellung As with many interventions intended to prevent ill health, the effectiveness of parachutes has not been subjected to rigorous evaluation by using randomised controlled trials. Advocates of evidence based medicine have criticised the adoption of interventions evaluated by using only observational data. We think that everyone might benefit if the most radical protagonists of evidence based medicine organised and participated in a double blind, randomised, placebo controlled, crossover trial of the parachute“.

Was seither geschah

Seit 2003 ist viel Wasser die Ochtum hinunter geflossen und wenn man heute die Suche von damals wiederholt kommen doch einige Veröffentlichungen mehr zusammen.

Exemplarisch stell ich hier drei weitere Fallschirm-Paper kurz vor.

RCT mit Puppen

Aus dem UKE kommt die bahnbrechende Arbeit von 2016, die die Schwierigkeit eine Ethikkomitee-Freigabe für eine randomisierte Fallschirm-Studie zu bekommen dadurch umgehen konnte, dass sie einfach Puppen als Probanden nahm.

Referenz:

Czorlich P, Burkhardt T, Buhk JH, et al. Does usage of a parachute in contrast to free fall prevent major trauma?: a prospective randomised-controlled trial in rag dolls. Eur Spine J. 2016;25(5):1349-1354.

Wie wurde die Studie durchgeführt und was kam raus?

Puppe „Erwin, der kleine Patient“
Puppe „Erwin, der kleine Patient“

Die Forscher verwendeten eine handelsübliche Stoffpuppe namens Erwin, der kleine Patient, bei der sie die Stoffeingeweide durch wassergefüllte Ballons ersetzten, zudem eine Wirbelsäule aus Lego und einen Reisverschluss, um den Retroperitonealraum abzugrenzen einfügten.

Maßstabsgetreu erfolgten Stürze nicht aus >100 m, sondern aus gut 25 m Höhe. Die Puppen, die ohne Fallschirm hinunter fielen, verletzten sich signifikant öfter schwer, vor allem an der Wirbelsäule (> 90% aller Stürze ohne Fallschirm), am Becken (92%) und an Leber und Milz. Die Ergebnisse waren hochsignifikant.

RCT mit echten Menschen

2018 erschien dann die lang ersehnte randomisierte Studie mit Menschen.

Referenz:

Yeh RW, Valsdottir LR, Yeh MW, et al. Parachute use to prevent death and major trauma when jumping from aircraft: randomized controlled trial. BMJ. Published online December 13, 2018:k5094.

Wie wurde die Studie durchgeführt und was kam raus?

Exemplarischer Sprung aus einem Flugzeug in der Studie von Yeh et al. Aus: Yeh RW, Valsdottir LR, Yeh MW, et al. Parachute use to prevent death and major trauma when jumping from aircraft: randomized controlled trial. BMJ. Published online December 13, 2018:k5094.
Exemplarischer Sprung aus einem Flugzeug in der Studie von Yeh et al.

Von 92 gescreenten Flugzeug-Passagieren erklärten sich 23 bereit an der Studie teilzunehmen. Die Aufgabe war – nicht verblindet – aus einem Flugzeug oder Hubschrauber zu springen, entweder mit einem Fallschirm oder einem leeren Rucksack auf dem Rücken. Der Studien-Endpunkt war ein kombinierter Endpunkt (Tod oder schweres Trauma) durch den Aufprall auf den Boden.

Erstaunlicherweise schützen Fallschirme nicht besser als ein leerer Rucksack vor Verletzungen. In beiden Gruppen kam es in 0% der Fälle zum Studienendpunkt.

Was war passiert? Das Kleingedruckte: Während die gescreenten Teilnehmer sich in Flugzeugen auf einer Höhe von ca. 9150 m befanden, sprangen die Studienteilnehmer aus einer Höhe von 0,6 m bei einer Geschwindigkeit von 0 km/h (gegenüber 800 km/h im Screening).

Warum ist die Studie wichtig?

Wegen den Schlussfolgerungen der Autoren. Erstens der Karl-Lauterbach-Gedächtnis-Anmerkung:

The PARACHUTE trial does suggest, however, that their accurate interpretation requires more than a cursory reading of the abstract. Rather, interpretation requires a complete and critical appraisal of the study.

Und auf Grund eines Effektes, den wir in abgeschwächter Form in vielen ernstgemeinten Studien tatsächlich regelmäßig sehen:

When beliefs regarding the effectiveness of an intervention exist in the community, randomized trials evaluating their effectiveness could selectively enroll individuals with a lower likelihood of benefit, thereby diminishing the applicability of trial results to routine practice.

Die aktuelle Metanalyse (von Zitaten)

Eine ganz aktuelle Arbeit untersucht die Verwendung des ersten Papers und der RCT mit echten Menschen in verschiedenen wissenschaftlichen Veröffentlichungen.

Die Referenz:

Xu A, Prasad V. The use and meaning of the parachute metaphor in biomedicine: a citation analysis of a systematic review and a randomized trial of the parachute for freefall. J Comp Eff Res. 2022;11(6):383-390

Wie wurde die Studie durchgeführt und was kam raus?

Es handelte sich um eine Metanalyse, die die Verwendung der Paper von Smith und Yeh et al. in der wissenschaftlichen Literatur untersuchte. Die Autoren konnten die verwendeten Zitate verschiedenen Grundaussagen zuordnen.

Aus: Xu A, Prasad V. The use and meaning of the parachute metaphor in biomedicine: a citation analysis of a systematic review and a randomized trial of the parachute for freefall. J Comp Eff Res. 2022;11(6):383-390
Aus: Xu A, Prasad V. The use and meaning of the parachute metaphor in biomedicine: a citation analysis of a systematic review and a randomized trial of the parachute for freefall. J Comp Eff Res. 2022;11(6):383-390

Auffallend war, dass die Studie von Smith vor allem dann verwendet wurde, wenn argumentiert wurde, dass es für einige etablierte Interventionen keine randomisierten Studien bräuchte, die von Yeh et al. als Beispiel für unsaubere Studiendesigns diente. In einem weiteren Schritt überprüften die Autoren, ob es bei Aussagen bei denen es nach Smith keiner randomisierten Studien bedürfe in im Verlauf doch angefertigten Studien zu einer Bestätigung oder Widerlegung der These kam. In einem Drittel der Fälle konnte die angenommene Hypothese bestätigt werden, in den anderen Fällen nicht (hier konnte also eine randomisierte Studie eine vermeintliche Gewissheit widerlegen).

Fazit

Mit Fallschirm-Vergleichen sollte man vorsichtig sein, es kommt hier – genau wie bei allen anderen wissenschaftlichen Arbeiten – auf das Kleingedruckte (die wissenschaftlichen Methoden) an. Niemals ist es ausreichend nur das Abstract einer Studie zu lesen.

Journal Club: Where have all the bloody teaspoons gone?

Ein Klassiker der Weihnachtsausgaben des BMJ ist die australische Teelöffel-Beobachtungsstudie:

Referenz:

Lim MSC, Hellard ME, Aitken CK. The Case of the Disappearing Teaspoons: A Longitudinal Cohort Study on the Displacement of Teaspoons in an Australian Research Institute. BMJ. 2005;331(7531):1498-1500.

Worum geht es?

An einem australischen Gesundheits-Forschungs-Institut fanden die Autoren im Januar 2004 in ihrer Teeküche keine Teelöffel mehr vor, was „das Einrühren von Zucker und das Abmessen von Instant-Kaffee“ stark erschwerte. Ersatzbeschaffungen verschwanden ebenfalls rasch. Angesichts des Mangels an wissenschaftlicher Literatur zu diesem Thema entschieden sich die Forscher für eine epidemiologische Beobachtungsstudie, um das Rätsel der schwindenden Teelöffel zu lösen. Die Fragestellung, die beantwortet werden sollte, lautete:

Wie ist die Verlustrate von Teelöffeln und wie ist die Halbwertszeit des „Überlebens“ von Teelöffeln.

Um das Problem näher eingrenzen zu können (Institut mit 140 Mitarbeitern, vier öffentliche und vier projektbezogene Teeküchen) entschied man sich, eine Pilotstudie durchzuführen. In dieser wurden 16 markierte Teelöffel in den öffentlichen und 16 markierte Teelöffel in den projektbezogenen Teeküchen platziert. Innerhalb der Beobachtungszeit von fünf Monaten kam es zu einem Verschwinden der meisten Teelöffel.

Für die Hauptstudie wurden insgesamt markierte 70 Teelöffel ausgebracht, 16 hochwertige und 54 günstige Teelöffel.

Viele billige Teelöffel in einer Schublade
Viele billige Teelöffel in einer Schublade

Die teuren Teelöffel wurden insbesondere in den Teeküchen platziert, in denen es in der Pilotstudie zu einem besonders starken Verlust an Teelöffeln gekommen war. Nach fünf Monaten wurden die Mitarbeitenden über die Studie informiert und ein Fragebogen zum Thema Teelöffel-Diebstahl versendet.

Was kam raus?

In den öffentlichen Teeküchen verschwanden die Teelöffel deutlich schneller als in den projektbezogenen. Die Halbwertszeit des „Teelöffel-Überlebens“ lag in öffentlichen Teeküchen bei 42 Tagen, in den projektbezogenen bei 77 Tagen. Am Ende der Beobachtungszeit waren 56 der 70 Teelöffel verschwunden, was einer Verlustrate von 86% entspricht.

aus: im MSC, Hellard ME, Aitken CK. The case of the disappearing teaspoons: longitudinal cohort study of the displacement of teaspoons in an Australian research institute. BMJ. 2005;331(7531):1498-1500.
aus: im MSC, Hellard ME, Aitken CK. The case of the disappearing teaspoons: longitudinal cohort study of the displacement of teaspoons in an Australian research institute. BMJ. 2005;331(7531):1498-1500.

Über die gesamte Studiendauer wurden die Teelöffel über 5.668 „Teelöffel-Tage“ aufgezeichnet, daraus lässt sich ein Verlust von 0,99 Teelöffeln/100 Teelöffel-Tage oder von 360,62 Teelöffeln/100 Teelöffel-Jahren berechnen. Bezogen auf die 140 Mitarbeiter bedeutet das einen Teelöffel-Schwind von 2,58 Teelöffeln/Mitarbeiter und 100 Tagen, bzw. von 252 Teelöffeln in einem Jahr. Teure Teelöffel verschwanden nicht schneller als billige.

Fünf Monate nach Studienbeginn erfolgte – wie Eingangs erwähnt – die Offenlegung der Studie gegenüber den anderen Mitarbeitern des Instituts und der Versand eines Fragebogens. Nach Offenlegung der Studie fanden fünf Teelöffel ihren Weg zurück, vier Teelöffel wurden – teils weit entfernt vom Ort des Verschwindens – wiedergefunden, ein Teelöffel 20 Wochen nach seiner letzten Sichtung im Institut.

aus: im MSC, Hellard ME, Aitken CK. The case of the disappearing teaspoons: longitudinal cohort study of the displacement of teaspoons in an Australian research institute. BMJ. 2005;331(7531):1498-1500.
aus: im MSC, Hellard ME, Aitken CK. The case of the disappearing teaspoons: longitudinal cohort study of the displacement of teaspoons in an Australian research institute. BMJ. 2005;331(7531):1498-1500.

Der Fragebogen wurde von 67% der Mitarbeiter ausgefüllt und offenbart eine gewisse kognitive Dissonanz. Während ein Großteil den Diebstahl von Teelöffeln ablehnte und die allermeisten Mitarbeiter die Teelöffel-Versorgungssituation als sehr unbefriedigend betrachteten, gaben immerhin 38% der Probanden an, schon mal einen Teelöffel gestohlen zu haben, davon 61% bei der Arbeit.

Warum ist das Paper wichtig?

Das Paper ist auch deshalb ein Klassiker geworden, weil es neben der ihm innewohnenden Komik sehr schön illustriert, was eine gute Beobachtungsstudie ausmacht, wie man sie konzipiert und was sie beantworten kann und was nicht: Sie kann eben keine Kausalitäten zeigen.

Und daher bleibt die Erklärung, warum der Teelöffel-Klau so ist wie er ist, auch spekulativ. Neben der – historischen – Theorie der tragedy of the commons, nach der Menschen bei öffentlich verfügbaren Gütern dazu neigen, mehr als ihnen eigentlich zustehen würde zu nehmen, „weil ja eh genug da ist“, bis am Ende für alle zu wenig verfügbar ist, führen die Autoren folgende Ideen an:

We propose a somewhat more speculative theory (with apologies to Douglas Adams and Veet Voojagig). Somewhere in the cosmos, along with all the planets inhabited by humanoids, reptiloids, walking treeoids, and superintelligent shades of the colour blue, a planet is entirely given over to spoon life-forms. Unattended spoons make their way to this planet, slipping away through space to a world where they enjoy a uniquely spoonoid lifestyle, responding to highly spoon oriented stimuli, and generally leading the spoon equivalent of the good life.

Ein weiterer Erklärungsansatz sei:

Our data might also be contemplated through the prism of counterphenomenological resistentialism, which holds that les choses sont contre nous (things are against us).Resistentialism is the belief that inanimate objects have a natural antipathy towards humans, and therefore it is not people who control things but things that increasingly control people. Although it seems unreasonable to say that the teaspoons are exerting any influence over the Burnet Institute’s employees (with the exception of the authors), their demonstrated ability to migrate and disappear shows that we have little or no control over them.

Ich bin mir sicher, diese Erklärung stimmt.

Parkinson für Dummies 6: Parkinson-Therapie im fortgeschrittenen 
Krankheitsstadium

Fokus auf L-Dopa

Als ich mit dem bloggen begonnen habe, hatte ich in einer Miniserie eine ganze Reihe von Beiträgen zu verschiedenen Aspekten der Parkinson-Krankheit verfasst. Hier sind Artikel u.a. zum Therapiebeginn bei älteren und jüngeren Patienten entstanden.

Doch wie geht es weiter, wenn die Honeymoon-Phase vorbei ist, wenn zunehmend motorische und nicht-motorische Komplikationen der Parkinson-Erkrankung auftreten? Hierum soll es in diesem Blogbeitrag gehen, mit dem Fokus auf L-Dopa. In einem weiteren – zukünftigen – Beitrag werde ich dann noch weitere therapeutische Optionen insbesondere MAO-Hemmer, Glutamat-Antagonisten und Antidementiva beleuchten.

Eine kleine Rückschau

Seinerzeit hatte ich den Therapiestart bei jüngeren Menschen (das heißt bei Parkinson immer jünger als 70 Jahre) und bei älteren Patienten (also mindestens 70 Jahre alt besprochen).

Unverändert gilt dabei das initiale Therapieschema

Mit zunehmender Ausbreitung der fehlgefalteten Eiweiße im Gehirn (bei der idiopathischen Parkinson-Erkrankung also alpha-Synuclein) kommt es zu immer schnelleren On- und Off-Wechseln bei parallel immer kleinerem therapeutischen Fenster.

Diese Grafik veranschaulicht sehr schön das Problem, welches sich oft nicht alleine durch immer häufigere Einnahmeintervalle mit kleineren Einzeldosen von L-Dopa lösen lässt:

aus: Jost WH, Buhmann C, Classen J, et al. Stellenwert der COMT-Hemmer in der Therapie motorischer Fluktuationen. Nervenarzt. 2022;93(10):1035-1045.
aus: Jost WH, Buhmann C, Classen J, et al. Stellenwert der COMT-Hemmer in der Therapie motorischer Fluktuationen. Nervenarzt. 2022;93(10):1035-1045.

Medikamentöse Therapie

Grundsätzliche Überlegungen zur Therapie fortgeschrittener Parkinson-Syndrom

Das bedeutet, das wir andere therapeutische Strategien benötigen und uns nun doch aus dem großen Repertoire zur Verfügung stehender medikamentöser Behandlungsoptionen bedienen müssen. Dieses ist in den letzten Jahren noch einmal etwas größer geworden und umfasst nun auch inhalatives L-Dopa und – ganz neu – die subkutane kontinuierliche L-Dopa-Substitution über eine Medikamentenpumpe.

Wenn man die Aussagen der aktuellen DGN-Leitlinie (Verlinkung siehe unten) zusammenfasst, resultiert folgendes Therapieschema zur Behandlung der fortgeschrittenen Parkinson-Erkrankungen.

Deutlich wird, dass vor allem Medikamente im Fokus stehen, die den Dopamin-Abbau beeinflussen (und Dopamin-Agonisten und Amantadin, über die wir beim nächsten Mal sprechen). Daher ein kleiner Ausflug zurück zu Biochemie und Pharmakologie des Dopamin-Stoffwechsels.

Biochemie und Pharmakologie

Die Hemmung der Umwandlung von L-Dopa in Dopamin in der Peripherie haben wir in den Wie beginn ich eine Parkinson-Behandlung-Artikeln thematisiert. Dopamin kann prinzipiell auf zwei Wegen abgebaut werden: Über die Monoamin-Oxidase (MAO) und über die Catechol-O-Methyl-Transferase (COMT).

Bildmaterial: Wikimedia Commons
Bildmaterial: Wikimedia Commons

Für beide Abbauwege stehen spezifische Hemmstoffe zur Verfügung, die die Konzentration von Dopamin in den Neuronen durch die Abbau-Hemmung erhöhen. Eine kleine Besonderheit ist noch, dass es bei den COMT-Hemmern peripher und zentral wirksame COMT-Hemmer zur Verfügung stehen. Dies wirkt zunächst wenig logisch, da nach oben genanntem Schema COMT-Hemmer doch den Abbau von Dopamin hemmen, aber sie hemmen auch den Abbau von L-Dopa vor seiner Verwandlung in Dopamin. Opicapon als neuester COMT-Hemmer ist so ein rein peripherer COMT-Hemmer, Entacapon und Tolcapon wirken hingegen vorwiegend, bzw. auch zentral.

Was man mit L-Dopa alles anstellen kann

Die Klassiker

L-Dopa (in seinen beiden Kombinationsgaben mit den Decarboxylasehemmern Carbidopa und Benserazid) gibt es nicht nur als gewöhnliche Tablette oder Kapsel, sondern sowohl in schnell löslicher Form (Madopar LT) und in retardierter Form. Beide Präparate dienen vor allem für Spezialindikationen. Das schnell lösliche L-Dopa kann gut aus Off-Phasen helfen und wird zum Einen bedarfsweise (dazu kommen wir gleich noch mal) als auch typischerweise zum morgendlichen Start in den Tag eingesetzt, wo es oft kurzfristig höhere Dopamin-Spiegel für eine ausreichende Mobilität und Feinmotorikstörung benötigt. So schnell wie der Spiegel steigt fällt er mit dem schnell löslichen L-Dopa aber auch wieder ab, als Dauertherapie eignet es sich damit nicht (dann hätte man die oben abgebildeten Therapiezyklen nur noch verschärft).

Auf dem retardierten L-Dopa lag zu Beginn der Entwicklung und Markteinführung eine große Hoffnung hiermit die häufigen und damit belastenden Einnahmezeitpunkte ersetzen zu können. Dies hat sich allerdings – wohl vor allem auf Grund der häufigen gastrointestinalen Motilitätsstörungen – als nicht praktikabel herausgestellt, die dazu führen, dass es eben keine kontinuierliche Medikamentenfreisetzung und -resorption aus den Retard-Kapseln gibt. Somit wird retardiertes L-Dopa in der Regel nur dazu eingesetzt, irgendwie eine ausreichende Beweglichkeit für Selbstmobilisation und nächtliche Toilettengänge ohne die Notwendigkeit nächtlicher Tabletteneinnahmen zu erreichen.

Inhalatives L-Dopa

Mitte 2022 ist das schon 2019 europaweit zugelassene inhalative L-Dopa zur Behandlung von Off-Krisen auf den Markt gekommen. Bei dem Paräparat handelt es sich um unretardiertes L-Dopa, welches über einen Inhalator dem Körper zugeführt wird. Für eine Behandlungen müssen die Patienten zwei Dosen à 42 mg L-Dopa inhalieren. Über den inhalativen Weg werden schneller höhere L-Dopa-Plasmaspiegel erreicht, als bei oraler Einnahme eines schnell löslichen L-Dopa-Präparats, bei dem es ca. 30 Minuten bis zur vollen Wirkdosisentfaltung braucht.

aus: Lipp MM, Batycky R, Moore J, Leinonen M, Freed MI. Preclinical and clinical assessment of inhaled levodopa for OFF episodes in Parkinson’s disease. Sci Transl Med. 2016;8(360).
aus: Lipp MM, Batycky R, Moore J, Leinonen M, Freed MI. Preclinical and clinical assessment of inhaled levodopa for OFF episodes in Parkinson’s disease. Sci Transl Med. 2016;8(360).

Betrachtet man nicht den Plasmaspiegel, sondern die Veränderung des UPDRS so ist der Unterschied zu oralem L-Dopa nicht sonderlich spektakulär. Das, die häufige Hauptnebenwirkung Hustenanfälle (15% aller Probanden in der Zulassungsstudie), sowie die Therapiekosten von knapp 17 EUR (2 x 8,43 EUR) für eine Behandlung im Vergleich zu 0,26 EUR für eine Tablette schnell lösliches L-Dopa führen bislang zu einem Nischendasein des Präparats.

aus: LeWitt PA, Hauser RA, Pahwa R, et al. Safety and efficacy of CVT-301 (levodopa inhalation powder) on motor function during off periods in patients with Parkinson’s disease: a randomised, double-blind, placebo-controlled phase 3 trial. The Lancet Neurology. 2019;18(2):145-154
Rote gestrichelte Linie: Wirklatenz eines schnell löslichen oralen L-Dopa-Präparats
aus: LeWitt PA, Hauser RA, Pahwa R, et al. Safety and efficacy of CVT-301 (levodopa inhalation powder) on motor function during off periods in patients with Parkinson’s disease: a randomised, double-blind, placebo-controlled phase 3 trial. The Lancet Neurology. 2019;18(2):145-154
Rote gestrichelte Linie: Wirklatenz eines schnell löslichen oralen L-Dopa-Präparats

COMT-Hemmer

Grundidee der COMT-Hemmung ist durch die Abbauhemmung des L-Dopa den Dopaminspiegel zu nivellieren, und damit länger im therapeutischen Fenster zu halten. Prinzipiell gibt es drei zugelassene COMT-Hemmer: Tolcapon, welches der erste auf dem Markt verfügbare COMT-Hemmer war, Entacapon, welches durch die fixe Kombination mit L-Dopa/Carbidopa als Stalevo vertrieben wird und Opicapon, welches zuletzt auf den Markt kam.

Tolcapon

Tolcapon hat (fast) nur noch historische Bedeutung, auf Grund von medikamentös bedingten Leberschädigungen war es eine ganze Zeit vom Markt genommen und wird in der aktuellen Leitlinie – wenn überhaupt – auch nur noch als second line-Therapie empfohlen. Tolcapon muss auf Grund einer kurzen Halbwertszeit drei Mal täglich eingenommen werden.

Entacapon

Entacapon hat durch die erwähnte Vertriebsform als Stalevo sicher die größte Durchdringung, hat eine sehr kurze Halbwertszeit und muss dementsprechend zu jeder L-Dopa-Einnahme eingenommen werden (was wiederum die fixe Kombination als Stalevo sinnvoll macht). Über dem Daumen gepeilt kann man annehmen, dass die Hinzunahme von Entacapon einer ca. 30%igen Erhöhung der L-Dopa-Dosis entspricht. Bei weiter fortgeschrittenen Parkinson-Syndromen braucht es in den Morgenstunden – wie schon erwähnt – oft mehr L-Dopa. Dementsprechend kann es vorteilhaft sein, die erste L-Dopa/Carbidopa/Entacapon-Dosis ca. 50% höher anzusetzen als die restlichen Tagesdosen. Auch wenn die Halbwertszeit von Entacapon kurz ist, kommt es doch über den Tag zu einer gewissen Kumulation. Dementsprechend bemerken viele Parkinson-Patienten unter Entacapon-Einnahme im Tagesverlauf eine immer bessere Beweglichkeit. Dies kann aber zum Einen in Hyperkinesien in den Nachmittags- und Abendstunden führen, zum Anderen aber auch zu typischen psychiatrischen L-Dopa-Nebenwirkungen wie optischen Halluzinationen und psychotischem Erleben. Dann macht es Sinn die Dosis im Tagesverlauf – und zwar die Einnahmezeitpunkte vor den Nebenwirkungen – zu reduzieren.

Opicapon

Opicapon muss nur einmal täglich eingenommen werden, das ist größter Vor-, aber auch Nachteil des Medikaments, dazu gleich mehr. Opicapon ist als letztes Präparat im Jahr 2016 zugelassen worden und auf den Markt gekommen. Opicapon führte in der Zulassungsstudie im Vergleich zu Entacapon (BIPARK-I, Ferreira et al.) zu einer Reduktion der Off-Zeiten unter Entacapon (100 Minuten weniger Off als Placebo) um zusätzliche 20 Minuten (120 Minuten weniger Off), bzw. – so wird es beworben – um weitere 20%. Diesen beiden Vorteilen (einmal tägliche Einnahme und weniger Off-Zeiten als unter Entacapon) stehen – natürlich – einige Probleme gegenüber. Zum Einen wirkt das Opicapon kurz nach Einnahme relativ stark, daher muss ein Einnahmeabstand von ca. einer Stunde zu L-Dopa-Einnahmen erfolgen.

Das bedeutet aber auch einen weiteren Einnahmezeitpunkt. Zum Anderen nimmt man das Opicapon auch deshalb in der Regel abends ein, da dort ein möglichst langer Einnahmeabstand zu der nächsten L-Dopa-Gabe besteht. Allerdings treten psychiatrische Nebenwirkungen von dopaminerger Medikation typischerweise in den Abendstunden auf, so dass hier durchaus im praktischen Alltag Probleme entstehen. Oft liest man Halluzinationen seien zwar häufiger als gegenüber Entacapon, aber dennoch sehr selten (4% vs. 1%). Wenn man aber betrachtet, dass in der Zulassungsstudie eher junge (Durchschnittsalter 63,5 Jahre) und leicht betroffene Patienten (Hoehn und Yahr-Stadium 2,5) eingeschlossen wurden, deckt sich der klinische Eindruck, dass Opicapon gerade bei älteren, multimorbiden Patienten problematisch ist, durchaus. Bei unserem Patientenkollektiv in der Klinik wird Opicapon in der Summe öfter ab- als angesetzt.

L-Dopa-Pumpen

Jejunales L-Dopa

Der Klassiker der L-Dopa-Pumpen ist die jejunale Applikation von L-Dopa-Gel. Das Produkt, welches unter dem Namen Duodopa vertrieben wird erfordert die Anlage einer PEJ, also einer Magensonde, welche durch die Bauchdecke bis ins Jejunum reicht. Vorteil dieser Applikationsart ist, dass ein relativ konstanter L-Dopa- und damit Dopamin-Spiegel auch bei schweren Gastroparesen/gastrointestinalen Motilitätsstörungen erreicht werden kann, welcher wiederum eine L-Dopa-Monotherapie ermöglicht und die Behandlung mit Zusatzsubstanzen oft überflüssig macht. Das ist insofern ein Vorteil, weil gerade bei fortgeschrittenen Parkinson-Erkrankungen oft die Zusatzmedikamente, wie COMT-Hemmer und Dopamin-Agonisten schlecht vertragen werden, bzw. zu psychiatrischen Nebenwirkungen führen. Die jejunale L-Dopa-Gabe hatte ihre Hochzeit in den frühen 2010er Jahren, in der letzten Zeit sieht man immer weniger Patienten mit einer derartigen Pumpe.

Die Gründe hierfür dürften in erster Linie an der mäßigen Praktikabilität des Konstrukts liegen. Die in den Zulassungsstudien generierten Zahlen zur Wirksamkeit sind gut, gerade im Hinblick auf Off-Zeiten und dem Auftreten von L-Dopa-assoziierten Dyskinesien ist jejunales L-Dopa einer oralen Gabe überlegen.

aus: Olanow CW, Kieburtz K, Odin P, et al. Continuous intrajejunal infusion of levodopa-carbidopa intestinal gel for patients with advanced Parkinson’s disease: a randomised, controlled, double-blind, double-dummy study. The Lancet Neurology. 2014;13(2):141-149.

Statistisch gesehen treten Nebenwirkungen und Komplikationen der Pumpentherapie vor allem in der Frühphase der Pumpentherapie auf. In der gefühlten Wahrheit mutet dies aber anders an, Dislokationen der PEJ, welche eine Korrektur-Magenspiegelung erfordern, technische Probleme mit Pumpe, Schlauchsystem oder Wundinfektionen an der PEJ-Einstichstelle lassen sich auch im Verlauf beobachten. Die verwendeten PEJ-Sonden wurden im Verlauf technisch verbessert, die Pumpen sind kleiner geworden, dennoch scheint jejunales L-Dopa ein Auslaufmodell zu sein. Dazu kommt die Beobachtung eines vermehrten Vitamin B-Mangels mit teils relevanten Polyneuropathien unter der jejunalen L-Dopa-Gabe.

Subkutanes L-Dopa

Ganz neu ist die Option L-Dopa kontinuierlich subkutan über eine Pumpe zu verabreichen. Dieses Produkt heißt Produodopa, Langzeit-Erfahrungen außerhalb von Studien gibt es naturgemäß noch nicht. Die zur Verfügung stehenden Daten sind aber vielversprechend, sie lassen eine der jejunalen L-Dopa-Gabe vergleichbare Wirksamkeit mit aber besserer Praktikabilität erwarten.

aus: Soileau MJ, Aldred J, Budur K, et al. Safety and efficacy of continuous subcutaneous foslevodopa-foscarbidopa in patients with advanced Parkinson’s disease: a randomised, double-blind, active-controlled, phase 3 trial. The Lancet Neurology. 2022;21(12):1099-1109.

Dadurch, dass das Pumpensystem viel einfacher aufgebaut sein kann, sind auch weniger technische Probleme zu erwarten.

Ganz prinzipiell verschiebt sich aber in den letzten Jahren – und dies dürfte subkutanes L-Dopa noch einmal verstärken – die Indikation zur Pumpentherapie. War es lange Zeit klassische Mit dem Rücken zur Wand-Indikation, die Pumpen wurden dann eingesetzt wenn sonst nichts mehr ging, so zeichnet sich in der letzte Zeit eher ein (vielleicht etwas übertrieben betiteltes) hit hard and early ab, die Pumpen werden als frühe Eskalationstherapie gesehen, die vor allem dann zum Einsatz kommen, wenn relevante Wirkfluktuationen auftreten.

Probleme bei der Behandlung fortgeschrittener Parkinson-Syndrome

Die Behandlung von Patienten mit fortgeschrittenen Parkinson-Syndromen ist oft nicht einfach und häufig von vielen Komplikationen geprägt. Ein relevantes Problem ist, dass Wirkfluktuationen unterschiedliche Gründe und auch unterschiedliche klinische Merkmale haben, wie folgende Grafik verdeutlicht:

aus: Jost WH, Buhmann C, Classen J, et al. Stellenwert der COMT-Hemmer in der Therapie motorischer Fluktuationen. Nervenarzt. 2022;93(10):1035-1045.
aus: Jost WH, Buhmann C, Classen J, et al. Stellenwert der COMT-Hemmer in der Therapie motorischer Fluktuationen. Nervenarzt. 2022;93(10):1035-1045.

Gerade intestinale Resorptionsstörungen neigen dazu verkannt zu werden. Sie stellen aber eine klassische Pumpen-Indikation dar.

Ein weiteres häufiges Problem ist die Entwicklung von Delirien, deren Behandlung einen größeren Fokus auf nicht-medikamentösen Therapieverfahren und das Weglassen typischer Neuroleptika bedeutet. Einen guten Überblick gibt hier der Artikel von Franke. Bei der medikamentösen Behandlung gilt oft weniger ist mehr, wie dieses praktische Fallbeispiel zu veranschaulichen versucht:

Generell sind es oft die psychiatrischen Komplikationen, die eine stationäre Behandlung fortgeschrittener Parkinson-Syndrome erforderlich machen. Noch nicht ganz verstanden und vermutlich multifaktoriell, aber dennoch bedeutsam ist die vermehrte Suizidalität bei Menschen mit (fortgeschrittenen) Parkinson-Syndromen. Eine aktuelle Metaanalyse (Mai et al.) beschreibt ein gegenüber der Normalbevölkerung doppelt so hohes Risiko.

Wo man weiterlesen kann:

Höglinger G., Trenkwalder C. et al., Parkinson-Krankheit, S2k-Leitlinie, 2023, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien

Jost WH, Buhmann C, Classen J, et al. Stellenwert der COMT-Hemmer in der Therapie motorischer Fluktuationen. Nervenarzt. 2022;93(10):1035-1045.

Franke, C., & Ebersbach, G. (2020). Das Delir beim idiopathischen Parkinson-Syndrom. Der Nervenarzt, 91(2), 107–113.

Weitere Literatur

Mai AS, Chao Y, Xiao B, et al. Risk of Suicidal Ideation and Behavior in Individuals With Parkinson Disease: A Systematic Review and Meta-Analysis. JAMA Neurol. 2024;81(1):10.

Soileau MJ, Aldred J, Budur K, et al. Safety and efficacy of continuous subcutaneous foslevodopa-foscarbidopa in patients with advanced Parkinson’s disease: a randomised, double-blind, active-controlled, phase 3 trial. The Lancet Neurology. 2022;21(12):1099-1109.

Ferreira JJ, Lees A, Rocha JF, Poewe W, Rascol O, Soares-da-Silva P. Opicapone as an adjunct to levodopa in patients with Parkinson’s disease and end-of-dose motor fluctuations: a randomised, double-blind, controlled trial. The Lancet Neurology. 2016;15(2):154-165.

Olanow CW, Kieburtz K, Odin P, et al. Continuous intrajejunal infusion of levodopa-carbidopa intestinal gel for patients with advanced Parkinson’s disease: a randomised, controlled, double-blind, double-dummy study. The Lancet Neurology. 2014;13(2):141-149.

Müller T, Laar TV, Cornblath DR, et al. Peripheral neuropathy in Parkinson’s disease: Levodopa exposure and implications for duodenal delivery. Parkinsonism & Related Disorders. 2013;19(5):501-507

Das leichte und das nicht so leichte Schädel-Hirn-Trauma

Unter dem Begriff Schädel-Hirn-Trauma (SHT) werden ganz verschiedene traumatische Verletzungen des Kopfes und des Gehirns zusammengefasst. Wenn es auch streckenweise wenig Gemeinsamkeiten gibt, einfach weil der Schweregrad und die Verletzungsmuster variieren, gibt es auch Gemeinsamkeiten, nämlich vor allem die Pathophysiologie, die hinter der oft langsamen und oft auch inkompletten Erholung nach einem Schädel-Hirn-Trauma steckt.

Dabei gilt – wie so oft in der Medizin – häufiges ist häufig und so macht das leichte Schädel-Hirn-Trauma den allergrößten Teil aller Schädel-Hirn-Traumen aus. Um das leichte Schädel-Hirn-Trauma soll es dementsprechend hier schwerpunktmäßig gehen, mit einem kleinen Exkurs zu den häufigeren Verletzungsmustern bei schwereren Schädel-Hirn-Traumen und vor allem zu den bildgebenden Befunden hierbei.

Die Epidemiologie des Schädel-Hirn-Traumas

Schädel-Hirn-Traumen sind unglaublich häufig, alleine in Deutschland wurden 2021 ca. 350.000 Krankenhausbehandlungen auf Grund eines Schädel-Hirn-Traumas durchgeführt, die jährliche Inzidenz wird auf 300/100.000 geschätzt. Zuletzt sind (allein für Deutschland) jährlichen Behandlungskosten von ca. 2,5 Milliarden Euro angefallen. Die übrige Epidemiologie des Schädel-Hirn-Traumas kann man gut in drei Grafiken zusammenfassen.

Leichte Schädel-Hirn-Traumen machen 94% der Fälle aus, moderate 5% und schwere gerade mal 1%, betroffen sind betont junge Männer und ältere Menschen, die Mortalität ist vor allem im höheren Lebensalter statistisch signifikant erhöht.

Schädel-Hirn-Trauma und Glasgow Coma Scale

Der Schweregrad des Schädel-Hirn-Traumas wird anhand der Bewusstseinslage unmittelbar nach dem Unfall eingeteilt, normiert mit der Glasgow Coma Scale. Auf dieser kann man (ja bekanntermaßen) je nach Bewusstseinslage, sprachlicher und motorischer Antwort auf Aufforderungen 3-15 Punkte erzielen.

aus: Pinggera D, Geiger P, Thomé C. Schädel-Hirn-Trauma. Nervenarzt. 2023;94(10):960-972. doi:10.1007/s00115-023-01546-9
aus: Pinggera et al.

Hieraus resultiert dann die Einteilung in leichtes, moderates und schweres Schädel-Hirn-Trauma.

Leichtes SHTGCS 13-15
Moderates SHTGCS 9-12
Schweres SHTGCS 3-8

Problematisch an diesem Einteilungsmechanismus ist, dass die Zeit zwischen Trauma und erster Einschätzung variieren kann, eine passagere Bewusstlosigkeit so zum Beispiel gar nicht festgestellt wird. Zudem ergibt sich ein Problem bei Intoxikationen, die in einer schlechteren Bewusstseinslage – als eigentlich durch das Trauma erklärbar – resultieren.

Wer braucht eine Bildgebung und wer muss stationär überwacht werden?

Gerade weil der überwiegende Teil der Schädel-Hirn-Traumen leichte Schädel-Hirn-Traumen sind, stellt sich die Frage, bei welchen Patienten eine Bildgebung (in der Regel ein CCT, idealerweise mit Darstellung der Halswirbelsäule) und bei welchen Patienten eine stationäre Überwachung erfolgen sollte.

Die seit 2020 abgelaufene S2e Leitlinie Schädel-Hirn-Trauma im Erwachsenenalter der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie empfiehlt eine CT-Bildgebung bei klinischem Verdacht auf Hirndruck oder traumatischen Hirnläsionen, im Einzelnen bei Bewusstseinsstörungen, anterogerader Amnesie, fokalen neurologischen Defiziten, wiederholtem Erbrechen und stattgehabten epileptischen Anfällen. Des Weiteren bei Zeichen einer Schädelfraktur (incl. penetrierende Traumen, Liquorrhoe), Hinweisen auf eine angeborene oder iatrogen bedingte Gerinnungsstörung (Antikoagulation) und in unklaren Fällen, insbesondere bei unklarer Anamnese des Unfallherganges, starken Kopfschmerzen, eingeschränkter klinischer Beurteilbarkeit auf Grund von Intoxikationen und Hinweisen auf ein Hochrasanztrauma.

Wie so oft ist das Ganze im englischen Sprachraum viel mehr operationalisiert. Hierbei sind zwei Klassifikationssysteme im Einsatz, die relativ komplexe Canadian CT Head Rule und die deutlich simpleren New Orleans Kriterien

Im Grunde besagen beide das selbe: Sind bestimmte Risikofaktoren erfüllt ist eine CT-Bildgebung indiziert. Beide Klassifikationssysteme sind hinsichtlich Sensitivität und Spezifität vergleichbar (Alzuhairy et al.), so dass wenig gegen den Einsatz der deutlich übersichtlicheren New Orleans Kriterien spricht.

Zur Indikation der stationären Überwachung sagt die Leitlinie im Grunde folgendes: Eine stationäre Überwachung ist dann sinnvoll, wenn eine Bewusstlosigkeit bestanden hat und eine sich erst im Verlauf entwickelnde Hirnblutung (vor allem Kontusionsblutungen) zu befürchten ist oder wenn die aus der Bildgebungs-Indikationsstellungen bekannten Risikofaktoren (ebenfalls für ein zweizeitiges Blutungsereignis) bestehen.

Häufige bildgebende Befunde schwererer Schädel-Hirn-Traumen

Was sieht man in der Bildgebung, wenn man denn etwas sieht? Das kommt stark auf den Unfallmechanismus an. Am häufigsten – auch nach Bagatelltraumen oder bei wiederholten Stürzen – finden sich Subduralhämatome (SDH).

Subduralhämatom

Subduralhämatome können chronisch im Rahmen einer Sickerblutung oder akut – dann oft bei bestehender Antikoagulation – durch den Einriss von Brückenvenen entstehen. Da das Gehirn langsame Druckänderungen und Masseverschiebungen viel besser toleriert als akute können chronische Subduralhämatome viel größere Ausdehnungen erreichen, bevor sie überhaupt Symptome verursachen.

CCT eines Pat. mit akutem SDH, schwerst betroffener, im Verlauf komatöser Pat. Bestehende OAK.
CCT eines Pat. mit einem chronischen SDH. Es bestand zum Zeitpunkt der Bildgebung nur eine latente Hemiparese.

Während es bei akuten Subduralhämatomen relativ klare OP-Indikationen für eine Bohrlochtrepanation gibt (Hämatomdurchmesser > 10 mm, Mittellinien-Verlagerung > 5 mm, GCS < 9 Punkte, GCS-Abfall um 2 Punkte, Anisocorie und Hirndruck > 20 mmHg), ist das bei chronischen Subduralhämatomen anders. Hier kommt es zu – sich oft im Verlauf auch selbst resorbierenden – Sickerblutungen, eine relative OP-Indikation besteht bei einem symptomatischen Subduralhämatom und einer bildmorphologischen Hirnparenchym-Kompression. Hier müssen aber immer Nutzen und OP-Risiko bei den oft hochaltrigen, multimorbiden und in der Regel hochgradig delirgefährdeten Patienten abgewogen werden, auch weil das Rezidivrisiko bei chronischen Subduralhämatomen mit ca. 30% sehr hoch ist. Mit der Embolisation der A. meningea media steht zudem – momentan (auch auf Grund der fehlenden aktuellen Leitlinie) nur in Studien durchführbare – interventionelle Behandlungsmöglichkeit zur Verfügung. Idee der Embolisation ist es, das oft sehr fragile Kapillargeflecht, was in die Brückenvenen mündet zu veröden.

Kontusionsblutungen

Kontusionsblutungen und traumatische Subarachnoidalblutungen (SAB) entstehen durch Einriss parenchymaler, bzw. subarachnoidaler Gefäße. Sie sind immer Ausdruck eines schwereren Schädel-Hirn-Traumas, die größeren Blutungen entstehen dabei typischerweise am contre coup, also kontralateral zur Traumaseite und -stelle, dem coup. Auch Kalotten- und Felsenbeinfrakturen kommen bei Kontusionsblutungen und traumatischen SAB häufiger vor als bei den oft im Rahmen von Bagatelltraumen entstehenden Subduralhämatomen.

Kontusionsblutung Tag 1
Kontusionsblutung Tag 2
Kontusionsblutung post OP

Bei Kontusionsblutungen gibt es – wie bei den akuten Subduralhämatomen – relativ klare OP-Indikationen. Indiziert ist eine Hämatomentlastung wenn das Blutungsvolumen mehr als 50 Kubikzentimeter oder der intrakranielle Druck > 20 mmHg beträgt oder eine Mittellinien-Verlagerung > 5 mm oder eine GCS von 6 bis 8 besteht. Gerade große oder im Verlauf „aufblühende“ Kontusionsblutungen gehen mit einer schlechten Prognose einher.

Seltene Befunde: Epiduralhämatome und diffuses axonales Trauma

Praktisch nur bei schweren Schädelhirn-Traumen sieht man Epiduralhämatome (EDH) und das diffuse axonale Trauma (DAT). Entsprechend kann ich hier leider keine bildgebenden Befunde aus dem eigenen Fundus präsentieren. Wie schon bei den großen Kontusionsblutungen gilt, dass das Vorhandensein von Epiduralhämatomen oder eines diffusen axonalen Traumas mit einer schlechten Prognose einhergeht.

Die Prognose des leichten Schädel-Hirn-Traumas

So viel vorweg, die Prognose des leichten Schädel-Hirn-Traumas ist schlechter als man zunächst vermuten könnte. Das hat relativ viel mit der Pathophysiologie zu tun – die wie Eingangs erwähnt – für alle Schweregrade im Grunde genommen nämlich gleich ist.

Exkurs Pathophysiologie

Beim Schädel-Hirn-Trauma kommt es durch die Verletzung zu einem Endothelschaden, durch welchen Leukozyten mit ins Hirngewebe einwandern und dort zu einer Entzündungsreaktion mit Aktivierung von Mikroglia und reaktiven Astrozyten führen. Durch die Entzündungsreaktion mit inflammatorischen Zytokinen und Sauerstoffradikalen kommt es zu einer lokalen Gewebeschwellung. Auf zellulärer Ebene verstärkt sich der Gewebeschaden durch die bereits untergegangen Zellen noch einmal mehr, durch diese resultiert nämlich ein Überangebot an Glutamat im synaptischen Spalt. Die übermäßige Aktivierung von Glutamatrezeptoren führt zu einem massiven Einstrom von Kalzium, dieser wiederum zur Bildung freier Sauerstoffradikale und durch diese kommt es zu DNA-Schäden im Zellkern mit der Folge weiterer Zelluntergänge.

2022 wurde in JAMA die Studie von Madhok et al. veröffentlicht. In dieser multizentrischen prospektiven Kohortenstudie wurde das funktionelle Outcome nach sehr leichtem Schädel-Hirn-Trauma (GCS 15) zwei Wochen und sechs Monate nach dem Unfall untersucht. Eingeschlossen wurden knapp 1.000 Probanden.

Outcome nach sehr leichtem Schädel-Hirn-Trauma auf der erweiterten Glasgow Outcome-Skala. Nach 2 Wochen (oben) haben nur 27% der Probanden sich vollständig erholt, nach 6 Monaten (unten) 44%, während 73%, bzw. 56% weiterhin Symptome nach dem Unfall aufweisen, die sie in ihrer Alltagsaktivität behindern. Aus: Madhok DY, Rodriguez RM, Barber J, et al. Outcomes in Patients With Mild Traumatic Brain Injury Without Acute Intracranial Traumatic Injury. JAMA Network Open. 2022;5(8):e2223245-e2223245. doi:10.1001/jamanetworkopen.2022.23245
Outcome nach sehr leichtem Schädel-Hirn-Trauma auf der erweiterten Glasgow Outcome-Skala nach 2 Wochen (oben) und 6 Monaten (unten). Aus: Madhok et al.

Die Zahlen – mit denen das Paper auch nach außen kommuniziert wurden – klingen recht dramatisch. Danach hatten nach zwei Wochen nur 27% der Probanden sich vollständig erholt, nach sechs Monaten waren es 44%, während 73%, bzw. 56% weiterhin Symptome nach dem Unfall aufwiesen, die sie in ihrer Alltagsaktivität behinderten. Nun lohnt es sich – wie immer – aber doch sich die Studiendaten einmal genauer anzugucken, denn ganz so dramatisch wie es zunächst klingen mag, sind die Studienergebnisse dann doch nicht. Gemessen wurde das Outcome auf der erweiterten Glasgow Outcome-Skala (GOS-E), die 8-teilig für verschiedene Domänen die Teilhabefähigkeit abfragt. Dabei besagt GOS-E 8 eine vollständige Erholung, während GOS-E 7 ebenfalls ein gutes Outcome mit voller Teilhabefähigkeit – aber mit noch minimalen Restsymptomen – beschreibt. Ab GOS-E 6 besteht eine – wenn auch reduzierte – Arbeitsfähigkeit.

Erweiterte Glasgow Outcome-Skala, aus Wilson L, Boase K, Nelson LD, et al. A Manual for the Glasgow Outcome Scale-Extended Interview. Journal of Neurotrauma. 2021;38(17):2435-2446. doi:10.1089/neu.2020.7527
Erweiterte Glasgow Outcome-Skala, aus Wilson et al.

Schaut man sich die Studiendaten mit diesem Vorwissen noch mal an, so haben nach zwei Wochen 49% ein gutes Outcome (GOS-E 7+8) und weitere 21% erreichen (GOS-E 6), nach sechs Monaten haben 72% ein gutes Outcome und weitere 20% sind „noch arbeitsfähig“. Ein wirklich schlechtes Outcome findet man dementsprechend nach zwei Wochen „nur“ bei 30% und nach sechs Monaten bei 8%.

Allerdings – und das ist dann doch beachtlich – bedeutet 8% schlechtes Outcome nach sechs Monaten bezogen auf oben skizzierte epidemiologische Häufigkeiten des leichten Schädel-Hirn-Traumas doch ziemlich viele langfristig arbeitsunfähige und hilfsbedürftige Menschen. Die Daten nach zwei Wochen dürften hingegen eher die realistischen Rekonvaleszenzzeiten widerspiegeln.

Prädiktoren für ein schlechteres Outcome sind weibliches Geschlecht, psychiatrische Vorerkrankungen und niedriger Bildungsstand, bzw. sozioökonomischer Status und damit Faktoren die wir aus vielen anderen Studien auch als Risikofaktoren kennen. Zudem haben Überfall-Opfer und Menschen, die bei einem Unfall mit einem Auto verletzt wurden eine schlechtere Prognose. Ein eher „technischer“ Risikofaktor für ein schlechteres Outcome dürfte das Vorhandensein einer Antikoagulation sein, einfach weil das Patienten sind, die auch bei formal initialem leichten Schädel-Hirn-Trauma ein hohes Risiko für Blutungskomplikationen (siehe oben) haben. Klinische erkennbare – und teils behandelbare – Risikokonstellationen sind zudem initiale Bewusstlosigkeit, eine relevante anterogerade Amnesie, eine initiale Hypoxie (damit alles Zeichen dafür, dass das Trauma doch schwerer gewesen sein dürfte), Intoxikationen und niedrige Blutdruckwerte in der Notaufnahme. Auch die letzten beiden Punkte dürften eher „technische“ Risikofaktoren seien, die Intoxikationen prädestinieren wieder für Blutungskomplikationen, die Hypotension führt bei Hirndruckentwicklung zu einem schlechteren zerebralen Perfusionsdruck.

Ein kurzes Fazit

Was lohnt es sich zu merken?

  • Schädel-Hirn-Traumen werden nach der initialen GCS in drei Schweregrade eingeteilt
  • Die New Orleans Kriterien sind ein gutes und einfaches Tool um Patienten zu identifizieren, die eine CCT-Bildgebung auch nach leichtem Schädel-Hirn-Trauma benötigen
  • Die häufigsten Blutungskomplikationen stellen chronische und akute Subduralhämatome dar
  • Das Outcome des leichten Schädel-Hirn-Traumas ist schlechter, als man denken könnte
Wo man weiterlesen kann

Pinggera D, Geiger P, Thomé C. Schädel-Hirn-Trauma. Nervenarzt. 2023;94(10):960-972. doi:10.1007/s00115-023-01546-9 (open access)

S2e-Leitlinie Schädel-Hirn-Trauma im Erwachsenenalter, gültig bis 12/2020, https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/008-001

Madhok DY, Rodriguez RM, Barber J, et al. Outcomes in Patients With Mild Traumatic Brain Injury Without Acute Intracranial Traumatic Injury. JAMA Network Open. 2022;5(8):e2223245-e2223245. doi:10.1001/jamanetworkopen.2022.23245

Weitere Literatur

Alzuhairy AKA. Accuracy of Canadian CT Head Rule and New Orleans Criteria for Minor Head Trauma; a Systematic Review and Meta-Analysis. Arch Acad Emerg Med. 2020;8(1):e79.

Mühl-Benninghaus R. Middle meningeal artery embolization for treatment of chronic subdural hematoma. Radiologie. 2022;62(S1):17-21. doi:10.1007/s00117-022-01074-8

Ng SY, Lee AYW. Traumatic Brain Injuries: Pathophysiology and Potential Therapeutic Targets. Front Cell Neurosci. 2019;13:528. doi:10.3389/fncel.2019.00528

Kan P, Maragkos GA, Srivatsan A, et al. Middle Meningeal Artery Embolization for Chronic Subdural Hematoma: A Multi-Center Experience of 154 Consecutive Embolizations. Neurosurgery. 2021;88(2):268-277. doi:10.1093/neuros/nyaa379

Rickels E, Von Wild K, Wenzlaff P. Head injury in Germany: A population-based prospective study on epidemiology, causes, treatment and outcome of all degrees of head-injury severity in two distinct areas. Brain Injury. 2010;24(12):1491-1504. doi:10.3109/02699052.2010.498006

Wilson L, Boase K, Nelson LD, et al. A Manual for the Glasgow Outcome Scale-Extended Interview. Journal of Neurotrauma. 2021;38(17):2435-2446. doi:10.1089/neu.2020.7527

Neuroborreliose und Borrelienneurose

Bei wenig Erkrankungen gibt es so viel Hörensagen, weit verbreitete Unsicherheiten aber auch medizinischen Bullshit und Scharlatanerie wie bei der Neuroborreliose. Eigentlich ist das Thema recht einfach, aber …

Borreliose ohne Neuro: Die Lyme-Borreliose

Das Bakterium Borrelia burgdorferi, der Erreger der Lyme-Borreliose, wird durch Zeckenstiche übertragen. Borrelien sind Spirochäten, genau wie der Erreger der Syphilis. Es handelt sich um eine ganz klassische Zoonose, wobei die Besiedelung der Zecken mit Borrelien in Deutschland regional unterschiedlich ist, insgesamt aber meist zwischen 10 bis 15% aller Zecken Borrelien in sich tragen. Insgesamt ist die Borreliose in Europa die am häufigsten durch Zecken übertragene Infektionskrankheit und eine der häufigsten Zoonosen.

Pathogen sind mindestens vier verschiedene Borrelien-Serotypen. Zeckenstiche bekommt man fast nur in Wäldern (43% aller Zeckenstiche) und im Garten (31% aller Zeckenstiche) im höheren Gras. Von allen Menschen, die von einer infizierten Zecke gestochen werden erkranken 0,7 bis 1% an einer Borreliose, die Antikörper-Prävalenz ist jedoch ist jedoch deutlich höher, sie liegt in Deutschland bei ca. 6% aller Frauen und 13% aller Männer.

Und hier geht es schon los: Viel viel mehr Menschen haben Borrelien-Antikörper als eine Borreliose entwickeln, der Antikörper-Nachweis ohne typische Symptomatik bedeutet also wenig. Die Inzidenz der Lyme-Borreliose wird in Deutschland mit 49/100.000 angegeben, eine Neuroborreliose entwickelt etwa jeder zehnte Infizierte (was einer Inzidenz von 5/100.000 entsprechen würde. Nur ein Drittel aller Menschen, die an einer Borreliose leiden erinnern einen Zeckenstich (weil dieser oft in nicht besonders einsichtigen Körperregionen passiert), nur die Hälfte bemerkt ein Erythema migrans, was ja das typische klinische Zeichen einer Borreliose ist. Die in den Lehrbüchern immer wieder aufgeführte Einteilung in Früh- und Spätstadien einer Borreliose ist aus diesen Gründen wenig hilfreich, oft ist der Beginn der Erkrankung schlicht nicht klar.

Das Erythema migrans, also eine kutane Borreliose, ist die häufigste Borreliose-Manifestation überhaupt. Je nach Studie macht es 89 bis 95% aller Borreliosen aus. Das Erythema migrans gibt es als alleinige Erkrankungsmanifestation oder in Kombination mit anderen Symptomen, oft einer B-Symptomatik oder Muskel- und Gelenkschmerzen. Die gefürchtete kardiale Borrelien-Manifestation soll sehr selten sein und deutlich unter 1% aller Borreliosen ausmachen.

Borreliose mit Neuro: Die Neuroborreliose

Bannwarth-Syndrom

Die S3-Leitlinie Neuroborreliose gibt die Häufigkeit einer Neuroborreliose mit ca. 3% aller Borreliose-Manifestationen an. Das Bannwarth-Syndrom ist dabei der Klassiker der Neuroborreliose und mit Abstand die häufigste Erkrankungsform einer Neuroborreliose. Ganz formal und inhaltlich korrekt ist ein Bannwarth-Syndrom eine Meningopolyradikulitis, also eine Entzündung der weichen Hirnhäute und mehrerer Nervenwurzeln, bzw. Hirnnerven. Die typischen Symptome einer Neuroborreliose sind damit zum Einen meningitische Beschwerden (Kopfschmerzen, Lichtscheu, Übelkeit, Erbrechen, Fieber), zum anderen Hirnnervenausfälle, v.a. Fazialisparesen und Nervenwurzelentzündungen, die schlussendlich der Symptomatik eines Bandscheibenvorfalls imitieren. Mit ca. 40% aller Fälle sind tatsächlich Fazialisparesen (nicht selten beidseitig) häufigstes Neuroborreliose-Symptom, alle anderen Manifestationen sind viel seltener, bei Kindern ist eine reine Meningitis das häufigste Symptom.

Enzephalomyelitis

Infektionen von Gehirn und Rückenmark machen weniger als 1% aller Neuroborreliosen aus, sie gelten als Spätmanifestation (mit den oben genannten Einschränkungen). Hier kommt es zum Einen zu meist diffusen Entzündungen des Gehirns, v.a. der basalen Abschnitte (ich erinnere genau einen Fall in meinem bisherigen Berufsleben) und zum Anderen zu spinalen Symptomen wie einer Stand- und Gangataxie und Blasen- und Mastdarmstörungen. Die Prognose bei diesen Erkrankungsmanifestationen ist deutlich schlechter als beim Bannwarth-Syndrom, häufig bleiben trotz Therapie residuelle Symptome.

Borrelien-assoziierte Kleingefäßvaskulitis

Spirochäten können Entzündungen der Gefäße verursachen, also Vaskulitiden. Maximal 0,3% aller Borrelieninfizierten scheinen von so einer Vaskulitis betroffen zu sein, nur 0,1% der Infizierten entwickeln auch Schlaganfälle.

Weiße Flecken im Marklager: Neuroborreliose

Immer wieder wird diskutiert (oder in MRT-Befunden aufgeworfen), ob T2-hyperintense Läsionen in der MRT (weiße Flecken in der FLAIR- oder T2-Wichtung) nicht nur vaskulär mikroangiopathisch oder autoimmun-entzündlich, z.B. im Rahmen einer Multiplen Sklerose, sondern auch durch eine Neuroborreliose bedingt sein könnten. In einer norwegischen Studie waren T2-hyperintense Läsionen bei Patienten mit Neuroborreliose jedoch nicht häufiger als in der Normalbevölkerung, was gegen die Hypothese der Borrelien-bedingten Marklagerläsionen spricht.

Raritäten

Außerhalb der Akrodermatitis atrophicans sind Neuroborreliosen, die „nur“ eine Polyneuropathie hervorrufen eine absolute Seltenheit, ebenso gibt es kaum Evidenz für Sehnervenentzündungen, die durch Borrelien hervorgerufen werden. Kognitive Störungen außerhalb der Borrelien-Enzephalomyelitis sind ebenfalls sehr selten.

Neuroborreliose ohne Neuroborreliose: Borrelienneurose

Eine eine suffiziente antibiotische Behandlung überdauernde Neuroborreliose, eine „chronische Neuroborreliose“ oder post-treatment Lyme disease syndrome (PTLDS) scheint es nicht zu geben (siehe z.B. Dersch et al.), auch in der DGN-Leitlinie wird das Thema ausführlich beleuchtet). Immer wieder taucht seit Jahren dieses „Krankheitsbild“ auf, immer wieder wird Patienten mit unspezifischen Beschwerden, mit Muskel- und Gelenkschmerzen, Fatigue, Fibromyalgie- oder CFS-artigen Symptomen zu wiederholten oder verlängerten Antibiotikatherapien geraten, oft nach Anwendung nicht validierter Therapieverfahren wie der „Dunkelfeldmikroskopie“.

Klempner et al.konnten dabei schon 2001 in zwei relativ großen Patientenkohorten zeigen, dass eine verlängerte Antibiotikatherapie keinen über den Placeboeffekt hinausgehenden Behandlungserfolg verspricht. Auch nach aktuellem Leitlinienstand wird eine antibiotische Therapie vermeintlicher chronischer Neuroborreliosen nicht empfohlen.

Warum insbesondere die Neuroborreliose als Sammelbecken verschiedener unspezifischer Symptome dient ist meines Wissens nicht verstanden, denn eigentlich ist die Erkrankung nicht sonderlich kompliziert, nur bei der Diagnostik ist es etwas umständlicher als bei anderen Infektionserkrankungen.

Diagnostik

Die Diagnose einer Neuroborreliose stützt sich im Wesentlichen auf die Liquordiagnostik, eben da die Seroprävalenz der Borrelien-Antikörper im Serum deutlich höher als die der Borrelien-Erkrankungen und damit meist wenig hilfreich ist. Im Liquor sind zwei Dinge zu fordern:

  • ein entzündliches Liquorsyndrom
  • eine intrathekale Produktion Borrelien-spezifischer Antikörper

Entzündliches Liquorsyndrom

Wie jede bakterielle Entzündung des ZNS geht auch eine Neuroborreliose mit einem entzündlichen Liquorsyndrom einher. Die Zellzahl ist fast immer nur mäßig erhöht, es finden sich 100 bis 300 Zellen/µl, meist ganz überwiegend Lymphozyten („lymphozytäre Pleozytose“). Häufig findet sich eine begleitende Eiweißerhöhung als Zeichen einer Blut-Liquor-Schrankenstörung, eine Laktaterhöhung oder eine Glukoseerniedrigung ist hingegen eher selten. Somit ähnelt der erste Liquorbefund ganz erheblich Befundkonstellationen, wie wir sie auch bei viralen Meningitiden sehen. Andersherum ist damit eine Neuroborreliose bei einer unklaren, a.e. viral anmutenden, Meningitis immer eine relevante Differentialdiagnose.

Antikörperdiagnostik

Mit den Borrelien-Antikörpern ist es so eine Sache. Eigentlich könnte es so einfach sein: Bei einer akuten Infektion findet man IgM-Antikörper, später kommt es zur Serokonversion und zu IgG-Antikörpern und hierüber könnte man akute Infektionen von ausgeheilten unterscheiden und Therapiemonitoring betreiben. Leider klappt das bei der (Neuro-)Borreliose nicht, da es sowohl Borrelieninfektionen ohne Serumkonversion und Borrelieninfektionen, bei denen es zu einem Nebeneinander von IgM, IgG und teilweise auch IgA kommt, gibt.

Exkurs: Reiber-Schema und Antikörper-Spezifitätsindex

Die Frage, wie man unterscheiden kann ob Eiweiße (und damit auch Antikörper), die man im Liquor findet, lokal synthetisiert wurden oder aus dem Blut auf Grund einer Blut-Liquor-Schrankenstörung „rübergeschwappt“ sind wurde in den 1980er und 1990er Jahren empirisch maßgeblich in Deutschland untersucht. Federführend war u.a. Hansotto Reiber, nachdem man später das Reiber-Schema benannt hat. Grundidee war, ein Eiweiß zu nehmen, nur in der Leber synthetisiert wird, leicht bestimmbar und möglichst klein ist, aber im Regelfall nicht durch die Tight-Junctions der Blut-Liquor-Schranke schlüpfen kann: Die Wahl fiel – recht alternativlos – auf Albumin. Alles Albumin, welches wir im Liquor finden stammt aus der Leber und hat es auf die eine oder andere Art über die Blut-Liquor-Schranke geschafft. Wenn nun andere Eiweiße, zum Beispiel Antikörper, im Liquor zu finden sind kann man mit Hilfe des Albumin-Quotienten zwischen Blut und Liquor bestimmen, ob sie erwartungsgemäß häufig im Liquor auftauchen, also auch „rübergeschwappt“, oder ob die um ein vielfaches häufiger nachweisbar sind, was sich dann nur durch eine intrathekale Synthese erklärt. Da die Eiweiße, die uns am meisten interessieren IgG, IgM und IgA sind, kam so das Reiber-Schema zustande. Eine letzte Sache muss man sich noch merken: Die Dichtigkeit der Blut-Liquor-Schranke ist altersabhängig unterschiedlich, im Kindesalter und im hohen Lebensalter ist sie ziemlich undicht, im jungen Erwachsenenalter besonders dicht.

Mit diesem Wissen kann man nun die Reiber-Diagramme interpretieren: In der ersten Grafik ist der Liquor-Serum-Quotient von IgG gegen Albumin eingetragen, in der zweiten IgA gegen Albumin und in der dritten IgM gegen Albumin. Mit dem senkrechten, in unserem Beispiel gepunkteten, Strich wird die „Altersgrenze“ markiert. Findet sich der Markierung (hier ein schwarzer Kreis) im linken unteren Quadranten ist alles in Ordnung, im unteren rechten Quadranten liegt eine Schrankenstörung vor, oben rechts eine Schrankenstörung und zusätzlich eine intrathekale Immunglobulinproduktion (im Beispiel bei IgM) und oben links eine isolierte intrathekale Immunglobulinproduktion (eine recht seltene Konstellation).

aus: Lehmann HC, Dersch R. Diagnostik und Therapie der Neuroborreliose. DGNeurologie. 2022;5(2):145-154
aus: Lehmann HC, Dersch R. Diagnostik und Therapie der Neuroborreliose. DGNeurologie. 2022;5(2):145-154

Nimmt man nun ein spezifisches Ig, z.B. IgG gegen Borrelien, kann man zudem das Verhältnis von intrathekalem Erreger-Immunglobulin zum Serum-Wert ermitteln. Dieses Verhältnis nennt man „spezifischen Antikörper-Index“. Bei vielen Erregern wird dieser Antikörper-Index berechnet. Bei der Neuroborreliose gilt ein cut off von 1,5, d.h. ab einem Verhältnis von 1,5 mal mehr Borrelien-Antikörpern im Liquor im Vergleich zum Serum spricht der Antikörper-Befund für das Vorliegen einer Neuroborreliose.

Warum kein Erreger-Direktnachweis?

Bei den meisten ZNS-Erregern kann heutzutage sehr schnell, oft per Multiplex-PCR, die korrekte Diagnose gestellt werden, so dass die Notwendigkeit breit angelegter kalkulierter antibiotischer Therapien immer seltener wird. Bei der Neuroborreliose ist das anders: Borrelien replizieren sich nur sehr langsam, auch bei einem Vollbild einer Neuroborreliose ist die absolute Anzahl an Borrelien relativ niedrig, der Erreger-Direktnachweis per PCR hat daher nur eine Sensitivität von 10 bis 30% und wird dementsprechend für die Diagnostik nicht empfohlen, in der Ausschlussdiagnostik ist die PCR damit nicht zu gebrauchen. Auch direkte Antigentests funktionieren nicht gut, da Borrelien im Laufe einer Infektion verschiedene Antigene präsentieren und zudem die verschiedene Borrelien-Serotypen derartige Tests noch weiter verkomplizieren.

CXCL13

Seit ein paar Jahren gibt es zudem die Möglichkeit ein bestimmtes Chemokin, nämlich CXCL13 zu bestimmen, welches insbesondere in der Frühphase einer Neuroborreliose, also vor zu erwartender Antikörper-Produktion, nachweisbar ist. Der Nachteil von CXCL13 ist, dass das Chemokin nicht spezifisch für eine Neuroborreliose ist, sondern auch bei der Multiplen Sklerose, einer Neurosyphilis, Neuro-TBC und bei Lymphomen nachweisbar sein kann. Der Vorteil ist, das CXCL13 sich zum Therapiemonitoring eignet, weil es unter Antibiotikatherapie abfällt.

Therapie

Das Therapiekapitel ist hingegen wieder einfacher. Es gibt zwei Antibiotika, welche in Studien schlussendlich gleichwertig sind: Doxycyclin – welches oral eingenommen werden kann, aber oft mäßig gut verträglich ist, sich nicht mit Sonnenlicht und Milchprodukten verträgt – und Ceftriaxon, hier ist eine i.v.-Gabe notwendig. Eine 14-tägige Antibiotikatherapie ist dabei in der Regel ausreichend, es gibt keine Studien, die darauf hindeuten, dass eine längere Therapie irgendeinen Vorteil bringt. Rein historisch bedingt gibt es die Empfehlung die „Spätmanifestationen“ wie Enzephalitiden über 21 Tage zu behandeln.

Bei der borrelienassoziierten Vaskulitis gibt es auf Fallberichtebene die Empfehlung eine Sekundärprophylaxe mit ASS 100 mg zu verabreichen. Sowohl bei der Vaskulitis als auch bei der borrelienassoziierten Fazialisparese wird teilweise Kortison zusätzlich gegeben, ohne dass es hierfür eine evidenzbasierte Grundlage gibt.

Prognose

Die Prognose der Neuroborreliose gilt als sehr gut. Nach ausreichender antibiotischer Therapie gilt eine Neuroborreliose als ausbehandelt. Beim Bannwarth-Syndrom kommt es in weit über 90% der Fälle zu einer deutlichen Beschwerdebesserung. Als Residualsymptome werden nach Lehmann et al sensible Defizite in 5,2 % der Fälle, residuelle Hirnnervenparesen bei 3,6 %, Schmerzen bei 2,7 %, Schwindel und Gangunsicherheit bei 2,6 % und Lähmungen bei 2,3 % berichtet.

Die Liquorveränderungen normalisieren sich nur langsam, so sind bei mindestens 25% der Patienten nach drei Monaten noch Zellzahlerhöhungen nachweisbar, positive Borrelien-Antikörper-Indices sogar deutlich länger.

Leitlinie

Rauer S., Kastenbauer S. et al., Neuroborreliose, S3-Leitlinie, 2018; in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: https://dgn.org/leitlinie/neuroborreliose (zuletzt abgerufen am 20.08.2023)

Wo man weiterlesen kann

Dersch R, Sommer H, Rauer S, Meerpohl JJ. Prevalence and spectrum of residual symptoms in Lyme neuroborreliosis after pharmacological treatment: a systematic review. J Neurol. 2016;263(1):17-24. doi:10.1007/s00415-015-7923-0

Klempner MS, Hu LT, Evans J, et al. Two Controlled Trials of Antibiotic Treatment in Patients with Persistent Symptoms and a History of Lyme Disease. N Engl J Med. 2001;345(2):85-92. doi:10.1056/NEJM200107123450202

Lehmann HC, Dersch R. Diagnostik und Therapie der Neuroborreliose. DGNeurologie. 2022;5(2):145-154. doi:10.1007/s42451-022-00420-3

Matthaei J, Hagge M, Bräuninger S, Alhezami A, Roth C. Stellenwert des CXCL-13 im Liquor als Frühmarker einer Neuroborreliose – Ein Fallbericht. DGNeurologie. 2022;5(3):218-221. doi:10.1007/s42451-022-00425-y

Den Bock zum Gärtner gemacht: Medizincontroller kritisieren Reform der Krankenhausfinanzierung

Was ist passiert

Ende Juni hat die Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung eine neue Stellungnahme vorlegt. In dieser geht es um eine Potenzialanalyse der geplanten Krankenhausreform anhand exemplarischer Erkrankungen (Tumorerkrankungen, Schlaganfälle und Endoprothetik) (Direkt-Link zur 5. Stellungnahme (pdf)). Kurz zusammengefasst postuliert die Regierungskommission:

Aus der Datenanalyse wird deutlich, dass bei Krebs durch eine Erstbehandlung in zertifizierten Krankenhäusern, bei Schlaganfällen durch eine Konzentration der Schlaganfall‐Akutversorgung auf Stroke Units und in der Endoprothetik durch eine Konzentration auf spezialisierte Kliniken viele Lebensjahre gerettet und Todesfälle sowie unnötige Revisionsoperationen vermieden werden können. Die Potenzialanalyse ergibt, dass eine Spezialisierung und Konzentration der Gesundheitsversorgung durch evidenzbasierte Mindestvoraussetzungen der Strukturqualität erhebliche Potenziale zur Verbesserung der Behandlungsergebnisse und ‐qualität bietet. Aufgrund der sehr hohen Krankenhausdichte in Deutschland müssen dabei keine wesentlichen Einschränkungen der Erreichbarkeit in Kauf genommen werden. Aus der gegenwärtigen Situation, in der Krankenhäuser mit wenigen Ausnahmen potenziell alle Leistungen erbringen können, resultieren Qualitätsdefizite, eine erhöhte Morbidität und Mortalität, aber auch vergleichsweise hohe Kosten und ein weniger effizienter Personaleinsatz.

Wer neu im Thema ist kann hier noch einmal die initialen Empfehlungen der Regierungskommission zur Reform der Krankenhausstruktur nachlesen

Und hier den letzten Stand, nachdem die Bundesländer in die konkreten Planungen einbezogen wurden:

Die Datengrundlage ihrer aktuellen Stellungnahme bilden laut Regierungskommission

Routinedaten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV‐Routinedaten), Daten aus den verpflichtenden Qualitätsberichten der Krankenhäuser (mit Daten aus dem Jahr 2021) sowie Daten von medizinischen Registern und Fachgesellschaften (Krebsregister, Deutsche Krebsgesellschaft (DKG), Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC), Endoprothesenregister Deutschland (EPRD) und der Landesarbeitsgemeinschaft Qualitätssicherung Hessen (LAGQH)). Die Analysen wurden unterstützt durch eine Kooperation mit dem GKV‐Spitzenverband (GKV‐SV), dem AOK‐Bundesverband, dem Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) sowie in einzelnen Fallbeispielen weiteren Beteiligten (siehe unten).

Für die das Thema Schlaganfallversorgung wurden wesentliche Informationen zudem aus der hessischen QUASCH-Studie von 2022 bezogen, die man hier einsehen kann: Link

Unter dem Titel „Wenn die Wahrheit zwei Seiten hat. Kritische Würdigung der Analyse der Regierungskommission zur Verbesserung von Qualität und Sicherheit der Gesundheitsversorgung – Potentialanalyse Anhand exemplarischer Erkrankungen“ hat die Medizincontrollerin Erika Raab, die nicht nur Geschäftsführerin der Kreisklinik Groß-Gerau (Link) und Vorstandsvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Medizincontrolling e.V. (Link) ist, sondern auch einen Lehrauftrag an der Medical School Hamburg hat (Link) Seminararbeiten ihrer Studenten zu einer ausführlichen Stellungnahme zusammengefasst und erweitert, die mit durchaus relevantem Medienecho und von verschiedenen Krankenhausgesellschaften (z.B. bei LinkedIn)

und auch vom Marburger Bund

aufgenommen und weiter verbreitet wurden. Die Stellungnahme findet sich mit Pressetext hier: Link und hier als Direkt-Link (pdf).

Tenor der so betitelten „kritischen Würdigung“, die aus einem allgemeinen Teil, einer Abhandlung zum Thema Schlaganfallbehandlung und einer Abhandlung zum Thema Tumormedizin ist, dass die fünfte Stellungnahme der Regierungskommission fehlerhaft ist, insbesondere die angenommenen Todeszahlen durch Fehlbehandlungen und Behandlungen außerhalb spezialisierter Zentren nicht stimmig sind und zweitens stationäre Medizin in Deutschland kein Qualitätsproblem hat, anders als es von der Regierungskommission geäußert wird. Kritisiert wird insbesondere die Fokussierung auf die medizinischen Fachgesellschaften beim Thema Zentren-Zertifizierung.

Was ist das Problem?

Nun ist aber die Ausarbeitung von Frau Raab – zumindest was die Schlaganfallversorgung betrifft – selbst so grob fehlerhaft, dass man diese nicht so stehen lassen kann. Zudem ist die Arbeit ein einzig großer Zirkelschluss bei dem schon vorne klar ist, was hinten rauskommen wird, was dann auch erklärt, warum die üblichen Verdächtigen die Argumente gegen die Krankenhausreform brauchen (Krankenhausgesellschaft, Marburger Bund) die Arbeit gleich für ihre Anliegen benutzen. Beim Thema Tumormedizin kann ich die Behauptungen in der Arbeit nicht ausreichend beurteilen um hier ein Urteil bilden zu können.

Das Thema Schlaganfallversorgung

Sind Zertifizierung durch Fachgesellschaften ein Problem?

Die „kritische Würdigung“ beginnt sehr formal-rechtlich. Die Autorin argumentiert, dass die Fokussierung der Regierungskommission auf Zertifizierungen durch Fachgesellschaften, in deren Zertifizierungskriterien auch Elemente der Krankenhausplanung enthalten sind (wie bei der Zertifizierung der Stroke Units durch die Deutsche Schlaganfallgesellschaft (DSG)), in die Krankenhausplanung der Länder und in die freie Berufsausübung eingreifen würden und damit verfassungsrechtlich schwierig seien. Zudem seien bei der Stroke Unit-Zertifizierung in den DSG-Zertifizierungskriterien Abstandsregelungen für nicht neurologisch geführte Tele-Stroke Units hinterlegt (20 km Mindestabstand), mit der man im wesentlichen unliebsame Konkurrenz unterbinden wolle. Auch das greife in die Planungskompetenz der Länder ein. Zudem seien die Prüfer der DSG in der Regel Chefärzte großer neurologischer Kliniken mit großen Stroke Units und damit nicht unabhängig und unvoreingenommen.

Im Ergebnis finden sich rechtlich bedeutend vier kritische Zertifizierungsmerkmale bei der DSG:

  1. Konkurrenzschutzmerkmale (Abstandsregelung)
  2. keine fachliche Evidenz der Entfernungsangabe zur Ausgrenzung von Zertifizierungskandidaten
  3. Fachliche Ausgrenzung internistischer TeleStroke-Units
  4. Nicht überprüfbare Ermessensspielräume der Auditoren (Interessenskonflikte)

und

Eine Beschränkung durch den Gesetzgeber alleinig auf Stroke Units, die ein Zertifikat einer bestimmten Fachgesellschaft besitzen, grenzt nicht nur Zertifikate anderer Anbieter aus, sondern erfasst auch die Kliniken mit einer internistischen TeleStroke Unit als eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb nach Art. 14 GG. Daraus leiten sich entsprechende Rechte aus Art. 19 Abs. 4 GG ab. Zudem ist die Berufsfreiheit tangiert (Art. 12 GG).

Als Beispiel wird das STENO-Netzwerk in Bayern aufgeführt, bei dem 21 Kliniken ein neurovaskuläres Netzwerk bilden, davon aber nicht alle DSG-zertifiziert seien, trotzdem ja aber eine Qualitätssicherung durch die Qualitätssicherungskriterien des Netzwerkes stattfinden würde. Dann heißt es:

Durch eine starke Eingrenzung des Zentrumsbegriffs auf normgebende Fachgesellschaften unter Ausgrenzung bestehender qualitativ gleichwertiger Zentren wird der Eindruck erzeugt, dass die Versorgungsqualität durch die Anwendung des engen Zentrumsbegriffs der Regierungskommission gesteigert würde. Eine Auseinandersetzung mit den Qualitätskriterien der unterschiedlichen Zertifizierungen erfolgt nicht.

Die Aussage der Regierungskommission ist irreführend.

Und spätestens da muss man wütend werden: Insbesondere der letzte Satz ist eine harte Behauptung, die schnell zu einer steilen These wird, der die Substanz fehlt.

Stroke Mimics und Stroke Chamäleons: Wozu es neurologisch geführte Stroke Units braucht

Natürlich ist die Behandlungsqualität auf einer nicht-neurologischen Stroke Unit schlechter als auf einer neurologisch geführten. Eine Gleichwertigkeit wird – außerhalb der Stellungnahme von Frau Raab – nirgends behauptet, schon gar nicht von den Autoren des STENO-Netzwerks selber, wenn man sich den zitierten Artikel von Breuer et al durchliest. Hier geht es ganz explizit um ergänzende Einrichtungen in dünn besiedelten Regionen, die in neurologische Netzwerke mit koordinierenden großen neurologischen Kliniken, in die komplexere Fälle weiterverlegt werden und die den Tele-Stroke Units telemedizinisch zur Seite stehen integriert werden. Explizit wird in dem Artikel die DSG-Zertifizierung der Tele-Stroke Units aufgeführt. Auch in der aktuellen DGN-Leitlinie (Ringleb et al) heißt es zu dem Thema:

Die telemedizinische Anbindung regionaler Krankenhäuser an überregionale Stroke-Units kann hier Abhilfe schaffen, was die Versorgung von Schlaganfallpatienten auf dem Land sowie deren Behandlungsaussichten verbessert.

Tele-Stroke Units sind also kein Ersatz, sondern eine Ergänzung neurologisch geführter Stroke Units.

Dass keine Gleichwertigkeit gegeben ist, liegt im Wesentlichen daran, dass es ärztlichem nicht-neurologischem Fachpersonal deutlich schwerer fällt „Stroke Mimics“ und „Stroke Chamäleons“ (also Krankheitsbilder, die wie ein Schlaganfall anmuten, aber keiner sind und Schlaganfälle, die sich untypisch präsentieren) als solche zu erkennen und auf diese zu reagieren und gerade die Behandlung von Komplikationen bei nicht-trivialen Verläufen fachlich auf hohem Niveau zu absolvieren. Stroke Mimics sind häufig, insbesondere in der Prähospitalphase werden viele Erkrankungen fälschlicherweise als Schlaganfall eingeschätzt. In einer Hamburger Arbeit (de Torres et al) von 2012 lag die Rate der vom Rettungsdienst als Schlaganfall eingeschätzten und schlussendlich anders diagnostizierten Patienten bei 38,6%, in einer Arbeit aus den USA aus 2013 (Merino et al) bei 30%, laut Erbguth 2017 ca. 22% (ca. 14% organische Störungen, v.a. Verschlechterung von Residualsymptomen nach Schlaganfall zum Beispiel bei einem Infekt und epileptische Anfälle und ca. 8% funktionelle Syndrome). Diese Patienten werden ohne entsprechende neurologische Expertise auf die Stroke Unit aufgenommen und dort behandelt, was sich mit der Erfahrung von Schlaganfall-Übernahmen aus Krankenhäusern ohne Neurologie deckt. Vor dieser Fehlbehandlung schützt auch die telemedizinische Vorstellung der Patienten nicht, wenn diese schon unter dem bias eines vorliegenden Schlaganfalls erfolgt.

Das Verkennen sich untypisch präsentierender Schlaganfälle ist im Zweifelsfall schlimmer als die nicht-indizierte Überversorgung von Nicht-Schlaganfällen auf Stroke Units und betrifft nach einer Arbeit von Vroomen et al. vor allem junge und weibliche Patienten ohne Schlaganfall-Risikofaktoren (Risiko einer Fehldiagnose 21% vs. 5,8% in der Gesamtpopulation), Patienten mit psychischen Erkrankungen und fachlich schwierig zu erkennende Schlaganfälle wie bestimmte Kleinhirninfarkte. In einer Arbeit von Dupre et al stellten sich die initialen Fehldiagnosen wie folgt dar:

aus: Dupre CM, Libman R, Dupre SI, Katz JM, Rybinnik I, Kwiatkowski T. Stroke chameleons. J Stroke Cerebrovasc Dis. 2014;23:374–378.

Die Thrombolyserate als hochwirksame Akuttherapie ist auf Tele-Stroke Units in der Regel geringer als auf neurologisch geführten Stroke Units (14,2% in der Arbeit von Breuer et al vs. 17,2% in der gesamtdeutschen Schlaganfall-Population bei Belau et al), Thrombektomien können sowieso nur am überregionalen koordinierenden Zentrum erfolgen.

Auch der zweite Punkt ist essentiell: Die richtige Behandlung von Komplikationen von Schlaganfällen. Einfach kann jeder und ja, im Vergleich zu anderen neurologischen Krankheitsbildern braucht es bei unkomplizierten Schlaganfällen wenig neurologischen Sachverstand, große Teile der Schlaganfallabklärung sind im wesentlich kardiologische Fragestellungen. Nur darüber reden wir ja nicht, wir sprechen über die Behandlung und Vermeidung von Komplikationen und über vermeidbare Todesfälle. Das bedeutet, dass zum Beispiel bei raumfordernden Schlaganfällen bei jüngeren Patienten rechtzeitig die Indikation zur Hemikraniektomie gestellt werden muss, bei Patienten > 60 Jahre ist diese Indikationsstellung deutlich schwieriger, in der Leitlinie heißt es

Besonders in der Altersgruppe >60 Jahren sollten Informationen, welche das biologische Alter des Patienten abschätzen lassen (z. B. prämorbider neurologischer und allgemein gesundheitlicher Status) und Informationen zum Rehabilitationspotenzial und den Behandlungspräferenzen des Patienten (z. B. Patientenverfügung, Familienstruktur) zur Entscheidungsfindung beitragen.

Wie das in einem Zentrum ohne wesentliche neurologische Expertise erfolgen soll bleibt unklar. Auch die Behandlung epileptischer Frühanfälle nach einem Schlaganfall erfordert neurologischen Sachverstand, ebenso die Einschätzung von Schluckstörungen und ihren Folgen und des schon im Leitlinien-Zitat erwähnten Rehabilitationspotenzials.

In der Summe kann eine Behandlung auf einer nicht-neurologischen Stroke Unit also gar nicht gleichwertig sein.

Auch die anderen Punkte von Frau Raab greifen nicht: Es ist schlicht nicht notwendig, in unmittelbarer Nachbarschaft (und eine Entfernung von unter 20 km entspricht einer unmittelbaren Nachbarschaft) eine redundante, im Zweifelsfall aus oben genannten Gründen schlechtere Versorgungsstruktur vorzuhalten. Das hat wenig mit Voreingenommenheit von Prüfern oder mit der freien Berufsausübung (privater oder öffentlicher) Klinikträger zu tun, sondern ist Kernbestandteil der eingangs von Frau Raab geforderten Krankenhausplanung (der Länder). Es war ja explizites Ziel der Regierungskommission eine Skizze einer zukunftsträchtigen und sinnvollen Krankenhausversorgung zu entwerfen abseits von juristischen Winkelzügen mit dem Tenor „aber es ist mein gutes Recht, hier jetzt eine nicht sinnvolle Stroke Unit zu betreiben“.

Verschlimmbesserung at it’s best: Die Kritik an der QUASCH-Studie

Große Teile der „kritischen Würdigung“ nehmen Zweifel an den von der Regierungskommission benutzten Zahlen ein. Die Autorin (oder ihre Student:innen) bedient sich im wesentlichen DRG-Datensätze um eine eigene Rechnung aufzumachen und die Daten der Regierungskommission in Frage zu stellen. Allerdings unterlaufen der Autorin dabei so schwere Fehler, dass es am Ende egal ist, ob die Daten der Regierungskommission stimmen. Die Zahlen der Autorin stimmen umso weniger. Auf aktuelle epidemiologische Studien – die es auch als open access gegeben hätte – wird nicht eingegangen. Aktuelle Daten zur jährlichen Schlaganfallinzidenz in Deutschland liefert zum Beispiel die Arbeit von Belau et al, nach der sich die Zahl der ischämischen Schlaganfälle in Deutschland von 224.989 im Jahr 2016 um 0,95% auf 222.841 im Jahr 2019 reduziert hat. In der Arbeit von Kelly et al werden Schlaganfall-Gesamtzahlen verwendet (also inklusive transitorisch-ischämischer Attacke und Hirnblutungen). Hier findet man einen Anstieg von 306.425 Fällen 2014 auf 318.849 Fälle 2017 mit dann Abfall der Erkrankungszahlen auf 312.692 2019.

aus: Kelly DM, Feld J, Rothwell PM, Reinecke H, Koeppe J. Admission Rates, Time Trends, Risk Factors, and Outcomes of Ischemic and Hemorrhagic Stroke From German Nationwide Data. Neurology. 2022;99(23):e2593-e2604. doi:10.1212/WNL.0000000000201259

Rezidive und Todesfälle: Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal …

Nun rechnet die Autorin offenbar lieber mit Schätzwerten von ca. 200.000 Schlaganfällen/Jahr wild herum (wie allerdings auch die Regierungskommission) und begeht dann den kapitalen Fehler DRG-Wiederkehrer (die man nicht neu abrechnen kann) mit klinischen Rezidiven zu verwechseln:

Somit wurden in der Berechnungsgrundlage mindestens (rechnerisch) 28.051 Fälle berücksichtigt, die aufgrund eines Rezidivs einen neuen und somit nicht zu zählenden weiteren Fall eröffnet haben.

und

Die Einbeziehung von Rezidiven in die Gesamtzahl ist in der vorliegenden Studie kritisch zu hinterfragen.

sowie

Rezidive sind Folgeschlaganfallereignisse beim gleichen Patienten und eröffnen einen neuen Krankenhausfall. Wie die Verlegungen stellen sie Dubletten dar. Um den Faktor Mensch zu ermitteln, auf dem der Verteilungsschlüssel berechnet wurde, hätten demnach auch die Rezidive herausgenommen werden müssen.

Ich habe die Textstellen mehrfach gelesen, weil ich kaum glauben konnte, dass hier jemand derart auf dem Holzweg sein kann, aber es scheint ernsthaft so gemeint zu sein. Kernproblem scheint, dass die Autorin beim Abgleich mit DRG-Datensätze bei Verlegung eines Patienten mit einem Schlaganfall (z.B. von einer Akutklinik in ein größeres Zentrum, aber auch von der Akutklinik in eine Rehaklinik) folgerichtig Neuaufnahmen in diesen Sekundär- bzw. Tertiärversorgern herausgerechnet hat (weil es sich ja um den selben Schlaganfall handelt), dies aber auch bei den Rezidiven – also Zweit-Schlaganfällen nach einem Indexereignis – so macht. Und so kann die Antwort nur lauten: Nein, die Einbeziehung von Rezidiven in die Fallzahlen ist nicht kritisch zu hinterfragen, eben weil es um erneute Schlaganfälle geht (für die Patienten sehr oft eine Katastrophe) und nicht um Abrechnungen mit Krankenkassen geht. Und es stellt sich die Frage, wie man sich überhaupt zu dem Thema äußern kann, wenn man diese Banalität nicht verstanden hat, vor allem wenn man bedenkt, dass es bei der Behandlung auf der Stroke Unit neben der Akutbehandlung und Frührehabilitation ganz im wesentlichen um die Schlaganfallursachenabklärung geht, eben um Rezidive zu verhindern.

Auch bei der Schlaganfallsterblichkeit findet sich ein ähnlicher Klopper. Hier rechnet die Autorin von der Zahl der tödlich verlaufende Schlaganfälle einfach mal die Zahl der begleitend codierten palliativmedizinischen Komplexbehandlungen heraus, frei nach dem Motto „wenn Palliativmedizin codiert wurde, kann es ja kein vermeidbarer Todesfall sein“. Auch das ist so abstrus, wenn man die medizinische Behandlungsrealität kennt. Derartige Fallkonstellationen entstehen häufig bei Patienten mit einer Tumorerkrankung, die – meist auf dem Boden einer paraneoplastischen Gerinnungsstörung – einen oder mehrere schwere Schlaganfälle erleiden und so eine zunächst ambulant frühbare onkologische Erkrankung auf einmal in ein end-of-life-care umschlägt. Gerade hier geht es doch um die Frage einer optimalen Schlaganfallbehandlung, damit die Schlaganfallfolgen möglichst gut behandelt werden und die Zahl dieser Schicksalsschläge möglichst klein bleibt. Auch hier – zum Thema Schlaganfallsterblichkeit gäbe es aktuelle epidemiologische – open access – Studien wie von Mar et al.

Ich hoffe weiterhin, dass ich die Autorin hier gründlich missverstanden habe und bitte in diesem Fall um entsprechende Hinweise.

Doppel-Zertifizierungen: Wo die Autorin einen Punkt macht

Die Zertifizierung einer Stroke-Unit durch die DSG berechtigt nicht zur Abrechnung der Leistung. Für die Abrechenbarkeit der Schlaganfallbehandlung kommt es auf die Einhaltung der Mindestvorgaben der Strukturrichtlinien des Medizinischen Dienstes an. Teilweise sind die Vorgaben des Gesetzgebers, beispielsweise in der Einhaltung der Pflegeuntergrenzen strenger als die des Zertifikats.

schreibt die Autorin in ihrer „kritischen Würdigung“. Und sie macht dabei einen wichtigen Punkt. Stand jetzt gibt es für einige – nicht alle – Komplexbehandlungen Zertifizierungen von medizinischen Fachgesellschaften und fast (aber nie ganz) deckungsgleiche Strukturqualitätsanforderungen, die vom Medizinischen Dienst (MD) im Rahmen der MD-Strukturprüfungen kontrolliert werden. Dies führt – beim Beispiel Schlaganfall – zu unnötigem bürokratischen Mehraufwand, natürlich wäre eigentlich eine Überprüfung der Strukturqualität ausreichend und wünschenswert.

Der Zirkelschluss

Die Arbeit beginnt mit der rhetorischen Frage, ob denn „Krankenhäuser tatsächlich alle Behandlungen durchführen und abrechnen“ könnten, was dann formal-rechtlich mit Bundessozialgerichtsurteilen, Versorgungsaufträgen und Strukturvorgaben des G-BA für bestimmte Behandlungen widerlegt wird. Hierbei handelt es sich im wesentlichen um Strohmannargumente, da diese Grundlagen auch der Regierungskommission bekannt waren, sie zum Beispiel schon in ihrer dritten Stellungnahme immer wieder auf G-BA-Strukturvorgaben eingeht. Worauf die Autorin eigentlich hinauswill, wird schon zu Beginn der „kritischen Würdigung“ am Beispiel der Schlaganfallversorgung deutlich: Den Vorschlägen der Regierungskommission folgend wären Behandlungen vieler Erkrankungen außerhalb von zertifizierten Zentren zukünftig nicht mehr möglich, momentan sind sie es (mit genannten Einschränkungen) aber noch. Dies würde die Leistungserbringung von Häusern, die sich nicht in entsprechenden Zentren befinden einschränken und damit die „freie Berufsausübung“. Und zum erwartbaren Fazit kommt die Autorin dann auch:

Die fünfte Stellungnahme beruht auf einem oberflächlichen Studienprofil. Die ausgewählten Daten sind auffällig eng gefasst und beruhen auf teils veralteten Untersuchungen. Umfassende bereits für Kliniken geltende Qualitätsprüfungen und -sicherungen werden ebenso wenig beleuchtet wie Zahlen, Daten und Fakten zu Krankheits- und Individualebenen – besonders schwer wiegt dabei beispielsweise die Missachtung des Patientenwillens, indem Palliativbehandlungen und Patien- tenverfügungen als potenziell vermeidbare Todesfälle gezählt werden. Dadurch verzerrt das Stellungnahmepapier die Realität.

Eine eingehende Betrachtung dieser Faktoren legt nahe, dass die Untersuchung möglicherweise darauf ausgerichtet war, ein gewünschtes Ergebnis zu erzielen und damit die umstrittenen Pläne der Kran- kenhausreform wissenschaftlich zu stützen.

Nun kann man diese Behauptung genauso an die Autorin zurückgeben. Die ganzen DRG-Datensätze die bemüht werden, dienen nur dem Zweck die Datengrundlage der Regierungskommission zu delegitimieren, sind dabei aber – wie geschildert zumindest beim Thema Schlaganfall – selbst so fehlerhaft, dass sie nicht zu gebrauchen sind.

Die „kritische Stellungnahme“ endet – ironischerweise – mit einem „Weckruf“. Dieser sieht so aus:

Und auch wenn damit schon klar ist, was Frau Prof. Raab uns in ihrem zweiten angekündigten Teil ihrer Ausarbeitung sagen werden will, dass wir perspektivisch nicht weniger sondern mehr Krankenhauskapazitäten benötigen werden, möchte ich noch einmal auf die dritte Stellungnahme der Regierungskommission verweisen, die genau diese demographische Entwicklung schon thematisiert hat.

Was bleibt also?

Im wesentlichen das nicht arrogant gemeinte sondern bittere Fazit, dass es mitnichten reicht gutes Medizincontrolling zu machen, um bei Krankenhausstrukturpolitik mitreden zu können. Diese „kritische Würdigung“ ist das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben steht: Inhaltlich beim Thema Schlaganfallversorgung und bei der Berechnung der Fallzahlen ist die Arbeit grob falsch.

Zweitens bleibt die Erkenntnis das manchen Akteuren jede noch so qualitativ mangelhafte Arbeit als Steilvorlage für die eigenen standespolitischen Ziele recht ist. Warum die Krankenhausgesellschaften erbittert gegen die Krankenhausreform ankämpfen erklärt sich ja noch, was aber den Marburger Bund reitet bleibt mir völlig unklar. Der Buschfunk behauptet, es gehe in erster Linie um die Kränkung bei der Erstellung des Reformpapiers nicht dabei gewesen zu sein. Aber ob das wirklich so eine Fundamentalopposition rechtfertigt?

Wo man weiterlesen kann

Belau MH, Becher H, Riefflin M, et al. The impact of regional deprivation on stroke incidence, treatment, and mortality in Germany. Neurol Res Pract. 2023;5(1):6. doi:10.1186/s42466-023-00232-0

Kelly DM, Feld J, Rothwell PM, Reinecke H, Koeppe J. Admission Rates, Time Trends, Risk Factors, and Outcomes of Ischemic and Hemorrhagic Stroke From German Nationwide Data. Neurology. 2022;99(23):e2593-e2604. doi:10.1212/WNL.0000000000201259

on behalf of CONOCES Investigators Group, Mar J, Masjuan J, et al. Outcomes measured by mortality rates, quality of life and degree of autonomy in the first year in stroke units in Spain. Health Qual Life Outcomes. 2015;13(1):36. doi:10.1186/s12955-015-0230-8

Ringleb PA, Köhrmann M, die Leitlinien-Gruppe. S2e-Leitlinie: Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls: Kurzfassung der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. DGNeurologie. 2022;5(1):17-39. doi:10.1007/s42451-021-00407-6

Weitere Literatur

Breuer L, Erbguth F, Oschmann P, Schwab S. Telemedizin: Flächendeckung und Qualität – kein Widerspruch: Praktische Erfahrungen aus dem Schlaganfallnetzwerk mit Telemedizin in Nordbayern STENO. Nervenarzt. 2017;88(2):130-140. doi:10.1007/s00115-016-0264-0

Erbguth, F. (2017). Stroke Mimics und Stroke Chamäleons – Differenzialdiagnose des Schlaganfalls. Fortschritte Der Neurologie · Psychiatrie, 85(12), 747–764. https://doi.org/10.1055/s-0043-111889

Dupre CM, Libman R, Dupre SI, Katz JM, Rybinnik I, Kwiatkowski T. Stroke chameleons. J Stroke Cerebrovasc Dis. 2014;23:374–378.

Merino JG, Luby M, Benson RT, et al. Predictors of acute stroke mimics in 8187 patients referred to a stroke service. J Stroke Cerebrovasc Dis. 2013;22:e397–e403.

de Torres A, Michahelles A, Hogan B, et al. Reduktion der Door-to-Needle-Zeit durch Patientenübergabe am CT-Tisch – Von der Rettungsliege auf den CT-Tisch. Akt Neurol. 2013;40:462–464.

Vroomen PCAJ, Buddingh MK, Luijckx GJ, De Keyser J. The incidence of stroke mimics among stroke department admissions in relation to age group. J Stroke Cerebrovasc Dis. 2008;17:418–422.

Die Eckpunkte des Eckpunktepapiers zur Krankenhausreform

Am 10.07. haben sich die Gesundheitsminister der Bundesländer und der Bundesgesundheitsminister auf ein Eckpunktepapier zur Reform der Krankenhausfinanzierung geeinigt (Link).

Die beteiligten Protagonisten waren voll des Lobes (in erster Linie für sich selbst, Link). Auf was aber haben sich die Minister geeinigt und was ist noch vom Konzept der Regierungskommission – welches ich seinerzeit hier im Blog vorgestellt hatte – übrig geblieben?

Die drei zwei Säulen der Krankenhausreform

Prolog: Für wen gilt die Reform?

Neben den Krankenhäusern, die im Bettenplan der Bundesländer aufgenommen wurden und die dadurch dem gesetzlichen Versorgungsauftrag unterstehen wird die Reform auch sogenannte Vertragskrankenhäuser, die Bundeswehr- und BG-Kliniken (wo sie denn an der zivilen bzw. nicht BG-lichen Krankenversorgung teilnehmen) und teilweise auch für Fachkliniken betreffen.

Die Vorhaltevergütung

Wenig Änderungen – im Vergleich zum Papier der Regierungskommission – gab es beim Punkt Vorhaltevergütung. Hier wurde das Konzept weitestgehend übernommen, d.h. vereinfacht gesagt wird die bisherige DRG in eine Vorhaltefinanzierung (40% der bisherigen DRG) und eine leistungsbezogene Vergütung je Fall (60% der bisherigen DRG) aufgeteilt. Bisherige Zu- und Abschläge sollen in die DRG und die Vorhaltevergütung integriert werden, auch der berühmte Fixkostendegressionsabschlag (ein Malus, der Mehrleistungen von Abteilungen durch einen Abschlag unattraktiv machen soll, Link). Die Vorhaltevergütung wird es nicht für psychiatrische und psychosomatische Kliniken geben. Explizit wird noch einmal erwähnt, dass nicht mehr Geld ins System gepumpt werden soll, sondern vorhandenes Geld umverteilt wird.

Durch die Einführung der Vorhaltefinanzierung erfolgt eine neue Verteilung des bestehenden Erlösvolumens, ohne dass sich grundsätzlich das Erlösvolumen durch die Einführung der Vorhaltevergütung insgesamt erhöht.

Einzige Ausnahme sollen Aufschläge für die Unikliniken und andere Maximalversorger sein, damit deren vermehrte Koordinationsaufwand bei der komplexen Versorgung schwer kranker Menschen abgebildet wird und geplante Zuschläge für das Vorhalten von Kindermedizin, Geburtshilfe, Notfallmedizin, Stroke Units, Intensivstationen und spezieller Traumatologie.

Während das Ziel, bzw. der Endzustand der Reform relativ klar formuliert wird, nämlich dass die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen anhand der Leistungsgruppen die jeweiligen tatsächlichen durchschnittlichen Vorhaltekosten ermittelt, die dann – gewichtet mit dem Landesbasisfallwert – erstattet werden, erscheint die Gestaltung des Übergangsprozesses noch recht grob formuliert:

In einer Übergangsphase wird die Absenkung der Fallpauschalen daher pauschal um einen gesetzlich vorgegebenen, zunächst einheitlichen Vorhalteanteil in Höhe von durchschnittlich 60 Prozent der DRG-Vergütung erfolgen.

2024 soll die Reform in Kraft treten, 2026 werden die Vorhaltekosten noch(?) budgetneutral erstattet.

Die Leistungsgruppen

Auch das Konzept der Leistungsgruppen hat es aus der Ausarbeitung der Regierungskommission in das Eckpunktepapier gebracht. Kurz gesagt sollen die Leistungsgruppen die bisherige Zuweisung von Fallpauschalen zu grob definierten Fachabteilungen ersetzen und genauer als bisher zu erbringende Leistungen zu vorher festgelegten Qualitätsstandards definieren. Jede erbrachte Krankenhausleistung soll zukünftig einer Leistungsgruppe zugeordnet werden.

Beim Thema Leistungsgruppen erscheint das Eckpunktepapier mit am konkretesten. Weiterhin soll das NRW-Modell Vorbild sein, ergänzt um die Leistungsgruppen Infektiologie, Notfallmedizin, spezielle Traumatologie, spezielle Kinder- und Jugendmedizin und der spezielle Kinder- und Jugendchirurgie. Zukünftig sollen die Leistungsgruppen bundeseinheitlich definiert und nachjustiert werden. Im Eckpunktepapier wird der geplante vierstufige Prozess der Leistungsgruppen-Definition genau erläutert. Weiterhin sollen sich Leistungsgruppen gegenseitig bedingen, d.h. Tumorchirurgie ohne Tumorzentrum oder zumindest Tumor-Netzwerk soll es nicht mehr geben. Gerade die Netzwerk- und Zentrenstruktur – auch hausübergreifend – soll durch die Reform gestärkt werden:

Bei der Einhaltung der Qualitätsanforderungen können vertraglich vereinbarte Kooperationen und Verbünde berücksichtigt werden, um etablierte und qualitativ hochwertige Netzwerkstrukturen zu fördern und auszubauen. Dafür wird ausschließlich auf medizinischer Grundlage bundeseinheitlich in der Definition der Leistungsgruppen festgelegt, welche Kooperationsmöglichkeiten bzw. Verbundlösungen möglich und sinnhaft sein können.

Bei der Einhaltung der Qualitätsanforderungen sind aber auch Kooperationen und Verbünde zulässig. Im Rahmen des mehrstufigen Systems zur Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung der Leistungsgruppen mit Qualitätskriterien kann für bestimmte Leistungsgruppen auch festgelegt werden, dass die Erfüllung der Qualitätskriterien „im Rahmen einer dauerhaften Kooperation mehrerer Krankenhäuser“ ausreicht.

Die Bundesländer sollen den Krankenhäusern die Leistungsgruppen zuweisen, die Krankenhäuser weiterhin regelmäßig hinsichtlich ihrer Strukturqualität für die Erbringung der Leistungsgruppen überprüft – und ggfs. sanktioniert – werden. Dies erinnert weiterhin stark an MD-Strukturprüfungen, v.a. weil der MD auch die Prüfungen durchführen soll. Hierzu heißt es:

Die Prüfungen der Einhaltung der Qualitätskriterien der Leistungsgruppen übernimmt der Medizinische Dienst (MD) im Auftrag von Bund und Ländern. […] Dabei soll nach Möglichkeit kein zusätzlicher bürokratischer Aufwand für die Krankenhäuser entstehen. Mit der Einführung der verbindlichen Prüfung der Qualitätskriterien soll mit dem Ziel der Entbürokratisierung geprüft werden, inwieweit die aktuellen Prüfungen des MD zu stationären Strukturen integriert werden und spezifische Prüfung entfallen können.

Es gibt aber – auf Drängen der Bundesländer, aber auch von Lobbygruppen wie der Deutschen Krankenhausgesellschaft – Optionen von den Leistungsgruppen abzuweichen. Grundlage hierfür ist die Sorge, dass vor allem in den Flächenländern und hier den ostdeutschen Bundesländern mit schon ausgedünnter Krankenhausstruktur keine suffiziente medizinische Versorgung mehr möglich sein könnte, wenn man sich strikt an die Leistungsgruppen und ihre Strukturvoraussetzungen hält.

Unberührt davon bleiben Möglichkeiten für Länder, in der Fläche eine bedarfsnotwendige stationäre Versorgung sicherzustellen

Bei der Zuordnung von Leistungsgruppen verbleiben Möglichkeiten für Länder, in der Fläche eine bedarfsnotwendige stationäre Versorgung sicherzustellen, wenn ansonsten die Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung nicht gewährleistet werden kann. Dafür wird bundesweit ausschließlich auf medizinischer Grundlage einheitlich festgelegt, für welche medizinischen Leistungen in Einzelfällen zur Sicherstellung einer bedarfsnotwendigen Versorgung von den Qualitätsvoraussetzungen abgewichen werden kann und für welche Leistungsbereiche dies ausgeschlossen wird.

Im Konzept der Regierungskommission waren hierfür noch die Level In-Kliniken vorgesehen, die

die stationäre internistische und chirurgische Basisversorgung, Basis-Notfallversorgung und je nach Bedarf auch Geriatrie oder Palliativmedizin

vorhalten sollen. Dies ist nur deutlich aufgeweicht worden. So wie es sich liest – und durch die Blume auch kommuniziert wird – können zukünftig die Bundesländer auch für andere Leistungsgruppen Ausnahmetatbestände definieren, warum eine Klinik Leistungen erbringen kann, obwohl sie die Strukturvoraussetzungen der Leistungsgruppen nicht erfüllen kann.

Was z.B. Bayern mit seiner offenkundig in relevanten Landstrichen nicht den geforderten Standards entsprechenden Geburtsmedizin (Link) daraus ableiten dürfte, sollte jedem klar sein.

Während die Leistungsgruppen als zwingende Grundlage stationärer Krankenhausleistungen aufgeweicht wurden, sind die eigentlich dazugehörigen Krankenhauslevel mittlerweile toter als tot.

Die Krankenhauslevel

Das Konzept der Krankenhauslevel aus dem Papier der Regierungskommission ist seit dem Frühjahr 2023 am Widerstand der Bundesländer (Link, Link) und von Berufsverbänden wie dem Marburger Bund (Link) gescheitert . Eigentlich war geplant mit der Erfüllung von Strukturvoraussetzungen für bestimmte Leistungsgruppen drei Versorgungsstufen von Krankenhäusern zu definieren.

Geplante Krankenhauslevel
Geplante Krankenhauslevel
Vergütung nach Leistungsgruppen und Krankenhausleveln. Aus der Stellungnahme der Krankenhauskommission (Link).

Durch die Krankenhauslevel sollten auch verbindliche Netzwerke aus kleinen Häusern die mit großen Kliniken kooperieren entstehen. Dies hätte auch die Grundlage für feste Rotationen in der pflegerischen und ärztlichen Ausbildung sein sollen.

Der Marburger Bund meint zwar zum Thema Ausbildung und Rotation (Link):

Weltfremd und auch wirklich ärgerlich ist die Vorstellung, man könne im größeren Umfang Ärztinnen und Ärzte an Häusern weiterbilden, die ein extrem eingeschränktes Leistungsspektrum haben.

Das Gegenteil ist aber vermutlich richtig: Für eine gute medizinische Ausbildung sollten allgemeinmedizinische Skills und die Fähigkeiten auch ohne Nonstop-Großgerätediagnostik vernünftige Medizin zu machen in allen Weiterbildungsfächern die absolute Basis sein.

Das alles wird es jetzt in dieser Form nicht geben. Was übrig bleibt sind vom Bund per eigenem Gesetz geforderte Qualitätsreporte (auch dagegen gab es erheblichen Widerstand der Bundesländer, Link). Mit diesen Qualitätsberichten und dem jeweiligen Behandlungsangebot-Portfolio der Kliniken wird der Bund rein der Information dienende Krankenhauslevel zuteilen, die aber Papiertiger bleiben werden:

Diese Veröffentlichung hat keine Konsequenz für die Krankenhausplanung der Länder und für die Krankenhausvergütung.

Der Sonderfall Level Ii-Krankenhäuser

Wie schon im Blogbeitrag zum Papier der Regierungskommission geschrieben sind die Level Ii-Kliniken sicherlich der interessanteste Teil des Konzeptes, weil hier wirklich etwas neues und sektorenübergreifendes entstehen soll. Auch hier ist das Eckpunktepapier recht ausführlich. Es soll verschiedene mögliche Organisationsformen von Level Ii-Kliniken geben, welche in den meisten Fällen wohl aus bestehenden, kleinen Kliniken entstehen werden. Aber auch Neugründungen sollen möglich sein. Die Level Ii-Kliniken sollen möglichst interdisziplinär die medizinische Grundversorgung sicherstellen, insbesondere bei den Behandlungsindikationen bei denen wenig hochspezialisierte Expertise (ich denke da sofort an Harnwegsinfekt, Exsikkose, Delir, Versorgungsprobleme) aber ein stationäres Behandlungssetting erforderlich ist.

Durch fokussierte Entbürokratisierung und Sicherstellung, dass Arbeitseinsätze dort in den Weiterbildungsordnungen berücksichtigt werden, sollen diese Häuser in ihrer Attraktivität als Arbeitgeber aufgewertet werden. Durch Verbundlösungen und Pflichtrotationen sollen sie wichtiger Bestandteil der ärztlichen und pflegerischen Ausbildung werden. Auch belegärztliche Leistungen sollen möglich sein – und was wir mir wichtig erscheint – auch Leistungen der Kurzzeit- und Übergangspflege. An der Notfallversorgung sollen die Level Ii-Kliniken explizit nicht teilnehmen. Vergütet werden soll perspektivisch „sektorenübergreifend“ – was auch immer damit gemeint sein mag – und für eine Übergangszeit mit Tagessätzen.

Was sich nicht ändert

Wenig Politikbereiche sind von Lobbyismus und „Politikberatung“ so durchsetzt wie die Gesundheitspolitik. Dementsprechend gibt und gab es viele laute und leise Stimmen (Link) und dementsprechend durchaus relevante Änderungen am ursprünglichen Konzept der Regierungskommission. Manche Dinge wurden aber auch nicht angefasst oder dürfen sich – trotz offensichtlichem Nicht-Funktionieren – nicht ändern.

Föderalismus ist gut, weil Föderalismus gut ist

Das, was von Seiten der Bundesländer immer wieder gefordert und zuletzt auch so angekündigt wurde (und was daher zu befürchten war), ist dass sich die politischen Zuständigkeiten nicht ändern. Die Bundesländer bleiben damit also für die Krankenhausplanung zuständig. In der Präambel des Konzeptpapiers heißt es dazu:

Die Erreichung dieser Reformziele erfolgt im bestehenden verfassungsrechtlichen Rahmen; die Zuständigkeit für die Krankenhausplanung verbleibt ausschließlich bei den Ländern. Unberührt bleibt insofern auch die primäre Verpflichtung der Länder zur Vorhaltung einer bedarfsgerechten Krankenhausstruktur sowie zur auskömmlichen Finanzierung der notwendigen Investitionen in diese Krankenhausstruktur.

Insbesondere der letzte Satz dürfte für viele Beschäftigte im Gesundheitswesen wie der blanke Hohn klingen: Kein Bundesland kommt den eigentlich notwendigen und vorgesehenen Infrastruktur-Investitionen nach (Link), im Schnitt wird die Hälfte der geforderten 7-8% der Krankenhauserlöse investiert, zuletzt durchschnittlich 3,4%. Auch die Krankenhausplanung der Bundesländer funktioniert seit Jahren bekanntermaßen nicht. Kein Bundesland schafft eine bedarfsgerechte Planung, weder die Flächenländer, noch die Stadtstaaten. Darüber hinaus ist die Zuständigkeit nach Bundesländern in vielen Regionen bei näherer Betrachtung nicht sinnvoll, zielführend während neben einer bundesweiten Planung, ggfs. noch die Planung in (Metropol-)Regionen.

Pflege am Bett vs. Pflege woanders: Die Pflegebudgets

Für mich die größte Enttäuschung ist das Beibehalten der Pflegebudgets in der bisherigen Form. Hier gilt es eigentlich ebenso eklatante Fehlentwicklungen anzugehen, die sich seit der Herausnahme der Pflegepersonalkosten aus den DRG 2020 in rasantem Tempo entwickelt haben. Da seither „Pflege am Bett“ aber nicht Pflege in anderen Bereichen (ZNA, OP-Pflege, Pflegeexperten wie Pain Nurses, Demenz- und Delir- oder Wundexperten) und auch nicht der medizinisch-technische Dienst (MTRA, MTA im Labor, Therapeuten) refinanziert werden, wird in diesen Bereichen ganz massiv gekürzt. Das bedeutet, dass die jahrelang mühevoll erarbeitete Emanzipation der Pflege mit Spezialisierungen und auch Akademisierung innerhalb von drei Jahren implodiert ist, zugunsten einer reinen Erfüllung der PpUG. Auch das – die Herausnahme von Pflegeexperten aus ihrem Expertendasein und „Rückverpflanzung“ auf Station – ist übrigens ein wichtiger Punkt, der zum Pflexit beiträgt. Bei manchen privaten Krankenhausbetreibern (z.B. Asklepios Hamburg) wird das konsequent auch auf das Hilfspersonal (Verpflegungsassistenten, Transportdienst) ausgeweitet, was zusammengestrichen wird und die Aufgaben zurück an die Pflege gehen, die im Gegenzug etwas besser besetzt wird (was sich natürlich nicht ausgeht). Hier wäre es wirklich wichtig gewesen gegenzusteuern, was aber komplett unterblieben ist.

Was trotzdem passieren wird

Krankenhausschließungen

Allen Sonntagsreden zum Trotz wird es durch die wirtschaftliche Situation der Krankenhäuser in Deutschland mit schon präpandemisch sinkenden Fallzahlen und zuletzt massiv gestiegenen Lohn- und Energiekosten im Rahmen der Inflation bei nur minimal steigender Leistungsvergütung zu weiteren Krankenhauspleiten kommen. Gerade, wenn wie berichtet, teilweise bis zu 70% der Krankenhäuser defizitär arbeiten (Link).

Die Regierungskommission hatte in ihrem Papier relativ deutlich dargestellt, warum in Deutschland relevante Krankenhausschließungen unvermeidlich sind, alleine auf Grund des Fachkräftemangels und der Notwendigkeit das vorhandene Personal möglichst sinnvoll zu konzentrieren, aber auch auf Grund der mangelnden flächendeckenden Strukturqualität.

Renteneintritt der Babyboomer. Aus der Stellungnahme der Krankenhauskommission (Link).

Wenn der Marburger Bund in seiner Stellungnahme (Link) zur Krankenhausreform schreibt

Aktuell verfügen geschätzte 650 der knapp 1.900 Krankenhäuser über keine strukturierte Notfallversorgung nach den Vorschriften des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). All diese Krankenhäuser müssen damit rechnen, zukünftig dem untersten Level Ii zugeordnet zu werden. Besonders betroffen sind davon Bundesländer mit vielen dünn besiedelten ländlichen Regionen. Die in dem Papier der Regierungskommission vorgesehenen Mindestvoraussetzungen würden demzufolge zu erheblichen strukturellen Verschiebungen führen.

Dann muss doch die Antwort: „Ja, Gott sei dank“ lauten, insbesondere wenn man sich die Krankenhausdichte in Deutschland im internationalen Vergleich anschaut:

Anzahl der Krankenhäuser in Dänemark und Deutschland 2018. Aus dem DGIIN-Webinar-Vortrag von Reinhard Busse (Link).

Und auch die in der Marburger Bund-Stellungnahme zum Eckpunktepapier (Link) geäußerte Behauptung

Die Vorstellungen mancher Kassenfunktionäre und Gesundheitsökonomen, durch ein Wegfallen von 400 oder 600 Krankenhäusern könne die Versorgung ohne Qualitätsverluste aufrechterhalten werden, sind völlig irreal und hätten dramatische Folgen für die Versorgung der Patienten.

Kann man schlicht und einfach (für große Teile von Deutschland) mit „Nein“ beantworten.

Auch die Gesundheitsminister scheinen von weiteren Krankenhausschließungen auszugehen, wenn sie schreiben

Vom Bund wird in Kürze dargestellt, wie durch die Reform für Länder mit dünn besiedelten bzw. unterversorgten Gebieten als auch für Länder mit bereits fortgeschrittenen Strukturbereinigungsprozessen (u. a. niedrige Bettenmessziffer) eine tatsächliche Entökonomisierung und dauerhafte Sicherstellung erreicht werden kann. Diese besonderen Ausgangspositionen sind im Gesetzgebungsprozess zu berücksichtigen.

und

Damit Konzentrationsprozesse und Veränderungen in der Krankenhauslandschaft sachgerecht in der Einstufung berücksichtigt werden, erfolgt in regelmäßigen Abständen eine Neueinstufung der Krankenhäuser in jeder ihm durch das Land zugewiesenen Leistungsgruppe.

oder

Wenn es aufgrund von Schließungen oder Fusionen zur Verlagerungseffekten in benachbarte Krankenhäuser kommt, ist die Übertragung des Vorhaltebudgets des wegfallenden Standortes auf die aufnehmenden Standorte kurzfristig sicherzustellen.

Was man noch nicht weiß

Weiterhin empfinde ich es als total skurril, dass die geplante Reform offenbar derart grundlegende Verwerfungen induzieren wird, dass es bislang nicht möglich ist, die finanziellen Auswirkungen der Reform zu skizzieren:

Ebenso sagt der Bund zu, sobald dies möglich ist, eine Abschätzung zu den Folgen der Finanzreform darzustellen.

Fazit

Mehr Punkte als ich ursprünglich befürchtet habe der geplanten Krankenhausfinanzierungs-Reform haben bislang überlebt. Wenn die Reform so wie aktuell geplant umgesetzt wird, dürfte sie zu tiefgreifenden – und meines Erachtens sinnvollen – Veränderungen der Krankenhausstrukturen in Deutschland führen. Wenn allerdings das Zerreden und Wegdiskutieren der Reformvorhaben so weitergeht, wie es begonnen hat, wird am Ende nicht mehr viel Reform übrig bleiben.

Schade ist, dass auch weiterhin nicht offen kommuniziert wird, was eigentlich ganz offensichtlich ist: Es wird in relevantem Umfang Krankenhausschließungen geben und das ist auch gut so. Die medizinische Versorgung dürfte hierdurch nicht schlechter sondern tendenziell besser werden.

Corona-Paper-Bullshit-Bingo: Sex und COVID sells

Eine US-Wissenschaftsjournalistin und Pulitzer-Preisträgerin mit mehr als 200.000 Followern auf Twitter teasert im Mai 2023 eine Pressemitteilung der East Carolina University (Link) mit einer im Juni 2022 veröffentlichten dänischen retrospektiven Kohortenstudie an, nach der nach COVID-Infektionen ein erhöhtes relatives Risiko für Alzheimer-Erkrankungen und Parkinson-Syndrome besteht. Dabei ist in dem Teaser-Beitrag (Link) die Studie nicht mal verlinkt, sondern wird nur angekündigt. Es handelt sich – nach kurzer Recherche in gängigen Suchmaschinen – aber um diese Studie (Zarifkar P, Peinkhofer C, Benros ME, Kondziella D. Frequency of Neurological Diseases After COVID-19, Influenza A/B and Bacterial Pneumonia. Front Neurol. 2022;13:904796. doi:10.3389/fneur.2022.904796, Link pdf), die seinerzeit medial durchaus Wellen geschlagen hat und vielerorts eingeordnet wurde.

Der Impact in den sozialen Medien ist erwartbar, insbesondere wird der Tweet nun von den üblichen COVID-Doomsday-Propheten geteilt, die Heerscharen von Demenzkranken nach durchgemachter COVID-Infektion befürchten (vielleicht aber auch herbeisehnen). Das Ganze ist ärgerlich, sogar sehr ärgerlich und das auf mehreren Ebenen und darum soll es hier gehen:

Die dänische Kohortenstudie

Zarifkar P, Peinkhofer C, Benros ME, Kondziella D. Frequency of Neurological Diseases After COVID-19, Influenza A/B and Bacterial Pneumonia. Front Neurol. 2022;13:904796. doi:10.3389/fneur.2022.904796

Fangen wir mit der Studie an. Ausgewertet wurden elektronische Patientenakte der dänischen Bevölkerung im Zeitraum Februar 2020 bis November 2021, also aus der Frühphase der Pandemie mit dem Wuhan-Wildtyp der alpha- und der delta-Variante, zudem bis Ende 2020 aus der Prä-Impfstoff-Ära. In diesem Zeitraum wurden 43.375 Däninnen und Dänen positiv auf COVID getestet, von diesen 35.362 Erkrankte ambulant und 8.013 stationär behandelt. Es wurde das Risiko berechnet einen Monat, drei, sechs und 12 Monate nach COVID-Infektion eine neurodegenerative (Alzheimer-Demenz, Parkinson-Erkrankung), eine zerebrovaskuläre (ischämische Schlaganfall, Hirnblutung, Subarachnoidalblutung) oder eine autoimmunvermittelte Erkrankung (Multiple Sklerose, Guillain Barré-Syndrom, Myasthenia Gravis, Narkolepsie) zu erleiden, bzw. dass zu diesen Zeitpunkten eine entsprechende ICD-10-Diagnose dokumentiert wurde. Bei dieser Auswertung war das relative Risiko eine Alzheimer-Demenz sechs und 12 Monate nach durchgemachter COVID-Infektion bei ambulant behandelten Patienten um den Faktor 3,6, bzw. 3,5 erhöht, bei stationär behandelten um den Faktor 3,5 und 3,4. Die Autoren berechneten das Risiko noch mal, nachdem Dänen mit in der Vorgeschichte durchgemachten Delirien ausgeschlossen wurden (da ein Delir eine nachhaltige kognitive Verschlechterung bedingen kann, Link): Es blieb erhöht. Etwas ähnliches ließ sich für Parkinson-Erkrankungen berechnen. Hier was das Risiko um den Faktor 2,4, bzw. 2,7 erhöht. Aber: Im Vergleich zu Patienten, die eine Influenza oder bakterielle Pneumonie durchgemacht hatten und stationär behandelt wurden fand sich kein statistisch signifikanter Unterschied sowohl hinsichtlich des Alzheimer-, als auch des Parkinson-Risikos.

Finally, there was no excess risk of Alzheimer’s disease or Parkinson’s disease compared to influenza or bacterial pneumonia inpatients.

Durchgehend erhöht (um den Faktor 2,3 bis 2,7) – kongruent zu anderen Studien – blieb das Schlaganfall-Risiko, besonders kurz nach der COVID-Infektion. Influenza-Patienten hatten dieses erhöhte Schlaganfall-Risiko nicht, wohl aber die Pneumonie-Patienten. Ebenfalls fand sich ein leicht erhöhtes Hirnblutung- (ICB), aber nicht Subarachnoidal-Blutungs-Risiko. Autoimmunerkrankungen traten – anders als zu Anfang der Pandemie vermutet – nicht vermehrt nach durchgemachter COVID-Infektion auf.

Soweit, so normal. Ärgerlich wird aber die Zwei-Sätze-Einleitung der Diskussion, wenn man Titel, Abstract und auch weitergehende Diskussion der Autoren betrachtet:

Key findings from this population-based cohort study covering roughly half of Denmark’s population include an increased frequency of new-onset neurodegenerative and cerebrovascular (but not neuroimmune) disorders in COVID-19 positive compared to COVID-negative individuals. However, when comparing the frequencies of these disorders after COVID-19 with those after influenza and community-acquired pneumonia, we found no significant differences, except for ischemic stroke.

Seriös wäre meines Erachtens gewesen zu schreiben: Nach durchgemachter schwerer Atemwegsinfektion (SARI) ist das Risiko nach 6, bzw. 12 Monaten die Diagnose einer neurodegenerativen Erkrankung zu erhalten erhöht. Nach COVID-Infektion ist zudem das Schlaganfall-Risiko erhöht, vor allem kurz nach der Infektion.

Leider schreiben das die Autoren nicht, leider betonen sie – wo es nur geht – den COVID-Part und erwähnen die anderen Atemwegsinfektionen eher nebenbei.

Kausalität und Korrelation

Was in der öffentlichen Rezeption der Studie – und der Darstellung der Autoren – untergeht: Das Studiendesign erlaubt keine Aussage zu einer etwaigen Kausalität, es kann allenfalls eine Korrelation zeigen (dies tut es, aber so wie oben beschrieben). Was auch untergeht: Die akzeptierte Hypothese der Entstehung neurodegenerativer Erkrankung, das Konzept der Proteinopathien (Link), bei der sich pathogene Eiweiße prionartig von Zelle zu Zelle ausbreiten bedingt einen Jahrzehnte andauernden Krankheitsprozess, bevor überhaupt Symptome auftreten. In keinem Fall ist eine zuvor nicht vorhandene Proteinopathie, die innerhalb von sechs, bzw. 12 Monaten neu auftritt und symptomatisch wird plausibel. Sowenig wie es Turbokrebs nach COVID-Infektion oder -Impfung gibt, gibt es Turbo-Alzheimer.

Es gibt – und darauf zielen die Autoren und auch Frau Garrett ab – Überlegungen aus der Grundlagenforschung, dass COVID-19 neurodegenerative Prozesse beschleunigen/auslösen könnte (SARS-CoV-2 als möglicher Auslöser von Neurodegeneration, SARS-CoV-2 und Neurodegeneration, Qualitäts-COVID-Paper-Offensive Teil 2, SARS-CoV-2 zerstört Hirn und T-Zellen?!?), doch dazu gleich noch mal mehr.

Mediale Rezeption

Entsprechend der Aufmachung und Vorstellung der Studie war die mediale Rezeption für eine einzelne Studie durchaus beachtlich, viele Medien sahen sich aber zu einer Einordnung genötigt. So zitiert DER SPIEGEL den DGN-Generalsekretär Peter Berlit (Link):

Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), sagte der dpa: Man könne aus der Studie nicht ableiten, dass ein Mensch nach einer Coronainfektion ein erhöhtes Risiko habe, zu einem späteren Zeitpunkt Alzheimer zu entwickeln. Es sei lediglich gezeigt worden, dass nach einer Infektion häufiger Symptome diagnostiziert würden. Er verweist darauf, dass auch äußere Faktoren – etwa das Verlieren des gewohnten Umfeldes, weil jemand in eine Klinik muss – dazu führen können, dass eine bereits bestehende Alzheimer-Erkrankung symptomatisch wird.

Auch der Beitrag des RedaktionsNetzwerk Deutschland benutzt die selbe Artikel-Grundlage (Link), ebenso die Rheinische Post (Link). Die DW ergänzt noch (Link):

Gerade weil das Risiko für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson laut der Studie nach einer Coronainfektion nicht höher sei als bei anderen Atemwegserkrankungen, sei es wahrscheinlich eher der Infekt an sich, der das Risiko steigert. „Das ist nicht wirklich neu“, sagt der Neurologe Berlit.

Auch der WDR ordnete die Studie seinerzeit ähnlich ein: Link.

Und so muss man meines Erachtens diese – und andere, ähnliche – Studien einordnen. Ein kausaler Zusammenhang im Sinne eines de novo-Krankheitsprozesses ist nicht plausibel, wohl aber die Demaskierung einer vorbestehenden, bis dahin subklinischen, unter dem Radar verlaufenden, neurodegenerativen Erkrankung. Das ist ein Phänomen, welches man – auch abseits von Infektionserkrankungen – bei vielen älteren Patienten im Krankenhaus beobachten kann und welches regelmäßig Konfliktstoff in der Interaktion mit Angehörigen liefert. Mit Erkrankung, Umgebungswechsel, ggfs. Narkose, Behandlung auf einer Überwachungsstation ohne eindeutigen Tag-Nacht-Rhythmus demaskieren sich vorbestehende Defizite, ohne dass ein (merkbares) Delir vorliegt. Für die Familie der Patienten entsteht oft der Eindruck: „Das“ ist im Krankenhaus gekommen, während die Behandler sich sicher sind: „Das“ war doch vorher schon so.

Der Auslöser von Neurodegeneration

Der zweite Teil des Threads zielt genau wie die Studien-Autoren, die im SPIEGEL/RND/Rheinische Post-Artikel erwähnte Anja Schneider vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) oder Martin Korte vom Helmholtz-Institut für Infektionsforschung in Braunschweig (Link) auf eine grundsätzliche Frage ab: Bei den Proteinopathien ist der Auslöser des Krankheitsprozesses unklar. Eine genetische Komponente wird vermutet, zudem ein oder mehrere Umweltfaktoren, warum Person A nun Alzheimer entwickelt, Person B aber nicht. Als mögliche Auslöser (ggfs. auch ein Auslöser unter vielen) werden seit langem Infektionserkrankungen diskutiert. Dafür gibt es historische Anhaltspunkte (Parkinson-Welle nach der spanischen Grippe), aber auch Hinweise aus der Grundlagenforschung, siehe auch Linksammlung oben. Dabei gibt es immer weniger Hinweise auf ein COVID-exklusives Geschehen, vielmehr scheinen Infektionen durch die Ausschüttung von Entzündungseiweißen, proinflammatorischen Zytokinen, neurotoxisch zu wirken bzw. Neurodegenerations-Kaskaden anzustoßen.

Dies wird in dem Thread von Frau Garrett gar nicht so deutlich, wohl aber in der Pressemitteilung der East Carolina Universität, die sie verlinkt:

It’s going to be five to 10 years before we have any of this epidemiological data to say ‘yes, it does increase risk for neurological disorders or neurodegenerative disorders

Fazit

Foto von a href="https://unsplash.com/@romiyusardi?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditCopyText"Romi Yusardi/a auf a href="https://unsplash.com/de/fotos/iFoo5iFFo6Q?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditCopyText"Unsplash/a

Nach schweren Atemwegsinfektionen (SARI) können sich vorbestehende neurodegenerative Erkrankungen demaskieren, dabei bestand in der hier zitierten retrospektiven Studie kein Unterschied zwischen COVID-, Influenza-Infektion oder bakterieller Pneumonie. Übereinstimmend mit anderen Studien führte COVID-19 in der Akutphase – anders als andere SARI zu mehr Schlaganfällen.

Dass Infektionskrankheiten ein möglicher Auslöser/Verstärker für die Entwicklung neurodegenerativer Erkrankungen sind, wird seit Jahren vermutet, es gibt entsprechende Hinweise aus der Grundlagenforschung – welche durch die SARS-CoV-2-Pandemie einen deutlichen Forschungs- und Erkenntnisschub erfahren hat und derartige Mechanismen aufzeigen konnte – und es wäre extrem unplausibel, wenn das am Ende für COVID nicht gelten würde.

Weiterhin kann man offenbar nicht nur mit Sex, sondern auch mit COVID-Themen im Titel Klick- und Zugriffszahlen erhöhen, auch wenn es eigentlich um grundlegende medizinwissenschaftliche Themen und Zusammenhänge geht. Mich nervt das mittlerweile extrem.

Abbildungen

Die Abbildungen stammen von unsplash. Titelbild: Link, Käfer: Link.